Trump, Merz und der Fosbury Flop

Fortschritt und Disruption: Was Politik vom Hochsprung lernen kann

Der amerikanische Hochspringer Dick Fosbury galt als talentierter Athlet, war eher ein Einzelgänger, trainingsfaul und verkopft. Er interessierte sich sehr für Physik und spürte bei jedem Sprung dem kurzen Moment des Gefühls von Schwerelosigkeit nach. Von seinen Trainern ließ er sich nur wenig sagen. Dann aber, am 20. Oktober 1968 in Mexiko führte er der ganzen Welt vor, was er im Hochsprung unter Fortschritt verstand – und gewann damit die Goldmedaille der Olympischen Spiele. Der Fosbury Flop war geboren, eine Disruption, eine radikale Veränderung der Sprungtechnik, nicht mehr mit dem Bauch oder den Beinen über die Latte, sondern flach liegend mit dem Rücken. Anfangs wurde gelacht, aber innerhalb weniger Monate setzte sich die neue Technik weltweit durch.

Im Liegen über die Latte fliegen: Mit einer disruptiven Veränderung hat 1968 Dick Fosbury mit seinem Olympiasieg den Hochsprung verändert. Es war eine radikale Disruption. Funktioniert das auch in der Politik? Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

So also kann Fortschritt funktionieren: Das Alte betrachten, nachdenken, es schrittweise verbessern – oder auch mit einem radikalen Eingriff, einer grundlegend neuen Vorgehensweise, die das Alte über Bord wirft. „Fortschrittskoalition“ hatte sich in ihren Anfangsstunden jene deutsche Regierung der „Ampel“-Parteien genannt. „Mehr Fortschritt wagen“, so war der Koalitionsvertrag überschrieben. Gemeinsam wolle man „die Dinge vorantreiben und damit auch ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein setzen: dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können“. Wer möchte, kann sich auf YouTube noch heute die Bilder von den ersten Tagen dieser Regierung ansehen: Ein Minister auf dem Fahrrad, die Ernennungsurkunde auf den Gepäckträger gespannt, eine Außenministerin, die mit dem Zug von Paris nach Brüssel fährt und ein Kanzler Scholz, der sich (im gleichen Film) Hoffnung auf kooperatives Zusammenwirken in den nächsten Jahren des gemeinsamen Regierens macht.

Fortschritt als Leitmotiv: Nicht alles anders, vieles besser

Das ist ja nun gründlich danebengegangen. Was ist misslungen? Es könnte sich lohnen, dem Fortschritt als Leitmotiv nachzuforschen, verspricht er doch immerhin eines: Es soll vorwärts gehen, der Zukunft zugewandt, das Bessere suchen, nicht das Vergangene wiederherstellen. Vor drei Jahren wollte die in Deutschland regierende „Ampel“ den Fortschritt stückchenweise erreichen, nicht „alles anders, sondern vieles besser machen“ (wie Altkanzler Schröder einmal nach der Ära Kohl sagte).

Solche Geduld ist offensichtlich aus der Mode geraten. Die Bilder aus den USA, die den frisch wieder im Amt befindlichen Donald Trump zeigen, wie er stapelweise „Executive Orders“ unterscheibt, haben auch hierzulande Eindruck hinterlassen. Endlich soll Schluss sein mit dem mühsamen Palaver, vorbeisein soll das langweilige Warten auf „echte“ Veränderungen. Stattdessen: Disruption. Trump macht es vor: Ein radikaler Eingriff, eine Unterschrift, eine Anweisung, zack – und die Sache ist geändert.

„Am ersten Tag meiner Amtszeit“, sagt nun also Friedrich Merz, „werde ich anweisen, dass an den Grenzen alle Versuche illegaler Einreisen ausnahmslos abgewiesen werden.“ Es soll sich also endlich etwas ändern, wenn der neue Kanzler im Amt ist, und zwar von einem Tag auf den anderen.

Eine Unterschrift und zack, die Sache ist geändert?

Allerdings ist zu erwarten, dass sich erstmal gar nichts ändert. Illegale Einreisen nach Deutschland sind schon jetzt verboten. Wer an der Grenze Asyl beantragt, reist nicht illegal ein, sondern nutzt europäisches und deutsches Recht. Gewiss kann man den Umgang damit verändern, vielleicht sogar mit Polizeigewalt das Überschreiten der Grenze verhindern. Abgesehen davon, was das bei Deutschlands Nachbarn auslöst – was genau soll geschehen, wenn der illegal Einreisende eine Wanderung ein paar hundert Meter nach links oder rechts des offiziellen Grenzübergangs macht? Zäune? Wasserwerfer? Schusswaffen?

Mit den so spektakulär unterschiebenen Orders des amerikanischen Präsidenten verhält es sich ähnlich. Zwischen der Unterschrift vor Fernsehkameras und der Umsetzung liegen lange Wege, rechtliche Hindernisse, Prozesse und föderale Widerstände. Es fühlt sich an wie eine Disruption, aber es ist keine wirkliche Veränderung, sondern eine effekthascherische Showeinlage.

Disruptionen gegen den Fortschritt

Dick Fosbury wollte den Fortschritt. Er erdachte den nach ihm benannten Flop, weil er höher springen wollte als die Konkurrenz mit ihrer althergebrachten Technik. Die Trumps und Musks – und in ihrem Gefolge die deutschen Konservativen, wollen nicht den Fortschritt. Ihre Disruptionen sollen uns dorthin zurückführen, wo wir herkommen: Wiedereinführung der Kernkraft (ohne Klärung der Frage des Atommülls), das neue Wahlrecht rückgängig machen (also wieder einen XXL-Bundestag zulassen), zurück zu Diesel und Benzin (also Abschied von den Klimazielen), das sogenannte „Heizungsgesetz“ aufheben (obwohl sogar die betroffenen Lobbyorganisationen dies kritisch sehen). Die Rechtsradikalen wollen gar die „Windmühlen der Schande“ absägen, die FDP mehr Milei (Kettensäge) und Musk (Hitlergruß) wagen. Sollen das die Veränderungen sein, die uns in die Zukunft führen?

Die konservative Seite der Politik argumentiert nicht mehr erhaltend und entwickelnd, wie es ihre Aufgabe im politischen Diskurs wäre, sondern radikalverändernd rückwärtsgewandt.  Und sie hat sich verliebt in die neue Ästhetik der Schein-Disruption: Nicht lange diskutieren, lieber schnelles Ändern – oder es wenigstens so aussehen lassen. Der Soziologe Armin Nassehi hat in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung dies als „Disruptive Kontinuität“ bezeichnet. Man müsse im politischen Wettbewerb heute mehr Kausalität zwischen Handlung und Wirkung vorspielen, als fachlich haltbar ist.

Der Fortschritt will erarbeitet sein, mühsam, Stück für Stück

Will heißen: Erfolgreich sind im Zeitalter der Sozialen Medien solche Politiker, die dem Volk erzählen: Nach der Wahl mache ich erstens, zweitens, drittens – und dann ist alles wieder so wie vorher: Keine Mordüberfälle mehr, die Arbeitsplätze alle sicher, die Wohnungen billig und die Bahn pünktlich. Und nach Amtsantritt machen sie erstens, zweitens, drittens, unterzeichnen wirkungslose Absichtserklärungen und Anweisungen von fraglichem rechtlichen Bestand – aber bestens sichtbar für die Kameras, millionenfach geteilt hinein in das zufriedene Wahlvolk. Nichts wird sich dadurch ändern: Der nächste Anschlag durch einen psychisch Kranken wird uns ereilen, die Konjunktur erholt sich nicht von heute auf morgen, die Miete bleibt gleich hoch, und der lästige Personenschaden auf den Gleisen sorgt noch immer für Verspätungen.

Und ein paar Jahre später dann das gleiche Spiel. Bis wir es gelernt haben, dass wir wohl die Geduld werden aufbringen müssen, uns den Fortschritt zu erarbeiten, mühsam, Stück für Stück. Dick Fosburys Sprung war eine Disruption – aber vorher hat er jahrelang dafür trainiert.

 

 

Eine gute Zusammenfassung der Geschichte von Dick Fosbury, die ich auch als Informationsgrundlage für meinen Textes genommen habe, findet sich in der Neuen Züricher Zeitung vom 14.4.2020, der online gebührenfrei verfügbar ist.

 

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Friedrich, der Zaubergeselle

Die Geschichte vom Zauberlehrling – und die bösen Besen von heute

Friedrich ist kein Zauberlehrling, er ist ein alter Zaubergeselle. Schon seit vielen Jahren. Nun will er die Meisterprüfung ablegen – endlich. Der alte Geselle hat viel mehr Erfahrung als jeder andere Lehrling im Berliner Zauberbetrieb, und gerade deshalb darf ihm nicht passieren, was man einem Lehrling vielleicht noch verzeihen könnte.

