Ein Besuch bei der Tulpenblüte in Holland
Reihe um Reihe recken die Tulpen, abertausende, vielleicht Millionen ihre farbigen Köpfe der Sonne entgegen. Dort, wo sie dicht an dicht stehen, schützt sie ihre eigene Pracht davor, einfach zertrampelt zu werden. Aber an ihrem Ende franst die Reihe aus, wird löchrig, und eine einzelne Pflanze hat schließlich das traurige Schicksal, dort ganz am Rand zu stehen, als äußerster Vorposten der Blütenpracht, gerade noch dazugehörig und doch schon gefährlich vereinzelt.
Diese Tulpe ist es, die größte Gefahr läuft, von Narziss übersehen zu werden.
Der schöne Jüngling war verliebt in sein Spiegelbild
Um diesen schönen Jüngling aus der griechischen Mythologie geht es in diesem Text. Die gelbe Frühlingsblume „Narzisse“, hierzulande auch oft als „Osterglocke“ bekannt, verdankt ihm ihren Namen. Die Sage erzählt, dass Narziss sich so sehr in sein eigenes Spiegelbild verliebt habe, dass er von den Göttern schließlich in diese Blume verwandelt worden sei. Gemeint war dies als eine Art Erlösung oder Gnade, damit die grenzenlose Eigenliebe irgendwann und irgendwie enden kann.

Auch ein Narzissenfeld, fast bis zum Horizont reichend, gehört zur „Tulip Barn“, der „Tulpenscheune“, einer Art Schaubauernhof für Tulpenfreunde in der holländischen Blumenregion Bollenstreek. Man sollte nicht überrascht sein, dort auf Selbstverliebtheit zu stoßen, denn schon die Webseite wirbt mit eindeutigen Verlockungen: „Entdecken Sie unseren Selfie-Garten“, wird versprochen, und: „Wir haben über 20 tolle Fotomotive platziert und ihn so zum Traum eines jeden Instagrammers gemacht.“
Dieser Lockruf zum unproblematisch Schönen, zum scheinbar Harmonischen, zum unpolitischen Blühen und Wachsen, das die Schrecknisse dieser Welt nicht kennt, besser noch: farbig überstrahlt – hallt weit hinaus während der Wochen der Tulpenblüte in Holland. Menschen aus aller Welt pilgern dorthin, wandern und radeln, oder stauen sich zu den Großparkplätzen. Allesamt sind sie voller Erwartung auf das magische Blütenwunder.
Der Tulpenwahnsinn erblüht zu Millionen
Zu Recht. Der Tulpenwahnsinn erblüht zu Millionen in praller Farbenfreude, soweit das Auge reicht. Mal in einheitlicher Farbe knallt einem schrilles Rot oder leuchtendes Gelb entgegen, dann wieder in gemischter Pflanzenformation die ganze bunte Welt der Tulpen, Hyazinthen oder Narzissen. Es ist fast des Schönen zuviel.

Eitel sind sie, diese Blüten, wie sie sich in ihrer vergänglichen Farbpracht dem Betrachter entgegenöffnen, ihn mit ihrem Duft locken, mit ihrer Vielfalt überwältigen! Aber noch eitler ist doch die Spezies Mensch, die Eintritt bezahlt, um Teil dieser Natur-Inszenierung werden zu können. Den „Traum eines jeden Instagrammers“ bereitzustellen, bedeutet: Nicht nur die blühende Überwältigung muss her, sondern auch sonst alles, damit schöne Fotos entstehen.
Ein bunt betulpter Oldtimer steht da, eine romantische Hollywood-Schaukel lädt zum Wippen im Blütenkranz, rosa Stühle im Tulpenfeld sorgen für die richtige Kulisse. Farblich passende Schmetterlingsflügel verwandeln den Fotografierten in ein liebenswertes Rieseninsekt, und auch menschhohe Spiegel im Tulpentsunami dürfen nicht fehlen. Narziss, hier als Tulpenfreund, will sich vor dem Hintergrund der Tulpenpracht selbst sehen und bewundern.
Es klickt und klackt und posiert sich
Ein lebendiges, selbstverliebtes Gewusel herrscht also zwischen den prächtig erblühten Pflanzreihen, es klickt und klackt und posiert sich das Volk der Narzissten vor dem bunten Hintergrund. Da werden Röcke gerichtet, Sakkos geschlossen und Haare drapiert, es wird gehüpft und getanzt und sogar manche filmende Drohne schwirrt über das Blütenmeer.
Aller Narzissten Blicke sind so gerichtet auf die eigene Schönheit, und die der Blüten wird zur Kulisse für eine große Inszenierung der Selbstliebe. Da bleibt kein Blick übrig, hinab vom Display, diesem Spiegelbild der Moderne, hinunter auf den grauen Grund, aus dem die Blüten herauswachsen, sich freigekämpft haben aus ihrer Zwiebel, das harte Erdreich durchstoßen haben, getrieben von ihrer Sehnsucht nach Licht.
Und ach – die arme kleine Tulpenpflanze, die das Schicksal ganz an den Rand der Pracht gedrängt hatte, sie lebt schon nicht mehr. Abgeknickt ist die Blüte, ein Selbstverliebter ist draufgetreten auf der Suche nach dem schönen eigenen Spiegelbild.
Mehr über die Mythologie des Narziss auf Wikipedia.
Der Besuch der Tulpenblüte in Holland hinterlässt bleibende Eindrücke. Einen Eindruck dazu gibt es auf der Website der Tulip Barn in Hilegom.
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