Weiße Gotik im Backsteingewand (#54)

Schmucklose Strenge: Die spätgotische Frauenkirche, das Wahrzeichen von München, überrascht mit seiner weißen Innengestaltung.

Dom Zu unserer lieben Frau, Frauenplatz 1, München

Mein Besuch am 4. März 2024

Am meisten hat mich einmal mehr das Weiß überrascht. Diese Kirche ist innen strahlend weiß, ihre engstehenden, hochstrebenden, mächtigen Pfeiler recken sich schmucklos dem in sanftem Pastellton beige gestalteten Sterngewölbe entgegen. Vergeblich habe ich nach Quellen gesucht, wann diese Farbgestaltung in der gut 500-jährigen Geschichte des Münchner Doms gewählt wurde. Vermutlich geschah dies bereits in den 1930-er Jahren.

Das riesige Backsteingebäude mit den unverwechselbaren, haubengeschützten Türmen ist schon allein wegen dieses rötlichen Baustoffs eher ungewöhnlich in München. Das strenge Weiß in seinem Inneren kontrastiert noch dazu die sonst oft barocke Lust im Süddeutschen. So ist die Frauenkirche für mich ein Signal der Offenheit, der Akzeptanz des Anderen. Von Stolz oder Überheblichkeit ist in dieser Kirche nichts zu spüren, sogar dem Teufel hat man einen „Tritt“ gewährt. Einer Legende nach ist er Ergebnis eines Freudensprungs des Satans darüber, dass die Kirche ohne Fenster errichtet worden sei. Das ist natürlich Unsinn, sie werden an dieser Stelle nur verdeckt durch die engstehenden Säulen.

„Erde zu Erde…“ nennt sich das Kunstwerk von Madeleine Dietz, das zeitweise den Hauptaltar der Frauenkirche verdeckt(e).

Ungemein aufgeräumt empfängt die Kathedrale den Besucher, lässt ihn schlendern zwischen den Säulen, entlang an den Seitenaltären, die hier optisch eher verschwinden als vom  Reichtum ihrer Spender zu berichten. Als ich die Kirche jetzt einmal wieder besuchte, war gerade sogar der Hauptaltar verdeckt. „Erde zu Erde“ heißt das Kunstwerk, das die Künstlerin Madeleine Dietz in den Dom einbringen durfte (noch bis 15.3.2024). Eine unverputzte, erdige Mauer und eine bröckelige Erdbahn regen zum Nachdenken über die Vergänglichkeit an.

Es wird so viel kritisiert an der katholischen Kirche, und das so oft vollkommen zu Recht. Mir ging es so, dass an diesem offenen, frommen Ort eine Beobachtung alle Kritik in mir  verstummen ließ. Ein Mann fiel mir auf, vielleicht vierzig Jahre alt, gewandet in seiner orangefarbenen Dienstkleidung – ein Müllwerker oder Arbeiter eines Straßenbautrupps -, seinen Helm hatte er abgenommen, ganz offensichtlich kam er an diesem Montagvormittag gerade von der Arbeit. So reihte er sich ganz selbstverständlich zwischen die Touristen und Stadtbesucher mit ihren Einkaufstüten ein in die kurze Schlange am Kerzenständer, warf seine Münzen in die Kasse und entzündete ein Licht.

Solange es Menschen gibt, die dafür mitten in der Millionenstadt noch ein so großes, mächtiges Kirchengebäude brauchen, die ihre Arbeit unterbrechen, um eine Kerze anzuzünden – so lange sind meine Kirchensteuern gut angelegt.

Mehr über die Frauenkirche z.B. bei Wikipedia.

Alle Kirchen meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier. 

 

Kein Entrinnen aus der Vorstadt

Dora liegt darnieder. Mit der Welt ihrer Eltern und Geschwister kann sie nichts anfangen. Also sucht sie einen Zauber … Szene aus der Oper „Dora“ von Bernhards Lang (Musik) und Frank Witzel (Text) an der Oper Stuttgart. Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Eine Erzählung – anlässlich der Uraufführung von „Dora“ an der Oper Stuttgart

Prolog

Die Vorstadt liegt wenige Kilometer außerhalb der Metropole. Man erreicht sie mehr schlecht als recht mit den Fahrzeugen des öffentlichen Nahverkehrs, denn an dieser Form der Verkehrsanbindung wird noch gearbeitet. Zunächst waren die Autos dran. Eine notdürftig asphaltierte Stichstraße schiebt sich wie ein Damm durch die sumpfige Lagune der Baugruben. Sie bildet die einzige sichtbare Lebensader für das Neubauviertel. Wackelige Drahtzäune links und rechts bewahren die entlangschlingernden Laufräder samt ihrer kindlichen, stets mützen- und helmgeschützten Besitzer vor einem Absturz. Kräne wachen über die Pfützen in den tiefergelegten Betonwüsten, die einmal die Böden bilden werden für Tiefgaragen. Praktische Mehrfamilienhäuser werden sich einst darüber wölben.

Dann fächert sich diese für eine motorisierte Welt gedachte Lebensader auf in das Ghetto der kleinfamiliären Hoffnungen. Taubenstraße, Zaunkönigweg, Amselboulevard – so heißen hier die Sträßchen, die ein Kleinfamilienleben erschließen, das von sich behauptet, in sauber geordneten Reihenhäusern entfaltet zu werden. Die Rasenroboter rotieren in den Maschendraht-Quadraten hin und her wie der eingesperrte Tiger im Zoo. Der freie Blick durch die immergleichen Terrassenfenster auf die immergleichen, eckenausfüllenden Sofagarnituren wird versperrt durch die immer gleichen Grillvorrichtungen. Es herrscht geplante, selbstgewählte Monotonie in dieser Exklave für Jungeltern und ihre Kinder. Die Spielplätze sind wohlgeordnet, die akkurat eingepflanzten Bäumchen noch mehr Schule als Baum. Und nur ein Ausweg weist hinaus: Auf dem Asphaltdamm hinüber in den neueren Teil der Siedlung, wo der große Lebensmittel-Supermarkt lockt und das Fachgeschäft für alles, was die eingesperrten Haustiere benötigen. „Fressnapf“ heißt es, was auch für den Edeka passen würde.

„Wie ich diese Landschaft hasse …“

Eine junge Frau, laut Libretto „Mitte zwanzig“, steht im Mittelpunkt einer Opern-Neuproduktion von Bernhard Lang (Musik) und Frank Witzel (Text) in Stuttgart. Sie heißt „Dora“, und Dora ist es, die rebelliert gegen die Eintönigkeit ihres Lebens, gegen das konformistische, materialistische Lebenskonzept ihrer Eltern, gegen die dröge Anpassungsfreude ihrer Geschwister. Dora lebt nicht im hier beschriebenen Neubauviertel, aber das tut nichts zur Sache. „Wie ich diese Landschaft hasse“, singt sie voller Zorn dem Publikum entgegen, „und wie sich diese Landschaft von mir hassen lässt!“

Es ist also pure Fiktion, lustvoll inspiriert von der Stuttgarter Inszenierung, aber sie nicht abbildend, wenn nun dieser Faden weitergesponnen wird. Wenn eine kleine Dora heute leben würde in der Vorstadt, dann wäre sie noch etwa zwanzig Jahre mit dem Rest der Welt vor allem durch die Damm-förmige Lebensader verbunden. Diese wird dann eine normale Straße sein, weil aus den Baugruben Häuser gewachsen sein werden. Dora wird dann Schatten suchen unter den Bäumen, die dafür endlich groß genug sein könnten, und die Spielplätze werden verwaist sein, weil Dora nicht mehr spielen möchte. Sie will jetzt etwas Neues haben vom Leben, etwas Abenteuerliches.

Gesucht: Ein Zauber

Aber wie soll das dann gehen in dieser Vorstadthölle? Kaum zu übertreffen an Langweiligkeit und Konformität ist auch dann noch diese Welt, die ihr die Eltern geschaffen haben, sich verschuldet haben, um das Kind in eine Idylle einzusperren, die es niemals gab. Die es nicht gab, als man sich unter dem üppig geschmückten Weihnachtsbaum versammelte, die Geschenke aufriss und nichts darin fand, was das Herz berührte. Die es nicht gab, als die Eltern stritten und sich quietschend versöhnten; die es auch nicht gab, als sie über den Damm ihrer Eintönigkeit entflohen, all inclusive in die Türkei, immer auf der Suche nach dem „Sondern“, dem anderen. Gefunden haben sie es nicht, sondern immer war es nur ein teurer Tausch der einen Konformität gegen die andere gewesen.

Also wird Dora ausbrechen aus dieser Welt ihrer Eltern, die sie ohnehin nur mit drögen Vorhaltungen quälen. Sie wird die Welt erkunden wollen, nachsehen wollen, was es gibt jenseits der Fressnäpfe für Mensch und Tier. Einen Zauber wird sie suchen, ganz für sich allein, der ihrem Leben Sinn und Orientierung geben kann, ganz im Faust´schen Sinne hinausweist über die Monotonie der Vorstadthölle.

Gefunden: Ein Mann vom Amt

Aber was sie zunächst finden wird, ist: Ein Mann vom Amt. Ein Bürokrat wird ihr Vorträge halten darüber, sie sei viel zu jung zum Verzweifeln, und im Übrigen bestehe sein Auftrag darin, „hier etwas Ordnung zu schaffen“. Das genau wird Dora nicht suchen, denn diese Ordnung ist für Dora nur „Stumpfsinn, Trübsinn, Langeweile, Alltag“. Die Hilfe dieses alten weißen Mannes wird sie also ausschlagen, blind dafür, wer da in Wirklichkeit vor ihr steht. Mit pubertärem Zorn wird sie den Teufel verscheuchen, missmutig noch einmal zurückkehren in die verhasste Vorstadt, zurück in die Welt der selbstverschuldeten bequemen Perspektivlosigkeit hinter den primelbewaffneten Vorgärten.

Aber der Teufel wird über ausreichende Mittel verfügen, Doras Schicksal zu bestimmen. Er wird den in sie verliebten jungen Mann in bösartige Verstrickungen locken, die mit einem Suizidversuch enden werden. Immerhin, der schöne Jüngling wird überleben, wenn auch für das Leben gezeichnet und verstummt.

Der Teufel manipuliert das Leben der wütenden Dora. Hier ist er als Bürokrat unterwegs. Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Dora wird entsetzt sein über die Wirkung ihrer Emotionen. Und wieder wird der Teufel locken: Wie leicht würde Dora sich ihrer Verantwortung für den Geliebten billig entledigen können! Aber Dora ist klug, und sie wird verstanden haben: Es gibt kein „Sondern“ außerhalb des eigenen Lebens. Und so wird sich Dora ihrem Schicksal zuwenden: Gemeinsam mit dem Geliebten, und sei der noch so beschädigt, wird sie sich der Aufgabe stellen, des Lebens Sinn in der Vorstadt zu finden.