Der Zaubergeselle – bald ein Meister? Foto: CDU/Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

Die Geschichte vom Zauberlehrling ist eine wunderbare Parabel von Meisterschaft und Dilettantismus, vom Unterschied zwischen Schläue und Klugheit. Johann Wolfgang von Goethe hat sie im Jahr 1797 in einer Ballade erzählt: Ein Zaubermeister ist außer Haus gegangen, und sein Lehrling hat keine Lust, das Wasser, das er benötigt – wofür auch immer -, selbst vom Fluss zum Haus herauf zu schleppen. Also befielt er mit dem abgehorchten Zauberspruch des Meisters dem Besen, ihm das Wasser zu holen. Und die Sache funktioniert: Eimer um Eimer wuchtet der Besen heran, bald ist es mehr als genug – und da erst fällt dem Lehrling auf: Er kannte zwar das Wort, das den Besen in Bewegung setzt, nicht aber jenes, das ihn wieder davon abbringt.

Der Zauberlehrling hatte das Ende nicht bedacht

Die Wasser ergießen sich bereits über das ganze Haus, und in seiner Verzweiflung greift der Lehrling zur Axt, will den Besen zerschlagen und spaltet ihn in zwei Teile. Dieser brutale Eingriff aber macht alles nur noch schlimmer. Nun hat sich der Besen verdoppelt und zwei seiner Art schleppen immer noch mehr Wasser herbei. Dann endlich, in allerhöchster Not, erscheint der Meister. Wenige, aber richtige, Worte von ihm genügen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Der Lehrling bleibt bedröppelt zurück, die Grenzen seines Könnens waren ihm höchstpersönlich vorgeführt worden. Er war schlau gewesen – aber nicht klug. Sein größter Fehler: Er hatte das Ende nicht bedacht.

Friedrich bringt vieles dafür mit, was ihn zum Meister gereichen könnte: Er hat Erfahrung und Anstand, er scheut keine Verantwortung, er ist mutig, redegewandt. Er begegnet Mitmenschen und auch Andersdenkenden meistens mit Respekt – vielleicht weniger in seinen manchmal scharfzüngig gewählten Worten, aber immerhin dann, wenn er ihnen unmittelbar gegenübersteht. Friedrich ist oft ein wenig steif und altmodisch, aber er ist rechtschaffen. Und er war glaubwürdig. Mit überzeugendem Tremolo hatte er selbst es verlangt: Niemals dürfe ihm oder sonst wem der Besen zu Hilfe kommen, niemals würde er es zulassen, dass der Besen darüber entscheiden könne, ob eine Sache obsiegt oder nicht.

Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen

Es sah also ganz danach aus, als habe er sich nun endlich die Würde für den Meistertitel erarbeitet. Dann aber kam jener Moment des unüberlegten und ungeduldigen Übermuts, in dem Friedrich den kurzfristigen Erfolg haben, ein fadenscheiniges Symbol von Handlungsstärke in die Welt setzen wollte. Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen von angeblich notwendiger Veränderung.

Dafür ließ Friedrich zu, dass der Besen ihm das Wasser reichte. Er tat, wie ihm geheißen, er spaltete sich gleich mehrfach auf und holte Stimmen herein. Während Friedrich noch zufrieden das Ergebnis seines durchscheinenden Werkes betrachtete, hörte der Besen nicht mehr auf ihn. Am Rednerpult des hohen Hauses verhöhnte der Besen seinen unüberlegten Kommandeur: Da säße der Geselle jetzt mit schlotternden Knien, spottete er, da wäre es doch besser, wenn er sich gleich der neuen Herrschaft der Besen anschließen würde, falls er dazu noch die Kraft habe.

Das Richtige mag er gewollt haben, aber was hat er verloren?

„Die ich rief, die Geister, werd´ ich nun nicht mehr los“, klagt bei Goethe der unbedachte Zauberlehrling. Auch Friedrich, der Zaubergeselle, klagt: Er habe doch mit dieser scheußlichen Besenschar nichts zu tun, die sich feixend in die Arme fielen, nachdem er ihre Hilfe zugelassen hatte. Man solle ihm doch bitte glauben, fleht er nun: Er habe nur das Richtige gewollt, da müsse doch jedes Mittel Recht sein?!

Das Richtige mag er gewollt haben, aber seinen wichtigsten Kredit hat er dabei verloren – die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen in sein Wort. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er die Wahrheit spricht“, reimt der Volksmund. Der Zaubergeselle ist eben kein Meister, er hat das Ende nicht bedacht.

Bald ist Meisterprüfung

So tanzen nun die Besen durch das weite Land und durch das hohe Haus. Wer wird sie nun wieder zurück kommandieren können in die Ecke? Die weise Meisterin ist fort. Sie ist schon im Ruhestand. Auf ihren Ruf aus der Ferne hören die Besen schon lange nicht mehr. Und der Zaubergeselle selbst will sich von der Meisterin ohnehin schon lange nichts mehr sagen lassen.

Bald ist Meisterprüfung. Besteht der Zaubergeselle?

 

Den vollständigen Text der Ballade „Der Zauberlehrling“ von J.W.Goethe finden Sie z.B bei Wikipedia. 

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Die Staudamm-Hymne als Naturerlebnis

Über das Minimal-Music-Oratorium „Itaipu“ von Philipp Glass

Zwanzig Riesenturbinen (der Bus dient dem Größenvergleich) werden am Staudamm „Itaipu“ mit den Wassermassen des Rio Parana angetrieben, verwandeln die Kräfte der Natur in Energie für die Menschen. Wie lässt sich dieses Werk in Musik ausdrücken? (Foto: Wutzofant via Wikipedia)

Irgendwo aus dem Nichts kommt der Ton, der hier das Wasser ist, ein Rinnsal nur. Am Anfang aller Wucht stehen die unendlichen Tiefen von Raum und Zeit. Dann sind aufwachsend tastende Stimmen zu hören. Ein gemischter Chor raunt in fremder Sprache, bedeutungsschwanger und düster klingende Botschaften, und der Zuhörer ahnt ihre Tragweite, von der doch nichts zu verstehen ist. Es zwitschert in den Holzbläsern und brummt in den Bässen, und schon bald wuchten sich Metall und Schlagwerk zu wachsender Dominanz auf, die Wasser werden mehr und schwellen an, werden zum Strom – und spätestens dann hat den Zuhörer diese Musik irgendwo zwischen Herz und Hirn und Ohr gepackt, hat ihn gefangen genommen – oder es wird ihr nicht mehr gelingen in den gut 30 Minuten, die noch folgen.

Meditative Eintönigkeit erzeugt Spannung

Die Rede ist von Minimal Music, einem Genre der Klassik, das mit meditativer Eintönigkeit akustische Spannungen erzeugt, denen sich der Willige kaum entziehen kann oder möchte. Er lässt sich gefangen nehmen von diesem Wunder der stetig wiederholten und doch variierten Töne, die vorbeiziehen wie ein Band von Klängen, genau so lange, bis es langweilig zu werden droht. Und genau dann kommt eine Disruption daher, öffnet sich das Klangbild in einer neuen Überraschung.

Philipp Glass (hier in einer animierten Darstellung von Alvarezroure, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons).

Einer der ganz großen Gestalter dieser Musikrichtung ist der heute 87jährige US-Komponist Philipp Glass. Ein großes Werk hat er geschaffen, so minimalistisch im Ton, so mächtig in seiner Wirkung auf die Musikgeschichte. In seinem Stil ist Glass-Musik sofort erkennbar. Klavier- und Violinkonzerte sind Teile seines Schaffens, Filmmusik, Opern, und auch Sinfonien für großes Orchester. Ein solches wird benötigt für das – vermutlich wegen des erheblichen Aufwandes selten aufgeführte – Oratorium „Itaipu“ über einen – Achtung! – Staudamm. Jawohl, über einen Fluss und den Staudamm, der sich ihm in den Weg stellt.

Wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Vivaldi oder Beethoven?

Ob Musik Geschichten erzählen kann, Landschaften beschreiben, dabei vielleicht sogar politisch ist, darf umstritten bleiben. Es gibt Freunde der Musik, die genau das ablehnen. Davon unbeeindruckt beschreiben berühmte Werke der klassischen Musik Landschaften – jedem und jeder fällt Smetanas „Moldau“ ein. Und wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Antonio Vivaldi oder Ludwig van Beethoven? Mit Tönen kann man auch dem zweitlängsten Fluss Südamerikas, dem Rio Parana, folgen. Glass zeichnet symbolisch seinen Weg nach, beginnt an der eingangs bereits beschriebenen Quelle aus den Tiefen von Raum und Zeit, lässt das Gewässer musikalisch anwachsen, bis es sich zu einem gewaltigen See erweitert, dessen Fläche zweieinhalbmal so groß werden kann wie der Bodensee.

