Hockneys bunter Blick durch die Glaswand

Über zwei Bilder zum Entlanglaufen, und was sie uns sagen

Eine Frau findet sich plötzlich allein auf der Welt wieder. Was als Wochenendausflug in eine idyllisch im Wald gelegene Berghütte begonnen hatte, endet jäh in einem Alptraum. Für einen schnellen Einkauf in den nächsten Ort entschwinden die Freunde und kehren nicht zurück. Bei dem Versuch, sie zu finden, stößt die Frau gegen eine glasklare, unsichtbare, aber auch unüberwindbare und unzerstörbare Wand. Durch die blickt sie nun auf die Rest-Welt außerhalb ihres Gefängnisses. Was sie sieht, ist prächtige Natur, blühende Wiesen, ländliche Idylle am sprudelnden Bachlauf unter strahlend blauem Himmel. Aber nichts lebt dort: kein Schmetterling, kein Vogel, kein Mensch. Irgendetwas Katastrophales muss dort geschehen sein, denn alles ist tot, übrig ist eine schöne Welt der Flora ohne jedes sonstige Leben.

Über 90 Meter erstreckt sich raumumgreifend das Panorama-Werk „A Year in Normandie“ von David Hockney, zur Zeit zu sehen im Museum Würth 2 in Künzelsau. Foto: Würth/Ufuk Arslan © David Hockney

 

Die Szene stammt aus der großartigen Verfilmung des Romans „Die Wand“ von Marlen Haushofer. Es ist der Blick auf unsere Welt, den die Kunst eröffnet. Es ist ein Blick wie durch ein Fenster oder eben durch die unüberwindliche Glaswand. Wer davor steht, hinausblickt, kann sich fragen, wie die Welt ist oder sein sollte.

Fast 1000 Jahre liegen zwischen den Werken und ihren Welten

Fast 1000 Jahre liegen zwischen den beiden Kunstwerken, um die es hier gehen soll. Es sind beides monumentale Werke, die zu einem Blick auf die jeweils aktuelle Wirklichkeit einladen und doch ihre Betrachter genau dorthin zurückwerfen, wo sie stehen: Wie soll es weitergehen?

Auf den ersten Blick haben die beiden Werke vor allem eines gemeinsam: ihre enorme Länge. Das ist ein ungewöhnliches Merkmal für Kunst. Für das ältere der beiden wurde sogar ein eigenes Museum in der französischen Stadt Bayeux gebaut, durch das sich nun die Touristen enggedrängt an einer langgestreckten, hinter einer Glaswand gesicherten Sehenswürdigkeit entlangschieben. Der Besuch in dem abgedunkelten Raum, in dem der „Teppich von Bayeux“ gezeigt wird, bleibt unvergesslich, obwohl ein gelassenes Studieren der zahlreichen Bilder mithilfe eines übereifrigen Audioguides sabotiert wird. Der ungeduldige Apparat erläutert die kriegerische Bildfolge in einem Tempo, das dazu zwingt, zügig Platz zu machen für die nachdrängenden Gleichgesinnten. Um die 50 Zentimeter hoch und fast 70 Meter lang ist diese textile Einmaligkeit, ein mittelalterlicher Wandbehang. In ungezählten Stichen haben fleißige Hände darauf 623 Männer (und nur 3 Frauen), 202 Pferde und Maultiere, 50 Hunde und weitere Tiere, 41 Schiffe und 37 Festungsbauten verewigt. Das Wort passt, wenn man es als ein Antippen an der Ewigkeit akzeptiert, eine zusammengenähte Stoffbahn fast eintausend Jahre zu erhalten.

Wie in einem Film wandelt der Betrachter vorbei

Der britische Künstler, insbesondere Landschaftsmaler, David Hockney hat sich von diesem in der Normandie ausgestellten Werk inspirieren lassen, selbst ein Panorama zu schaffen, das zum Wandeln entlang der Wand einlädt. In seiner Länge und Höhe übertrifft Hockney sein Vorbild von Bayeux sogar: 90 Meter lang ist es, und einen Meter hoch, und es trägt die Bezeichnung „iPad-Gemälde“, was noch zu erläutern ist. Das Werk heißt „A Year in Normandie“ und ist derzeit noch bis 3. September 2023 im Museum Würth 2 (bei stets freiem Eintritt!) in der schwäbischen Provinzstadt Künzelsau zu besichtigen. Dort kann man sich Zeit lassen, gedrängelt wird nicht.

Wie in einem Film schreitet man bei beiden Kunstwerken einen Ablauf entlang. Bei Hockney ist es der Jahresverlauf rund um sein ländliches Anwesen in der Normandie. Schritt für Schritt ist der Wechsel der Jahreszeiten zu erleben, beginnend mit kahlen Baumgerippen vor kaltblauem Himmel, vorbei an sprießender Blütenpracht und saftigem Grün. Schließlich fallen im lautlosen Rausch die bunten Blätter, und der Gang endet in einer Schneelandschaft. Kein einziger Mensch, kein einziges Tier ist zu entdecken auf den langen Metern seiner Bild-Dokumentation. Die Pflanzen leben und funktionieren – der Rest ist tot. Hockneys Welt gleicht dem Blick aus der Glaswand im Film.