Mit dem letzten Paukenschlag verlischt das Licht

Als in der Oper „Dora“ dieser Moment erreicht ist, trommelt und kracht es, scheppert und vibriert das ganze große Opernhaus. Drei Schlagwerke, verteilt in den Logen, zeigen das Ende der Oper an, ein musikalischer Höhepunkt dieses an sinnlichen Unvergesslichkeits-Momenten reichen Abends modernen Musiktheaters. Noch während die Pauken krachen und die Trommeln wirbeln, wenn noch alles zittert und bangt, geht das Licht an, im ganzen Saal. Der Teufel ist vertrieben. Mit Dora und ihrem Geliebten finden wir uns im Licht der Realität wieder, und dann, mit dem letzten Paukenschlag, verlischt es doch. So schön, so intensiv und sensibel wurde die unabwendbare Sterblichkeit noch selten auf einer Opernbühne in Szene gesetzt, und der begeisterte Applaus holt alle zurück in diese Welt, der wir nicht entfliehen können.

Epilog

So bleibt noch, als Ende dieses Textes, also nicht der Oper selbst, über die Versöhnung der wütenden Dora aus der Vorstadt mit der Welt ihrer Kindheit zu spekulieren:

Viele Jahre später wird Dora vielleicht das Reihenhaus ihrer Eltern geerbt haben. Das Herbstlaub der großen Bäume wird hineintreiben in die dann zugewachsenen Gärten, die keinen Rasenroboter mehr brauchen, da dichtes Gebüsch die kleinen Flächen überwuchert. Keine Trampoline und keine gesattelten Holzpferde werden mehr triefen im Nass des Regens, und die Spielplätze werden ersetzt sein durch seniorengerechte Parkbänke. Dorthin wird Dora ihren Partner im Rollstuhl schieben, wird dort sitzen und darauf warten, dass der mächtige Tod sie sanft herausholen möge aus der unentrinnbaren Vorstadt.

 

„Dora“ ist ein uneingeschränkt empfehlenswertes Erlebnis. Mehr Infos dazu bei der Oper Stuttgart. Aufführung an mehreren Terminen im März und Anfang April, zuletzt in dieser Spielzeit am 4. April.

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

Gesehen habe ich die Generalprobe am 29. Februar 2023. 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

 

Keine Fische in Sicht in Zuffenhausen (#53)

St. Antonius zu Padua, Markgröninger Str. 35, 70435 Stuttgart-Zuffenhausen

Mein Besuch am 7. Februar 2024

Die neoromanische Antonius-Kirche in Stuttgart-Zuffenhausen verbirgt sich in den engen Gassen des ehemaligen Arbeiterviertels.

Üblicherweise wird man sich dieser Kirche zu Fuß nähern durch enge, vollgeparkte Gassen, die den Blick auf den neoromanischen Bau erst wenige Meter vor dem Ziel preisgeben. Es ist ein prosaisches Vorstadtbild, in dessen Mitte diese Kirche des St. Antonius von Padua steht. Als Arbeiterviertel geprägt, heute durch Migration und bunte Vielfalt bereichert, duckt sich das Gewirr aus unterschiedlichsten Häuschen und Häusern den Hang entlang. Stuttgart-Zuffenhausen ist längst kein christlich geprägter Stadtteil mehr, hier sind die Christen längst in eine Minderheitenposition gerutscht.

Der Heilige St. Antonius von Padua (1195? – 1231), nach dem diese Kirche benannt wurde, passt bestens in dieses Bild. Ihm werden zahlreiche schützende und helfende Funktionen zugeordnet.  So steht er gläubigen Menschen zur Seite, wenn  sie etwas verlegt oder verloren haben (daher wird er im Bayerischen liebevoll als  „Schlampertoni“ bezeichnet). Er war und ist den Armen zugewandt, er hilft bei der Partnersuche, um nur wenige Kompetenzen herauszugreifen, die dem historischen Franziskaner-Bischof zugeschrieben werden. Der Legende nach hörten ihm , obwohl er doch so redebegabt war, die Stadtbewohner von Rimini nicht zu, und so richtete er seine Predigt ersatzweise an die Fische im Mittelmeer , die ihm folgsam ihr Ohr schenkten. Gustav Mahler vertonte dieses Motiv durchaus heiter in seiner Vertonung des Liederzyklus von Clemens Brentano „Des Knaben Wunderhorn“.

Wohltuend aufgeräumt: Die Kirche ist schlicht und still, ein einladender Ort der Ruhe in einer weltlichen Zeit.

Heute steht der schlichte, akkurat aufgeräumte Kirchenbau im strohtrockenen Zuffenhausen und wirbt in einer weltlich geprägten Zeit um Menschen, die zuhören. Die Legende von der Predigt an die Fischer ist ja nicht zuletzt eine Metapher dafür, dass es nicht immer die Worte sind, die das Leben ausmachen. So schweigt diese Kirche schlicht und still. Am Werktag hatte ich Gelegenheit, sie ganz alleine zu erleben, das Frühjahrslicht fällt durch schmucklose Fenster, der geschmackvoll zurückhaltend renovierte Innenraum atmet fromme Klarheit. Die Einrichtung ist symmetrisch geordnet. Es ist ein Raum der Ruhe in einer Zeit und an einem Ort, in dem die viele glauben, keiner Ruhe zu bedürfen, sie sich mehr ersehnen zu müssen, als gönnen zu dürfen.

 

Mehr über den heiligen St. Antonius von Padua bei Wikipedia. Die Vertonung sein er Fischpredigt durch Gustav Mahler klingt so. (Klick führt zu Youtube) 

Mehr Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier.

 

 

 

 

 

 

Hurra, die Ampel ist weg! – Ein Szenario

Hurra, die Ampel ist weg! Und wie geht es dann weiter?

Es begann damit, dass sich Mitte Februar 2024 die Generalsekretäre der mitregierenden FDP und der oppositionellen CDU weitgehend gleichlautend äußerten. Die FDP strebe eine gemeinsame Regierung mit der Union an, sagte ihr Generalsekretär, das sei besser für das Land als die derzeitige Rollenteilung, nach der die FDP ihren Regierungspartnern Grüne und SPD immer die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft erklären müsse. Die Union sei zur Übernahme der Verantwortung bereit, antwortete sein Kollege der CDU, sie habe das bessere Personal und die überzeugenderen Konzepte für die schwierigen Zeiten, in denen man derzeit feststecke und noch dazu schlecht regiert würde. Die bayerische CSU hatte sich ohnehin bereits seit längerem für Neuwahlen ausgesprochen.

„Lieber nicht regieren, als schlecht.“

FDP und Union ließen sich in ihren Überlegungen nicht davon beirren, dass sie nach allen Umfragen weit von einer gemeinsamen Mehrheit im Parlament entfernt wären. In Berlins Hinterzimmern breitete sich rasend ein Fieber aus. Die Union witterte die Chance zur schnellen Machtübernahme, zumal ihrem Vorsitzenden Merz bei einer vorgezogenen Bundestagswahl die Rolle des Kanzlerkandidaten kaum zu nehmen wäre. Auch die CSU hatte ein Interesse an baldigen Wahlen. In diesem Fall würde eine schon beschlossene Änderung des Wahlrechts (von der die CSU sich bedroht fühlte) nicht mehr rechtzeitig in Kraft treten. Eine dazu anhängige Klage beim Bundesverfassungsgericht würde nicht schnell genug entschieden werden.

In der FDP schließlich, gefangen in blanker Verzweiflung ob ihrer stabil unter fünf Prozent  liegenden Umfragewerte, wuchs die Überzeugung, mit einem zuspitzenden Wahlkampf könne man den eigenen Untergang eher abwenden als durch einen Verbleib in der ungeliebten „Ampel“. „Lieber nicht regieren, als schlecht regieren“, sagte ihr Vorsitzender.

Im Land herrschte zudem zweifellos allgemeiner Unmut über die „Ampel“. Es war schick, das Dreierbündnis unter Führung des wortkargen Kanzlers Scholz zu beschimpfen. Bauern blockierten Straßen und Plätze mit sperrigen Traktoren, Wirtschaftsverbände schrieben Brandbriefe, Gewerkschaften streikten allerorten. Die Stimmung war schlecht, und FDP und Union hofften, davon politisch zu profitieren.

Die FDP fand alsbald im Frühjahr 2024 einen Anlass – die sinkende Konjunkturprognose und den Streit darüber, wie ihr ohne neue Schulden zu begegnen wäre -, um aus der ungeliebten Ampel-Koalition auszusteigen.

Die FDP-Minister erklärten ihren Rücktritt

Die FDP-Minister erklärten also mit ernsten Mienen und düsterem Verweis auf die schwere Verantwortung für das Land ihren Rücktritt. Der amtierende Bundeskanzler Scholz stellte im Bundestag die Vertrauensfrage, verlor sie erwartungsgemäß, da die FDP-Abgeordneten gegen ihn stimmten. Der Bundespräsident löste entsprechend dem Grundgesetz den Bundestag auf. Im Juni 2024, zeitgleich zur Europawahl, sollte es Neuwahlen geben. Die Bevölkerung sagte im „Politbarometer“ zu 70%, dass sie das gut findet.

Nun war die Ampel erst einmal weg. SPD und Grüne regierten bis zur Wahl ohne Mehrheit geschäftsführend weiter, und das Volk staunte, dass es plötzlich zwischen den Regierenden und ihren Parteien kaum noch Streit zu vermelden gab. Beide Parteien profitierten davon in den Umfragen. Insgesamt aber überschattete der Wahlkampf die Tagespolitik: Der amtierende Kanzler versicherte dem Volk, dass nur unter seiner Führung in der aktuellen Welt voller Krisen mit Verlässlichkeit zu rechnen sei. Die Plakate zeigten den Kanzler mit nur drei Worten: „Maß und Mitte“. Und siehe da: Ein wachsender Teil der Bevölkerung begann ihm wieder zu vertrauen, obwohl sie ihn noch wenige Wochen zuvor mit minimalen Zustimmungswerten in Umfragen abgestraft hatten.

Ein ruppiger Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild

Die Union konzipierte einen ruppigen, zuspitzenden Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild. Die Parteien der „Ampel“-Regierung seien allesamt unfähig und in ihrer Inkompetenz eine Gefahr für das Land. In den Umfragen konnten CDU und CSU mit dieser Strategie auch noch zwei Wochen vor der vorgezogenen Bundestagswahl ihren Abstand von etwa zehn Prozentpunkten vor der Partei des Kanzlers, der SPD, verteidigen. In den persönlichen Sympathiewerten bleib der Kanzlerkandidat Merz allerdings zurück, vor allem bei Frauen und jungen Menschen war er nicht besonders beliebt.

Die FDP kämpfte um ihr politisches Überleben. Sie erstritt sie sich mit einem klaren Bekenntnis gegen neue Schulden und für sinkende Steuern in den Umfragen einen halbwegs stabilen Umfrageplatz knapp oberhalb der fünf Prozent.

Die rechtsradikale AfD und die neu gegründete Partei von Sahra Wagenknecht überboten sich mit populistischen Einfältigkeiten und teilten sich ihre Wählerpotential von zusammen etwa 25 Prozent auf.