Nur dass die Wassermassen im süddeutschen Voralpenland auf natürlichem Wege die unter dem glatten Spiegel liegenden Abgründe füllen  – der Parana dagegen künstlich in seinem Streben Richtung Meer aufgehalten wird – mit Hilfe einer fast acht Kilometer langen Staumauer, die den Namen „Itaipu“ trägt, „Stein“ in der Sprache der Guarini, jenes Volkes, das hier siedelte. Zwischen 1973 und 1984 wurde der Damm errichtet und stemmt sich seither gegen die Wucht der Physik, ringt der Natur ihre Kraft ab. Glass hat dafür in geradezu enervierender Weise Töne gefunden – repetierend, beruhigend, erregend, abschwellend, sich dramatisch steigernd. Und schließlich werden auch in der Musik die Kräfte des Wassers hineingezwungen in den einzigen Ausweg, der ihnen bleibt. In das Mahlwerk der zwanzig riesenhaften Turbinen, die triumphierend das Ungestüme der Natur verwandelnd in Energie und pure Kraft. Dreiviertel des Strombedarfs des ganzen Staates Paraguay werden hier erneuerbar erzeugt, und immerhin 17 Prozent des Stromhungers Brasiliens gestillt.

Das Oratorium setzt ein Denkmal für die vertriebenen Guarini

Etwa 40.000 Ureinwohner mussten ihre Heimat verlassen, damit der gewaltige See entstehen konnte. Ihnen setzt Glass ein Denkmal mit seinem Oratorium „Itaipu“, denn es wird vom Chor in der Sprache der Guarini gesungen und es erzählt von ihrer Religion. Der Zuhörer bleibt ob des Textes und seiner Bedeutung ratlos zurück, selbst dann, wenn er eine ins Deutsche übersetzte Fassung vor sich liegen hat. Nichts in dieser Geschichte klingt an für unsere Welt, auch wenn es um eine Sintflut geht. Unverständlich fremd bleiben die Bilder und Gleichnisse, die hier ausgebreitet werden – und bald bleibt auch gar keine Aufmerksamkeit mehr übrig, um sich diesen Worten zu widmen. Die Töne, gerade auch die unverständlichen gesungenen, überströmen in anschwellender Kraft das Musikerlebnis, als könnte man die hier beschriebene Sintflut höchstpersönlich erleben.

Philipp Glass hat den Staudamm fünf Jahre nach seiner Fertigstellung selbst besucht und war fasziniert von der gewaltigen Kraft, mit der sich hier Beton und Stahl gegen die Natur stemmt, auch von der technischen Perfektion, mit deren Hilfe der ungestümen Natur Energie für den Menschen abgerungen wird. Ist dieses Werk politisch? Es würdigt die Sprache der verdrängten Menschen, es achtet ihren Glauben an die Überwindung einer Sintflut und setzt ihn in eine kluge Beziehung zur Einmischung des Modernen in ihre Heimat. Es ist eine musikalische Beschreibung, keine Kritik, eine Hymne für das überschwemmt Untergegangene, und ein Jubelgesang für die Kraft des Fortschritts.

Schließlich verrinnen die Töne wie das Wasser in der Weite

Dann, im vierten Satz, sind die Turbinen überwunden, und die geschundenen Wasser verlieren sich nach der Tortur der Energieerzeugung in der Weite des Meeres. Tropfen um Tropfen, Welle um Welle geht es hinaus, und auch der Chor hat nur noch ein breites, zigfach wiederholtes „Ahhh“ zu hauchen. So verrinnen die Töne wie das Wasser, das gerade noch durch die menschlichen Höllenmaschinen gezwungen worden war, mit seiner ganzen Kraft in der Größe der Schöpfung.

Dann ist es vorbei. Zurück bleibt ein noch nie gehörtes Naturerlebnis.

 

 

Das Oratorium „Itaipu“ in einem Konzertsaal zu erleben, ist ein seltenes Vergnügen. Ich hatte die Gelegenheit am 15. Januar 2025 bei einer Interpretation der Münchner Philharmoniker. Wer nicht abwarten möchte, findet das Werk auch hier in einer Aufnahme des Atlanta Symphony Orchestra mit Chor (Klick führt zu Youtube). 

Mehr über den Staudamm von Itaipu und über Philipp Glass jeweils bei Wikipedia.

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Die neun Köpfe der modernen Hydra

Herakles und Iolaos hängen Wahlplakate auf  – Eine Neujahrserzählung

Der alte Herakles schaut aus dem Fenster. Er ist zu Besuch bei seinem Neffen. Familientreffen über Silvester und Neujahr. Nun ist Neujahrsmorgen, und alle anderen schlafen noch. Langweilig. Dabei hatte doch heute das Jahr der Neun begonnen! Kalt und grau ist es draußen. Ein paar Böllerfetzen liegen auf der Straße.

Herakles und Iolaos kämpfen mit den neun Köpfen der Hydra – Darstellung von ca. 1565

Zwei – null – zwei – fünf hatte Herakles summiert, Quersumme Neun. Und damit auch durch neun teilbar. Genauso hatten sie es ihm erklärt im Internet. Es ist das Jahr der Neun. Und für Herakles stand fest: Im Jahr der Neun muss er in die Sümpfe. Das Ungeheuer bekämpfen, das mit den neun Köpfen.

Der Neffe heißt übrigens Iolaos. Nebenan schnarcht er. Hört man durch die Tür. Mit ihm, seiner Familie und seinen Freunden hatte Herakles gestern gefeiert. Netter Kerl. Ein Wahlkämpfer! Setzt sich ein für die Demokratie. Auch so eine griechische Erfindung, denkt sich Herakles. Ob Iolaos wohl etwas weiß vom Jahr der Neun? Wahrscheinlich nicht.

Gestern hatte der Neffe ihn noch gebeten, am Neujahrsmorgen mitzukommen. Zum Plakate aufhängen für die Wahl in fünf Wochen. Und jetzt schläft er da seinen Rausch aus!

„Junge, wir müssen in die Sümpfe!“ ruft Herakles und trommelt an die Tür seines Neffen. „Die Hydra mit den neun Köpfen muss besiegt werden! Es ist das Jahr der Neun!“

Iolaos reagiert nicht.

„Nun mach schon“, gibt Herakles keine Ruhe, rumpelt in das Zimmer und rüttelt an den Schultern des Jungen, „wir müssen los. Das Jahr der Neun hat begonnen. Und Du wolltest Plakate aufhängen. Wenn Du willst, dass ich mitkomme, dann wach endlich auf!“

Moderne Sümpfe, denkt sich Herakles

Also stapfen die beiden gegen Mittag los, durch die Straßen ihrer Stadt. Moderne Sümpfe, denkt sich Herakles. Iolaos zieht einen Bollerwagen voller Wahlplakate hinter sich her, in der Hand hat er ein Plastikbündel: Kabelbinder. An jedem zweiten Laternenmast bleiben sie stehen, immer der gleiche Ablauf: Abstand zu Kreuzungen einhalten, keine Sicht versperren, keine Verkehrsschilder verdecken. Wenn alles passt, das Plakat aufklappen, um den Mast legen, die Kabelbinder durch die Löcher, festziehen, abknipsen. Festen Halt prüfen. Fertig. Weiter.

„Die Hydra mit neun Köpfen lebt heutzutage nicht mehr in den echten Sümpfen, wie früher bei den Griechen, die lebt jetzt hier“, doziert Herakles.

Iolaos wedelt mit der Hand durch die Luft und schüttelt den Kopf. „Lass mich in Ruhe mit Deiner Hydra,“ mault er, und dann, während er sich nach dem nächsten geeigneten Laternenmast umschaut, fragt er doch: „Neun Köpfe, sagst Du?“

Herakles bleibt stehen. „Ja genau. Neun Köpfe. Und mit jedem kann sie töten.“

Der nächste Mast, das nächste Plakat. Hochwuchten, Kabelbinder durch die Löcher, festziehen, abknipsen.

Iolaos betrachtet das hängende Plakat. „Jetzt mal langsam“, sagt er und hindert seinen Onkel am Weitergehen. „Was ist das mit der Neun, mit den Köpfen und mit den Sümpfen?“

Herakles schnauft vernehmlich. „Hab` ich Dir doch heute Nacht schon erklärt. Etwa nicht aufgepasst?“

„Bitte nochmal, ganz in Ruhe“, bettelt der Neffe.

„Also gut. Hier in Kurzform: Angefangen hat alles mit den alten Griechen. Die haben eine Sage, nach der in ihren Sümpfen ein schreckliches Ungeheuer leben würde. Mit neun Köpfen, jeder einzelne davon tödlich. Heißt Hydra. Und so´n Held musste dieses Ungeheuer aufspüren und besiegen, als Strafe dafür, dass er seine Familie ermordet hatte. Als Sühne gewissermaßen.“

„Und was hat das mit uns zu tun?“

„Viel. Weil wir leben im Jahr der Neun. Alle neun Jahre ist die Quersumme der Jahreszahl unserer Zeitrechnung durch neun teilbar. Und das sind die Jahre, in denen wir gegen die Hydra und ihre neun Köpfe in die Schlacht ziehen müssen.“

„Wo hast du denn diesen Blödsinn her?“

„Stand bei Telegram. Und in Facebook sagen sie es auch. In meiner Prepper-Gruppe.“

Die Hydra unserer Zeit hat auch neun Köpfe

Iolaos verdreht die Augen. „Und Du glaubst das alles?“ Entschlossen peilt er den nächsten Straßenmast an, nestelt ein Plakat aus dem Bollerwagen. „Wenn Du mir mit solchem Zeug kommst, dann erzähl ich Dir jetzt mal was über die Hydra unserer Zeit. Die hat auch neun Köpfe, und willst du wissen welche?“

Herakles nickt.

