Der junge Mann auf dem Blechdach

Warum es keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten geben darf

„Du sollst nicht töten“ – Das fünfte christliche Gebot vermittelt eine einfache Botschaft. Ist noch Platz dafür in einer verrohenden Gesellschaft? Foto: Bruno, lizenzfrei via Pixaby

Der junge Mann liegt auf dem Blechdach und ist tot. Um ihn herum ist die ganze Welt in Aufruhr, denn der junge Mann hat kurz zuvor einen Schuss abgefeuert, der das Ohr des ehemaligen Präsidenten der USA traf. Vermutlich hatte Thomas Matthew Crooks die Absicht, Donald Trump mit einem Kopfschuss zu töten. Nur sehr glückliche Umstände haben das verhindert, eine spontane Kopfdrehung seines Opfers, vielleicht eine Unkonzentriertheit, das Unvermögen oder eine Ablenkung des Schützen. Ein Besucher von Trumps Wahlkampfveranstaltung hatte nicht solches Glück; er wurde tödlich getroffen, da er in der Schussbahn saß.

Wem gilt das Bedauern? Ganz gewiss diesem Besucher, der Trump zujubeln wollte und das nicht überlebt hat. Auch Trump, denn auch er, trotz allem Hass und aller Spaltung, für die er verantwortlich ist, muss nicht hinnehmen, ermordet zu werden. Aber gilt das Bedauern auch dem Schützen?

Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage

Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage. Sie zeigt sich nicht nur in dem tödlichen Bestreben des Attentäters, dem Leben von Donald Trump gewaltsam ein Ende zu setzen, warum auch immer. Sie zeigt sich auch in dem Fehlen von Innehalten, im Ausbleiben von öffentlich wahrnehmbarem Bedauern über den Tod des jungen Mannes auf dem Blechdach. „Der Attentäter wurde durch Scharfschützen getötet“, meldeten die Agenturen lapidar. Sein Tod wird wie selbstverständlich hingenommen.

Osama Bin Laden hatte tausende Menschen auf dem Gewissen. Sie verbrannten, wurden erschlagen und verschüttet in den Ruinen der zusammenstürzenden Türme von New York am 11. September 2001. Hat er den Tod „verdient“? Als amerikanische Spezialeinheiten ihn zehn Jahre später aufspürten, machten sie kurzen Prozess mit ihm – besser: gar keinen Prozess. Sie töteten ihn. Seine Leiche warfen sie ins Meer, damit kein Grab übrigbleiben möge von dem Massenmörder.

Aus dem Nahost-Konflikt kennen wir die Pushmeldungen über gezielte Tötungen, und wir schauen kaum noch auf. Israel wehrt sich gegen seine Todfeinde, tötet regelmäßig diesen oder jenen Kämpfer, Kommandeur, General. Sie sind die Verantwortlichen dafür, dass Juden um ihr Leben fürchten müssen, auch jetzt wieder, sogar in ihrem eigenen Staat, zuletzt beim brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023. Diese Menschen haben selbst getötet und hatten vermutlich kein Bedauern mit ihren Opfern. Dürfen wir sie deshalb auch einfach töten? Festnahme, Prozess, Rechtsstaatsverfahren? Offensichtlich keine Optionen im Anblick des allseitigen Hasses.

Die Attentäter auf Kennedy und Reagan wurden noch verhaftet

Die gesellschaftlichen Veränderungen zeigen sich auch in der rigiden Hinnahme solcher final-tödlicher Gewalt als erste, nicht mehr als letzte Option. Die Attentäter auf  John F. Kennedy und Ronald Reagan wurde noch festgenommen, die Mörder von John Lennon und Martin Luther King ebenfalls und blieben Jahrzehnte im Gefängnis. Und auch jener psychisch kranke Mann, der am 12. Oktober 1990 auf Wolfgang Schäuble geschossen hatte und ihm damit ein Weiterleben im Rollstuhl aufzwang, wurde überwältigt und in einer psychiatrischen Klinik behandelt.

Wahrscheinlich kann es keine Welt geben ohne das Töten von Menschen durch Menschen. Was aber möglich scheint, ist eine Welt, in der dieses Töten von Zaudern, Skrupeln und Bedauern begleitet wird. Eine Welt, in der das Töten – auch eines offenkundig Schuldigen – nicht als selbstverständlich hingenommen wird. Es könnte eine Welt sein voller Bedauern über das Versagen, über die traurige Unmöglichkeit, das Leben dieses Menschen nicht geschont zu haben.

„Du sollst nicht töten“ – Die Botschaft ist einfach

Wer will einem Soldaten verübeln, dass er sein angreifendes Gegenüber tötet, wenn er sich doch gewiss sein muss, dass dieser ihm andernfalls das Leben nehmen wird? Und ähnliches dürfte auch für den Mann mit Gewehr auf dem Blechdach gelten, der auf Trump anlegt. Was anderes soll der Scharfschütze des Secret Service mit ihm machen – außer den „finalen Rettungsschuss“ zu setzen? Vielleicht so zielen, dass der Schütze am Leben bleibt, aber unfähig wird, weitere Schüsse abzugeben? Welches Risiko bedeutet das für den Präsidenten, wenn es misslingt?

„Du sollst nicht töten“, das fünfte christliche Gebot, hat eine einfache klare Botschaft: Das Töten ist verboten, es ist eine Ultima Ratio, kein Spaß, nichts, an das wir uns gewöhnen dürfen. Es ist niemals „gerecht“, zu töten.

Verrohung als Denk- und Geschäftsmodell

Nichts am Töten ist leichtfertig zu erledigen, das weiß jeder Vernünftige. Das industrielle Töten der Tiere, die vom Lebewesen zur Nahrung werden sollen, wird an Orte ausgelagert, die niemand sieht und Menschen überlassen, die kaum jemand kennt. So kauft sich eine Gesellschaft frei von der Verrohung, die mit dem Töten einhergeht. Noch schlimmer: Die Verrohung ist zum Denk- und Geschäftsmodell geworden. Gesellschaftliche Spaltung, kommerziell ausgebeuteter Hass, dümmlich bis krankhaft ausgeübte Rechthaberei, virale Verschwörungsblasen, Egoshooter-Spiele und (vor allem in den USA) Waffenverfügbarkeit haben das Verbot des Tötens längst relativiert.

Es gilt, der gedankenlosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten Einhalt zu gebieten: „Spiele“, die auf dem lustvollen Töten basieren, sind kein Spaß. Filme, die das Töten zur Unterhaltung degradieren, muss man nicht ansehen. Postings, die unverhohlene Freude über den Tod Andersdenkender ausdrücken, gehören gelöscht. Und Nachrichten, die das Töten als selbstverständlichen Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit darstellen, sind mangelhaft.

Denn jeder fremde Tod bringt immer auch den eigenen näher. Vergesst das nicht.

 

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Die Östlichste mit der Sonnenorgel (#59)

Pfarrkirche St. Peter und Paul, Bei der Peterskirche, 02826 Görlitz

Mein Besuch am 24. Mai 2024

St. Peter und Paul in Görlitz: Deutschlands östlichste Kirche steht hoch über der Neiße, unmittelbar an der Grenze zu Polen.

Vielleicht muss man sich es vorstellen, wie es gewesen war, als deutsche Soldaten in apokalyptischer Verzweiflung die Brücke unmittelbar unterhalb dieser Kirche in die Luft jagten. War es Hoffnung, die sie hatten, mit diesem Akt der Gewalt irgendwie doch noch die bevorstehende Niederlage abzuwenden? Es war der 7. Mai 1945, als dies geschah, und als die Wucht der Detonationen nahezu alle Glasfenster des oberhalb der Brücke stehenden Gotteshauses zersplittern ließ.

Vielleicht muss man nicht in diese Kirche hinein gehen; vielleicht genügt es, auf ihren Stufen über der Neiße zu stehen, um  sich bewusst zu machen: Das war damals mitten in Deutschland, und die Soldaten, die hier den Sprengstoff zündeten, konnten sich vermutlich gar nicht ausdenken, dass diese Kirche einmal die östlichste in ihrer Heimat sein würde. So steht man also heute vor dieser Kirche, blickt hinunter auf die längst wieder aufgebaute Brücke, die nun eine von einem gelangweilten Polizeiauto bewachte EU-Binnengrenze zu Polen darstellt. Die Augen ruhen auf dem träge dahinströmenden Fluss, und was zu spüren ist, das ist die Wucht der Geschichte, die am Ende stärker ist als alles Dynamit.

Wie ein lichter Wald: Dem gotischen Innenraum der Kirche fehlt jede Strenge, was auch am hellen Licht liegt, das durch die ersetzten Fenster strömt, deren kunstvollen Originale wenige Stunden vor Kriegsende am 7. Mai 1945 infolge einer Sprengung der Neißebrücke zerstört wurden.

Aber ganz sicher lohnt es sich auch, sich umzuwenden und diese Kirche zu betreten, die jeden Besuchenden mit ihrer schieren Größe überwältigt. Das gotische Gotteshaus ist weit, klar, hat wenig von der Strenge, die gotische Kirchen oft sonst ausstrahlen, ist auch hell, da die zerstörten Fenster mit modernen hellstrahlendem Glas ersetzt wurden. Es ist ein Gefühl, als wandle man durch einen lichten Wald voll himmelstrebender, schlanker Bäume, deren hohes Astwerk sich zu einem schützenden Dach in weiter Höhe vereint.

Der Prospekt der Sonnenorgel von Görlitz.

Und hinein strahlt in diesen gotischen Hain der grün-goldene Prospekt der „Sonnenorgel“, ein Wunderwerk aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, in dem 17 Sonnen kreisförmig angeordnet wurden. Die mächtigen Orgelpfeifen kann man als ihre Strahlen sehen, und zwölf davon werden selbst aus Pfeifen gebildet. Diese mächtige, und doch so lichte Kirche steht genau richtig dort, wo sie seit Jahrhunderten steht: nicht am Rande Deutschlands, sondern in der Mitte Europas.

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Fußball hat nix mit Politik zu tun

Ein Kneipengespräch

„Vergiss die Politik!“ Der Fußballfan hat wohl schon ein paar Bierchen intus und das Deutschland-Shirt von der vorletzten WM zeigt deutliche Flecken aus vorangegangener Begeisterung. Aber macht nichts, denn in der Kneipe ist das Licht schummrig, die Luft schwer und alle gucken auf den Bildschirm. Österreich gegen die Türkei.