Das Ergebnis: Die Union siegte

Als schließlich der Wahltag kam, flimmerte das folgende Ergebnis über die hochsommerlich erhitzten Bildschirme:

Die CDU/CSU gewann die Wahl mit 26 Prozent. „Gegen uns kann keine Regierung gebildet werden“, jubelte Merz am Wahlabend. Aber am nächsten Morgen bereitete das Ergebnis allerdings allgemeines Kopfzerbrechen. Die Kanzlerpartei SPD hatte aufgeholt, bleib aber bei 22 Prozent stecken. Die Grünen konnten wenig mehr als ihre eigenen Stammwähler mobilisieren und landeten bei 13 Prozent. Die FDP jubelte: Sie erreichte mit 8 Prozent wieder den Bundestag. Außerdem zogen in das Parlament ein: Die AfD mit 16 und die Wagenknecht-Partei mit 6 Prozent. Alle anderen Parteien, darunter auch Die Linke und die Freien Wähler gingen leer aus. Die Linke gewann in Berlin ein einziges, und die FW in Bayern zwei Direktmandate.

Die Sommerpause im politischen Berlin fiel aus. Die Union konnte Merz nur in einer Dreierkoalition zum Kanzler machen. Eine Zusammenarbeit mit der AfD hatte sie ausgeschlossen, also musste sie zwei der drei anderen demokratischen Parteien zu Partnern erwählen. Für eine „links-grüne“ Mehrheit unter Führung der SPD fehlten die Mandate, zumal die SPD eine Zusammenarbeit mit Sahra Wagenknecht ablehnte.

„Soziale Politik im freien Staat“, hieß das Motto

Nach wochenlangen Sondierungen und internen Auseinandersetzungen innerhalb der Union und in der SPD entschieden sich CDU/CSU für eine Koalition mit SPD und FDP. „Soziale Politik im freien Staat“, stand über dem Koalitionsvertrag. Merz wurde im Oktober zum Bundeskanzler gewählt. Das 100-Tage-Programm sah vor: Keine neuen Schulden, keine höheren Steuern, umfassende Waffenhilfe für die Ukraine, dauerhafte Stärkung der Bundeswehr, ein zusätzliches Sondervermögen für den Wohnungsbau, Aufhebung des sog. „Heizungsgesetzes“.

Die politische Fachpresse in Berlin schlug die Hände über dem Kopf zusammen: Wie sollte das funktionieren? Und schon im November, bei der finalen Verhandlung für den Haushalt 2025, zeigten sich die gravierenden Risse innerhalb der neuen Koalition. Die FDP beharrte auf einem Einhalten der Schuldenbremse und schlug zur Finanzierung von Bundeswehr und Ukraine-Hilfe massive Kürzungen bei den Renten vor, was die SPD entschieden ablehnte. Wie geplant stieg zudem der CO2-Preis weiter an, verteuerte Benzin und Gas. Soziale Kompensationen dafür waren abgeschafft worden, genauso wie die Förderung von ökologisch orientierten Investitionen. Der Einbau von Wärmedämmung, Solaranlagen und Wärmepumpen stagnierte.

Heftiger Frost im Dezember, Bomben auf die Ukraine

Im Dezember gab es – gegen den Trend der letzten Jahre – heftigen Frost. Über Weihnachten zeigte das Thermometer zwei Wochen lang unter minus 10 Grad tagsüber. Die Gasspeicher leerten sich rapide, und ihre Auffüllung ließen die Gas- und anderen Energiepreise in die Höhe schießen. Die Inflation stieg wieder an. An dieser Entwicklung war die neue Regierung zwar schuldlos, trotzdem protestierten Autofahrer und Hausbesitzer heftig. LKW-Unternehmer schlossen sich an, auf wichtigen Autobahnen rollte im Januar tageweise nichts mehr.

Russland intensivierte zeitgleich seinen Bombenkrieg gegen die Ukraine. Heftiger Bombenhagel ging auf Kiew und die ukrainischen Großstädte im Westen des Landes nieder. Die katastrophalen Folgen lösten einen neuen Flüchtlingsstrom nach Deutschland aus. Vor allem Frauen und Kinder flohen vor den Zerstörungen in ihrer Heimat, und die deutschen Kommunen erklärten erneut, sie könnten die Unterbringung nicht mehr gewährleisten. Trotz dieser Ausnahmesituation beharrte die FDP auf der Schuldenbremse.

Die neue Regierung war noch nicht einmal ein halbes Jahr im Amt, als sie in ein noch nie dagewesenes Umfragetief rutschte. „Merz muss weg!“, skandierten die hupenden Lastwagenfahrer im Chor mit wütenden Rentnern. DGB und VdK mobilisierten in Großdemonstrationen. In den Umfragen profitierten von der rebellischen Stimmung die Radikal-Parteien AfD und BSW, sowie die Grünen in der Opposition. 70% der Bevölkerung stimmten der Aussage zu: „Mit dieser Regierung bin ich unzufrieden.“

Dann ein Interview im „Bericht aus Berlin“

Der Generalsekretär der SPD gab dem „Bericht aus Berlin“ im Februar 2025 ein Interview: Er wünsche sich eine Zusammenarbeit mit den Grünen, da müsse man nicht immer allen anderen die soziale Komponente der Marktwirtschaft erklären. Die Parteiführung der Grünen antwortete prompt: Man stehe zur Verfügung. Am besten auf dem Weg über baldige Neuwahlen.

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

 

Der große alte Kater auf dem Baum

Eine politische Fabel

(1)

Als der große alte Kater auf schwankendem Geäst in der Baumkrone hockte, mühsamen Halt suchte am einzigen halbwegs stabilen Ast, ärgerte er sich sehr über sich selbst. Es dunkelte bereits sachte, und der Wind zerwühlte sein Fell unangenehm.

Bild von Amy auf Pixabay

 

Wie war er nur in diese Lage geraten? Er hatte doch den jungen Katzen schon ungezählte Male gepredigt, dass sie sich hüten sollten vor den Verlockungen der hohen Bäume. Das Hinaufklettern lohne sich nicht, die flinken Vögel seien ohnehin schneller weggeflogen, als so eine Katze dort oben sein könnte. Und so verlässlich die gebogenen Krallen beim Heraufsteigen helfen würden, so untauglich würden sie sich erweisen, wenn man wieder hinunterwill. Dann geben sie kaum Halt, mühsam müsse man sich rückwärts hinabarbeiten, ohne den sicheren Blick dorthin, wo es entlang geht. Es sei kein guter Platz für Katzen und Kater auf den Bäumen, hatte er doziert, und die Jungen hatten respektvoll genickt und geschnurrt und ihm geschworen, an seine Worte zu denken.

Nun aber saß er selbst auf diesem Baum, und seine große Erfahrung hatte ihm nichts genutzt, um die peinliche Lage zu vermeiden, in die er geraten war. Es war schrecklich.

(2)

Begonnen hatte alles bei der letzten Wahl zum Mächtigsten aller Tiere. Es gab sehr viele Tiere in diesem Land, und alle gemeinsam hatten sie einen Gegner: die Menschen. Die Menschen zerstörten systematisch alles, was die Tiere zum Leben brauchten. Die Menschen waren es, die das Gras und die Blumen vergifteten und damit den Mücken und Bienen und Wespen die Grundlage ihrer Existenz nahmen. Die Menschen warfen Plastikmüll in das Wasser, in dem die Fische schwammen. Sie fällten die Bäume, auf denen die Eichhörnchen und Fledermäuse wohnten und verpesteten die Luft, durch die die Vögel flogen. Manche Tiere hielten die Menschen sogar in schauderhaften Gefängnissen, schlachteten sie, und aßen sie auf.

Die Tiere waren sich also zwar grundsätzlich einig, dass sie alle ihre Kräfte auf den Kampf gegen den Menschen richten sollten – aber wie dieser Kampf zu führen sei, darüber stritten sie erbittert. Viel zu viele interessierten sich überhaupt nicht für die Geschicke der Gemeinschaft, sondern waren nur damit beschäftigt, wie sie etwas zu fressen finden. Die unpolitischen Rinder und Schweine zum Beispiel hatten noch immer nicht begriffen, welches Ende ihnen bevorstand. Andere, wie die flinken Rehe oder die stolzen Hirsche waren einfach nur dumm. Die eitlen Pudel und die schillernden Pfaue betrachteten von morgens bis abends nur sich selbst im Spiegel. Es gab verachtungswürdige Anpasser in der Tierwelt, wie die Mäuse und die Ratten, die glaubten, sie könnten sich den ganzen giftigen Unrat der Menschen auch noch zunutze machen.

Die Lage der Tiere war ernst, und der große alte Kater wusste das schon seit langem. Aber seit vielen Jahren hatte die Chefin der Katzen und Kater die Position als Mächtigste aller Tiere inne. Sie war mit ihrer ganzen Geduld und Ausdauer, mit Klugheit und Raffinesse tätig gewesen, hatte vermittelt zwischen den Füchsen und Gänsen, hatte die Katzen gemahnt, nicht mehr als nötig den Mäusen oder Vögeln nachzustellen, hatte sogar den größten Teil der Hunde, soweit sie nicht blaubraun waren, bei halbwegs erträglicher Laune gehalten.

Ihn, den großen alten Kater, hatte diese machtbewusste Katze allerdings weggebissen, verscheucht mit Fauchen und scharfen Krallen, und er hatte deshalb lange warten und ausharren und sich verstecken müssen, bis endlich die Chance bestand, selbst zur Wahl des Mächtigsten aller Tiere anzutreten.

Aber es kam anders. Als die kluge alte Katze ihr Amt abgab, drängte sich ein freundlicher Grinsekater als Chef der Katzen vor. Der Grinsekater grinste allerdings auch dann, wenn es nicht passte, und verstand zu spät, dass ihm das Ansehen und Wahlsieg kosten würde. Bei der großen Wahl aller Tiere hatten so die roten Ameisen, die grünen Vögel und die gelben Badeenten gemeinsam die Katzen von der Macht verdrängt. Sie hatten eine rote Ameise zum Mächtigsten aller Tiere gewählt und sofort zu regieren begonnen.

(3)

Der große alte Kater konnte es nicht fassen, dass es soweit gekommen war. Er war fest überzeugt davon, dass er nicht nur größer, sondern auch schneller und auch viel klüger war als alle diese roten, grünen und gelben Kleintiere zusammen. Deshalb verjagte er den freundlichen Grinsekater und wurde bald selbst Chef der Katzen und Kater. Im neuen Amt verspottete er die fleißigen roten Ameisen, und warf deren Chef vor, nicht wirklich ein Mächtigster aller Tiere zu sein, sondern nur und ohne Orientierung auf dem Boden der Tatsachen herumzukrabbeln. Er fauchte den flatternden grünen Vögeln nach und schlug mit seinen scharfen Krallen auf die gelben Badeenten ein, die ohnehin damit rangen, im Teich der Meinungen nicht ganz zu ertrinken. Sie alle sollten keine ruhige Minute haben, solange nicht er der Mächtigste aller Tiere sein würde.