„Okay, dann zähl mit. Fangen wir mit dem Krieg in der Ukraine an, Kopf eins. Könnte mich ziemlich real verschlingen, wenn ich deshalb mal zum Militär muss.“ Nächste Straßenlaterne, nächstes Plakat. „Du bist natürlich fein raus, zu alt nämlich.“

Iolaos denkt kurz nach. „Dann der ganze marode Zustand unserer Straßen, der Bahn und so weiter. Die kaputten Schulklos. Muss ich alles bezahlen helfen, während Du Deine fette Rente verfrühstückst. Aber wovon, wenn doch die Wirtschaft marode ist und ich meinen Job verliere. Kopf zwei.“

Herakles hebt zwei Finger in die Luft.

„Das Klima. Kopf drei. Verschlingt uns alle, und zwar buchstäblich mit Überschwemmungen und Bränden und so. Und dann die dumpfe nationale Dummheit der Europäer. Kopf vier. Jedes Land glaubt, allein irgendwas zu reißen gegen China und Indien und Trump und so. Kann uns alle umbringen.“

Das nächste Plakat hängt.

„Weiter. Die Armut überall auf der Welt, die hungernden Kinder und Frauen und Männer in Gaza und im Sudan und in Jemen und weiß der Geier, wo noch. Kein Wunder, dass sich da viele auf den Weg zu uns machen. Kopf fünf.“

Die linke Hand von Herakles war ausgezählt. Er hält sie mit ausgestreckten Fingern in die Luft. „Und, weiter?“

Iolaos zerrt den Bollerwagen mit den Plakaten hinter sich her, wartet grünes Licht an der Ampel ab und bleibt am übernächsten Laternenpfahl stehen. „Die da.“ Er deutet auf ein Plakat, das da schon hängt. „Die da, die Rechtsradikalen, gegen die Ihr Alten nichts gemacht habt. Und bis heute nichts macht. Irgendwann sitzen sie in der Regierung. Ein ganz besonders übler Kopf. Nummer sechs.“

„Aber die werden doch gewählt, und das ist schließlich Demokratie!“, wendet Herakles ein.

„Das ist nicht Demokratie, das ist Dummheit,“ empört sich der Neffe. „Dummheit ist gleich mein Kopf Nummer sieben. Dummheit, Parteien wegen irgendwelchen billigen Parolen zu wählen, die nichts mit der leider komplizierten Wahrheit zu tun haben.“

Herakles hebt Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. „Zu Kopf sieben gehören auch alle“, ergänzt er, „die ihre Stimme einfach verschenken. Nicht zur Wahl gehen.“

Der Neffe nickt. „Oder irgendwelches Zeug wählen, eine Satire-Partei, oder eine, die nur über Tierschutz redet. Auch verschenkte Stimmen.“

„Fehlen noch zwei!“, ruft Herakles

„Fehlen noch zwei!“ Herakles schwenkt seine beiden Hände in der Luft.

„Lass mich nachdenken …“ Iolaos zählt die Plakate durch, die noch im Bollerwagen liegen. „Wir wechseln jetzt die Straßenseite und gehen auf der anderen Seite zurück.“ Am ersten Laternenpfahl geht’s wieder los: Hochwuchten, zuklemmen, Kabelbinder durch, festzurren, abknipsen.

„Kopf acht ist das mit den Steuern“, sagt er dann. „Dass Superreiche kaum Steuern zahlen, weil sie ihr Geld hin und herschieben können, wie es gerade passt.“

Wieder hängt ein Plakat. Iolaos bleibt stehen. „Und weißt Du, was mein Hydra-Kopf Nummer neun ist?“ Er blickt seinem Onkel mitten ins Gesicht. „Du.“

„Ich? Warum denn ich?“

„Weil Du solchen Blödsinn aus irgendeiner Chatgruppe bei Telegram glaubst. Das Zeug mit der Hydra und dem Jahr der Neun. Mensch, schalt halt mal Dein Gehirn ein! Kann doch gar nicht sein. Das mit der Neun und den modernen Sümpfen. Schließlich wählen wir alle vier Jahre, und manchmal sogar früher, wie jetzt.“

Iolaos zurrt das letzte Plakat fest.

„Die ganzen Leute, die wie Du den größten Quatsch aus dem Internet glauben, die sind Kopf Nummer neun. Einfach schrecklich, wie leichtgläubig viele sind.“

Er lässt die Zange in den Bollerwagen plumpsen. „Geschafft!“, ruft er, „die Wahl kann kommen!“

Herakles ist noch nicht überzeugt

Herakles grinst. „Und Du glaubst ernsthaft, dass Deine Plakate die neun Köpfe der Hydra besiegen werden?“

„Na ja, jedenfalls ein bisschen. Wenn Du so willst: Sie helfen mit, der Hydra von heute ihre blöden Köpfe abzuschlagen.“

Aber Herakles ist noch nicht überzeugt. „Weißt du, was das Problem mit den neun Köpfen der Hydra ist?“, fragt er seinen Neffen.

„Nein, weiß ich nicht. Aber erzähl mir nicht wieder irgendwelches Verschwörungszeug.“

„Man kann die Köpfe zwar abschlagen, aber die wachsen doppelt nach.“

„Echt? Doppelt?“

Iolaos schüttelt den Kopf. „Doppelt? Wirklich krass, was für dummes Zeug Euch erzählt wird.“

 


Die Geschichte des Herakles, der zusammen mit seinem Neffen Iolaos die Hydra besiegt, ist der griechischen Mythologie entlehnt. Wer sie nachlesen will, kann das hier tun. 

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Der alte Träumer trotzt dem Weltenbrand

Eindrücke nach einem Konzertabend mit Konstantin Wecker

„Dreamer“ nennen sie in Amerika jene – geschätzt etwa 1,9 Millionen – Menschen, die seit ihrer Geburt illegal in den USA leben. Sie träumen von einem gesicherten Aufenthaltsstatus, von Legalität und langfristiger Gewissheit über die eigene Zukunft.  Donald Trump wollte sie in seiner ersten Amtszeit allesamt ausweisen; gelungen ist ihm das nicht, und was nun für sie kommen wird, ist ungewiss.

Ein großer Poet, ein Musiker, ein Kämpfer: Konstantin Wecker. Aber gibt es die Welt noch, für die er kämpft? (Foto: Thomas Steinborn, bereitgestellt von wecker.de)

Auch in Deutschland leben sicher einige „Dreamer“ in diesem Sinne; aber, da es hier – anders als in den USA – eine allgemeine Meldepflicht gibt, dürften es nicht sehr viele sein. Deutsche Träumer sind üblicherweise nicht jung und auf der Suche nach einer gesicherten Existenz. Sie sind oft selbstzufriedene Inhaber einer rechtsstaatlich garantierten Gewissheit von Sicherheit und Wohlstand. Sie sind grauhaarig und faltengesichtig, sie verbergen ihre Handys in lederne Klapphüllen und wenn sie diese öffnen, dann machen sie verwackelte Fotos oder versuchen, mit zittrigen Wischbewegungen ihre südteuren Hightech-Hörgeräte zu bändigen.

Sie träumen nicht von einer Zukunft, sondern von ihrer Vergangenheit.

Die einen stemmen sich gegen Veränderungen, …

Die einen stemmen sich gegen alle Veränderungen der neuen Zeit, gegen die Vielfalt von Lebensentwürfen, gegen das vermeintlich Fremde in unserer Heimat, gegen das Ende der geliebten Verbrenner in Keller und Garage. Wenn sie mutig genug wären, würden sie sich gegen all dies auf irgendwelche Straßen kleben. Aber sie sind nicht mutig, sie sind feige und kreuzen ihren Zorn anonym auf dem Wahlzettel an. Sie vertrauen den falschen Versprechungen der Rattenfänger.

… die anderen trauen der Jugend nichts zu, …

Andere dieser Träumer eifern Aristoteles nach und sprechen der „Jugend von heute“ ab, dass diese den notwendigen Fleiß, die Ausdauer und Weitsicht besitzen würde, unsere Welt zu bewahren. Aber sie erwarten gleichzeitig, dass diese unfähige Generation mit ihren Steuern und Beiträgen verlässlich satte Renten finanziert und sich bereitwillig für eine allgemeine Dienstpflicht erwärmt.

… und die dritten wollen weiter kämpfen

Und die dritten schließlich, und um die soll es hier gehen, wollen den Kampf ihrer früheren Jahre fortsetzen. Sie wollen nicht aufgeben, da sie entsetzt erkennen, wohin ihr ungebremster Wohlstandsdrang geführt hat: überschwemmte Städte, brennende Wälder, Smogalarm, wiedererstarkter Rechtsradikalismus. Sie wollen es wieder gutmachen, das Rad der Schuld zurückdrehen. Sie wollen zeigen, dass sie gelernt haben. Nur: Was?