„Fußball hat nix mit Politik zu tun,“ sagt der Fußballfan. Der Demokratiefan hält dagegen: Warum sind Ungarn, Italien, Serbien, Georgien so früh ausgeschieden? (Foto: lizenzfrei von Pixabay, KI-generiert)

„Vergiss die Politik“, sagt der Fußballfan nochmal, wischt sich die Finger am Deutschland-Shirt ab und schwenkt das leere Bierglas. Ums Treseneck herum sitzen die beiden fremden Freunde, treffen sich hier zum ersten Mal, und spielen mit ihren Bierdeckeln. „Denk nur an den ganzen Quatsch mit Binde in Katar und irgendwelchen Arbeitssklaven und so, das war alles Politik,“ setzt der Fußballfan wieder an. Mit Schwung stellt er das leere Glas auf die Theke zurück. „Und was war dann: Schlecht gespielt haben sie.“

Sein Gegenüber ist ein Demokratiefan und wackelt mit dem Kopf hin und her. Dann zupft er sich das graue Poloshirt zurecht. Es ist warm und dampfig in der Kneipe. Draußen regnet es.

„Vergiss die Politik im Fußball“, kommt da nochmal vom Fußballfan, während er der Wirtin hinter dem Tresen winkt. Ein fragender Blick zu seinem Nachbarn, ein entschlossenes Nicken, dann werden zwei Finger gehoben in ihre Richtung.

„Irgendwie ist doch immer alles politisch“, sagt der Demokratiefan. „Gerade in Katar. Dass man da einfach in einer üblen Diktatur spielt und so tut, als gäbe es das nicht: die unterdrückten Frauen und das Verbot für Schwule und das alles. Der ganze Aufwand mit gekühlten Stadien, die jetzt leer stehen. Da kann man doch nicht weggucken. Wenn das nicht Politik ist!“

„Schon. Aber hat nix mit dem Spiel zu tun. Beim Fußball kommt es auf Fitness an, auf Kondition, und auf die gute Technik, dass sie schnell rennen können, eine Taktik haben und auf den Trainer. Das hat doch nix mit Politik zu tun.“

„Frei im Kopf müssen sie auch sein, die Spieler.“

„Ja schon, frei im Kopf ist immer gut. Ideen müssen sie haben, mal was Neues zu machen, nicht den Ball immer nur hin und her zu schieben.“

Zwei neue Biere kommen …

Die Wirtin stellt zwei Bier auf den Tresen. Saftige Schaumkronen liegen auf dem lockenden Goldgelb. Sie stoßen an.

„So muss ein Bier sein“, sagt der Fußballfan und wischt sich den Schaum von der Lippe. „Hat auch nix mit Politik zu tun.“

„Auch Bier ist politisch, vor allem der Preis“, sagt der Demokratiefan. „Es sind schon Revolutionen wegen des Bierpreises ausgebrochen.“ Er trinkt. „Aber lassen wir das. Wer ist schon alles rausgeflogen bei der Europameisterschaft?“

„Ha! Die Italiener!“ Der Fußballfan grinst.

„Siehste, die Italiener. Nicht frei im Kopf, weil sie eine postfaschistische Regierung haben.“

Der Fußballfan nimmt einen tiefen Schluck und glotzt ins Leere. „Was für ´ne Regierung?“

„Postfaschistisch. Super-autoritär. Die Meloni mag ja ganz freundlich gucken. Aber sie will die Pressefreiheit abschaffen und sich fette Macht auf immer sichern. Fast so wie der Orban.“

„Orban ist Ungarn, oder? – Auch rausgeflogen.“

„Eben: Der nächste Autokrat, der seinen Fußballern keinen Gefallen damit tut, dass sie nicht frei sind im Kopf. Ich sage: Wenn die Regierung keine Freiheit zulässt, spielen die Fußballer schlecht.“

„Jetzt Moment mal“, rafft sich der Fußballfan auf, strafft das verschwitzte Deutschland-Trikot und hebt den Zeigefinder. „Willst du mich hier in so eine Politikscheiße reinquatschen? So nach dem Prinzip, wer schlecht regiert wird, verliert im Fußball?“

„Na ja, kann man doch mal überlegen. Wer hier schon alles rausgeflogen ist, pass auf…“

„Nee, nee,“ protestiert der Fußballfan und winkt ab, „Politik hat mit Fußball nix zu tun.“

„Jetzt hör´s Dir doch wenigstens mal an. Also: Ungarn raus, Orban ist ein Diktator. Italien raus, frühere Faschisten regieren. Serbien raus, Vucic ist ein übler Putin-Freund und zündelt im Balkan.  Slowakei raus, auch so ein spalterischer Populist hat da das Sagen, Fico heißt er. Will der Ukraine keine Waffen liefern. Georgien raus, da machen sie gerade ein Gesetz zur Unterdrückung aller kritischen Meinungen.“ Der Demokratiefan nimmt einen tiefen Schluck aus dem Glas. „Also, so ist es, und jetzt kommst Du.“

Der Fußballfan schüttelt den Kopf. „Das ist doch alles Blödsinn. Die Spieler da von diesen Ländern, die haben doch mit ihrer Regierung gar nichts zu tun, die spielen doch alle bei uns oder in Italien, Frankreich oder in England!“

„Das mag schon sein,“ entgegnet der Demokratiefan, „aber im Kopf sind sie doch in ihren Ländern zu Hause – oder etwa nicht? Muss ja auch so sein. Verlangen wir doch auch von unseren Migranten, wenn sie für Deutschland spielen. Von Tar oder von Musiala oder von Rüdiger, die sollen sich doch auch im Kopf voll und ganz mit Deutschland identifizieren. Gündogan hat türkische Eltern. Trotzdem singt er die deutsche Hymne, wenn’s los geht, und das ist doch auch richtig so.“

„Ja schon, aber das ist doch was anderes.“

„Warum?“

„Weil … weil … ach, keine Ahnung. Aber überhaupt, wenn das stimmen würde, was Du da redest, dann müssten die Deutschen ja auch schlecht spielen, weil wir doch auch ganz mies regiert werden von der Ampel. Tun sie aber nicht.“

„Andersrum stimmts! Die spielen gut, weil sie den Kopf frei haben, weil wir gar nicht so schlecht regiert werden. Verstanden?“

Der Fußballfan ist nicht überzeugt. „Die spielen besser als zuletzt, sagst Du, weil der Scholz so gut regiert? Das glaubst Du doch selber nicht.“

„Na, ja, das vielleicht nicht. Jedenfalls gibt’s hier aber nichts, was die Freiheit im Kopf begrenzt. Außer eigener Blödheit. Und das ist in Ungarn und Serbien und Georgien echt anders, da kannst Du ratzfatz ins Gefängnis wandern, wenn Du was Falsches sagst. Und wenn wir nicht aufpassen, ist das bald auch in Italien so. Und deshalb verlieren die alle.“

„Krass – das glaubst Du echt?“

„Ja sicher“, antwortet der Demokratiefan. „Unfreiheit im Land führt zu Unfreiheit im Kopf. Und das führt zu schlechtem Fußball. Klarer Zusammenhang.“

Die Türken spendieren eine Runde Raki …

Lautes Jubeln und Gegröle im Lokal. Das Spiel ist aus. Autohupen auf der Straße. Eine Gruppe feiernder Türken stürmt herein.

„Da hast Du Deinen Blödsinn!“ schreit der Fußballfan im Getümmel und prostet den türkischen Fans zu. Der Tresen wird umringt von Jubelnden, während eine rote Halbmond-Fahne die beiden Biergläser ins Wanken bringt. „Die Türken feiern!“, brüllt der Fußballfan, „und das ist doch nun wirklich keine gute Regierung dort. Korrupt, alles wird immer teurer, und als Frau willste da auch nicht leben, ewig daheim und mit Kopftuch und so.“ Einen tiefen Schluck nimmt der Fußballfan aus dem Glas, richtet sich neu auf, verschafft sich Platz zwischen den Feiernden um ihn herum, und ruft: „Das ist der Gegenbeweis!“

Die feiernden Türken verstehen zwar nichts die vom Gespräch, geben aber eine Lokalrunde Raki aus. Einige zeigen den sogenannten „Wolfsgruß“, ein Symbol für radikalen türkischen Nationalismus. Der Demokratiefan schüttelt den Kopf. „Gar kein Gegenbeweis,“ sagt er. „Die Türken haben die Österreicher rausgeworfen, weil beide nicht frei sind im Kopf. Siehst Du an dieser komischen Nationalismus-Geste.“ Das Rakiglas wird auf den Tresen gestellt. „Die Österreicher sind gerade drauf und dran, eine Super-Rechtspartei zum nächsten Wahlsieger zu machen. In diesem Spiel haben eben zwei Mannschaften gegeneinander gespielt, die beide nicht den Kopf frei hatten. Einer musste ja gewinnen.“

„He, jetzt hab´ ich Dich!“, schreit der Fußballfan und kippt den Schnaps in sich hinein. „Das mit der Wahl gilt auch für Frankreich! Da haste Dir jetzt selbst widersprochen. Die Franzosen werden die rechtsradikale Le Pen auch wählen, und trotzdem haben sie gewonnen!“

Der Demokratiefan greift zum Rakiglas, überlegt und schiebt es dann voll zurück. „Ja schon … aber wie! Erst in der allerletzten Minute hat´s gereicht. Das war vor allem Glück. Und außerdem haben sich die französischen Spieler ganz öffentlich gegen den drohenden Rechtsruck in Frankreich ausgesprochen. Das ist wie Doping für Freiheit, das hilft auch für die Freiheit im Kopf.“

Die türkischen Fans ziehen wieder ab, der nächsten Kneipe entgegen.

Nochmal zwei frische Biere …

Die Wirtin blickt zu ihnen hinüber, zwei Finger gehen hoch.

„Und was sagste zur Ukraine?“, fragt der Fußballfan. „Wenn die nicht eine gute Regierung haben, wer denn dann? Halten ihren Staat irgendwie am Laufen, sogar die Bahn fährt da pünktlich, was wir hier nicht hinbekommen, und nebenbei müssen sie ihr Land verteidigen.“ Zwei frische Biere werden auf den Tresen gestellt. „Und dann fliegen sie in der ersten Runde schon raus, als Gruppenletzter.“

„Das war bitter. Stimmt,“ räumt der Demokratiefan ein. „Aber die hatten eben den Kopf auch nicht frei, wer will es ihnen verübeln in ihrer Situation? Außerdem hatten sie besonderes Turnierpech. Die waren Vierter in ihrer Gruppe mit vier Punkten. Das war mehr als die Slowenen hatten, die Gruppendritte wurden und weiterkamen. Voll ungerecht.“

„Hat eben doch nichts mit Politik zu tun. Ist alles nur Fußball.“

Die Tür geht auf, eine Gruppe Österreicher trottet herein. Lautstark bestellen sie Bier. Die Enttäuschung über das Ausscheiden gegen die Türkei klingt bereits ab.