Dabei wusste der große alte Kater, dass in der Tierwelt die blaubraunen Hunde besonders gefährlich und rücksichtslos waren. Die waren nicht dumm, sondern bösartig. Sobald sie andere Tiere auch nur sahen, kläfften sie ganz fürchterlich, verbreiteten Angst und Schrecken. Die blaubraunen Hunde waren intrigant und verlogen, erzählten zum Beispiel den Gänsen, dass allein die Enten daran schuld wären, wenn sie von den Füchsen angegriffen werden. Die blaubraunen Hunde waren ein echte Plage, sie wurden immer mehr, und sie bedrohten auch die Katzen. Der große alte Kater hatte daher alle Pfoten voll damit zu tun, seinen Katzen und Katern gut zuzureden, dass sie sich nicht fürchten sollten vor diesen Hunden, sondern sich ihrer eigenen Krallen, ihrer Schnelligkeit und ihrer Klugheit bewusst sein sollten.

Wenn der große alte Kater in ruhigen Momenten auf seinen Samtpfoten durch das Gras streifte, so dachte er sich, dass alle Tiere gemeinsam den Terror der blaubraunen Hunde irgendwie loswerden müssten, um sich ganz und gar gegen die Zerstörungswut der Menschen wehren zu können. Andererseits ärgerte er sich so sehr darüber, dass nicht er, sondern die lächerlichen Ameisen, die flatterigen Vögel und die albernen Badeenten den Staat der Tiere regierten, dass er sich weigerte, mit diesen bunten Kreaturen irgendetwas gemeinsam zu unternehmen. Und über diesen Ärger vergaß er auch immer wieder die blaubraunen Hunde.

(4)

Eines schönen Tages war der große alte Kater mal wieder auf einem seiner Rundgänge unterwegs. Er war noch immer ein guter Streuner, er konnte sich lautlos heranschleichen, wenn es sein musste, aber auch wild fauchen, wenn er sich bedroht fühlte. Die Sonne stand schon tief über dem Horizont und tauchte die Welt der Tiere in ein mildes Licht – als plötzlich eine ganze Horde der blaubraunen Hunde auf den großen alten Kater zugestürmt kam. Es war furchterregend; die Biester fletschten ihre Zähne, die Zungen hingen gierig heraus, sie bellten wie wild und machten einen Höllenkrach.

Was hätte er tun sollen? Der große alte Kater war allein unterwegs, er war ratlos, und die Hundehorde kam immer näher. In höchster Not fauchte er sie an, buckelte so hoch er konnte, zeigte den heranbrausenden Biestern sein giftigstes Funkeln und seine schärfsten Krallen, aber die ließen sich davon nicht beeindrucken.

Da erinnerte sich der große alte Kater an die verlockende Höhe des Baumes der einfachen Wahrheiten. Er verehrte und bewunderte diesen Baum schon seit Längerem: So ein schöner starker Stamm, so eine prächtige Höhe! Von seiner Krone, gut geschützt vom rauschenden Blätterwald, sicher geborgen im starken Geäst – das versprach Rettung vor der gierigen blaubraunen Meute. Im allerletzten Moment flüchtete er sich dorthin, sprang auf dem Stamm hinauf, krallte sich fest in der borkigen Rinde der Zustimmung, die seinen Krallen wunderbaren Halt gab, vergaß alle Warnungen, die er selbst so oft gepredigt hatte, und stieg hoch und immer höher, während unten die blaubraunen Hunde bellten und kläfften, ihre Zähne in die Rinde schlugen, ihren Geifer ins Gras tropfen ließen – aber nicht an ihn herankamen.

(5)

Das war knapp gewesen. Doch nun saß er auf dem Baum, ganz oben, erstmal in Sicherheit. Das Geäst war nicht so stabil, wie er erwartet hatte, der Sichtschutz der Blätter weniger dicht als gewünscht. Und vor allem: Wie sollte er von dort wieder herunterkommen?

Da hörte er ein leises Krabbeln und Kribbeln, ein Zirpen und Zischeln, ein Trippeln und Trappeln. Es war zunächst mehr ein Rauschen als ein definierbares Geräusch. Der alte Kater stellte seine Ohren auf und bald lauschte er aus dem ganzen Durcheinander sogar einzelne Töne heraus. Nun war auch schüchternes Piepen zu vernehmen, mutiges Quaken, fröhliches Brummen. Ungläubig blickte der alte Kater aus seinem Versteck nach unten: Hunderttausende Ameisen wanderten dort, auch Zikaden und Grillen, schüchterne Mäuse, ein paar vorlaute Ratten, lärmende Laubfrösche, auch die eine oder andere Katze schlich mit, sogar ein paar ungelenke Badeenten waren dabei – sie alle zogen unter ihm vorbei. Ein nicht enden wollender Strom von Tieren aller Art zog dahin, und sie alle zirpten und brummten und quakten und miauten nur den einen Satz: „Weg mit den blaubraunen Hunden!!“

Das ganze Land der Tiere war hier unterwegs, endlos zogen die Kolonnen unter ihm entlang, pfeifend und singend flatterten die Vögel mit, brummend und keuchend, bunt und vielfältig, aber einig und ohne Streit ging es voran im großen Marsch der Tiere. Da saß er nun, der alte Kater, oben auf dem Baum, und wusste nicht, wie er von dort wieder herunterkommen sollte. Aber am schlimmsten war: Offenbar vermisste ihn niemand.

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

Immersive Art – and Politics?

Die moderne Lust am Mittendrin-Erlebnis

Hereinspaziert! Das ultimative Erlebnis wartet. Es ist fast wie früher auf dem Jahrmarkt: „Eine Frau ohne Beine! Öffentliche Hinrichtung ohne Blut!“ Schaudernd und zögerlich stand man davor: Soll man diesen Verlockungen folgen? Selbst dabei sein, mittendrin, nicht nur davor?

Immersive Art verspricht das intensive Kulturerlebnis. Im Kirchengewölbe (hier der Stuttgarter Kirche am Feuersee) ist virtuell die Schöpfungsgeschichte zu erleben. Wie wäre es mit Immersive Politics? (Auf dem rechten Foto ein Blick auf die Großdemonstration für Demokratie in Hamburg am 20.1.2024)

 

Die Attraktionen von heute warten nicht auf das nächste Volksfest, sondern lauern in den würfelförmigen Zweckbauten der Moderne am Rande unserer Städte. „Aufwändige Installationen und Projektionen erzeugen in Verbindung mit Musik rauschende Farbwelten und lassen die Gemälde auf noch nie zuvor gesehenen Weisen lebendig und spürbar werden“, wird in Aussicht  gestellt, und: „Erleben Sie selbst, wie sich für Sie Illusion in Realität verwandelt!“ Illusion in Realität? Das ist viel versprochen, das muss man doch erleben.

Vorgebuchte Timeslots für schmucklose Hallen

Mit solchen Lockrufen wirbt beispielsweise „Monets Garten“ für ein immersives Kulturerlebnis rund um den französischen Ausnahmekünstler. Die bunten Welten der virtuellen Kunst boomen und verführen mit interaktivem Spektakel zum Besuch der großen Namen mit den berühmten Bildern.  Menschen, die sonst vielleicht niemals ein Museum betreten hätten, strömen für das immersive Erlebnis zu vorgebuchten Timeslots in schmucklose Hallen, und zahlen dafür satte Eintrittsgebühren.

Mit Vincent van Gogh kann man sich so übergießen lassen, geradezu virtuell ertrinken in seinen Sonnenblumen, oder auch in das endlose Gold von Gustav Klimt abtauchen. Leonardo da Vinci, Claude Monet, Rene Magritte, Frida Kahlo, Salvador Dalí – sie alle wurden schon immersiv aufbereitet. Das Erlebnis beschränkt sich dabei nicht auf die digitale Vervielfältigung des Einmaligen, nicht auf die Vergrößerung des großartig Kleinen ins Vielfache. Es geht um ein sinnliches Gesamterlebnis. Bei „Monets Garten“ kann man über eine mit Plastikblumen ausgeschmückte und synthetischem Fliederduft bestäubte Brücke gehen, also höchst körperlich selbst hineinsteigen in das berühmte Bild mit den Seerosen. Frida Kahlo darf man per VR-Brille durch einen Traumflug folgen, und bei Vincent van Gogh wird dazu eingeladen, sich virtuell in das berühmte Schlafzimmer von Arles hineinzubeamen.

Selfie-tauglich in die Überwältigung starten

Das immersive Erlebnis verspricht ein Eintauchen (engl. Immersion) in die Bild- und Farbwelt eines Künstlers, und das ganz mühelos und ohne dass auch nur ein einziges originales Bild vor Ort wäre. Replikationen ersetzen die millionenschweren Gemälde, ergänzt um eine einleitende Erlebniswelt mit ein paar Informationen zum besseren Verständnis. Gut ausgeleuchtet, Smartphone-Selfie-tauglich wird der Kunstfreund so auf die sinnliche Überwältigung vorbereitet. Die wartet in der großen Halle, über und über bespielt mit Projektoren. Die künstlerische Farbwelt überflutet den Besucher, der dort selbst zur nebensächlichen Projektionsfläche wird, denn eigentlich perlt die Bilderwelt über die Wände und auch auf den Boden. Von sanften Klängen umspielt darf man sich in die bereitliegenden Sitzsäcke fallen lassen, und dann gibt es Seerosen ohne Ende, überall, so schön und nah, wie man sie nie erleben könnte, wenn man ins Museum ginge. Dort würde kein Sitzsack warten und wäre auch keine Musik zu hören. Man dürfte sich unter dem strengen Blick des Aufsichtspersonals dem oftmals als überraschend kleinformatig empfundenen Original allenfalls auf einen halben Meter nähern.

Seerosen ohne Ende … bei „Monets Garten“ sitzt man inmitten eines virtuellen Seerosenteichs. Das Konzept der Überwältigung funktioniert, Menschen erleben Kunst, die vielleicht niemals ein Museum aufsuchen würden.

Da mögen nun die altklugen Kunstkenner die Nase rümpfen über so viel flachen Kommerz und so wenig echte Aura, über die billige Vervielfältigung des Einmaligen, auch über die eitle Sucht, sich ständig selbst digital verewigen zu wollen in der Welt der Großen. Aber das Prinzip Wachsfigurenkabinett funktioniert auch mit Malerei: Wer das Original nicht haben kann, fotografiert sich eben mit der gut gemachten Kopie.

In kirchlichen Gewölben wachsen Pflanzen

Mittendrin, nicht nur davor. Bei solchem Erfolg wollen nicht einmal die Hüter der biblischen Schöpfungsgeschichte beiseite stehen. Unter dem Titel „Genesis“ verteilen sich derzeit die virtuellen Wassermassen strohtrocken über die Kirchenbänke, erlebt der zahlende Besucher die Geburt der Sterne und das erste Licht des Lebens, wachsen in kirchlichen Gewölben dank moderner Projektion gewaltige bunte Pflanzen und versinken dann in der Evolution. „Die audiovisuelle Reise nimmt das Publikum mit in die Erschaffung von Sonne, Mond und Sternen, der Tierwelt und den Menschen“, verspricht der Veranstalter. Und auch hier sind die Kirchenbänke gefüllt bis auf den letzten Platz, die effektvoll ausgeleuchteten Gotteshäuser so voll wie selten sonst im regulären Religionsbetrieb.