Zur letzten Gruppe zählt der Künstler Konstantin Wecker. 1947 in München geboren und aufgewachsen, hat ihn eine klassische West-Nachkriegsbiografie geprägt, mit Abstechern ins Gefängnis, in den Drogenentzug und in die Toskana. Wenn er zum Konzert ruft, dann sammelt ein alter Träumer seine Jünger um sich, und sie kommen in Scharen. Das Publikum ist homogen angegraut, kaum ein Gesicht unter dreißig, zwei Drittel über sechzig. Für sie liest ein alter Mann auf der Bühne seine Moderation vom Teleprompter ab, bewegt sich vorsichtig von links nach rechts und wieder zurück, mehr tastend als tanzend. Gelegentlich setzt er sich hin. Seine Lieder haben noch immer die alte Kraft, auch wenn die Stimme brüchiger ist als früher, oft gar kein Gesang, mehr ein Sprechen oder Rufen oder Flüstern.

Nach den wilden Träumen seiner Zeit sucht er noch immer

Nach den wilden Träumen seiner Zeit aber sucht er noch immer. Er hat Abstürze und Wiederkehr erlebt, große Erfolge als Komponist, als singender Poet, als Schauspieler. Er hat sich im Leben durchgesetzt mit klugen Worten und schöner Musik, und ist doch immer ein Mann der Disharmonie geblieben, ein widerborstiger Anarchist, ein sperriger Antifaschist, ein mahnender Pazifist. Und sein Publikum dankt es ihm. Für die ergraute Schar ist er so, wie sie sich selbst gerne sehen: Geläutert, demütig, nicht gebrochen. Und schließlich stimmt doch noch immer, was schon vor fünfzig Jahren gestimmt hat: Die Reichen nehmen sich zu viel vom Kuchen, die Menschlichkeit fehlt allerorten, und nur der Frieden, nicht die Waffen, versprechen eine Zukunft.

Ein Populist des Guten

Es sind solche Sätze, die den alten Träumer zu einem Populisten des Guten machen, zu einem Propagandisten für einfache Wahrheiten. Hier verspricht einer die Rückkehr in eine Welt, die noch nicht aus den Fugen war, nicht multipolar und komplex wie heute, sondern wohlgeordnet: Die Armut im Süden. Der Feind im Osten hinter einer gut gesicherten Mauer. Und der Reichtum im Westen, gegen dessen offenkundige Ungerechtigkeiten man guten Gewissens, weitgehend gefahr- und folgenlos, demonstrieren durfte. Die Linke war es damals, die den Staat grundlegend kritisierte; heute ist es die radikale Rechte.

Als dann auch noch der eiserne Vorhang fiel, da war für die Generation der deutschen Träumer ein Zeitalter ohne Kriege schon zum Greifen nah. Es war eine Welt, in der kein europäischer Nachbar mit todbringender Gewalt die Freiheit des Westens bedrohte.  Es war noch nicht Avantgarde, auf Aktienkurse statt auf Tarifverträge zu starren. Es war nicht üblich, sich anonym und ungestraft im Netz zu beleidigen. Und noch niemand war auf die Idee gekommen, mit Hass und Lüge Milliarden zu verdienen.

Nun aber herrscht „Weltenbrand“

Wecker singt die deutschen Träumer zurück in diese Zeit. Nun aber herrscht „Weltenbrand“, ganz real, und nicht nur im gleichnamigen Lied, das Wecker kurz vor Schluss in den Saal schreit und haucht und in die Tasten seines Flügels schlägt: „Tauchst in die Fluten du ein, bis alles erlischt – würdest gern Brandung sein, endest als Gischt.“

Beifall brandet auf. Der große alte Träumer steht auf der Bühne, inmitten des genialen Musikerteams, das er um sich geschart hat und das seinen Liedern moderne musikalische Wucht verleiht. Gebeugt, beansprucht von diesem Abend, vielleicht glücklich, sicherlich widerspenstig wie immer, nimmt er die Huldigungen entgegen. Ein großer Poet steht da, ein genialer Musiker, auch ein Kämpfer mit vielen Narben aus seinem Streit für eine bessere, friedlichere, menschlichere Welt.

Man spürt, dass er es weiß: „Würdest gern Brandung sein, endest als Gischt“. Weil sie einfach nicht auf ihn hören will, die Welt von heute.

 

Erlebt habe ich Konstantin Wecker bei einem Konzert seiner Tour „Der Soundtrack meines Lebens“ in Stuttgart am 3. Dezember 2024. Weitere Konzerte mit diesem Programm gibt es am 8.12. in Wien und am 10.12.2024 in Frankfurt. Konstantin Wecker startet im Frühjahr 2025 eine Tour „Lieder meines Lebens“ in 49 Städten.

Mehr Informationen über Wecker auf seiner Website. 

Das Lied „Weltenbrand“ gibt es auch als Video (Link führt zu Youtube) 

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Vaters Schuld im Überschwemmungsgebiet

Über eine moderne Deutung von Mozarts Oper „Idomeneo“ in Stuttgart

Wer erzieht, erwirbt sich – wenn es gut geht – bleibende Verdienste. Aber unweigerlich geht damit einher, sich schuldig zu machen; meist, ohne es zu bemerken. Ein zu oft überladener Familienalltag, das ununterbrochene, enge Zusammenleben, die Arbeit, der ständige Blick aufs Handy, die Sehnsucht, vom quengelnden Kind endlich einmal in Ruhe gelassen zu werden – alles das verführt zu unüberlegter Gereiztheit. Dazu begegnen die Kinder ihren Eltern meist in bedingungsloser, geradezu unzerstörbar erscheinender Liebe, die vieles wegsteckt. Schließlich verleiten die eigenen Laster und Süchte, die persönlichen Leidenschaften und Prioritäten dazu, jetzt und hier schnell etwas zu tun oder zu unterlassen. Und schon hat man sich schuldig gemacht.

Die Schuld des Vaters droht das Leben des Sohnes zu zerstören – in der Stuttgarter Inszenierung von „Idomeneo“ (Musik: Wolfgang Amadeus Mozart) überträgt Regisseur Bastian Kraft die individuelle Psychologie der antiken Sage auf die kollektive Schuld, die sich die heutige Väter-Generation aufgeladen hat – und ihren Kindern hinterlässt. (Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart)

Auch wenn es gut ausgeht – die Schuld verschwindet nicht

Oft gibt es eine Ahnung darüber, schon während es geschieht. Meist aber handelt der Erziehende in fester Überzeugung, das Richtige, das Notwendige, das Zulässige zu tun. Im Fernsehkrimi sind das die Fälle, in denen fehlerhaftes Verhalten den Tod eines Kindes verursacht hat, und davon ausgehend ganze Existenzen zerbersten. Im realen Leben endet solche Schuld erfreulicherweise nur selten so katastrophal. Oft braucht es Jahre des Abstandes, um zu erkennen: Ich habe mich schuldig gemacht. Auch wenn alle Beteiligten scheinbar unversehrt überleben, verschwindet die Schuld deshalb nicht, sie blitzt auf in den Gedanken des schlechten Gewissens, in bösen Erinnerungen, manchmal auch in der realen Welt, in psychischen oder körperlichen Symptomen.

Nach allem, was bekannt ist, war Wolfgang Amadeus Mozart seinem Vater durchaus respektvoll und zugewandt verbunden. Der Vater hatte ihn gefördert und auch gefordert; ohne ihn wäre er vielleicht niemals das Genie geworden, als das wir ihn heute kennen. Ob der Vater, Leopold Mozart, überhaupt darüber nachdachte – etwa hundert Jahre vor den Anfängen der modernen Psychologie – dass auch er Schuld haben könnte am rastlosen Leben seines Sohnes, das wissen wir nicht. Das frühe Sterben des Genies musste er nicht erleben.

Vaters Schuld und Sohnes Liebe – in Verzweiflung vereint

Was also mag den Sohn im Jahr 1781 bewogen haben, eine Oper zu schreiben, in der Vater und Sohn schicksalhaft verbunden sind in gemeinsamer Verzweiflung über väterliche Schuld und Sohnes Liebe? Den Stoff dafür entlehnte sich Mozart aus der griechischen Sagenwelt. Stark vereinfacht geht es darum: Der kretische König Idomeneo hat Troja besiegt. Kurz bevor er als strahlender Held in seine Heimat zurückkehrt, gerät er in einen wütenden Sturm und verspricht in höchster Not dem Meeresgott Neptun, zur Rettung des eigenen Lebens ein Menschenopfer zu bringen. Und zwar, so sagt er zu, solle der erste Mensch, dem er am Strand von Kreta begegnen würde, dem Gott gehören. Neptun lässt sich auf den Handel ein, Idomeneo kommt nach Hause – und trifft am Strand auf seinen Sohn, der ihm glücklich ob der Rückkehr und voller Liebe in die Arme fällt. Nichts ahnend über die schuldhafte Zusage des Vaters, versteht der Sohn nicht ansatzweise, warum der Vater ihn auf einmal meidet, sogar fortschicken möchte.