„Sag mal?“, fragt der Demokratiefan.

„Ja was?“

„Macht schon Spaß, so eine EM in Deutschland, oder?“

„Logisch! Es regnet zwar dauernd, aber trotzdem ist überall beste Stimmung. Alle freuen sich, siehste ja gerade, sogar ich kann mich mit den Türken freuen, und mit den Österreichern traurig sein.“

Sie beide prosten den Österreichern zu, die hinter ihnen stehen und gerade ihre Biergläser bekommen haben. „Seid´s arg traurig?“, fragt der Fußballfan. Die Österreicher trinken.

„Hat vielleicht auch was mit der Demokratie zu tun,“ sagt der Demokratiefan. „Gute Stimmung gibt’s nur in Freiheit, nicht in einer Diktatur.“

„Du nervst. Ich freu´ mich jetzt aufs Viertelfinale,“ sagt der Fußballfan und nimmt einen Österreicher in den Arm. „Leider ohne Euch. Aber tolle Spitzenmannschaften kommen da jetzt: Spanien, Portugal, Frankreich, Niederlande, England, Schweiz. Und Deutschland! Das werden super spannende Spiele!“

„Alles lupenreine Demokratien“, sagt der Demokratiefan.

„Da hätten wir auch reingehört“, ruft ein Österreicher. „So demokratisch wie die Niederländer sind wir noch lange.“ Der Demokratiefan lacht.

Fünf Biere hatten die Schotten ausgegeben …

„Jetzt hört doch mal auf mit dem Politikzeug!“, ruft der Fußballfan. „Und überhaupt, was ist mit den Schotten und Deiner Theorie? Die haben besonders gute Stimmung gemacht, unglaublich, fünf Bier haben sie mir ausgegeben, hier an diesem Tresen, und eine Demokratie sind sie auch, oder? Trotzdem rausgeflogen.“

„Ja, stimmt alles, aber leider haben sie einfach zu schlecht Fußball gespielt,“ sagt der Demokratiefan.

„Siehste,“ triumphieren da der Fußballfan und die Österreicher. „Ist eben Fußball. Hat nix mit Politik zu tun.“

 

 

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Eine Liste aller Krawalle und „Revolutionen“, die vom Bierpreis ausgelöst wurden, findet sich auf Wikipedia.

Wer mehr über die Hintergründe des „Wolfsgruß“ erfahren möchte, findet eine gute Zusammenfassung hier. 

 

 

 

 

 

Und der Jubel wird grenzenlos sein

Europas Tanz um die Freiheit  – neu gehört in Beethovens 7. Sinfonie

Zweihundert Stundenkilometer auf der Schiene, irgendwo am Rhein, auf dem Weg von Amsterdam nach Wien. Ein ICE jagt grenzüberschreitend dahin. Von seiner luftdurchwirbelnden Gewalt, die zufällig Wartende auf einem Durchfahrts-Bahnsteig viele Schritte zurückweichen lässt, ist im Inneren des Zuges wenig zu spüren. Ein sanftes Ruckeln vielleicht, ein schwaches Wanken. Erste Klasse, gediegene Atmosphäre: Jeder für sich, und dem alten Europäer gegenüber sitzt eine junge Frau, um die dreißig Jahre alt, zurückgesteckte Haare, elegantes Kostüm, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihr Notebook zu richten scheint. Gemeinsam durchgleiten sie diese Kulturlandschaft aus grünen Hügeln und schütteren Wäldern, gemeinsam durchfliegen sie die Tunnels und Brücken, die dem rasenden Lindwurm den Weg ebenen. Gemeinsam sind sie sich ihrer jeweils eigenen Freiheit so sicher, dass sie diese gar nicht mehr spüren. Selbstverständlich selbstbestimmt reisen sie durch Europa.

Die Schöne wird schon nichts merken, denkt sich der alte Europäer, und schiebt den Regler noch etwas weiter nach oben, die Warnung vor möglichen Hörschädigungen lustvoll missachtend. Beethoven schwillt an im Kopfhörer, 7. Sinfonie, der ganze klangumspannende Wirbel der Noten durchzuckt seinen Kopf, die Augen geschlossen, aber hellwach. Ein paar verstohlen wiegende Kopfbewegungen macht er dazu, ein paar zart mitdirigierende Gesten aus dem Handgelenk.

Die Idee der Freiheit als Tanz: Sasha Waltz Compagnie interpretiert Beethovens 7. Sinfonie. (Foto: Sebastian Bolesch, bereitgestellt von Sasha Waltz)

Als Napoleons Stern sank, entstand diese Musik

Als der französische Autokrat Napoleon Bonaparte mit seinen Truppen diese schöne Landschaft am Rhein unter seine Kontrolle brachte, da lebte Ludwig van Beethoven schon längst nicht mehr in seinem Geburtsort Bonn. Er verfolgte von Wien aus das europäische Geschehen. Er jubelte Napoleon zu, solange dieser sich nach dem revolutionären Chaos in Frankreich um Ordnung bemühte, für alle Menschen gleichermaßen Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit versprach. Und er wandte sich von ihm ab, als Napoleon genau diese Werte verriet, sich selbst zum Kaiser ernannte und Europa, auch Beethovens Heimat, mit Kriegen überzog.

Dann aber, im Jahr 1813, sank der Stern Napoleons. Das Kriegsglück, das nie ein Glück, sondern immer ein mörderisches Schlachten war, wandte sich von ihm ab. Seine ausgezehrten Armeen waren überfordert mit den Eroberungsfantasien ihres Befehlshabers. Die großen europäischen Adelshäuser in Österreich, Russland und Preußen waren dabei, sich zusammenzufinden. Beethoven wusste: sie wollen nicht Brüderlichkeit und Gleichheit und Freiheit retten, sondern vor allem sich selbst genau davor. Vermutlich sehnte der Komponist das militärische und politische Ende des Franzosen zwar herbei, aber dessen ursprüngliche Idee eines freien Menschen, der mit seinesgleichen, klassenlos und humanistisch, in Frieden und Freiheit verbunden ist – diese Idee trieb ihn weiter an.

In solcher Stimmung war Beethoven, als er die Noten für seine 7. Sinfonie niederschrieb, die im Dezember 1813 in Wien erstmals gespielt wurde. Was er vorhersah, was er, selbst schon halb ertaubt, vorher-hörte, war der gewaltige Rhythmus, der Europa in dieser Zeit durcheinanderwirbelte und seine Menschen in eine neue Ordnung hineinwarf. Es sollte eine Ordnung sein, in der bis heute zumindest der Anspruch besteht, dass „alle Menschen Brüder“ sein mögen, wie Beethoven elf Jahre später am Ende der 9. Sinfonie im Text von Friedrich Schiller vertonte. Die Noten (nicht der Text) der „Ode an die Freude“ ist heute die Hymne Europas.

Der Anspruch auf Freiheit ist kein Leisetreter

Den Rhythmus von Freiheit, Gleichheit, individueller Selbstbestimmung, also jener Werte, die den Kontinent prägen sollten, den hat Beethoven aber bereits in der Siebten komponiert. Diese zu erreichen und zu verteidigen, ist kein Geschenk, es ist ein Kampf, ein Wachsen, ein Jubel schließlich. Und so kommt der Anspruch auf Freiheit mit Wucht daher. Die sanften Töne zu Beginn der Sinfonie perlen keine ganze Minute dahin, als schon die ersten kräftigen Schläge durch das Orchester zucken. Sie lassen noch nicht ahnen, mit welcher Energie die Musik zehn Minuten später den ganzen Saal in Bewegung setzen wird, die Wände wanken lässt, die Menschen von den Sitzen reißen könnte, wenn es zulässig wäre, im Konzertsaal den Emotionen freien Lauf zu lassen.

Der Anspruch auf Freiheit ist kein Leisetreter. Ein tobender Rhythmus tanzt durch den Saal, stößt links an, und dann rechts und dann überall zugleich schwebt und schwirrt er und jubelt und schweigt und schreit, spannt die Luft zum Zerreißen – ach was, zerreißt sie mit ihrer Kraft, ihrer Energie, bis endlich Stille herrscht und alles zurücksinkt in glückliche Erschöpfung.

Der Weg zur Freiheit fordert Opfer

Kein Jubel ist ohne Abgrund, auch der Weg zur Freiheit fordert Opfer. Der zweite Satz beginnt als verhaltener Trauermarsch. Wieder dauert es nur wenige Takte bis sich das leise Motiv Bahn bricht, bis es weniger Trauer und mehr Triumpf ist. Hier trottet keine Trauergemeinde, hier wird trotzig Kraft gesammelt. Vorbei geht es an den fraglichen Prioritäten des Alltages, vorbei am allgegenwärtigen Geplänkel und Geplauder.

Auf die Kraft der Trauer folgt der Übermut. Im dritten Satz betreibt das Orchester eine Jagd auf die Klänge, wirbelt ihnen hinterher, atemlos, wie in einem kindlichen Versteckspiel, bis plötzlich alles weg ist und der Klang tastend gesucht werden muss. Da, dort, wo? – noch einmal beginnt die Hetzjagd, noch einmal büxen sie aus, die Töne der Freiheit, noch zu ungestüm, um gestaltende Kraft zu entfalten und nicht nur Toberei zu sein voll überschießender Energie.

Ach, möchte man diesen Tönen der Freiheit zurufen, nehmt Euch Zeit, die Aufgaben, die vor Euch liegen sind noch groß, spart Eure Kräfte auf, Ihr müsst den Kampf um Gleichheit und Brüderlichkeit noch gewinnen, immer wieder neu lernen, klug zu sein!

Das Gewonnene kann schon morgen zerronnen sein

Dann das Finale, ein einziger Wirbel, ein tänzelnder Wahnsinn, ein rasendes Kettenkarussell der Töne, ein Aufschrei, ein grenzenloser Jubel der Freude über das Erreichte, das Gewonnene, das doch zugleich gefährdet ist, schon morgen zum Zerronnenen zu werden.