Mittendrin im Pulk ist die Kraft zu spüren

Mittendrin, nicht nur davor. Hereinspaziert in die Demokratie!, könnte doch da auch ein politisch bewusster Jahrmarktsgaukler rufen. Wie ist denn schließlich heute Politik zu erleben? Öde ist der flüchtige Blick auf den Bildschirm, das Lauschen nebenbei aufs Radio, das langweilige Scrollen durch die Nachrichten auf dem Smartphone. Das Geschehen um das Gemeinwohl kann so nicht mit sinnlicher Pracht erlebt werden. Wer den Blick stets nur auf die kleinen Bilder heftet, die uns das nimmermüde Netz zuspielt, verpasst das große Bild – das immersive Abenteuer der Demokratie.

Also raus zum lebendigen Politikerlebnis! Hinauszugehen auf den Platz, der Einladung zur Demonstration oder zur Kundgebung zu folgen, sich zu nähern der Gruppe Gleichgesinnter, zu erleben, wie sie wächst und größer wird, wie sie schließlich eine Macht bildet, jedenfalls an diesem Platz und zu diesem Augenblick – das ist die ultimative Erfahrung von immersive politics. Mittendrin im Pulk ist die einende Kraft zu erahnen, die den Einzelnen mit dem wildfremden Nachbarn in der Masse verbindet, ist zu spüren, dass es möglich ist, sich gemeinsam bemerkbar zu machen.

Gewiss, dieses immersive Erlebnis geht vorüber, verglüht wie van Goghs virtuelle Sonnenblumen oder Monets versickerter Seerosenteich in der ausgeleuchteten Eventlocation. Aber immerhin: Einmal wenigstens war man mittendrin, nicht nur davor; einmal ist man der Einladung zum Mitmachen gefolgt. Warum nicht öfter? Es ist ganz kostenlos und ein echtes Erlebnis.

 

Immersive Kunsterlebnisse gibt es derzeit in vielen Städten in Deutschland. Hier eine Auswahl: Frida Kahlo kann man so noch bis 7. April in Berlin erleben, Claude Monet derzeit in München, Hannover, Dresden, Freiburg und Frankfurt und Vincent van Gogh ab 16. Februar in Erfurt.

Die biblische Schöpfungsgeschichte „Genesis I und II“ gibt es derzeit in München zu sehen, und ab 15. Februar auch in Hamburg.

Politische Demonstrationen zur Verteidigung der Demokratie gibt es an vielen Orten. Eine aktuelle Übersicht veröffentlicht z.B. regelmäßig der Deutsche Gewerkschaftsbund.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier, als #Politikflaneur da.

Verirrt im Virtuellen, ratlos in der Realität

Doug Aitkens Videokunst und Freys Mini-Stuttgart – Zwei Ausstellungsbesuche

Das Licht kam aus Neonröhren. Wenn Wolfgang Frey (1960 – 2012) sein Lebenswerk betrat, seine „Festung der Einsamkeit“ (so das Stuttgarter Kulturprojekt SOUP), wenn er den Schlüssel herumdrehte, um in seine eigene, weitgehend geheim gehaltene Welt einzudringen, dann war dies ein 450 Quadratmeter großer, fensterloser Raum im Zwischengeschoss einer Stuttgarter S-Bahn-Station. Frey drückte dann vermutlich einen Schalter. Die Röhren blinkten, flackerten kurz, erwachten schließlich verlässlich zu ihrem kalten Leben, und nun lag sein Werk vor ihm, das Ergebnis unfassbaren Fleißes und manischer Akribie, nie fertig, eine ewige Baustelle. Eine gewaltige Landschaft aus Gleisen und Grabsteinen, aus Pappe und Plastik, aus Vision und Wahnsinn hatte er geschaffen, keine Modelleisenbahnanlage, sondern ein zeitgeschichtliches Kunstwerk.

Im Schauwerk blinkt und blitzt es in aseptischer Reinheit

Inzwischen ist jene dunkle Halle im Untergrund des Stuttgarter S-Bahn-Netzes einem anderen Zweck zugeführt worden (was das für das Werk bedeutete, bleibt noch zu schildern), aber auf dem Weg nach Sindelfingen, zu einer anderen dunklen Halle, käme der Kulturflaneur sogar vorbei an dieser Kasematte schwäbischer Besessenheit. Das Ziel in Sindelfingen ist auch hier ein fensterloser Ausstellungssaal, auch dieser in eher spröder Umgebung zwischen einem Möbel-verkaufenden „Erlebnis-Wohnzentrum“ und der Ödnis dahingewürfelter Bürogebäude platziert. Anders als in Freys gigantischem Bastelkeller ist in Sindelfingen immerhin der öffentliche Zugang erwünscht; man soll schauen im „Schauwerk“, dem Museum der Schaufler-Stiftung. Im dunklen Raum dort blinkt und blitzt es in aseptischer Reinheit. Auf gewaltigen Bildschirmen, die im Rund angeordnet sind, läuft in Endlosschleife eine Bilderserie mit dem Namen „Wilderness“. Mal zuckende, mal tanzende, dann wie im Trance verharrende Figuren verbringen einen virtuellen Tag von Sonnenauf- bis -untergang, ratlos und verloren in der ganzen Schönheit ihrer digitalisierten Einsamkeit. Denn echt ist nichts in dieser blankgeputzten Wildnis, alles ist virtuell, es sind nur noch bunte Bilder, die das Leben bilden, hier in Sindelfingen und auf Instagram, auf Tiktok, auf Youtube.

Alles bewegt sich, und doch geschieht nichts im Panorama der bunten Bilder von Doug Aitkens Videoinstallation „Wilderness“. „Return to the Real“ heißt die Ausstellung im Schauwerk Sindelfingen. Foto: Frank Kleinbach, bereitgestellt von Schauwerk Sindelfingen

Return to the Real!

Return to the Real! Der international renommierte US-amerikanische Videokünstler Doug Aitken hat diese kreisrunde Virtualität für das Sindelfinger „Schauwerk“ geschaffen, die dort noch bis 16. Juni 2024 zu sehen ist. Der Ausstellungtitel „Return to the Real“ – Zurück zum Realen – ist blanker Hohn gegenüber dem Gezeigten, eine absichtsvolle Absurdität. Inmitten des bunten Videospektakels, mit Musikfetzen und Geräuschen unterlegt, findet sich der Betrachter in Ratlosigkeit wieder, irrt herum, sucht nach gedanklichen Auswegen aus dem Panorama der digitalen Bilder. Bis er schließlich ahnt, dass seine eigene Orientierungslosigkeit auch die der Figuren ist, die da sinnieren und singen, tanzen und sitzen und warten, dass endlich etwas geschieht. Immer wieder leuchten ihre Handydisplays, aber sie bleiben leer, nichts ist zu erkennen darauf. Es ereignet sich wenig, schon gar nichts Reales, und so mündet das letzte dumpfe Blinken der Autoscheinwerfer durch die Dunkelheit dieser Nacht im Sonnenaufgang für einen weiteren solchen Tag.

Frey bastelte Tausende Grabsteine und Bäumchen

Kein Luftbild: Der Stuttgarter Pragfriedhof in Wolfgang Freys Nachbildung.

Der Stuttgarter Eisenbahn-Angestellte Wolfgang Frey interessierte sich in seinem dunklen Saal im S-Bahn-Zwischengeschoss nicht für Virtualität, sondern nur für das Reale. Er schuf in zwanzig Jahren „eine original- und maßstabsgerechte Nachbildung“ (so der Ausstellungsprospekt „Stellwerk S“) großer Teile der Stuttgarter Innenstadt und des inzwischen in einer Großbaustelle versunkenen Hauptbahnhofs der Schwabenmetropole. Er fummelte aus Pappe und Holz, aus Abfallmaterialien, Spülschwämmen, Plastikstrohhalmen und Radiergummis in Eigenbau 450 Gebäude im Maßstab 1:160 zusammen, von deren Vorbildern viele heute schon nicht mehr stehen. Er schnitzte für die Minitaturausgabe eines Großfriedhofs 2500 Grabsteine, bastelte Tausende Bäumchen, bemalte Hunderte Automodelle und Schienenfahrzeuge, verlegte kilometerweit Kabel. Das tote Leben dieser Miniaturwelt, deren Schöpfer, deren Gott, er war, steuerte er schließlich mit einem eigenen Stellwerk, das er originalgetreu seinem eigentlichen Arbeitsplatz bei der Bahn nachbildete. Entstanden ist so das „größte Stadtmodell Europas“ (Prospekt) auf einer Fläche von 180 Quadratmetern. Dann starb Wolfgang Frey 2012 überraschend im Alter von 52 Jahren, und ließ sein übermenschliches Werk im Dunkel des S-Bahn-Zwischengeschoss zurück. Bis heute ist die Stadt, die er nachbaute, ratlos, wie mit diesem Erbe umzugehen ist.

Doug Aitkens Bilderkreisel wird abgebaut werden, wenn die Sindelfinger Ausstellung endet. Die großen Videowände sorgsam verpackt, die Projektoren in gepuffte Folien gewickelt, die steuernde Software heruntergefahren. Das Werk wird in die nächste dunkle Halle verbracht werden, wo es wieder zu seinem virtuellen Leben erweckt wird und unsere eigene Ratlosigkeit ausbreiten kann vor uns selbst.

In der Realität musste zerhackt und zersägt werden

Return to the Real! Als Wolfgang Frey tot war, herrschte bleierne Ratlosigkeit im Umgang mit seiner riesigen Modellwelt. Die Bahn wollte ihr Zwischengeschoss wiederhaben, kaum jemand hatte zuvor das Werk jemals gesehen. Es war auch von Frey gar nicht gebaut worden als Gegenstand der allgemeinen Bewunderung, sondern als Sehnsuchtsort für seine eigene Welt. Schließlich musste die riesige Anlage brutal zerstückelt werden, die Gleise abgehackt, die Kabel gekappt, die Berge herausgesägt, der Friedhof geteilt werden, um das Monstrum erstarrter Zeitgeschichte überhaupt herauszubekommen aus dem Dunkel des Untergrunds.

Stau im Maßstab 1:160 – Freys zeithistorisches Kunstwerk legt die Banalität des Realen offen: eine gescheiterte Verkehrspolitik und zweckorientierter Nachkriegs-Städtebau.

Nach einer Zwischenstation sind nun die Fragmente im Stuttgarter Stadtzentrum, gleich gegenüber vom nachgebildeten Bahnhof, zu besichtigen. „Stellwerk S“ nennt sich das Ladengeschäft, in dem Ehrenamtliche versuchen, im zähen Ringen mit Staub und Geldnot die Ruinen von Freys analogem Bastelwerk der virtuell verwöhnten Öffentlichkeit von heute zu präsentieren. Die Bruchstücke, die dort, nun bei Tageslicht, zu sehen sind, vermitteln wenigstens in Ansätzen, welchem akribischen Wahnsinn dieser große Schöpfergeist des Realen nachjagte. Ganz nebenbei und vielleicht ohne Absicht hat dieser auch noch das ganze Scheitern der Stuttgarter Verkehrspolitik (nur Stau auf allen Straßen, sogar im Modell) verewigt, und auch die raffgierige Dürftigkeit einer Nachkriegs-Städtebaupolitik, die nur die schnelle Nutzbarmachung, nicht aber die Ästhetik eines Stadtbildes im Blick hatte. Frey hat genau diese Realität nachgebaut, hält sie seiner Stadt nun als Spiegel der Banalität in Karton und Farbe vor die Nase.