Mit allerlei Tricks versucht der König, den Vollzug des grausigen Menschenopfers hinauszuzögern oder, noch besser, gar nicht vollstrecken zu müssen. Aber der Gott lässt sich so leicht nicht besänftigen, und so ist Idomeneo schließlich bereit, sich zu fügen, sogar der inzwischen eingeweihte Sohn anerkennt die Pflicht, die dem grausamen Gott gegebene Zusage einzuhalten. Aber so wie der biblische Abraham von Engeln abgehalten wird, seinen Sohne Isaac zu töten – so verhindert schließlich die Liebe einer Frau und göttlicher Großmut auch bei Mozart den Tod des jungen Thronfolgers. Es gibt also ein Happy End in der Oper, das seine Kraft auch aus einer glücklichen Liebesgeschichte zieht, die das Geschehen begleitet, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll.

Der Sturm tobt, das Wasser kommt – und die Schuld bleibt

Zurück bleibt einmal mehr ein Vater, der überlebt, sich aber schuldig gemacht hat. Er war bereit gewesen, für seine eigene Rettung das Leben eines anderen zu opfern. In der Stuttgarter Neuinszenierung der Mozart-Oper „Idomeneo“ setzt Regisseur Bastian Kraft diese Schuld vom Einzelnen ins Allgemeine: Nicht nur der einzelne Vater macht sich schuldig gegenüber seinem Sohn, auch eine ganze Generation von Vätern lädt Schuld auf sich. Die kretische Gesellschaft watet auf der Opernbühne von Stuttgart über weite Teile des Abends durch ein Überschwemmungsgebiet, das ganz real ausgebreitet wird auf dem Bühnenboden. Der Sturm tobt, das Wasser kommt, die langen Kleider saugen sich voll, während leidendes Volk und eine ratlose Königsclique versuchen, einen Ausweg aus dem väterlich herbeigeführten Sumpf zu suchen.

Was dabei entsteht, sind starke Bilder zu grandioser Musik, die gemeinsam viel erzählen von der Schuld, welche die heutigen Väter-(und Mütter-)generationen sich aufgeladen haben – und die nun die Söhne (und Töchter) als Dürreperioden, Waldbrände, Sturm- und Überschwemmungskatastrophen im  wahrsten Sinne des Wortes ausbaden müssen. Dass dabei in Stuttgart ein weiteres Mal (wie bereits in einer anderen Inszenierung wenige Monate zuvor) das Knäuel des vom Sturm herabgefegten Opernhaus-Daches herhalten muss, ist ein eher überflüssiger Wink mit dem Zaunpfahl. Sie macht die Grundidee dieser Regiearbeit platt, anstatt ihr Tiefe zu verleihen. Der wache Betrachter hat längst verstanden: Es waren niemals die Götter oder irgendwelche Ideale, um deren Willen wir Väter uns schuldig machten. Es waren schon immer unsere eigenen, ganz egoistischen Wünsche. Und es sind bis heute unsere Kinder, die damit klarkommen müssen.

 

„Idomeneo “ von Wolfgang Amadeus Mozart in der Inszenierung von Bastian Kraft ist an der Oper Stuttgart noch bis 27. Dezember 2024 zu sehen. 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester. Gesehen habe ich die Generalprobe am 21. November 2024, sowie die Aufführung am 5.12.2024. 

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Was wir brauchen, ist wehrhafter Anstand

Fünf unbequeme Vorschläge nach Trump-Triumph und Ampel-Aus

Ok, Amerika! Du hast einen verurteilten Straftäter, Vergewaltiger und Lügner erneut zu Deinem Präsidenten gewählt – nicht, weil Du es nicht wusstest, sondern weil er so ist, wie er ist. Du hast Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Ok, Deutschland! Mehr als jede/r zehnte Deiner Wählenden gibt einer rechtsradikalen Partei die Stimme – nicht, weil sie es nicht wüssten, sondern weil sie es wollen. Sie entscheiden sich gegen den Anstand, ganz bewusst.

Ok, Lindner! Du willst für Deutschland keine neuen Schulden machen. Nicht, weil Du nicht verstehen würdest, dass dies für unsere Wehrhaftigkeit unausweichlich ist – sondern weil Du weißt, dass es so ist, es aber nicht verantworten willst. Aus Angst vor den Illusionen Deiner Wähler/innen hast Du Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Es ist Zeit für einen Aufbruch

Es ist Zeit für einen Aufbruch. Politik und Gesellschaft brauchen eine neue Idee, einen breiten Konsens der Gutwilligen: Den wehrhaften Anstand. Anstand ist die Grundlage von allem, was uns wichtig ist:

Der Frieden, in dem wir seit siebzig Jahren leben, verdanken wir den Anständigen und ihrem Militär, mit dem sie die deutschen Nazi-Verbrecher vertrieben.

Die Freiheit, die halb Deutschland seither und ganz Deutschland seit 35 Jahren genieß, hat der Westen geschenkt bekommen. Der Osten hat sie ohne Gewalt erkämpft – ein wahrer Aufstand der Anständigen gegen die Stasi-Schergen.

Unseren Wohlstand haben sich die meisten von uns anständig erarbeitet, aber es gäbe ihn nicht ohne die Schuld, mit der unsere Vorfahren und wir Millionen anderer Menschen ausgebeutet und unsere natürlichen Lebensgrundlagen massiv geschädigt haben. Dies zu erkennen, zu benennen und zu ändern – das ist anständig.

 

Hier fünf unbequeme Vorschläge, wie wir zu wehrhaftem Anstand kommen:

Mehr Resilienz für die Anständigen

Wir Anständige sind im Recht, lasst Euch nicht verunsichern! Es ist unanständig, ein Nachbarland zu überfallen oder zu bedrohen. Es ist unanständig, den politischen Diskurs mit Gewalt, Lügen und Simplifizierungen zu durchtränken. Eine anständige Gesellschaft muss sich das nicht gefallen lassen. Sie braucht mehr Widerstandskraft nach innen und außen. Der Staat muss robuster auftreten, klar die Wahrheit benennen, mehr investieren in Sicherheit und Wehrhaftigkeit, aber auch in breite (politische) Bildung. Wir alle sollten aktiv eintreten für eine anstandsbasierte Kultur der Kommunikation.

Anstand erträgt keine Armut

Es ist nicht anständig, den eigenen Reichtum als unteilbar zu betrachten. Viel zu viele Menschen auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland, leiden reale Not, während andere gar nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Dieser Zustand ist unanständig und unerträglich. Ein legitimes Mittel dagegen ist staatlich gelenkte Umverteilung, beispielsweise durch Steuern. Früher waren Steuern eine unanständige Ausbeutung durch die Obrigkeit. Bis heute versuchen Ideologen, dieses Zerrbild auch auf das legitime Interesse des modernen Staates anzuwenden. Aber das ist falsch: In den Demokratien von heute ist Umverteilung ein notwendiges Instrument auf der Suche nach Gerechtigkeit. Wer sich ihm entzieht, wer es diskreditiert, handelt unanständig.

Anständige sind keine politischen Gegner

Wer den Anstand wahrt, ist kein Gegner. Die Anständigen im demokratischen Spektrum dürfen ihre Kräfte nicht im Streit mit den falschen Gegnern verschleißen.  Konservative sind nicht automatisch Populisten, so wie Grüne nicht immer Besserwisser sind. Anständige, gesprächsbereite Konservative sind keine Gefährder der Demokratie. Radikale und Populisten dagegen wollen Probleme zum eigenen Nutzen lieber vergrößern, anstatt mitzuhelfen, sie zu lösen. Das ist unanständig, und muss genau so bezeichnet und bekämpft werden.

Das Grundgesetz setzt politischen Anstand voraus

Es ist höchste Zeit, den Anstand wehrhaft zu machen. Gewalt, Lügen, radikale Vereinfachungen wider besseren Wissens und demokratieschädliche Tricksereien zielen auf die Grundlagen unseres demokratischen Zusammenlebens. Sie beabsichtigen, die Gesellschaft dumm zu machen und die demokratische Prozesse des Staates zu zersetzen. Jeder Blick in soziale Medien zeigt, wie tief dieses Gift bereits eingesickert ist. Wer da mitmacht, verstößt gegen die Idee des Anstandes, wie ihn das Grundgesetz für den politischen Raum voraussetzt. Auch hier ist wehrhafter Anstand gefordert – notfalls mit einem Verbotsverfahren.

Wer zu Unanständigkeit schweigt, macht sich mitschuldig

Jede und jeder kann zu wehrhaftem Anstand in einer Gesellschaft der demokratischen Resilienz beitragen, kann täglich gegen die Zersetzungskräfte der Billighändler der politischen Niedertracht eintreten – in der Arbeit, in der Familie, im Verein, in der Nachbarschaft. Wer schweigt, wenn der Anstand verletzt wird, macht sich mitschuldig.

 

Über Anstand hat der Autor Axel Hacke ein ganzes Buch geschrieben: „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ – das ich zur Lektüre sehr empfehle.

Die Idee für meinen Texteinstieg „Ok, Amerika!“ verdanke ich einem gleichnamigen Podcast von ZEITonline, mit dessen Hilfe ich viel besser verstanden habe, wie der Wahlkampf in den USA verlief und warum er das bekannte Ende nahm.

