Eindrücke nach einem Konzertabend mit Konstantin Wecker
„Dreamer“ nennen sie in Amerika jene – geschätzt etwa 1,9 Millionen – Menschen, die seit ihrer Geburt illegal in den USA leben. Sie träumen von einem gesicherten Aufenthaltsstatus, von Legalität und langfristiger Gewissheit über die eigene Zukunft. Donald Trump wollte sie in seiner ersten Amtszeit allesamt ausweisen; gelungen ist ihm das nicht, und was nun für sie kommen wird, ist ungewiss.
Auch in Deutschland leben sicher einige „Dreamer“ in diesem Sinne; aber, da es hier – anders als in den USA – eine allgemeine Meldepflicht gibt, dürften es nicht sehr viele sein. Deutsche Träumer sind üblicherweise nicht jung und auf der Suche nach einer gesicherten Existenz. Sie sind oft selbstzufriedene Inhaber einer rechtsstaatlich garantierten Gewissheit von Sicherheit und Wohlstand. Sie sind grauhaarig und faltengesichtig, sie verbergen ihre Handys in lederne Klapphüllen und wenn sie diese öffnen, dann machen sie verwackelte Fotos oder versuchen, mit zittrigen Wischbewegungen ihre südteuren Hightech-Hörgeräte zu bändigen.
Sie träumen nicht von einer Zukunft, sondern von ihrer Vergangenheit.
Die einen stemmen sich gegen Veränderungen, …
Die einen stemmen sich gegen alle Veränderungen der neuen Zeit, gegen die Vielfalt von Lebensentwürfen, gegen das vermeintlich Fremde in unserer Heimat, gegen das Ende der geliebten Verbrenner in Keller und Garage. Wenn sie mutig genug wären, würden sie sich gegen all dies auf irgendwelche Straßen kleben. Aber sie sind nicht mutig, sie sind feige und kreuzen ihren Zorn anonym auf dem Wahlzettel an. Sie vertrauen den falschen Versprechungen der Rattenfänger.
… die anderen trauen der Jugend nichts zu, …
Andere dieser Träumer eifern Aristoteles nach und sprechen der „Jugend von heute“ ab, dass diese den notwendigen Fleiß, die Ausdauer und Weitsicht besitzen würde, unsere Welt zu bewahren. Aber sie erwarten gleichzeitig, dass diese unfähige Generation mit ihren Steuern und Beiträgen verlässlich satte Renten finanziert und sich bereitwillig für eine allgemeine Dienstpflicht erwärmt.
… und die dritten wollen weiter kämpfen
Und die dritten schließlich, und um die soll es hier gehen, wollen den Kampf ihrer früheren Jahre fortsetzen. Sie wollen nicht aufgeben, da sie entsetzt erkennen, wohin ihr ungebremster Wohlstandsdrang geführt hat: überschwemmte Städte, brennende Wälder, Smogalarm, wiedererstarkter Rechtsradikalismus. Sie wollen es wieder gutmachen, das Rad der Schuld zurückdrehen. Sie wollen zeigen, dass sie gelernt haben. Nur: Was?
Zur letzten Gruppe zählt der Künstler Konstantin Wecker. 1947 in München geboren und aufgewachsen, hat ihn eine klassische West-Nachkriegsbiografie geprägt, mit Abstechern ins Gefängnis, in den Drogenentzug und in die Toskana. Wenn er zum Konzert ruft, dann sammelt ein alter Träumer seine Jünger um sich, und sie kommen in Scharen. Das Publikum ist homogen angegraut, kaum ein Gesicht unter dreißig, zwei Drittel über sechzig. Für sie liest ein alter Mann auf der Bühne seine Moderation vom Teleprompter ab, bewegt sich vorsichtig von links nach rechts und wieder zurück, mehr tastend als tanzend. Gelegentlich setzt er sich hin. Seine Lieder haben noch immer die alte Kraft, auch wenn die Stimme brüchiger ist als früher, oft gar kein Gesang, mehr ein Sprechen oder Rufen oder Flüstern.