Zieht man den Stecker, versinkt die virtuelle Welt im Dunkel

Zwei Ausstellungsbesuche lassen erleben, wie sich in zwanzig Jahren Wahrnehmung und Zeitgeist verändert haben. Bei Aitken blinken die sauberen bunten Bilder einer sich ständig wiederholenden, nie endenden Suche nach Sinn, und zieht man den Stecker, versinkt diese Welt im beliebigen Dunkel. Freys verrücktes Miniatur-Stuttgart ist dagegen ein bitteres Abbild der Realität. Seine Tausenden Staub-ergrauten Bäumchen, seine akribisch sortierte Ödnis der Grabsteinchen, seine Tristesse der immer gleichen Bürohäuser, die verblassenden Aufschriften der inzwischen schon versunkenen Geschäfte, die schon zum Zeitpunkt ihres Nachbaus totgeweihten Industriehallen, die erstarrten Staus auf den Straßen – sie allesamt mahnen an das banal Reale, das uns umgibt.

Da hilft kein Stecker, ratlos bleiben wir zurück, hier wie dort.

 

 

„Return to the Real“, die Ausstellung des Videokünstlers Doug Aitken ist noch bis 16.6.202 zu besichtigen im Schauwerk Sindelfingen.

 

Die Stuttgarter Miniaturwelten „Stellwerk S“ sind zu finden gegenüber dem Hauptbahnhof am Arnulf-Klett-Platz 1-3. Geöffnet ist üblicherweise von Mittwoch bis Sonntag von 13 bis 17 Uhr. Das Projekt kämpft ums finanzielle Überleben; mit jedem Besuch des Werkes von Wolfgang Frey unterstützt man auch dessen Erhalt.

 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

Neue 10 Gebote für Deutschland

Die Heimeligkeit ist vorbei. Der Baum, der gerade noch im Mittelpunkt stand, wird entsorgt – und zwar irgendwohin. Soll sich doch irgendwer drum kümmern. Es ist Zeit, klarzustellen, was sich die wohlwollende Mehrheit nicht mehr gefallen lassen will. Foto: MolnarSzabolcsErdely lizenzfrei via Pixabay

Was wir sozialen Rüpeln, Populisten, Besserwissern und Hetzern im neuen Jahr nicht mehr durchgehen lassen sollten

Deutschland zittert. Nicht nur vor der Januar-Kälte, sondern auch vor den Konflikten und Wahlen des neuen Jahres. Dabei hätte dieses Land alle Chancen, seine freiheitliche Ordnung zu erhalten, den breiten Wohlstand zu sichern und die aktuellen Krisen zu bewältigen, vielleicht sogar gestärkt aus ihnen hervorzugehen.

Wichtiger als klick-gieriger Alarmismus wäre es, dass sich die wohlwollende Mehrheit in Deutschland neu darauf verständigt, auf welcher Grundlage wir zusammenleben wollen. Wer wach durch unseren Alltag geht, erlebt Zumutungen, an die wir uns nicht gewöhnen sollten, egal welchen politischen Standpunkt wir jeweils einnehmen, die wir nicht praktizieren wollen und auch nicht ertragen wollen, wenn es andere tun.

Hier ein Vorschlag für  Zehn Gebote für das Miteinander in einem freiheitlich-demokratischen Deutschland und gegen die Spaltung unserer Gesellschaft:

 

(1) Verhalte Dich rücksichtsvoll

Eine Gruppe Jugendlicher feiert Silvester. Sie haben sich mit Böllern eingedeckt, es kracht und scheppert nach Herzenslust. Damit es noch lauter wird, werfen sie die Knallkörper in eine fremde Tiefgarageneinfahrt. Den Müll lassen sie liegen. 

Die Bereitschaft und Sensibilität für Rücksicht ist eine zentrale Basis unseres Zusammenlebens. Es gibt keine Freiheit ohne Rücksicht. Freiheit als simple Durchsetzung der eigenen Interessen führt zu massiver Unfreiheit vieler. Nicht jeder Schaden, nicht jede Beeinträchtigung ist rücksichtslos, beabsichtigt oder vermeidbar. Aber das allgegenwärtige Bemühen, größtmögliche Rücksicht zu üben, würde das gesellschaftliche Klima grundlegend zum besseren verändern.

 

(2) Achte Deine Mitmenschen, wer und wie auch immer sie sind

Karl Lauterbach postet auf X (Twitter) ein Foto mit sich und seinem Doktorvater Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie, der inzwischen 89 Jahre alt ist. Neben Sen steht dessen Frau: Emma Rothschild. Es ergießt sich über Lauterbach eine Flut von antisemitischem Hass und düsteren Verdächtigungen.

Menschen aufgrund irgendwelcher Wesensmerkmale anders zu beurteilen als alle anderen Menschen, ist inhuman und widerspricht den Werten des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art. 3 GG).

Dort steht nicht, dass man bestimmte Menschen mögen muss. Niemand muss sich individuell anfreunden, sie einladen, ihnen helfen, sie unterstützen. Aber das Gegenteil ist unethisch und zudem oft verboten. Traditionelle, kulturelle und moralische Übereinkünfte regeln unser Zusammenleben. Für viele Situationen gelten darüber hinaus regulär zustande gekommene Gesetze. Innerhalb dieses Rahmens gilt: Jeder ist zu akzeptieren so, wer oder wie er ist. Ohne Wenn und Aber.

 

(3) Übe Respekt

Die junge Frau steht an der Supermarktkasse, das Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt. Sie telefoniert. Den Mann an der Kasse würdigt sie keines Blickes, das Gespräch unterbricht sie nicht. Er ist kein Mensch für sie, nur eine Funktion.  

Am Anfang jeder Begegnung steht Respekt. Im menschlichen, wie im demokratischen Diskurs darf Respekt erwartet werden, gegenüber jeder Meinung, jeder Herkunft, jeder Einstellung. Auf dieser Grundlage gilt es, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, sich für oder gegen eine Fortsetzung des Kontaktes zu entscheiden. Respekt ist eine Haltung, Respektlosigkeit eine Beleidigung.

Respekt endet dort, wo er auf Respektlosigkeit trifft. Gegen Intoleranz und Verleumdung ist aktives Handeln mit den Mitteln des Rechtes und der öffentlichen Auseinandersetzung angezeigt.

 

(4) Verteidige das Recht

Der Weihnachtsbaum, gerade noch bestaunter Mittelpunkt des Wohnzimmers, liegt am Straßenrand. Ein paar Plastikkugeln baumeln noch daran, niemand hat sich die Mühe gemacht, das nun plötzlich lästig gewordene Grünzeug kompostierfähig dorthin zu bringen, wo es gesammelt werden kann. 

Auf der Parkbank liegt bergeweise Müll, Pizzakartons, halbleere Flaschen, Getränkebecher, Plastiktüten. Hier wurde gefeiert.

Es gilt Tempo 40, alle paar Meter steht ein Schild. Kinder springen auf dem Gehweg herum, Eltern schieben Kinderwagen. Da braust mit aufheulendem Motor der SUV heran und jagt vorbei, legt sich mit quietschenden Reifen in die nächste Kurve.

In Deutschland gilt das Recht auf der Basis von Gesetzen. Es ist aus gutem Grund geregelt, wie schnell wir fahren dürfen, wohin wir unseren Müll zu entsorgen und wie viele Steuern wir zu bezahlen haben. Gegen diese Regeln absichtsvoll zu verstoßen oder sie zu ignorieren, gefährdet das Wohl der Allgemeinheit.

Nicht überall kann Polizei stehen. Und nicht jede Regel ist in jeder Situation relevant. Gerade deshalb ist jede und jeder Einzelne gefordert, das eigene Handeln auf die Wirkung für die Allgemeinheit zu reflektieren, Regeln zu kennen, sie einzuhalten und für ihre Einhaltung zu werben.

 

(5) Sieh hin, wenn Dir Not begegnet

„Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,9 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 14,1 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 840.000 mehr als vor der Pandemie. “ (Paritätischer Wohlfahrtsverband)

Menschlichkeit ist eine Haltung. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Mit diesem Satz beginnt das deutsche Grundgesetz. Existenzielle Not und Armut sind in jedem Fall Verstöße gegen die Würde des Menschen, und zwar auch dann, wenn sie eventuell ganz oder teilweise selbst verschuldet sind. Es kann tausend gute Gründe geben, warum der einzelne sich nicht in der Lage sieht, durch eigenes Handeln das Leid auf der Welt zu lindern. Nicht jeder kann oder will spenden. Nicht jede muss sich engagieren. Und auch Deutschland als Staat kann sich gewiss nicht alles Leid auf der Welt aufladen.

Niemand wird gezwungen, sich mit Armut auseinanderzusetzen, zu spenden oder zu helfen. Das Wegsehen ist empathielos. Foto: Alan Dobson lizenzfrei auf Pixabay

 

Die Alternative dazu ist nicht das Wegsehen. Wegsehen ist das Gegenteil von Menschlichkeit. Wenigstens das Wahrnehmen, eine empathische Sicht auf die Not um uns herum und in der Welt, darf in einer humanen Gesellschaft von jedem und jeder erwartet werden.

 

(6) Hüte Dich vor der Lüge

Die Grünen stehen letztendlich für diese Kultur: Nein, nein, nein. Verbot, Verbot, Verbot. Nur das einzige Mal überhaupt sind sie bei etwas nicht fürs Verbot. Es gibt nur eine Geschichte, wo die Grünen für eine Erlaubnis sind: Das sind Drogen.“ (Markus Söder im Bierzelt Trudering, 12.5.2023)

Die Lüge ist das böse Gift des Zusammenlebens. „Du sollst kein falsches Zeugnis geben“, lautet das achte der zehn christlichen Gebote. Niemand muss eine bestimmte Meinung teilen. Jeder darf mit Argumenten fechten, auch mit Zuspitzungen, im persönlichen Gespräch genauso wie im öffentlichen Diskurs. Aber die pure Lüge ist unsittlich, genauso wie absichtsvolles, böswilliges Missverstehen des Gegenübers.

 

(7) Überwinde die Gleichgültigkeit gegenüber unseren Lebensgrundlagen

„Ab dem 4. Mai 2023 leben wir ökologisch gesehen auf Kredit: Wenn alle Menschen auf der Welt so leben und wirtschaften würden wie wir in Deutschland, wäre bereits an diesem Tag das Budget an nachhaltig nutzbaren Ressourcen und ökologisch verkraftbaren Emissionen für das gesamte Jahr aufgebraucht.“ (Germanwatch)

Überwinde die Gleichgültigkeit gegenüber unseren Lebensgrundlagen. Foto: Annette lizenzfrei via Pixabay

Was sichert den Wohlstand? Die Industrie und der Mittelstand, die Startups und die Handwerker, die Arbeitsplätze bereitstellen. Die globale, vor allem europäische Vernetzung unserer Volkswirtschaften. Das Engagement und die Veränderungsbereitschaft der Menschen, die sich in die Prozesse der Volkswirtschaft einbringen. Deshalb haben wir Arbeit, deshalb zahlen wir Steuern.