Nichts weniger als das alles lässt Beethoven in seiner Siebten ertönen, und für den, der will, ist herauszuhören: Habt Mut, die großen Linien zu sehen, das große Ganze! Haltet Euch nicht auf mit Kleinigkeiten, mit der der Wärmepumpe oder dem Verbrenner, mit  Steuern und der Schuldenbremse, ein paar Geflüchteten mehr oder weniger – alles unwichtig, weil es nun gerade gilt, Frieden in Freiheit zu verteidigen, nach Brüderlichkeit und Gleichheit zu streben. Es kann gelingen, lässt uns Beethoven hören, und der Jubel wird grenzenlos sein.

„Muss tolle Musik sein“, spricht die junge Frau

Da spürt er einen Ruck. Der ICE steht. Gerade war der Gipfel des Tongebirges erklommen gewesen, das jubelnde Finale hatte getobt und klang aus, glückstrunken war der alte Europäer hineingefallen in diese Umarmung der Töne. Seine Hände sinken zurück auf die Armlehnen, und jetzt schlägt er die Augen auf und schaut aus dem Fenster: „Siegburg/Bonn“ steht da. Noch halb benommen vom großen Tanz der Töne nimmt er den Kopfhörer ab.

„Muss tolle Musik sein, die Sie da hören“, spricht ihn da die junge Frau von Gegenüber an. „Was war das? Das will ich auch hören.“

 

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Die rhythmisch-tänzerische Dimension von Beethovens 7. Sinfonie ist schon vielfach gewürdigt worden, u.a. von Richard Wagner, der das Werk als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet hat. Mich hat zu diesem Text auch das Erlebnis einer modernen Tanz-Aufführung der Compagnie von Sasha Waltz inspiriert, die unter dem Titel „Beethoven 7“ die Sinfonie mit der modernen Komposition „Freiheit/Extasis“ von  Diego Noguera kombiniert. Noguera wurde 1982 in Chile geboren und lebt seit 2019 in Berlin. Dieser Teil Tanzdarbietung, von überaus lautstarker Techno-Musik unterlegt, war für mich allerdings nicht die Darstellung von Freiheit, sondern eher eine apokalyptische Vision einer nach-menschlichen Welt, die im quälenden, aber auch  eindrücklichen Gegensatz zu der nachfolgenden leichtfüßig-eleganten, tänzerischen Interpretation der Freiheitsphantasien von Ludwig van Beethoven stand. Die Performance „Beethoven 7“ war Teil des Programms der diesjährigen Ludwigsburger Schlossfestspiele und ist wieder zu erleben am 13. und 14. September 2024 in Rom.

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Das Fachwerk-Wunder von Jawor (#58)

Friedenskirche „Zum heiligen Geist“, Jawor (Polen), ehem. Jauer

Mein Besuch am 21. Mai 2024

Eine solche Kirche hatte ich noch niemals zuvor gesehen. Das evangelische Riesenbauwerk aus Holz und Lehm steht zusammen mit einem weiteren solchen Wunderwerk in Świdnica (Polen, ehem. Schweidnitz) auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Im tiefkatholischen Polen ist der spektakuläre Bau kaum ausgeschildert. Als ich ihn, etwas versteckt hinter Bäumen in einem Park – dem ehemaligen Friedhof -, endlich erreicht und entdeckt hatte, deutete nichts auf die sinnliche Überwältigung hin, die mir gleich bevorstand.

Ein Kirchenraum ohne Beispiel: Bis zu 6000 Menschen konnten hier einem Gottesdienst beiwohnen, errichtet aus Holz und Lehm, mit mehr als 200 Motivtafeln ausgemalt.

Dass diese Kirche entstanden ist, gleicht einem Wunder; dass man es heute noch besuchen kann auch. Ihre pure Existenz gibt Mut, auf Frieden zu hoffen, auch wieder in heutigen Zeiten. Die europäische Ordnung lag in rauchenden Trümmern, als der Dreißigjährige Krieg 1648 endete. Die Herrschenden und erst Recht die Bevölkerung waren müde vom Schlachten,  Brandschatzen und Morden. Mit den Friedensverträgen von Osnabrück und Münster und einigen nachfolgenden Vereinbarungen wurden Regelungen getroffen, die ein halbwegs friedliches Miteinander der europäischen Völker und auch der beiden christlichen Konfessionen in Europa gewährleisten sollten.

Eine davon bestand darin, dass im zum österreichischen Herrschaftsbereich gehörenden Schlesien die evangelischen Christen alle bestehenden Gotteshäuser den Katholiken zurückzugeben hatten. Im Gegenzug erlaubte der König der evangelischen Bevölkerung in Schlesien, drei neue Kirchen (zwei davon bestehen noch, nämlich diese hier in Jawor und in Świdnica) zu errichten. Aber unter welchen Bedingungen! Sie mussten innerhalb eines Jahres fertig sein, sie mussten selbst finanziert werden, sie mussten mindestens einen Kanonenschuss außerhalb der Stadtmauern liegen, und sie durften nicht aus Steinen gebaut werden, sondern nur aus Holz und Lehm und Stroh.

Nur ein Jahr durfte der Bau des Riesen-Gotteshauses dauern, und es steht noch bis heute.

Unter diesen Bedingungen errichteten die evangelischen Christen in Jauer ein Gebäude, das fast 45 Meter lang und mehr als 15 Meter hoch ist. Vier umlaufende Emporen-Reihen und das Kirchenschiff selber boten und bieten bis heute Platz für fast 6000 Menschen. Über und über ist diese Kirche ausgemalt, rund 200 Motivtafeln schmücken den hohen und weiten Raum, auf eine barocke Kanzel richtet sich die Kirche aus. Der Andrang in das Gotteshaus war im 17. und 18.  Jahrhundert so groß, dass an Sonntagen bis zu sechs Gottesdienste gefeiert werden mussten, um allen Gläubigen gerecht zu werden.

Alleine diese Geschichte ist unglaublich, aber auch, dass alles das (ab 1991 zehn Jahre lang renoviert mit tatkräftiger deutscher Unterstützung) noch vorhanden ist. Der bröckelnde, und doch so zähe Riesenbau aus Holz und Lehm (nach 1707 ergänzt um einen steinernen Kirchturm) hat alle Unbill der Geschichte überlebt, zwei Weltkriege, Bombennächte und die fast vollständige Vertreibung der evangelischen (weil deutschen) Bevölkerung nach Kriegsende 1945.

Der gemauerte Turm kam erst später hinzu.

Ich habe dieses Wunder durchmessen, durchschritten, den staubigen Duft der Balken und Bänke eingesogen, fassungslos gestaunt über die Wucht der mehr als 350 Jahre alten Volkskunst, die mich hier überwältigte. Vierzig Gläubige umfasst die evangelische Kirchengemeinde von Jawor heute, und noch immer hält ihr Kirchenraum Platz vor für Tausende von Besuchern. Ein paar mehr Schilder im Ort täten gut, um sie alle dorthin zu locken, und auch eine bessere Platzierung in den Reiseführern. Seht her, erzählt diese außergewöhnliche Kirche, seht her, was menschlicher Wille in kurzer Zeit zu schaffen vermag.

 

Mehr über die Baugeschichte der Friedenskirche von Jawor finden Sie hier.

Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen kann man hier nachlesen.

Der Besuch in Jawor war Teil einer Rundreise durch Polen, vor allem durch die ehemals deutschen Gebiete. meine Eindrücke habe ich auch hier zusammengefasst. 

 

 

 

Kleiner Ausflug ins Konservative

Sieben Miniaturen, erlebt auf einer Reise durch Polen

Grabsteine als Zeitzeugen der polnisch-deutschen Geschichte: Eine Szene im Schatten der Kirchenruine von Milkow.

Krakow, früher Nachmittag

Die Maisonne wärmt die Straßen der alten Residenzstadt, vom Berg leuchtet die stolze Burg der polnischen Könige. Das Leben beginnt zu pulsieren im jüdischen Viertel, die Bars warten auf verfrühte Nachmittagsgäste, eine Gruppe orthodoxer Juden läuft  herum, ihre Locken wippen, während sie Reisekoffer in das Taxi wuchten, das die enge Gasse versperrt. Dort Synagogen, im Stadtzentrum Kirchen. Touristen bestimmen das Bild, viele Europäer in kurzen Hosen und bunten Hemden. In der ganzen Stadt ist fast ausschließlich weiße Haut zu sehen, ein paar Gäste mit asiatisch anmutenden Gesichtszüge. Dann, am Rand der Innenstadt, lockt in einem der alten Häuser das Wort „Döner“. Ein weißer Mann blickt aus dem Fenster. Menschen mit südeuropäischer oder arabischer Prägung gibt es nicht im Straßenbild. Da sage nochmal jemand, Politik habe keine Folgen.

Wroclaw, gegen Mittag

Die Straßenbahn rollt heran. Der Kauf einer Fahrkarte war kein Problem, der Automat versteht auch deutsch oder englisch, ein Tastendruck genügt. Die Kreditkarte akzeptiert er mit einem befriedigten Piepsen, und schon spuckt die Maschine das Kärtchen aus. Es ist warm auf dem schmalen Bahnsteig, und der Gast spürt, wie ihm die Tropfen auf die Stirn treten. Die Bahn ist voll, und in ihrem Inneren ist es noch wärmer. Klack!, macht der Entwerter, und der Gast richtet sich auf eine ruckelige Fahrt im Stehen ein. Schon Sekunden später springt ein junger Mann auf.

Es wird zum stabilen Eindruck bei dieser und weiteren Gelegenheiten: Hier ist wenig woke, und öffentlich noch weniger queer. Selten ein Kuss auf der Straße, das Private ist privat, und in der Sauna bleibt die Badehose an. Lastenräder fehlen im Stadtbild genauso wie Väter, die Kinderwägen schieben. Aber Höflichkeit zählt noch etwas in Polen. Man bietet Älteren den Platz an, Männer lassen Frauen den Vortritt, die Tür wird aufgehalten.

 

Opole, früher Samstagabend

Die Kirchenglocken hatten durch das offene Hotelfenster hindurch geläutet, als wollten sie die Stabilität ihrer Aufhängung prüfen. Dann war Stille gewesen. Beim Spaziergang eine halbe Stunde später durch die Kleinstadt war der fromme Lärm längst vergessen. Warum nicht einmal hineinsehen in die schöne Kirche am Weg? Schnell ist klar: Hineinsehen bedeutet: den laufenden Gottesdienst besuchen. Das war nicht der Plan. Es wäre auch kaum Platz. Die Kirche ist bestens besucht, auch viele junge Menschen sitzen in den Bänken und blicken in ihr Gesangbuch. Es ist nicht Weihnachten und auch nicht Ostern. Es ist ein normaler Samstagabend in Polen.

