Gutgelaunt Richtung Abgrund

Zur Neuinszenierung des „Rheingold“ an der Stuttgarter Oper

Mit diesem alt gewordenen Patriarchen würde kein Familienunternehmen glücklich werden. Verwöhnt und selbstbezogen regiert er sein Reich, seine Familie lungert verwöhnt herum. Schlapp und ohne eigene Meinung lässt er sich von seiner Frau verleiten, für den Clan ein neues Haus bauen zu lassen, obwohl er schon bei Auftragserteilung weiß, dass er den Preis dafür nicht bezahlen kann. So kommt es denn auch, als die noble Hütte fertig ist. Die Baufirma verlangt ihren Lohn, aber die Kasse ist leer.

Der Göttervater Wotan als Zirkusdirektor.
Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von der Oper Stuttgart

Sein Generaldirektor soll das Problem lösen. Letztlich fällt auch dem nichts Besseres als ein Raubzug ein. Immerhin, der ist listig geplant. Der Coup gelingt, und die eroberte Beute begleicht die Rechnung der Baukosten. So gelingt es dem Patriarchen tatsächlich, unter lautem Jubelklang mit seiner ganzen fragwürdigen Sippschaft in das neue Prachtgebäude einzuziehen. Das schale Glück ist auf unsolidem Boden errichtet, wie alle wissen und ahnen – aber wen kümmert´s? The Show must go on!

Der „Ring“: Epos, Gesamtkunstwerk, Krimi

Dies ist eine verkürzte (und auch stark vereinfachte) Zusammenfassung der Handlung des „Vorabends“ für das danach folgende dreiteilige (also insgesamt eigentlich vierteilige) Opernwerk „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner. Der erste Abend ist der kürzeste Teil dieses Riesenwerks, heißt „Das Rheingold“ und dauert „nur“ gut zweieinhalb Stunden. Erzählt wird die Vorgeschichte des Dramas, das sich danach entspinnt. Das hier vorgeführte Familienunternehmen ist nichts weniger als die Götterwelt, und im verlogenen Unrecht des Anfangs ist alles angelegt, was am Ende nach mehr als siebzehn Stunden Musik mit der „Götterdämmerung“ im Untergang der Mächtigen enden wird.

Der „Ring“ ist ein großes Gesamtkunstwerk, ein Epos über alles, was die Welt zusammenhält, und deshalb auch ein Krimi um Liebe, Geld und Macht. Wie gut dieser große märchenhafte Entwurf tut in unserer auf hektische Kurzfristigkeit angelegten Gegenwart! Aber Wagners eigenwilliges Weltengemälde ist eben auch komplex und umstritten, so wie es Wagner selbst gewesen ist zu Lebzeiten und bis heute.

Am Sonntag hatte in Stuttgart eine Neuinszenierung des „Rheingold“ Premiere. Damit wird der Anfang gemacht für eine komplette Neuinterpretation des „Ring“. Die Bilder aus dem neuen Stuttgarter „Rheingold“ waren auch Inspiration für den saloppen Einstieg in diese Kurzzusammenfassung. Denn im Opernhaus am Eckensee ist nichts mehr übrig vom Heldenepos, der in Richard Wagners Fantasie zumindest noch partiell eine Rolle gespielt haben mag. Hier nimmt der Untergang der Götterfamilie höchst ironisch und sehr unterhaltsam in Form eines maroden Zirkusbetrieb Fahrt auf, schnurstracks dem moralischen Abgrund entgegen.

Und warum sollte man sich das heute ansehen?

Weil dieser Einstieg in den vierteilig dahintreibenden Untergang der Götterwelt eine wunderbar sinnliche Geschichte ist, eine Parabel für die Anzeichen und katastrophalen Folgen von Machtmissbrauch. „Wir üben Gewalt gegeneinander und übereinander aus“, sagt Regisseur Stephan Kimmig in einem Interview im Programmheft, „angefeuert vom Drang, etwas zu besitzen, was uns das Gefühl verleiht, wertvoller, mächtiger, größer und bedeutender zu sein als die Anderen.“

Sorgloses Treiben der Götter auf der Stuttgarter Opernbühne
Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgrt

Das Geschehen auf der Bühne lädt also ein zum Grübeln darüber, ob am Ende immer das Geld über die Moral siegt. „Wir verraten permanent die Liebe, das Mitgefühl mit anderen“, wie Kimmig im gleichen Interview ausführt. Seine Inszenierung gestaltet einen zeitaktuellen Abend, der jeder Fantasie über Parallelen des Gesehenen zum aktuell Erlebten freien Lauf lässt. Zeit für Mitgefühl! Dabei muss man nicht jede Regieidee nachvollziehen können. Warum zum Beispiel die ganze zirzensische Göttersippe am Ende Gelbwesten anziehen muss, darf etwas rätselhaft bleiben.

Gutgelaunt, blind für die eigene Schuld

Aber wichtig sind solche Details nicht. Hauptsache, die selbstverliebten Götter ziehen am Ende gutgelaunt ein in ihr neues Haus, angelockt von seiner Pracht und Schönheit, aber blind für die Schuld, die sie um des schönen Baus willen auf sich geladen haben. Wer könnte sich gewiss sein, nicht bereits selbst solcher Verblendung unterlegen gewesen zu sein? Ein Besuch des „Rheingold“ ist eine überaus unterhaltsame Gelegenheit, sich dessen bewusst zu werden.

 

 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

 

Das „Rheingold“ ist an der Stuttgarter Oper im Rahmen von zwei kompletten Ring-Zyklen im Frühjahr 2023 zu sehen. Der Spielplan sieht Aufführungen am 25. Februar, am 3. und 14. März, sowie am 5. April vor. Auf der Website der Oper Stuttgart sind auch zahlreiche weiterführende Informationen aufbereitet (einschließlich einer kompletten Handlungsbeschreibung): https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/kalender/das-rheingold/4277/

 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.  

Dort finden Sie auch Texte zu den anderen Teilen des „Ring“:

Die Walküre

Siegfried

Götterdämmerung

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