Das alles stimmt. Aber wenn wir dabei die Grundlagen unseres Lebens zerstören, dann sägen wir an dem Ast, auf dem wir sitzen. Diese Herausforderung ist existenziell und unbestreitbar. Es gibt gute Gründe, über die richtigen Wege aus dieser Situation zu streiten. Wer ihr aber mit Gleichgültigkeit begegnet und gar so tut, als gäbe es das Problem nicht, oder als gehe es ihn nichts an, der spricht oder handelt verantwortungslos.

 

(8) Achte das Eigentum der Gemeinschaft

„Graffiti-Schmierereien machen den größten Anteil von Vandalismus bei der Deutschen Bahn (DB) aus. In bundesweit knapp 24.000 von insgesamt rund 35.000 Fällen seien im vergangenen Jahr Schäden durch Graffiti festgestellt worden, teilte eine Bahn-Sprecherin der Deutschen Presse-Agentur mit.“ (rbb)  

„Open Piano nach zwei Tagen zerstört“ – eine engagierte Bürgerin hatte in Stuttgart im Sommer 2023 ein Klavier in eine U-Bahn-Unterführung gestellt und geschmückt. Alle Beteiligten waren einverstanden, niemand hatte einen Schaden, viele eine Freude. Es war als Angebot an Passanten gedacht, „im Vorbeigehen“ ein kleines Klavierstück zu spielen. An einem Freitag aufgestellt – schon am darauffolgenden Sonntag war es zerstört, die Dekoration zerfetzt. In zwischen wurde es repariert. 

Der öffentliche Raum ist das Wohnzimmer der Gesellschaft. Vandalismus ist ein Anschlag auf fremdes, gemeinschaftliches Eigentum, er verletzt Gefühle der Mitmenschen, und das Eigentum aller – strafbar ist er noch dazu. Vandalismus hinzunehmen oder zu verharmlosen, bedeutet, die Werte der Gemeinschaft als disponibel zu betrachten.

 

(9) Wenn Du Verantwortung trägst, sorge für Funktionsfähigkeit

„Der durchschnittliche Zeitaufwand für einen Amtsbesuch in einer Großstadt betrage 2 Stunden und 18 Minuten, in einer mittelgroßen Stadt 2 Stunden und 20 Minuten und in einer Kleinstadt 2 Stunden und 21 Minuten.“ (FOCUS Online unter Bezug auf eine Umfrage von Bitkom, 3.1.2024) 

„Derzeit beträgt die Bearbeitungszeit für einen Wohngeldantrags 14 Monate.“ (Eine Amtsleiterin in Stuttgart).  

So wie die Bürger ihren Pflichten gegenüber dem Staat nachzukommen haben, so muss auch der Staat sein Leistungsversprechen halten. Überbordende Bürokratie, fehlende Digitalisierung, unsinnige Formulare, schleppende Abläufe untergraben die Identifizierung des Einzelnen in den freiheitlichen Staat. Daher tragen alle dort besondere Verantwortung für das Gelingen des Zusammenlebens. Sie haben für angemessene Funktionsfähigkeit zu sorgen.

Diese Prinzip gilt immer, auch in der freien Wirtschaft. Für den Staat und seine Institutionen gilt es aber in besonders hervorgehobener Weise. Im Umgang mit Behörden ist der Bürger Kunde. Er ist angewiesen auf eine funktionsfähige Verwaltung, denn er hat dazu keine Alternative. Mangel an Personal ist keine Rechtfertigung für versagende Funktionalität, sondern Ausdruck für ein Versagen in der Wahrnehmung von Verantwortung.

Dies alles begründet jedoch keine unangemessene Anspruchshaltung gegenüber der Verwaltung. Der Staat muss sparsam wirtschaften, daher kann er nicht beliebig viele Ressourcen bereitstellen.

 

(10) Gestalte die Veränderung

„So soll es sein, so kann es bleiben, So hab´ ich es mir gewünscht. Alles passt perfekt zusammen, weil endlich alles stimmt.“ (Liedtext Annette Humpe / Adel Tawil)

Nichts bleibt, wie es ist. Im Privaten kann jeder Mensch versuchen, seine Dinge so zu belassen, wie er sie sich geordnet hat. Wer aber sein Haus verlässt, stellt fest: Alles ändert sich. Alles ist anders als vor zehn oder zwanzig Jahren. Und es wird in zehn Jahren anders sein als heute.

Wer also der Gesellschaft in Aussicht stellt, dass die Dinge so bleiben könnten, wie sie sind, ist unredlich. Wer Veränderungen gestaltet, Vorschläge dazu macht, Verantwortung übernimmt, handelt im Interesse des Gemeinwohls. Über den Umgang mit Veränderung zu streiten, ist notwendig und richtig. Die Notwendigkeit zur Veränderung selbst zu leugnen, ist unehrlich und respektlos gegenüber den kommenden Generationen.

 

Alles Selbstverständlichkeiten?

Umso besser. Wenn nur die Mehrheit unserer Gesellschaft im neuen Jahr danach handelt und nicht mehr hinnimmt, dass dagegen verstoßen wird, dann werden sie schnell verschwinden: Die Sozialrüpel, die großen Verführer, die Billighändler der einfachen Wahrheiten, die bösartigen Hetzer gegen die Menschlichkeit. Lasst uns beginnen!

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

 

Die Standhafte im Konsumsturm (#52)

Hauptkirche St. Petri, Mönckebergstraße, 20095 Hamburg

Mein Besuch am 5. Januar 2024

Kirchen, die am unmittelbaren Rand von großstädtischen Haupteinkaufsstraßen liegen, haben eine ganz besonderen Auftrag. Wie Botschafter einer anderen Welt blicken sie auf den kommerziellen Trubel um sie herum, auf leuchtende Markenreklame, auf baumelnde Einkaufstüten, auf das ganze hektische Treiben des ungehemmten Konsums. Die Verantwortlichen solcher Kirchen sind sich ihres besonderen Auftrags als Insel im Sturm der materialistischen Moderne bewusst. Sie öffnen ihre Kirchen meist ganztägig und laden das um sie herum gaukelnde Shopping-Volk ein zu einem Moment der Besinnung, zu einem Augenblick der Stille.

Ein liegender Weihnachtsbaum: Auf dem Wachs der abgebrannten Kerzen leuchtet das Licht von heute.

 

Die Hauptkirche St. Petri an Hamburgs Haupteinkaufsstraße empfängt ihre Besucher mit urbaner Weite. Nach fast vollständiger Zerstörung beim großen Hamburger Brand von 1842 fast vollständig neu errichtet, wirkt das seither neugotisch gestaltete Kirchenschiff streng, wach und standhaft. Die bunten Fenster und das gut gedimmte Licht macht im Winter die Kirche zu einem sehr einladenden Raum.

Eine Kirche, die sich den gesellschaftlichen Debatten ihrer Zeit stellt: Heute gegen Antisemitismus und Terror, früher rund um die Atomkraft.

Das Standhafte scheint mir hier ohnehin ganz wesentlich zu sein. In der Auseinandersetzung um die Atomkraft spielte dieser Kirchenbau eine Rolle, als die Petri-Kirche 1979 von Atomkraftgegnern auf der Suche nach „Kirchenasyl“ mehr als zwei Wochen lang besetzt worden war. Die Verzweiflung, die damals mit der Atomkraft verbunden war (und heute bei manchen völlig in Vergessenheit geraten zu sein scheint), trieb schon fast zwei Jahre früher, im November 1977, vor der Petrikirche den unglücklich-fanatischen Atomkraftgegner Hartmut Gründler in die Selbstverbrennung. Es war ein Protest gegen die SPD und ihren damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, die zeitgleich ihren Parteitag in Hamburg abhielt.  Heute erinnert eine Gedenktafel an der Kirche an diese Verzweiflungstat, und sie mahnt vielleicht auch daran, welchen  gesellschaftlichen Frieden wir der Entscheidung verdanken, Deutschland aus der Atomkraftnutzung herauszuführen. Heute fordern andere Konflikte die Standhaftigkeit der Gesellschaft heraus, und damit auch dieser Kirche. Ein großes Plakat an der Fassade der Petrikirche mahnt zum „Nein zu Antisemitismus und Terror“. Und ein Denkmal für den von Nazis im KZ ermordeten evangelischen Geistlichen Dietrich Bonhoeffer steht auch im prominenten Schatten dieser Kirche, ein Mahnmal für Standhaftigkeit bis zum eigenen Tod.

In der Kirche wärmte in den Nach-Weihnachtstagen ein besonderer Christbaum mein Gemüt: Er stand nicht, sondern lag. Auf einem querliegenden Stamm türmte sich erstarrtes Wachs, herabgeronnen von Tausenden Kerzen, die man dort erwerben und auf das stetig anwachsende Wachsgebirge kleben konnte, ihrer leuchtenden, mahnenden Vergänglichkeit entgegen.

Das neugotische Kirchenschiff wurde nach dem Hamburger Brand von 1842 errichtet. Gute Lichtführung erzeugt eine Atmosphäre von einladender Wärme.

 

Die Hauptkirche St. Petri hat eine sehr informative Website mit einem virtuellen Rundgang: https://www.sankt-petri.de/turm-kirche-kunst/virtueller-rundgang

Von den Hamburger Hauptkirchen habe ich auch schon die nah am Hafen stehende Hauptkirche St. Katharinen besucht. Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier. 

 

Fünfzig Jahre nach Ho Chi Minh

Mit dem Rad durch Vietnam und Kambodscha – ein politisch geprägter Reisebericht

Von Hubert Seiter

Das alte Saigon heißt jetzt Ho Chi Minh-City – aber von den Schrecken des Vietnam-Krieges ist im Alltag kaum etwas zu spüren. Überall begegnen dem Touristen überaus freundliche Menschen. (Foto: Seiter)


 

 

Hubert Seiter war von 1996 bis 2016 Geschäftsführer der Rentenversicherung Baden-Württemberg. Ehrenamtlich engagierte er sich in zahlreichen Institutionen, unter anderem im Krebsverband Baden-Württemberg, in zahlreichen Patienten- und Behindertenorganisationen und als alternierender Vorsitzender im Verwaltungsrat des Medizinischen Dienstes (MD) Baden-Württemberg. Seiter ist passionierter Radfahrer und lebt in Bietigheim-Bissingen. (Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg)


„Ho Ho  – Ho Chi Minh!“ –  dieser rund fünfzig Jahre alte Schlachtruf weckte meine Erinnerungen bei einer Radreise im Spätherbst 2023 nach Vietnam und Kambodscha. Als „Bub vom Land“ habe ich damals die weltweiten Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner zunächst nur aufmerksam verfolgt. Erst zum Schluss habe ich mich getraut mitzudemonstrieren, aber bitte möglichst unauffällig. Als junger „Beamtenanwärter für den gehobenen, nichttechnischen württembergischen Verwaltungsdienst“ wusste oder ahnte ich, dass solche Aktivitäten den allermeisten Chefs – Landräten oder Bürgermeistern (damals fast nur Männer) – gar nicht gefallen würden.