 

Jelena Gora, später Nachmittag

Ein winziges Café hatte gelockt, und das frisch gemahlene und gebrühte Koffeingebräu war unter schattigen Arkaden ein glücklicher Genuss gewesen, der kleine Kuchen dazu auch. Nun aber würde der Gast eine Toilette benötigen. Die Barista im Rentenalter bedauert, keine eigene Gelegenheit anbieten zu können und gestikuliert deutlich in Richtung Rathaus gegenüber. Richtig, da steht ja: Tourist Information. Aber die Information hat seit 15.30 Uhr geschlossen, nun ist es schon fünf Minuten später, und die Not wird größer. Schließlich Hoffnung: ein anderer Eingang des Rathauses ist noch offen. Schon auf dem Weg zur ersehnten Lokalität stürmt ein Wachmann herbei, verweist grimmig auf seine Uhr und schüttelt entschlossen den Kopf. Ordnung muss sein, Gnade keine Pflicht.

Wie gut: Nebenan, das große Steak- und Burger-Lokal ist schon geöffnet. Beim ersten schüchternen „Sorry, could I …?“ lächelt die Bedienung am Eingang ein entschlossenes „Of course!“ und weist den erleichternden Weg.

 

Milkow (Podgorzyn), am Vormittag

Gerade erst losgefahren, schon ein erster Halt, ungeplant. Fasziniert hat der Blick durch die Windschutzscheibe. Ein grauer Turm steht da, mit löchriger Haube, rabenumflattert, und das Kirchengebäude daneben ist eine Ruine. Sattes, hohes Grün bahnt sich den Weg durch die gähnend leeren Fensterhöhlen und wiegt sich im Wind, wo das Dach fehlt. Ein Bauzaun versperrt jeden Weg dorthin. Immerhin, drumherum lädt ein großer Friedhof ein. Hunderte Grablaternen, bunte Plastikblumen auf den Gräbern mit polnischen Namen.

Eine Erläuterungstafel bleibt unverständlich, da nur polnisch. Aber ein Blick ins allwissende Netz hilft: Die evangelische Pfarrkirche des einstmals deutschen Dorfes wurde im Krieg durch Bombeneinschlag zerstört. Nach Kriegsende war die evangelische Bevölkerung geflohen oder vertrieben worden. Die neuen Bewohner waren katholisch, und es gab keinen Bedarf mehr an einer evangelischen Kirche. Warum also wieder aufbauen? Der Friedhof wurde weiter betrieben. Die alten deutschen Grabsteine liegen als steinerne Zeitdokumente zusammengewürfelt im Schatten der Ruine. Dieses Erlebnis schärft den Blick auf der weiteren Fahrt: An vielen anderen Stellen wurden die alten Friedhöfe schlicht rückstandslos eingeebnet.

 

Wroclaw, am Vormittag

Die runde Halle steht in jedem Reiseführer, wird beworben als besondere Sehenswürdigkeit. Unesco-Welterbe! Bei ihrem Bau im Jahr 1927 war die „Jahrhunderthalle“ die größte freitragende Halle Deutschlands, eine Ikone des frühen Stahlbeton. Aber die Dame am Ticketschalter schaut nur widerwillig vom Handy auf. Nein, erklärt sie auf Englisch, eine Besichtigung sei jetzt nicht möglich. Es sei eine Gruppe in der Halle, und daher die Kapazität für die Besichtigung erschöpft. Wie lange das dauere? Könne sie nicht sagen. Ob man schon mal ein Ticket kaufen könne? Nein, besser nicht, vielleicht überlege man es sich ja doch noch anders.

Zwanzig Minuten später ein erneuter Vorstoß. Ob die Gruppe jetzt draußen sei? Wieder ein zögerndes Aufblicken vom privaten Display. Nein, das wisse sie nicht. Da kommen zwei Besucher aus der Halle. Hoffnungsvoller Verweis: Wenn die beiden da jetzt draußen sind, könnten wir doch rein? Richtig, freut sich die Dame, legt das Handy aus der Hand und verkauft zwei Tickets. In der riesigen Halle sind zur Besichtigung zwei Logen freigegeben. Sie haben mindestens hundert Plätze. Besetzt sind etwa zwanzig.

 

Karpacz, um die Mittagsstunde

Das ehemalige Bergdorf ist ein Touristenhotspot mit einer alten Holzkirche als herausragende Attraktion. Die Szenerie gleicht der Annäherung an Schloss Neuschwanstein. Vorbei an Hotels und Restaurants nähert sich das Auto, schon frühzeitig lotsen geschäftstüchtige Helfer auf gebührenpflichtige Parkplätze. Der Anstieg von dort zur Stabkirche Wang ist steil, aber kurz und kurzweilig. Rechts und links des Weges glotzt tausendäugig quietschbunter China-Plüsch von Touristenständen, locken überteuerte Porzellanverkäufe und alberner Erinnerungskitsch, warten Grillwürste und einsturzgefährdete Softeispyramiden.

Dann endlich die Kirche, vor mindestens 800 Jahren in Norwegen aus Holz erbaut, vor knapp 200 Jahren von dort nach Berlin transportiert, dann schließlich im Jahr 1844 an dieser Stelle auf halbem Weg aus dem Tal zum Gipfel der Schneekoppe wieder zusammengesetzt. Gedacht als meditativer Einkehrpunkt für Wanderer. Nun treibt ein festgefügter Ablauf im Viertelstundentakt die Touristen busladungsweise in das Kirchlein. Wie eine brave Schulklasse hören wir die Erklärung vom Band und sehen der Aufseherin zu, die mit einem langen Stock und humorlosem Blick auf das Erläuterte zeigt. Es fühlt sich an wie in einem alten Pauker-Film aus den 60er Jahren. Aber schon bald ist Schule aus.

 

Mein Text „Germania, Europa und der Stier“ nimmt ebenfalls Bezug auf meine Reiseeindrücke durch Polen.

 

Germania, Europa und der grasende Stier

Eine West-Ost-Reise anlässlich der Europawahl

Germania hätte sich ja durchaus entführen lassen wollen, wie einst die antike Europa, aber der Stier war nicht interessiert. Die Idee von offenen Grenzen lag noch in weiter Ferne, als Germania plante, in die Stadt ihrer Geburt und Kindheit zurückzukehren. Sie wollte noch einmal die Orte sehen, von denen sie geflohen war, damals in panischer Angst, das böse Grollen der Front schon im Ohr, nichts wie fort, so ihr einziger Gedanke, zwei Kinder bei sich, nichts wie fort, bevor alles in Schutt und Asche fiel.

Der Stier entführt Europa – Darstellung der antiken Sage von ca. 480 v. Chr. (Bild: Berliner Maler, gemeinfrei via Wikimedia)

Nun wollte sie es noch einmal sehen: das Haus ihrer Kindheit, den Schrebergarten der Eltern, die Schule, die erste gemeinsame Wohnung mit ihrem Mann. Aber die Behörden der neuen Eigentümer ihrer Heimat missbilligten die Bezeichnung ihres Geburtsortes, der inzwischen nicht mehr so hieß, wie damals, als Germania dort das Licht der Welt erblickte. Sie verweigerten ihr das Visum solange, bis sie sich beugte und mit grollenden Gefühlen endlich „Wroclaw“ in den Antrag schieb, obwohl sie doch in Breslau geboren war.

Nach dem VW-Käfer drehten sich die Menschen um

Es war also kein Stier, den sie nutzte, und es war auch nicht Europa, sondern Germania, der  schließlich ein kurzer Besuch in ihrer alten Heimat gestattet wurde. Mit einem orangefarbenen VW-Käfer der letzten Generation rollte sie nach Polen, und der Anblick des West-Autos im realen Sozialismus war so ungewöhnlich, dass die Menschen sich nach ihm umdrehten. Ein Stier hätte nicht mehr Aufsehen erregt. So fuhr Germania damals durch die vertrauten Landschaften, durch die ergrauten Dörfer, hinein in die noch immer geschundenen Städte mit den Bombenlücken und Einschusslöchern, durch die holprigen Straßen ihrer Kindheit, die jetzt Namen trugen, die sie nicht aussprechen konnte. Und sie flüsterte nur, um sich nicht in der verhassten Sprache der Vertriebenen zu verraten als das, was sie war: Eine Geflüchtete aus dem Tätervolk.

Germania besah sich stumm die Veränderungen in ihrer verlorenen Heimat, hörte die fremde Sprache, blickte in die fremden Gesichter. Sie ängstigte sich hin wie her durch mühselige und furchteinflößende Grenzkontrollen, und kehrte schließlich erleichtert zurück, dorthin im Westen, wo sie nun zu Hause war. Unfallfrei, unbeschadet, wieder in Freiheit atmete sie auf, und packte fortan Pakete für die schlechter Gestellten jenseits der Grenzen, die damals die Welt teilten und vollständig unverrückbar schienen.

Der Stier blieb nicht untätig

Niemals hätte es Germania für möglich gehalten, aber der Stier blieb nicht untätig. Er erwachte unerwartet. Gleich einer göttlichen Eingebung stellte er sich in den Dienst der staunenden, von Kriegserfahrung geschüttelten Europa. Mit ihr auf dem Rücken trampelte er die Grenzen nieder, zerschlug die Schlagbäume, zerrte die einst Streitenden in ein komplexes Geflecht von Absprachen und Verträgen. „Europäische Union“ wurde das fragile Konstrukt genannt.

Nicht drei, wie die antike, sondern 27 Kinder zeugte diese moderne Europa, und sie alle ringen bis heute jeden Tag um das große Glück der Freiheit. Nur deshalb können nun, ganz ohne Grenzkontrollen, ihre Töchter und Söhne jene Reise wiederholen, die fünfzig Jahre früher Germania allein unternahm.