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Kein Mensch ist „süß“ – Eine Sprachkritik

Warum kein Mensch illegal ist – und auch nicht „süß“

Sie finde ihn „total süß“, sagt die junge Frau über ihren Freund und blickt treuherzig. Besonders „wenn er versucht, die Hemden zu bügeln, die danach mehr Falten haben als vorher“, spottet sie milde. Der Wille zählt!

„Richtig süß“ hat die Betreuerin von Kindern mit Down-Syndrom deren Zuwendungsfreude erlebt. „Wenn die sich dauernd umarmen und so fröhlich sind,“ sagt sie und meint es positiv, „dann können wir Normalos wirklich noch viel davon lernen“. Die ganze Sinnstiftung ihrer Arbeit begründet sie damit.

„Echt süß“ findet der Kollege, wie sich seine Großeltern damit zurechtfinden, per Whatsapp den Kontakt mit ihren Enkeln zu halten. Er meint es nett – aber ist es das auch? (Foto: congerdesign auf Pixabay)

Der Kollege berichtet beim Mittagessen von einem Besuch bei seinen Großeltern. Die älteren Herrschaften hätten sich doch tatsächlich Whatsapp und Facetime angeeignet, um mit ihren Enkeln in Kontakt zu bleiben! Ehrliche, aber herablassende Bewunderung schwingt in seinen Worten: „Alte Möbel und einen verstaubten Röhrenfernseher haben die“, sagt er, „überall noch CD´s und Schallplatten, und dazwischen tippen sie auf ihrem Seniorenhandy herum – echt süß!“

Gewiss ist auch das Neugeborene aus der Nachbarschaft „ganz besonders süß“, wobei die Frage erlaubt sein darf, welches Baby denn nicht „süß“ wäre und wie die übermüdeten Eltern das „süße“ Baby beurteilen, wenn es sich gerade zur tiefsten Nachtstunde nicht beruhigen lassen will.

Sprache ist Ausdruck von Werten

Nun soll an dieser Stelle keiner Sprachpolizei das Wort geredet werden, sondern nur dem sensiblen Sprachbewusstsein. Denn Sprache ist Macht, und genau darum geht es bei der Bezeichnung „süß“ für Menschen und ihr Verhalten.

Wie mächtig Sprache als Ausdruck von Werten ist, zeigt dieses Beispiel: „Kein Mensch ist illegal“. Erstmals hat diesen Satz im Jahr 1988 (auf englisch) der jüdische Friedensnobelpreisträger und Schriftsteller Eli Wiesel ausgesprochen. Daraus ist ein internationales Netzwerk gegen Rassismus und Migrationsfeindlichkeit entstanden. Die vier Worte – „Kein Mensch ist illegal“ – haben eine einfache, aber unmissverständliche Botschaft: Niemand, der sich irgendwo auf der Welt aufhält, ist dort allein aufgrund seiner Existenz illegal. Letztlich drückt sich darin die Idee einer unveräußerlichen Menschenwürde aus: Der Mensch selbst bleibt immer legal, auch wenn er oder sie sich gesetzeswidriges Verhalten vorwerfen lassen muss, falls dafür ein Anlass besteht. Der kann vielleicht auch allein darin liegen, wenn man sich ohne einen vom Staat gewährten Aufenthaltsstatus in einem Land aufhält, das dies nicht erlaubt. Dann ist dieser Aufenthalt illegal, nicht aber der Mensch an sich. Es ist nur eine kleine sprachliche Feinheit – aber sie übt Macht über Menschen aus.

Aber das ist doch nett gemeint!

Ist das eine Nummer zu groß als Parallelität für den kleinen süßen Ausspruch? Wer jemand anderen als „süß“ bezeichnet, der meint es doch nett! Vielleicht. Und doch ist die Bezeichnung „süß“ ein Urteil. Wer in diesem Sinne angeblich „süß“ ist oder handelt, steht nicht auf einer Stufe, wird zum goldigen Mäuschen herabgestuft.

Süß ist Zucker und Schokolade, ein Wein kann süßlich schmecken und ein Parfüm so duften. Wir nennen das „Süßwasser“ süß, obwohl es gar nicht süß ist, sondern nur nicht salzig. Wenn es denn sein muss, mag man das niedliche Kätzchen „süß“ finden. Und auch manche „süße Lust“, mancher „süßer Traum“ kann den menschlichen Körper durchfluten. Die Bezeichnung „süß“ für einen ganzen Menschen oder das Verhalten aber macht die Betroffenen klein. Im feministischen Kontext wird daher diskutiert, ob die Erwartung an Frauen, sich sanft oder „süß“ zu verhalten, wesentlicher Teil ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung sein könnte. Die Kulturwissenschaftlerin und Psychologien Ann-Kristin Tlusty hat darüber ein ganzes Buch geschrieben – mit dem Titel: „Süß“.

Verniedlichung übt Macht aus

Eine Verniedlichung kommt oft liebevoll-freundlich daher, aber sie übt auch Macht aus. Jede menschliche Kreatur ist von Geburt an gleichwertig in seiner Persönlichkeit, so millionenfach unterschiedlich die Wesensmerkmale auch sind – sympathisch oder garstig, freundlich oder abweisend, klug oder dumm –, und auch das Handeln: überlegt oder hitzig, zugewandt oder bemüht, machtbewusst oder schüchtern. Wie auch immer – aber gewiss nicht „süß“.

 

Eine weitere Sprachkritik zur Verwendung des Wortes „Dürfen“ finden Sie hier. 

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Eine Aura kann man nicht ausstellen

Über Musiker-Museen in Deutschland

Friedrich Silcher, dem Großmeister des deutschen Liedgutes der Romantik, war mehr als 100 Jahre ein Museum gewidmet – vor einem Jahr wurde es geschlossen. (Foto: Christoph Friedrich Dörr – Ausschnitt aus dem sog. „Hochzeitsbild“, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1423045

Wie klingt Deutschland? Ganz gewiss vielstimmig: laut und trotzig, wie auch leise und schüchtern. Deutsche Musik klingt gleichermaßen nach glasklarem Barock wie nach ruppigem Deutschrap, lärmt mit Rammstein, träumt von 99 Luftballons, fährt, fährt, fährt mit Kraftwerk auf der Autobahn, und singt sich atemlos.

Deutschland klingt auch nach Friedrich Silcher: „Alle Jahre wieder“ singen die Kinder bald wieder, und der eine oder andere Erwachsene wird mitbrummen. „Ännchen von Tharau“, oder das Lied der Loreley, und schließlich „Muss i denn, muss i denn …“ – alles deutsche Lieder, an deren Erhalt und Vertonung der schwäbische Komponist Friedrich Silcher (1789 bis 1860) entscheidend beteiligt war. Silcher war einmal ein ganz Großer seiner Zeit. Auf einer Ansichtskarte von 1900 wird er in einer Reihe genannt mit Schiller, Zeppelin, Kepler, Uhland und Mörike. Hunderte Straßen und Plätze, Schulen, Konzertsäle und andere Gebäude sind nach ihm benannt. Mehr als hundert Jahre lang wurde ihm in seinem Geburtsort, in Schnait unweit von Stuttgart, ein eigenes Museum gewidmet. Seit einem Jahr ist es geschlossen, und es wird auch nicht wieder eröffnet, sondern aufgelöst. Es ist das Ende eines „Musikermuseums“.

Wer sind Musiker? – Nicht die, denen Museen gewidmet sind

Schon der Begriff „Musikermuseum“ ist bestürzend irreführend. Letztlich gibt es fast so viele Musiker in Deutschland, wie es Menschen gibt, Abermillionen, mitten im Leben, nicht in einem Museum. Es gibt die Trompeterinnen in der Blaskapelle, die Posaunistinnen auf dem Kirchturm, die ungezählten Chorsängerinnen, die Kammermusikerinnen, die sich abends in ihren Wohnzimmern treffen. Es gibt die Akkordeonspielerinnen und die Flötistinnen – und es gibt diese alle auch noch in männlicher Form. Händeringend suchen laute Bands aller Altersgruppen nach gut isolierten Übungsräumen, zirpen leise Gitarren aus Kinderzimmern, grübeln Menschen über die nächste Note ihrer Komposition, üben sich Hobby-Rapper in den richtigen Rhythmus ihrer Worte hinein. Es klingt und spielt in Deutschland allerorten, und alle diese Musizierenden gemeinsam sind auf der Suche nach dem richtigen Ton, der richtigen Taste, dem gesuchten Ventil, der perfekten Lippenspannung.

„Es kann doch wohl nicht sein“, spottete eine Tochter über ihren musikinteressierten Vater, „dass es immer noch Komponisten-Museen gibt, die Du noch nicht besucht hast!“. Doch, das kann sein. Es gibt so viele Musikermuseen in Deutschland, dass sie sogar eine gemeinsame Internetplattform betreiben und eine Landkarte herausgeben. Was dort auffällt: Die meisten große Namen der Musik versammeln sich in einem breiten Streifen durch die Mitte Deutschlands. Das musikalische Band reicht von Bonn im Westen bis nach Dresden im Osten, mit einer Nord-Süd-Breite von vielleicht hundert Kilometern. In Deutschlands Mitte wirkten Johann Sebastian Bach und seine Söhne, Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Robert und Clara Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel, Richard Wagner, Franz Liszt, Carl Maria von Weber und viele weitere. Sie alle werden mit Musikermuseen gewürdigt. Weit nördlich lockt in Hamburg das Komponistenquartier mit Museen für weitere prominente Namen (Georg Philipp Telemann, Johannes Brahms, Gustav Mahler), weit südlich wurde in Augsburg Wolfgang Amadeus Mozart geboren, und noch weiter südlich lebte Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen.