Menschen, Schlachten, Schiffe – Der Teppich von Bayeux ist ein Mittelalter-Comic über Macht und Krieg.

Unendliche Mühsal steckt im einen Werk …

Dagegen wimmelt es von Menschen und Tieren auf dem gestickten Teppich von Bayeux, der um das Jahr 1070 entstanden ist. Vier Jahre vorher gelang es den normannischen Herrschern in der Schlacht von Hastings, einen Teil Englands zu erobern. Mit diesem Sieg begann die Integration Englands in die politischen und kulturellen Geschehnisse des Kontinents, an der auch ein Brexit nichts ändern wird. Vom Weg zu diesem Sieg erzählt der spektakuläre Mittelalter-Comic. Erbfolgestreitigkeiten spielen eine Rolle, und auch die Machtverteilung zwischen Kirche und Adel. Erzählt wird von den Vorbereitungen und Gesprächen um die Thronfolge und das Schlachtengeschehen. Geschildert werden die Lebensumstände der Zeit, die Ernährung der Soldaten, der Bau der Schiffe, sogar der vorbeiziehende Komet Halley ist eingestickt. Hunderte, vielleicht Tausende kunstfertige Menschen waren mit der Herstellung des Textils beschäftigt, ungezählte Stiche in die Fingerkuppen mussten verheilen, ehe das Werk fertig war, das von einem Sieg erzählen sollte.

… und digitale Kreativität im anderen

Hockneys Panorama (Ausschnitt aus „A Year in Normandie“) ist eine menschenleere Idylle …

David Hockney schuf sein langgestrecktes Werk fast ganz allein mit einem Tablet. Der heute 86-jährige eignete sich die Technik des digitalen Zeichenprogramms an und malte die Landschaft vor ihm in zahlreichen elektronisch erstellten Bildern, die er dann zum Jahreszeiten-Panorama zusammenfügte. Entstanden ist ein knallig bunter Kontrapunkt, ein Triumpf der unberührten Natur über eine von Machtkämpfen und Kriegen zerfressene Welt der Menschen. Zu sehen, nein, zu erleben, sind Szenen in saftiger Natur, die Pracht der Bäume, ländliche Idyllen, knuffige Landhäuser mit Fachwerk. Man kann Hockneys gefällig bunte Pracht als Traum einer heilen Welt deuten, und viele im Würth-Museum gönnen sich genau diese Illusion. Die Motive aus dem Panorama eignen sich bestens zur kommerziellen Vermarkung, und so quillt der Museumsshop in Künzelsau über von Postkarten, Kühlschrankmagneten und anderem Merchandising. Als Vorwurf eignet sich das allerdings nicht, denn auch in Bayeux sind die Motive der als Weltdokumentenerbe geadelten Riesenstickerei in jeder beliebigen Form erwerbbar.

Nicht nur die Länge verbindet beide Werke

… in der es nicht einmal Tiere gibt. Nur die Pflanzen funktionieren. (Ausschnitt aus „A Year in Normandie“)

Es ist nicht nur die Länge, die beide Kunstwerke gemeinsam haben. Verloschen sind die Dynastien, die einst untereinander über England stritten. Vergessen sind die Menschen, die ihre Kämpfe ausfechten mussten und deren Abbild hier mühsam gestickt wurde, tot die Pferde ihrer Schlachten, verrostet die Schilde, vermodert die stolzen Schiffe. Alles vorbei. Und Hockneys Blick durch die Glaswand sagt uns voraus: Wenig von dem, was uns wichtig ist, wird bleiben, wenn wir so weitermachen.

 

 

Mehr über die Ausstellung „A Year in Normandie“ im Museum Würth 2 in Künzelsau finden Sie hier. Die Ausstellung wurde verlängert und ist noch bis 3. September 2023 bei freiem Eintritt zu sehen.

Ein Einblick in die Art, wie David Hockney Bilder mit dem iPad malt, ist hier zu finden: (Klick bedeutet Einwilligung zu Youtube)

Der Wandteppich von Bayeux ist zu besuchen im Museum in Bayeux. Mehr Informationen dazu auch auf Wikipedia.

Mehr Informationen über den Film „Die Wand“ nach dem Roman von Marlen Haushofer u.a. hier: https://www.filmstarts.de/kritiken/190949.html

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

One thought on “Hockneys bunter Blick durch die Glaswand

  1. Karin Wölfle 6. August 2023 / 12:44

    Hallo, lieber Andreas,
    hast Du wieder sehr anschaulich beschrieben, vielen Dank.
    Den Roman Die Wand habe ich auch mit Interesse gelesen und der dazugehörige Film hat mich damals schaudern lassen. Die Menschheit wird niemals klüger werden und aus ihren Fehlern lernen, leider.
    Liebe Grüßle Karin

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