Nichts ist vergleichbar zu damals

Vom dem, was sie dabei erleben, ist nichts vergleichbar zu damals: Verheilt sind die meisten Wunden des Krieges, glitzernde Glasbauten sprießen zwischen den schmuck renovierten Fassaden der Städte, durch die nun entspannt Touristen schlendern. Überall leuchtet das Symbol der EU, die goldenen Sterne auf blauem Grund, weil Europa finanziert hat, was nun in neuem Glanz strahlt: die alten Schlösser und Bürgerhäuser, die Theater, die Straßen und Plätze. Viele Milliarden sind geflossen von West nach Ost, um diese Angleichung der Lebensverhältnisse zu ermöglichen, und vieles davon ist gelungen. Niemand achtet mehr auf West-Autos, und niemand schaut auf, wenn deutsch gesprochen wird.

Milliarden flossen von West nach Ost. Erst die Idee der europäischen Einigung auch mit Osteuropa ermöglichte eine Annäherung der Lebensverhältnisse.

Niemals mehr sollten Grenzen mit Gewalt verschoben werden – das hatte Europa vom Stier herab verkündet, hatte es zur wesentlichen Gründungsidee des vereinten Kontinents gemacht. Germania war einst noch das Misstrauen entgegengeschlagen – die Angst der Polen und Tschechen, dass Deutsche zurückverlangen könnten, was die Geschichte nach dem Krieg ihnen genommen hatte.

Nie mehr Grenzen verschieben – darauf vertrauen nun die Menschen in Schlesien, im Land der Sudeten oder in Böhmen. Europa hat es ihnen vom göttlichen Stier herab versprochen. Also gibt es dort nichts mehr zu verlangen, sondern nur noch zu staunen: Mit welchem Fleiß und welcher Ausdauer die Menschen ihre neue Heimat in Besitz genommen haben, in vielen Fällen selbst Vertriebene, wie die von dort Verjagten. Wie viele Namen neu erfunden, übersetzt, Straßenschilder ausgetauscht werden mussten. Wie viele Häuser zu renovieren, neu zu bauen, wie viele Löcher zu verputzen, wie viele Felder zu bestellen gewesen waren. Wie mühsam es gewesen sein musste, sich einzurichten in dieser fremden neuen Welt. Und wie gut es gelungen ist.

Das friedliche Bild trügt

Nun grast der Stier auf dem grünen Feld unterhalb der Schneekoppe. Große Hotelbauten wachsen den Hang entlang, Fünf-Sterne-Wellness im Riesengebirge wird versprochen, frisch asphaltiert glänzt die Straße, die dorthin führen soll. Aber das friedliche Bild trügt, denn keine sechshundert Kilometer weit fort schlagen die Raketen ein. Schon wieder möchte ein Gewalttäter in Europa Grenzen verschieben. Und die alte Angst ist zurück.

In der antiken Sage symbolisierte der Stier, der die Europa entführt, den liebestollen Göttervater Zeus. Der Allmächtige aber hat sich überanstrengt. Die Einigung des Kontinents in der Europäischen Union war ein wahrhaft göttlicher Schöpfungsakt. Nun grast er nur noch. Europa kann kein zweites Mal auf ihn zählen, sondern muss selbst wehrhaft werden. Die Rechtsstaatlichkeit, die niedergerissenen Grenzen, die einheitlichen Handytarife, die in weiten Teilen gemeinsame Währung, das freie Leben – alles das gilt es jetzt zu schützen. „Unser Europa ist sterblich, und wir müssen uns der Herausforderung stellen“, formulierten kürzlich gemeinsam der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident.

Nichts dabei wird schnell erledigt sein. Und nichts dafür ist genug. Aber auch nicht alles ist schwierig. Einfach ist, einen Stift zur Hand zu nehmen, einen Strich zu machen und dann noch einen, so dass sie ein Kreuz ergeben. Auf einem Wahlzettel am 9. Juni 2024.

Im Glanz der europäischen Idee – als hätte es nie einen Krieg gegeben, strahlen die renovierten Fassaden am großen Marktplatz von Wroclaw (früher: Breslau).

 

Einige Impressionen der Reise durch Polen habe ich in „Kleiner Ausflug ins Konservative – sieben Miniaturen von einer Reise durch Polen“ zusammengefasst

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

Informationen über die antike Sage vom Stier und der angeblichen Entführung der Europa finden Sie hier. 

 

 

 

 

 

Gutgelaunt Richtung Abgrund

Wagners „Rheingold“ und die Schuldenbremse 

Mit diesem alt gewordenen Patriarchen würde kein Familienunternehmen glücklich werden. Selbstbezogen regiert er sein Reich, seine Familie lungert verwöhnt herum. Schlapp und ohne eigene Meinung lässt er sich von seiner Frau verleiten, für den Clan ein neues Haus bauen zu lassen, obwohl er schon bei Auftragserteilung weiß, dass er den Preis dafür nicht bezahlen kann. So kommt es denn auch, als die noble Hütte fertig ist. Die Baufirma verlangt ihren Lohn, aber die Kasse ist leer.

Der Göttervater Wotan als Zirkusdirektor.
Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von der Oper Stuttgart

Sein Generaldirektor soll das Problem lösen. Letztlich fällt auch dem nichts Besseres als ein Raubzug ein. Immerhin, der ist listig geplant. Der Coup gelingt, und die eroberte Beute begleicht die Rechnung der Baukosten. So gelingt es dem Patriarchen tatsächlich, unter lautem Jubelklang mit seiner ganzen fragwürdigen Sippschaft in das neue Prachtgebäude einzuziehen. Das schale Glück ist auf unsolidem Boden errichtet, wie alle wissen und ahnen – aber wen kümmert´s? The Show must go on!

Der „Ring“: Epos, Gesamtkunstwerk, Krimi

Dies ist eine verkürzte (und auch stark vereinfachte) Zusammenfassung der Handlung des „Vorabends“ für das danach folgende dreiteilige (also insgesamt eigentlich vierteilige) Opernwerk „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner. Der erste Abend ist der kürzeste Teil dieses Riesenwerks, heißt „Das Rheingold“ und dauert „nur“ gut zweieinhalb Stunden. Erzählt wird die Vorgeschichte des Dramas, das sich danach entspinnt. Das hier vorgeführte Familienunternehmen ist nichts weniger als die Götterwelt, und im verlogenen Unrecht des Anfangs ist alles angelegt, was am Ende nach mehr als siebzehn Stunden Musik mit der „Götterdämmerung“ im Untergang der Mächtigen enden wird.

Der „Ring“ ist ein großes Gesamtkunstwerk, ein Epos über alles, was die Welt zusammenhält, und deshalb auch ein Krimi um Liebe, Geld und Macht. Dieser große märchenhafte Entwurf tut gut in unserer auf hektische Kurzfristigkeit angelegten Gegenwart. Aber Wagners eigenwilliges Weltengemälde ist eben auch komplex und umstritten, so wie es Wagner selbst gewesen ist zu Lebzeiten und bis heute.

Die Bilder aus der Stuttgarter Inszenierung des „Rheingold“ (Regie: Stephan Kimmig) waren  Inspiration für den saloppen Einstieg in diese Kurzzusammenfassung. Denn im Opernhaus am Eckensee ist nichts mehr übrig vom Heldenepos, der in Richard Wagners Fantasie zumindest noch partiell eine Rolle gespielt haben mag. Hier nimmt der Untergang der Götterfamilie höchst ironisch und sehr unterhaltsam in Form eines maroden Zirkusbetriebs Fahrt auf, schnurstracks dem moralischen Abgrund entgegen.

„Wir sind angefeuert vom Drang, etwas zu besitzen“

Dieser Einstieg in den vierteilig dahintreibenden Untergang der Götterwelt ist eine wunderbar sinnliche Geschichte, eine Parabel für die Anzeichen und katastrophalen Folgen von Moralverfall und Machtmissbrauch. „Wir üben Gewalt gegeneinander und übereinander aus“, sagt Regisseur Stephan Kimmig in einem Interview im Programmheft, „angefeuert vom Drang, etwas zu besitzen, was uns das Gefühl verleiht, wertvoller, mächtiger, größer und bedeutender zu sein als die Anderen.“

Sorgloses Treiben der Götter auf der Stuttgarter Opernbühne
Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Das Geschehen auf der Bühne lädt also ein zum Grübeln darüber, ob am Ende immer das Geld über die Moral siegt. „Wir verraten permanent die Liebe, das Mitgefühl mit anderen“, wie Kimmig im gleichen Interview ausführt. Seine Inszenierung gestaltet einen zeitaktuellen Abend, der jeder Fantasie über Parallelen des Gesehenen zum aktuell Erlebten freien Lauf lässt.

Eine davon könnte zum Beispiel ein Nachdenken über das hartnäckige Festhalten des aktuellen deutschen Finanzministers an der grundgesetzlich verankerten „Schuldenbremse“ sein. Im Hinblick auf die aktuellen Nöte und Erfordernisse mag sie lästig sein, aber wohin es führt, wenn es kein Halten mehr gibt, keine Moral, keinen Anstand bei der allseitigen Wunscherfüllung – das ist eben im „Rheingold“ zu besichtigen.

Kurzfristige Problemlösung mit einem Raubzug

„Prioritäten setzen“, wäre angesagt gewesen im maroden Götterstaat, ganz so wie Christian Lindner es heute für Deutschland fordert. Es ist tröstlich und demaskierend zugleich, dass die Götter in der Nibelungenwelt von Richard Wagner dazu genauso wenig Spielraum haben, wie die Politik von heute. Die Wahrheit ist nämlich: Wenn der Staat wirklich „Prioritäten“ setzen würde, wäre der Grad der verhassten Veränderungen in der Gesellschaft noch viel größer, als wenn er schuldenfinanziert möglichst viele Wünsche erfüllt, damit vieles so bleibt wie es ist.

Ein Abbau des Sozialstaates, der für viele das blanke Überleben sichert, kann kaum so viel Geld erbringen, wie nötig ist, um den weiteren Verfall unserer Infrastruktur aufzuhalten. Noch dazu leisten wir uns gegen jede Vernunft so manche moderne Götterburg: Klimaschädliche Subventionen für Diesel- und Flugbenzin, noch immer neue Autobahnen statt funktionierender  Schienenwege, Luxuslofts statt Sozialwohnungen. Rheingold-Wotan handelt also genauso rational, wie es die Politik in Deutschland früher oder später tun wird: Gegen alle Moral sich doch mehr Schuld(en) aufzuerlegen, um möglichst vieles zu ermöglichen, was unseren Wohlstand sichert. Wotan löst sein Problem übrigens kurzfristig mit purer Kriminalität – durch einen Raubzug. Wie wäre es für Christian Lindner, endlich für eine konsequente Verfolgung von Steuerbetrug zu sorgen?