Das alles ging mir auf dem viel zu langen Flug nach Saigon durch den Kopf, pardon: nach Ho-Chi-Minh-City – wie die 9-Milionen-Metropole seit 1976 zu Ehren des 1969 verstorbenen Revolutionärs und Präsidenten von Vietnam heute offiziell heißt. Drei Wochen lagen vor mir, in denen ich überwiegend auf dem Rad durch Südvietnam, durch das riesige Mekongdelta, und schließlich im benachbarten Kambodscha die Hauptstadt Phnom Penh und die unzähligen Tempel in Angkor Wat entdecken würde. Ich wollte mehr, und auch etwas darüber erfahren: Wie haben die Menschen in diesen Ländern den grausamen Vietnamkrieg gegen die Amerikaner und die nicht minder barbarische Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha verarbeitet – knapp fünfzig Jahre nach Kriegsende im Jahr 1975?

Das frühere Saigon lächelt

Das frühere Saigon lächelt, als ob nichts gewesen wäre. Man sieht fast nur junge, überwiegend sehr freundliche Menschen auf den Straßen. Das Durchschnittsalter der knapp 100 Millionen Einwohner Vietnams liegt gerade mal bei 32 Jahren – in Deutschland beträgt der Vergleichswert 45 Jahre. Die wenigsten Menschen haben daher unmittelbar mit- und überlebt, wie die USA in einer beispiellosen Material- und Menschenschlacht in Vietnam einen „Stellvertreterkrieg gegen den Weltkommunismus“ (so der Marco-Polo-Reiseführer „Vietnam“) geführt hat. Viele Millionen Tonnen Bomben, chemischen Kampfmitteln („Agent Orange“), einfach alles, was modernste Waffenarsenale damals hergaben, wurde eingesetzt.

Geschätzt 3,5 Millionen Menschen – Soldaten und Zivilisten – wurden getötet, unzählige Menschen verletzt und vertrieben. Es gibt Gedenkstätten, welche die Erinnerung an die Gräueltaten und an den stolzen Sieg wachhalten, z.B. in Cu Chi. Nachzuerleben ist dort, wie die „sehr schmächtigen Vietnamesen“ unter der Erde ein Tunnelsystem, auch mit Schutzräumen und Krankenhäusern, gegraben haben, das für die „beleibten Feinde“ unzugänglich war. Auch ein Museum mit allerlei Kriegsgerätschaften gibt es. Im Alltag dominierend ist die Erinnerung an diese Zeit jedoch nicht. Auf den mit tausenden Mopeds überfüllten Straßen habe ich keinerlei Hass gespürt. Man hat offensichtlich selbst mit Amerika seinen Frieden gefunden – spätestens seit dem Besuch von Bill Clinton im Jahr 2000, berichtet unser kundiger Reiseführer.

Gibt es eine „Verzeihenskultur“?

Kann das stimmen? Mir ist es zu einfach und ich nehme mir deshalb vor, mich zu Hause intensiver mit Konfuzius, Buddha und dem Daoismus zu befassen. Vielleicht finde ich Erklärungen für „eine Friedens- und Verzeihenskultur“, Werte, die beim Aggressor Putin, aber auch bei vielen „Zündlern“ in der NATO derzeit leider überhaupt keine Konjunktur haben.

Der Mekong mündet im zweitgrößten Delta der Welt (nach dem Amazonasdelta) in das Südchinesische Meer. Diese Landschaft auf dem Rad zu entdecken ist überwältigend. Fischfang, große Reisfelder, Handwerksbetriebe, viele Fähren (statt Brücken) und zunehmend -hoffentlich – auch ein bald wieder wachsender Fremdenverkehr, ermöglichen vielen Menschen ein bescheidenes Auskommen. Wir übernachteten überwiegend in sog. Homestays und ließen uns von vietnamesischer Hausmannskost verwöhnen. In allen Variationen gab es Fisch, Fleisch, vielfältiges Gemüse, Reis und tolle Früchte zum Nachtisch. Besondere Gewürze machten den (großen) Unterschied zum „Vietnamesen um die Ecke“ in Deutschland.

Auf kleinen Pfaden fuhren wir von Dorf zu Dorf.  Unser Guide hat es geschafft, uns fünf Tage lang durch das Delta zu lotsen, ohne dass wir einem Touristen begegnet wären, immer und überall begleitet von nur freundlichen Menschen, die uns „Hello“ zujubelten.

Mitten in Phnom Penh: Eine Begegnung auf Deutsch

Mit dem Tuk-Tuk durch Phnom Penh gefahren werden – und dabei kann man viel darüber erfahren, wie es war, als Arbeitskraft in der früheren DDR gelebt zu haben. (Foto: Seiter)

Dann weiter nach Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas. Die Busfahrt aus dem märchenhaften Mekongdelta und ein langwieriger Grenzübergang – trotz einiger Dollar Bestechungsgeld – waren eine angemessene Einstimmung. Im Reiseführer steht: „Die 600 Jahre alte Hauptstadt (ca. 2 Mio. Einwohner) ist auf einer rasanten Zeitreise ins 21 Jh. und dem bäuerlichen Rest des Landes um Lichtjahre voraus“ (Marco Polo „Kambodscha“). Nicht ganz so viele Mopeds gibt es dort wie in Saigon, dafür aber sehr viele Tuk-Tuks – motorisierte Rikschas. Unglaublich, was auf diesen „Dreirädern“ alles transportiert werden kann! Wir fanden ein Tuk-Tuk mit einem hervorragend Deutsch sprechenden Fahrer. Bis zur Wende war er „auf Arbeit“ bei Zeiss in Jena. Er hatte viel zu erzählen, auch aus seinen Lehr- und Arbeitsjahren in der DDR. „Gönnt euch einen Abend in dem Dachkaffee eines Hochhauses“, empfahl er uns. Wir folgten dieser Empfehlung und genossen einen wunderschönen Sonnenuntergang über den Dächern von Phnom Penh… bei Cocktails zu einem Preis, den sich unser „deutscher“ Tuk-Tuk-Fahrer trotz üppigem Trinkgeld wohl kaum leisten kann.

Segen und Fluch des Tourismus

Bleibt zu hoffen, dass Kambodscha im Aufschwung doch noch erspart bleibt, was sich – leider – anzudeuten scheint: Sextourismus und/oder Raubtierkapitalismus. Je ein Edelkarosse „Maybach mit Chauffeur“ in Saigon und in Phnom Penh werteten wir dafür als nicht unbedingt gute Zeichen.

Nicht mehr zu entscheiden hat man das in Angkor mit seinen unzähligen Tempel- und Klosterruinen im Dschungel. Dort gibt es bereits im benachbarten Siem Reap eine Partyszene. Nicht auszudenken, wenn jetzt – nach Corona – wieder der Massentourismus aus China einsetzt. Die Kehrseite: Über 300 Hotels (2022), und doch sind viele Gaststätten in Siem Reap immer noch geschlossen, viele Reiseführer arbeitslos. Stattdessen verkaufen Kinder im Vergnügungsviertel kleine Souvenirs und tragen so zum kümmerlichen Lebensunterhalt ihrer Familien bei.

Da einfach nur mildtätig kaufen nicht mein Ding ist, versuchte ich mit einigen – meist – VerkäuferInnen ins Gespräch zu kommen. Ein besonders neugieriges und wissbegieriges kleines Mädchen hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ich bat sie gestenreich, sich zu uns zu setzten. Auf einer Papierserviette löste sie kleine Rechenaufgaben und vergaß dabei einige Minuten völlig ihren „Job“. Die Serviette – und einen Dollar für einen kleinen Anhänger – packte sie in ihr Täschchen. Wir trafen sie auf dem Heimweg nochmals. Freudestrahlend – und ich glaube auch etwas stolz – zeigte sie uns die Serviette aus ihrem Täschchen.  Ich nahm mir vor, zu Hause nach Projekten zu suchen, die Kindern in Kambodscha – immer noch eines der ärmsten Länder weltweit – Schule und damit Zukunft ermöglichen.

Zwei Tage unterwegs, nur einen Bruchteil gesehen

Einen Teil der riesigen Tempelanlagen in Angkor zu entdecken – verteilt auf eine Fläche so groß wie Berlin! – gelingt am besten auf dem Rad. Auf dem Mountainbike, abseits der Massen, geführt von einem kundigen Guide war es ein unbeschreibliches Erlebnis, im Dschungel nicht nur die gängigen Tempel zu finden. Zwei Tage waren wir unterwegs und haben doch nur einen Bruchteil der sehenswerten Ruinen gesehen. Einfach unvorstellbar, was die Hochkultur der Khmer vor eintausend Jahren hier geschaffen hat. Diese Schätze der Vergangenheit zu schützen und zu erhalten, ist eine Herkulesaufgabe – nicht nur für das arme Kambodscha, sondern für die ganze Welt!

Mit dem Fahrrad durch den Dschungel, und dabei die geheimnisvolle Tempelwelt des Angkor Wat entdecken – ein unvergleichliches Erlebnis. (Foto: Seiter)

Auch dafür ist der nagelneue, hochmoderne Flughafen von Siem Reap Segen und Fluch zugleich. Millionen von Touristen werden in den nächsten Jahren erwartet. Sie bringen die dringend notwendigen Devisen in die Region und nach Kambodscha, aber die Touristen sind auch eine Gefahr für die unverfälschte Freundlichkeit dieser liebenswerten Menschen und den Erhalt der unschätzbaren Kunstwerke vor Ort.

Auf dem Rückflug: Träumen ist erlaubt

So war für mich während des 13-stündigen Fluges zurück von einer nachhaltig- beeindruckenden Reise durch Vietnam und Kambodscha das Träumen angesagt: Bemühen wir uns alle um viel mehr und behutsame Wertschätzung. Reagieren wir wütend auf unmenschliche und unsagbar teure Kriege auf der Welt. Fordern wir Versöhnung statt Revanchismus! Christen, Juden, Buddhisten, Muslime, Atheisten – einfach alle sind gleichermaßen verpflichtet!

 

Dieser Text ist ein Gastbeitrag auf vogtpost.de und gibt ausschließlich die persönliche Meinung von Hubert Seiter wieder.

Wer der Empfehlung von Hubert Seiter folgen und Projekte für Kinder in Kambodscha unterstützen möchte, kann dies an zahlreichen Stellen tun. Hier eine Auswahl: UNICEF-Projekte für Kambodscha, SOS-Kinderdorf in Kambodscha, oder das Projekt „Raise and support the Poor“, das dem Autor persönlich bekannt ist.

 

Mit dem Vietnam-Krieg und wie er in den USA und Deutschland wirkte, setzt sich auch der Text „Vom Frieden träumen, im Krieg aufwachen“ auseinander, veröffentlicht anlässlich eines Musical-Besuchs von „Hair“ in Saarbrücken im Frühjahr 2023.