Nach den wilden Träumen seiner Zeit sucht er noch immer
Nach den wilden Träumen seiner Zeit aber sucht er noch immer. Er hat Abstürze und Wiederkehr erlebt, große Erfolge als Komponist, als singender Poet, als Schauspieler. Er hat sich im Leben durchgesetzt mit klugen Worten und schöner Musik, und ist doch immer ein Mann der Disharmonie geblieben, ein widerborstiger Anarchist, ein sperriger Antifaschist, ein mahnender Pazifist. Und sein Publikum dankt es ihm. Für die ergraute Schar ist er so, wie sie sich selbst gerne sehen: Geläutert, demütig, nicht gebrochen. Und schließlich stimmt doch noch immer, was schon vor fünfzig Jahren gestimmt hat: Die Reichen nehmen sich zu viel vom Kuchen, die Menschlichkeit fehlt allerorten, und nur der Frieden, nicht die Waffen, versprechen eine Zukunft.
Ein Populist des Guten
Es sind solche Sätze, die den alten Träumer zu einem Populisten des Guten machen, zu einem Propagandisten für einfache Wahrheiten. Hier verspricht einer die Rückkehr in eine Welt, die noch nicht aus den Fugen war, nicht multipolar und komplex wie heute, sondern wohlgeordnet: Die Armut im Süden. Der Feind im Osten hinter einer gut gesicherten Mauer. Und der Reichtum im Westen, gegen dessen offenkundige Ungerechtigkeiten man guten Gewissens, weitgehend gefahr- und folgenlos, demonstrieren durfte. Die Linke war es damals, die den Staat grundlegend kritisierte; heute ist es die radikale Rechte.
Als dann auch noch der eiserne Vorhang fiel, da war für die Generation der deutschen Träumer ein Zeitalter ohne Kriege schon zum Greifen nah. Es war eine Welt, in der kein europäischer Nachbar mit todbringender Gewalt die Freiheit des Westens bedrohte. Es war noch nicht Avantgarde, auf Aktienkurse statt auf Tarifverträge zu starren. Es war nicht üblich, sich anonym und ungestraft im Netz zu beleidigen. Und noch niemand war auf die Idee gekommen, mit Hass und Lüge Milliarden zu verdienen.
Nun aber herrscht „Weltenbrand“
Wecker singt die deutschen Träumer zurück in diese Zeit. Nun aber herrscht „Weltenbrand“, ganz real, und nicht nur im gleichnamigen Lied, das Wecker kurz vor Schluss in den Saal schreit und haucht und in die Tasten seines Flügels schlägt: „Tauchst in die Fluten du ein, bis alles erlischt – würdest gern Brandung sein, endest als Gischt.“
Beifall brandet auf. Der große alte Träumer steht auf der Bühne, inmitten des genialen Musikerteams, das er um sich geschart hat und das seinen Liedern moderne musikalische Wucht verleiht. Gebeugt, beansprucht von diesem Abend, vielleicht glücklich, sicherlich widerspenstig wie immer, nimmt er die Huldigungen entgegen. Ein großer Poet steht da, ein genialer Musiker, auch ein Kämpfer mit vielen Narben aus seinem Streit für eine bessere, friedlichere, menschlichere Welt.
Man spürt, dass er es weiß: „Würdest gern Brandung sein, endest als Gischt“. Weil sie einfach nicht auf ihn hören will, die Welt von heute.
Erlebt habe ich Konstantin Wecker bei einem Konzert seiner Tour „Der Soundtrack meines Lebens“ in Stuttgart am 3. Dezember 2024. Weitere Konzerte mit diesem Programm gibt es am 8.12. in Wien und am 10.12.2024 in Frankfurt. Konstantin Wecker startet im Frühjahr 2025 eine Tour „Lieder meines Lebens“ in 49 Städten.
Mehr Informationen über Wecker auf seiner Website.
Das Lied „Weltenbrand“ gibt es auch als Video (Link führt zu Youtube)
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