Im „Rheingold“ ziehen die selbstverliebten Götter am Ende gutgelaunt und gewissenlos ein in ihr neues Haus, angelockt von seiner Pracht und Schönheit, aber noch blind für die Schuld, die sie um des schönen Baus willen auf sich geladen haben. Auf den Staat und sein Schulden-Dilemma zu schimpfen, ist einfach. Auf sich selbst zu blicken, dagegen schwer: Wer könnte sich gewiss sein, nicht bereits selbst solcher eitler Verblendung unterlegen gewesen zu sein?

Ein Besuch des „Rheingold“ ist eine überaus unterhaltsame Gelegenheit, sich dessen bewusst zu werden.

 

 

Dieser Text ist eine aktualisierte Neufassung eines Essays aus dem November 2021 nach der Premiere der Neuinszenierung in Stuttgart. Er erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

 

Das „Rheingold“ ist an der Stuttgarter Oper ist in der laufenden Saison 23/24 noch viermal zu sehen: am 7. und 25. Mai, 10. und 13. Juni. Auf der Website der Oper Stuttgart sind auch zahlreiche weiterführende Informationen aufbereitet (einschließlich einer kompletten Handlungsbeschreibung): https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/kalender/das-rheingold/4277/

 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.  

Dort finden Sie auch Texte zu den anderen Teilen des „Ring“:

Die Walküre

Siegfried

Götterdämmerung

sowie eine an die Ring-Idee angelehnte moderne Parabel: „Der Ring des Diktators“

Die charmante Ambivalenz des Deutschen

Historische Ermittlungen eines Nichtextremisten

Man dürfe den Stolz auf das Deutsche nicht den Rechtsextremen überlassen, hatte der Nichtextremist gehört und als überzeugend empfunden. Nur: Was alles ist „das Deutsche“, auf das er stolz sein darf?

 

Der Stolz der Deutschen? In der Walhalla bei Regensburg ehren 132 Büsten herausragende Persönlichkeiten, die deutsch sprachen.

Die Sprache sei es, hatte Ludwig I., König von Bayern, festgelegt, als er den Anstoß gab zu dem Bau, zu dem es nun gilt, sich im kalten Frühlingswind über 479 Stufen heraufzuquälen. Das Deutsche, das ist vielleicht der Kyffhäuser, das ist Weimar und Heidelberg, Neuschwanstein und der Kölner Dom, und auch dieser Ort: Ein Tempel als geistige Weihestätte für die großen Denker und Helden, die dem Deutschen über Jahrhunderte ihr Gepräge gaben.

Die „Walhalla“ sollte Deutschland gehören, aber Bayern gibt sie nicht her

Der Tempel heißt „Walhalla“ und steht seit 1842 in Ostbayern hoch über der Donau, nahe bei der mittelalterlichen Großstadt Regensburg. Ein bisschen sieht er aus wie die berühmte Akropolis von Athen, nur gänzlich unversehrt. Der säulenumstandene Bau ist auch nur knapp zweihundert Jahre alt, noch dazu hat ihn vor nicht allzu langer Zeit die bayerische Staatsregierung gründlich renovieren lassen. Dem Freistaat gehört die Walhalla, was eine Erwähnung wert ist. Der stiftende König, trauernd über die das Deutsche trennenden Spaltungskriege Napoleons, hatte einst anderes verordnet. Der Tempel solle einem „deutschen Bund“ gehören, wenn er wieder erstünde. Das hätte sich seither mehrfach so eingestellt, zuletzt nach dem 3. Oktober 1990, aber die Bayern haben die Walhalla immer behalten wollen, und die Bundesregierung hat bis heute andere Sorgen.

Wenn der Nichtextremist in seiner körperlichen Begrenztheit die Treppe endlich hinter sich gebracht hat und schnaufend die mit rotem Marmor ausgekleidete große Halle betritt, dann wartet der ungebrochene Stolz des Deutschen auf ihn. 119 Männer und nur 13 Frauen, die sich in deutscher Sprache unsterblich gemacht haben durch herausragende Leistungen der Staatskunst, der Wissenschaft oder der Künste blicken stumm auf ihn herab. Von mittelalterlichen Königen und Kaisern, von Barbarossa bis zum alten Fritz, von Luther bis Konrad Adenauer, von Goethe und Schiller bis Sophie Scholl – sie alle sind hier als Marmorbüsten verewigt.

Währt wahrer Ruhm wirklich ewig?

Da schlurft er also entlang, der dem Deutschen zugewandte Nichtextremist, ein Durchschnittsmensch in Freizeitkleidung und praktischem Schuhwerk, schlendert entlang an dieser übermächtigen nationalen Ahnengalerie, duckt sich weg unter dem Druck der Geschichte, der Last von Verantwortung und Wissen, von Mut und Demut und Übermut, eingeschüchtert vom dröhnenden Schweigen dieser verewigten Matadoren des Deutschen.

Verewigt! Währt wahrer Ruhm wirklich ewig? Viele in den Büsten Abgebildete sind längst weitgehend vergessen, und ohne scheuen Blick auf den Museumsführer oder in das allwissende Netz entschlüsselt sich oft ihre historische Bedeutung nicht. Der Ruhm verblasst. Immerhin gab es in der Walhalla seit ihrer Eröffnung noch nie die Not, eine Büste wieder entfernen zu müssen. Als Adolf Hitler im Jahr 1937 dorthin kam, um das Marmor-Ebenbild des von ihm verehrten Komponisten Anton Bruckner zu enthüllen, mag er gewiss gehofft haben, einst selbst hier gemeißelt herabzublicken. Aber die bis heute gültige, kluge Regel, dass man mindestens zwanzig Jahre tot sein muss, um überhaupt in die Erwägung einer Aufnahme in den Ehrentempel gezogen zu werden, schützt vor vorschneller Ehrung, die man dann später peinlich korrigieren müsste.

Der Stolz der Deutschen? Die traurigen Reste der „Siegesallee“ von Berlin, jetzt als Dauerausstellung in der Zitadelle Spandau.

Die Walhalla stand schon sechzig Jahre, als der deutsche Kaiser Wilhelm II. eine ähnliche Idee für Berlin hatte. Er verfügte im deutsch-nationalen Siegesrausch nach dem gewonnenen Frankreich-Krieg von 1870/71 den Bau einer „Siegesallee“ quer durch den Tiergarten. 32 Denkmalgruppen wurden dafür flugs gemeißelt und innerhalb von sechs Jahren entlang eines Prachtboulevards aufgestellt.

Schon bald wurde die Siegesallee als „Puppenallee“ verspottet

Aber die Welt ist ungerecht. Während die bayerische Walhalla alle Unbill der nachfolgenden Geschichte weitgehend unbeschadet überstand, war der von der Berliner Bevölkerung schon bald als „Puppenallee“ verspotteten Siegesallee nur eine kurze Lebensdauer gegönnt. Diese Figuren hatten es schwer: Sie standen inmitten des Tumults der deutschen Reichshauptstadt im Freien und nicht in der Provinz gut geschützt im Tempel oberhalb der Donau. Schon zwanzig Jahre nach ihrer Fertigstellung, während der unruhigen Wochen der deutschen Novemberrevolution 1918, wurden sie rüpelhaft beschädigt und beschmiert. Dann standen sie den Plänen der Nationalsozialisten im Weg, was aus heutiger Sicht eine Ehre ist. So wurden die Skulpturen der Siegesallee zu Verlierern der Geschichte, umgesetzt, im Krieg erneut beschädigt und schließlich auf Kommando der Alliierten ganz abgeräumt und zum größten Teil im Park vergraben.

Dreißig Jahre später, 1978, machten sich Denkmalfreunde daran, die alten Figuren auszugraben oder zusammenzusammeln, soweit sie noch auffindbar waren. Und so stehen heute Teile der Siegesallee wieder, wenn auch nicht mehr im Zentrum Berlins, sondern am äußersten Rand der Bundeshauptstadt. In die Zitadelle von Spandau, durch den ersten Hof und dann nach rechts in das „Proviantmagazin“, dort durch die Stahltür – und da sind sie dann, die deutschen Helden der Siegesallee, zusammengepfercht, längst nicht so prächtig, aber immerhin so gut geschützt wie die Büsten der Walhalla.

Die gefallenen Denkmäler warten im „Provinatmagazin“

Wahrer Ruhm währt ewig? Das Kopf des gefallenen Lenin-Denkmals von Friedrichshain (Zitadelle Spandau) …

„Enthüllt“ heißt diese Dauerausstellung, die gefallene Denkmäler aus Berlin zeigt. Zum größten Teil ist sie mit den traurigen Resten der Siegesallee gefüllt. Der kleinere Teil dieser Gegen-Walhalla, dieses Depots der peinlichen Erinnerungen der Deutschen, widmet sich den Jahren nach 1933: Der athletische „Zehnkämpfer“ des Hitler-Lieblings Arno Breker, den Adolf Hitler einst – ausweislich einer Widmung im Sockel – dem „Reichssportführer“ zum 50. Geburtstag schenkte. Nach dem Krieg fand sogar die britische Besatzungsmacht den bronzenen Jüngling schön genug, um ihn im Garten ihrer Kaserne aufzustellen. Oder ein riesiges schreitendes Pferd von Albert Speers „Germania“-Phantasien. Der abgeschlagene Kopf des Lenin-Denkmals aus Friedrichshain lagert dort, der Sockel eines Thälmann-Monuments mit selbstgerechtem Honecker-Zitat lädt zum Fremdschämen über sozialistische Eitelkeit ein. Es ist ein radikaler Gegensatz zwischen dem prachtvollen Heldentempel der Walhalla und dem spartanischen „Proviantdepot“ für gefallender Denkmäler am Rande von Berlin, der viel erzählt über den Stolz auf das Deutsche.

Kollwitz in der Walhalla, der Glasquader in der Zitadelle

… oder der ausgemusterte Glasquader aus der Neuen Wache in Berlin (Zitadelle Spandau).

Und da drängt sich doch tatsächlich auch noch der konservative Bundeskanzler Helmut Kohl ins Bild. Die Verbindungslinie von der Walhalla über die Spandauer Zitadelle zu Helmut Kohl führt vorbei an Säulen, die denen der Walhalla gleichen. Es sind die Säulen am Eingang der Neuen Wache unter den Linden von Berlin. Dort gedachte während der DDR-Zeit ein gläserner Quader mit einer ewigen Flamme in seiner Mitte der „Opfer des Faschismus und Militarismus“.

Was der Kanzler der Einheit an diesem Glasgebilde auszusetzen hatte, bleibt rätselhaft. An seiner Stelle steht nun jedenfalls in der Neuen Wache eine Pieta der sozialistisch orientierten Künstlerin Käthe Kollwitz. Sie zeigt die trauernde Mutter Kollwitz mit ihrem im Krieg gefallenen Sohn. Gedacht wird jetzt der „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Die Entscheidung für die Kollwitz-Skulptur wird Kohl zu geschrieben, künstlerisch wie historisch ist sie bis heute nicht unumstritten: Die ursprünglich kleine Miniatur wurde auf Überlebensmaße vergrößert. Und wird dieses Abbild einer Mutter, die um ihren toten, im Krieg umgekommenen Sohn trauert, der Vielfalt der Opfer des NS-Grauens gerecht?

Worauf der Nichtextremist stolz ist

Käthe Kollwitz – Büste von 2019, aufgestellt in der Walhalla.

Auch ein solcher Streit ist deutsch. Käthe Kollwitz starb 1945 wenige Tage vor Kriegsende. Nicht zwanzig, sondern 74 Jahre später, im Jahr 2019, wurde ihre Büste in der Walhalla aufgestellt und enthüllt. Bei aller möglicher Kritik an Helmut Kohl bleibt festzuhalten, dass er mutig genug war, diese ihm politisch absolut fernstehende Künstlerin mitten hinein in das Herz der deutschen Gedenkkultur zu holen. Und der verbannte, erloschene DDR-Glasquader von 1960 wartet in Spandau auf eine neue Verwendung.

So ist im Deutschen immer beides möglich: Großer Ruhm und schreckliche Schuld, stumme Verehrung und beredte Verachtung, rechter Kohl und linke Kollwitz. Es ist diese charmante Ambivalenz des Deutschen, auf die der Nichtextremist stolz ist.

 

Mehr Informationen und alle Services rund um einen Besuch der Walhalla finden Sie hier, der Dauerausstellung „Enthüllt“ in der Zitadelle Spandau hier.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

 

 

 

 

Alte Männer und ihre Koffer

Hinter der Maske verschwindet die Gier nach Ruhm: Manfred Zapatka als „Minetti“ am Residenztheater München (Regie Claus Peymann; Foto: Monica Rittershaus, bereitgestellt von Residenztheater München)

Über „Minetti“ im Theater und Gerhard Schröder im wirklichen Leben

Es wäre doch eine schöne Vorstellung, wenn ein alter Mensch seine Verdienste, die Nachweise der eigenen Unverzichtbarkeit, in einem Koffer mit sich herumtragen könnte. Was wäre in diesem Koffer drin? In Angela Merkels Koffer vielleicht die griechischen Ausgaben des Euro, von jeder Münze, die die Athener Zentralbank ausgegeben hatte, ein Exemplar. Oder eines der vielen gespendeten Kuscheltiere, wie sie im Sommer 2015 massenhaft am Münchner Hauptbahnhof bereitlagen. Die Geflüchteten aus Budapest kamen dort an und wir alle waren noch stolz auf unsere Menschlichkeit, statt sich ihrer wie heute zu schämen. Oder ein Modell der nie gebauten Magnetschwebebahn zwischen diesem Münchner Bahnhof und dem Flughafen im Koffer von Edmund Stoiber? Natürlich eine Gitarre im Koffer von Wolf Biermann!

In Minettis Koffer ist eine Maske. Geschaffen habe sie ein bekannter belgischer Künstler, sagt der alte Schauspieler. Wie sie aussieht, diese Maske, die „Minetti“ einst getragen haben will, um Shakespeares „Lear“ – natürlich unvergleichlich – auf die Bühne zu bringen, bleibt bis zuletzt verborgen. Die Maske ist in dem Theaterstück „Minetti“ von Thomas Bernhard, das derzeit im Münchner Residenztheater zu sehen ist, der Cliffhänger. Die Maske hält die Spannung aufrecht in diesem weitgehend als Monolog angelegten Bühnenstück. Eineinhalb Stunden bekommt in München der auch schon alternde Schauspieler Manfred Zapatka Zeit, unter der Regie des 80-jährigen Claus Peymann „Minetti“ zu spielen, den alten Mann, angelehnt am großen Schauspieler Bernhard Minetti. Vom Leben und von der Sucht nach Ruhm ein wenig sonderlich geworden ist dieser Bühnen-Minetti – und alle warten darauf, endlich sehen zu können, was in dem Koffer ist.

In „Außer Dienst“ schiebt Schröder keinen Koffer, sondern einen Golfwagen

Etwas kürzer, nur eine Stunde, dauert die überaus sehenswerte ARD-Dokumentation „Außer Dienst“ von Lucas Stratmann zum achtzigsten Geburtstag von Gerhard Schröder. Einen Koffer schiebt dort anfangs Schröder nicht vor sich her, sondern einen Golfwagen. Was wäre in seinem Koffer, wenn er einen hätte? Vielleicht eine sorgsam verpackte, tönerne Friedenstaube, weil er unser Land herausgehalten hat aus dem verbrecherischen Irak-Desaster des George W. Bush. Oder ein Bündel Geldscheine, symbolisch für das Wirtschaftswachstum, das die Reformen seiner unpopulären „Agenda 2010“ auf längere Sicht vielen Menschen in Deutschland Wohlstand verschafft hat. Auch wenn dieser zusammengespart war aus der gewachsenen Armut derer, die unter die Räder gerieten beim Abbau des Sozialstaates. Eine zusammengefaltete Traditionsfahne der SPD könnte drin sein, verstaubt und mottenzerfressen, weggepackt von seiner Partei, die sich bis heute nicht erholen konnte von Schröders toxischer Selbstherrlichkeit. Oder eine Maske, aber welche?

Demaskiert in seiner egozentrischen Begrenztheit ist der alte „Minetti“ längst, als er zum Ende des Theaterabends schließlich die Maske herausholt aus dem Koffer und aufsetzt. Große Ideen hat er verfolgt, die entscheidenden Fragen der Kunst malträtiert und wurde von ihnen gequält: Das Alte pflegen, oder das Neue wagen? Er beklagt sein Scheitern am konservativen Geist der Kulturbürokratie. Schon nach wenigen Minuten im Theater ist klar: Dieser alte Künstler hat den Höhepunkt seines Schaffens längst hinter sich, die Zeit ist an ihm vorübergezogen, der alte Mann hat fertig. Alle wissen es, alle merken es, nur er selbst nicht. Nun hofft er auf einen letzten Auftritt mit der sagenumwobenen Maske, die im Koffer wartet.

Welche Maske wäre in seinem Koffer? Gerhard Schröder im Herbst 2023 in Hannover. (Foto: Bernd Schwabe Hannover via Wikipedia)

„Armselige Gestalten“ nennt Schröder seine Genossen

„Armselige Gestalten“ seien das, sagt Gerhard Schröder in der ARD-Dokumentation über diejenigen, die ihn heute in Deutschland kritisieren. Man gehe ungerecht mit ihm um, aber das störe ihn nicht wirklich. Ganz generell erlebt man am Fernsehschirm eindrücklich, dass dieser Altkanzler nicht gerne zuhört. Er redet lieber: „Ich brauche für mein Lebenswerk nicht die Zustimmung der jetzigen SPD-Führung.“ Es ist eine ganz spezifische Form von schauspielerisch vorgeschobener, kokettierend dröhnender, eitler Un-Bescheidenheit, die der Altkanzler vorträgt.

Das Fernsehteam begleitet ihn auf einer „Geschäftsreise“ durch China. Wer die Reise bezahlt, interessiert ihn nicht, auch nicht, welche Motivationen seine Gastgeber leiten, ihn herumzureichen wie den Wanderpokal eines in die Jahre gekommenen Wettbewerbs. Kein Wort versteht er, wenn die chinesischen Claqueure ihm ein Dokument unterscheiben lassen, wenn ihm fahnenschwingende Kinder Blumen überreichen. Seine in China gesprochenen Worte sind für die Fragen des Jetzt von erschreckend platter Irrelevanz. Aber er kann es nicht lassen, mit sonorer Stimme ein weltpolitisches Gewicht zu simulieren, das er längst nicht mehr hat. „Wir machen doch hier kein Märchen!“, schnauzt er den Reporter Stratmann an, als dieser ihn nach der moralischen Seite seiner Kontakte zu Wladimir Putin befragt.

Nichts kann bestehen neben der Gier nach Ruhm

Nach eineinhalb Stunden weiß der Theaterbesucher längst, dass dieser „Minetti“ (anders als der Schauspieler Bernhard Minetti) gemessen an seinem Ego eine verheerende Lebensbilanz ziehen müsste, wenn es darauf ankäme. Er ahnt die nächste Demütigung, auf die er wartet, wenn jener Theaterleiter zum vereinbarten Treffen nicht einmal erscheint, das ihn auf einen letzten Auftritt als „Lear“ hoffen ließ. Aber die Gier nach Ruhm ist zu stark, nichts kann daneben bestehen. Vielleicht war dieser „Minetti“ ein liebender Familienvater und ein empathischer Mensch, voller Humor und geistreich im Gespräch mit allen, die mit ihm waren. Aber nichts davon wartet in seinem Koffer. Nur vergilbte Zeitungsausschnitte über seinen umstrittenen Theaterruhm. Und die Maske.

Als er die Maske schließlich herausholt, als er sie endlich aufsetzt, verschwindet die ganze eitle Selbstgerechtigkeit des alten Mannes hinter einer kunstvollen Fratze, einem wahren Kunstwerk, das sich viel stärker eingräbt in die Erinnerung des Zuschauers, als die ganze kleinliche Selbstverliebtheit desjenigen, der nicht loslassen konnte.

Gerhard Schröder weiß nichts von einem Koffer. Welche Maske wäre darin, wenn er sich doch trauen würde, ihn zu öffnen? Nicht die mit den Gesichtszügen seines Freundes Putin, das wäre zu billig, und würde auch dem Lebenswerk Schröders nicht gerecht. Es wäre vielleicht viel schlimmer: Gar keine Maske wäre drin, alles leer, nur ein paar Geldscheine.

„Minetti“ am Residenztheater München gibt es noch am 2. und 21. Mai 2024 zu sehen.

Die ARD-Dokumentation „Außer Dienst“ über Gerhard Schröder ist bis 2.4.2026 in der Mediathek abrufbar.

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