Silcher stand einmal in einer Reihe mit Schiller und Mörike

Im deutschen Südwesten sticht nur ein Name hervor, und er verschwindet gerade von dieser Landkarte. Der Komponist und Musikpädagoge Friedrich Silcher machte sich unsterblich, weil er im Geist der Romantik mehr als 300 Werke des deutschen Liedgutes vertonte. Silcher schrieb nicht nur die überbrachten Texte und Melodien auf, er setzte sie auch in mehrstimmige Kompositionen um und fügte ihnen eigene musikalische Ideen hinzu. Ein Lied zu singen, das war in Silchers Zeit Teil von freiheitsstrebender Identität, Ausdruck des Traums einer klassenlosen Gesellschaft. Und doch konnte das vom Württembergischen Chorverband getragene, private Silcher-Museum nicht erhalten werden. Seine Bestände werden jetzt verteilt – an das Literaturarchiv in Marbach, an das Stadtmuseum in Tübingen (wo Silcher hauptsächlich wirkte) und an andere Stellen. Was zur Frage führt: Kann man Musik ausstellen?

Der Arbeitsraum des Gewandhaus-Direktors Felix Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig.

Wer nur einige der vielen deutschen Musikermuseen besucht, lernt unterschiedlichste Ansätze kennen, sich der Musik physisch zu nähern: Das Robert-Schumann-Geburtshaus in Zwickau gewährt Zutritt zu den Originalräumen von Schumanns Kindheit und füllt sie mit vielen Dokumenten und Lesestoff aus. Im Mendelssohn-Museum von Leipzig gewinnt der Besuchende Eindrücke über die Lebensumstände des Gewandhausdirektors, kann einzelne Gegenstände aus seinem Besitz bestaunen und in einem Raum dank Hightech selbst erleben, wie es sich anfühlt, ein Orchester zu dirigieren.

Für das Werk mancher Musiker reicht ein Museum nicht aus

Manche Komponisten haben solche Wucht in ihren Werken, dass ein einziges Museum gar nicht ausreicht. Johann Sebastian Bach kann man sich am Geburtsort Eisenach nähern, aber auch in Gedenkstätten in Wechmar (Heimat der Bach-Familie), Arnstadt (erste Organistenstelle) und in einem mächtigen Museumsneubau an seiner wichtigsten Wirkungsstätte in Leipzig. Dort drückt man auf Knöpfe, toucht auf Bildschirme und bleibt doch ratlos zurück darüber, wie der Thomaskantor neben seiner ganzen schier unerschöpflichen, bis heute gültigen Schaffenskraft auch noch eine schwindelerregende Verpflichtungsdichte (z.B. bei der Beaufsichtigung seiner Chorschüler) bewältigen konnte. Richard Wagner machte Urlaub in Graupa, unweit von Dresden. Der dortigen Entstehung seiner Oper „Lohengrin“ ist heute ein schickes modernes Museum gewidmet, neben dem berühmten Haus Wahnfried in Bayreuth und einer privaten Wagner-Sammlung in Eisenach.

Nicht das Museum macht den Musiker unsterblich

Das Museum schließt, die Musik bleibt – wenn die Musiker es möchten: Das frühere Silcher-Museum in seinem Geburtshaus in Schnait bei Stuttgart. (Foto. Thomoesch, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28057926

Macht also ein Museum den Musiker unsterblich? Gewiss nicht. „Die Aura ist nichts, das ohne Kenntnis leuchtet,“ berichtet Elisabeth Hardtke, die Kustodin des aufgelösten Silcher-Museums in einem eindrücklichen Film, der über Silcher informiert und das Ende des Museums erklärt und dokumentiert. Wenn die Zeiten sich wandeln, bleiben die Besucher aus, und dann fehlt auch das Geld zur Modernisierung der notwendigen museumspädagogischen Ansätze.

Und so hat manches angestaubte Musikermuseum auch etwas Tröstliches: Das Museum mag eines Tages sterben, aber die Musik lebt fort, und klingt millionenfach durch Deutschland – weniger wegen des Komponisten, mehr wegen der vielen Musiker und ihrer Zuhörer. Alle Jahre wieder …

 

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Im Text finden Sie die Links zur Internetdomain musikermuseen.de und zum sehr sehenswerten Film  über das Leben von Friedrich Silcher – und das Ende des Silcher-Museums in Schnait. 

 

Artikel Siebenunddreißig und Vierundachtzig

Über Populismus im Föderalismus – und zwei heimliche Stars des deutschen Grundgesetzes

Fabian Hinrichs als „Volksbürger“-Ministerpräsident. (Screenshot von der ARTE-Aufzeichnung)

Man solle doch regieren nach „gesundem Menschenverstand“, sagen Politikerinnen und Politiker – und auch viele Wählende – immer dann, wenn sie sich der Komplexität der Dinge verweigern möchten. Es sei doch ganz einfach, es müsse sich „was ändern im Land“, „die Mehrheit“, „das Volk“ habe in der Demokratie doch ein Anrecht darauf, dass ihr Wille geschehe.

Es sind diese Floskeln des Populismus, die Raum greifen im gesellschaftlichen Diskurs, und denen zu widersprechen schwerfällt. Wer sollte schon etwas haben gegen „Vernunft“, auch wenn jederfrau und -mann weiß, dass jedes seine eigene „Vernunft“ hat. Und heißt denn Demokratie nicht tatsächlich, dass die Macht vom Volk, und damit letztlich von dessen mehrheitlichem Willen ausgeht?

Föderalismus heißt oft: Bund beschließt, Land setzt um

Wohin das führen kann, ist ansatzweise im Freistaat Bayern zu besichtigen. Dort gibt es bekanntlich einen Ministerpräsidenten, der bei jeder Gelegenheit behauptet, die Bundesregierung würde sein Land benachteiligen. „Es dauert nicht lange“, schreibt zum Beispiel die Allgäuer Zeitung über Söder-Auftritte, „und schon ist die Rede vom Vorwurf, der Bund mache bewusst dem Freistaat das Leben schwer.“ Söder sage dann gerne: „Es soll bewusst der Norden bevorzugt und der Süden benachteiligt werden“, oder nennt es gar eine spürbare „Anti-Bayern-Stimmung“, die sich schon darin zeige, dass es keine Bundesminister aus Bayern gebe.

Nun sieht das Grundgesetz vor, dass in vielen Bereichen der föderalen Struktur in Deutschland der Bundestag unter jeweils gestaffelt strenger Mitwirkung der Länderkammer Gesetze erlässt, und diese in der Regel durch die Landesbehörden umzusetzen sind. Ein Beispiel: Man muss kein Freund der neuen Cannabis-Gesetzgebung sein (wie z.B. der Autor dieser Zeilen), man kann auch aus guten Gründen der Überzeugung sein, dass sie nicht den Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht und vielleicht sogar gegen den gesunden Menschenverstand verstößt – das Gesetz ist trotzdem gültig. Bei der nun folgenden Umsetzung durch Landesbehörden gibt es freilich einen Spielraum. „Wer mit Cannabis glücklich werden will, ist anderswo besser aufgehoben als in Bayern“, sagte Söder schon im Februar. Laut BR24 werde Bayern das Gesetz „extremst restriktiv“ anwenden. Später ergänzte der Ministerpräsident Söder: Der Freistaat soll „kein Kiffer-Paradies“ werden, was die Frage aufwirft, ob diese Gefahr je bestanden hätte. Alles das mag an der Grenze zwischen einer legitimen politischen Positionierung einer Landesregierung und ihrer Verpflichtung zur regelkonformen Umsetzung eines Bundesgesetzes liegen. Gegen den restriktiven bayerischen Kurs in dieser Sache regt sich inzwischen Widerstand, eine Klage dagegen wurde gerade angekündigt.

„Der Volksbürger“ regiert nach dem Prinzip „Freistaat first“

Was aber, wenn ein Land sich ganz und gar weigern würde, ein Bundesgesetz umzusetzen? Auf ARTE ist dies noch bis 2.10.2027 anschaulich, unterhaltsam und sehr lehrreich zu besichtigen. Gezeigt wird die Aufzeichnung eines Theaterereignisses, das Ende September im bekannten großen Saal der Bundespressekonferenz stattfand. Als „Politische Farce“ bezeichnet sich das zweistündige Stück, und der Titel lautet: „Der Volksbürger“. Gespielt vom famosen Fabian Hinrichs wird dort der jung-dynamische Ministerpräsident eines nicht näher bezeichneten „Freistaats“ gezeigt, der nach dem Prinzip „Freistaat first“ seine Landtagswahl mit absoluter Mehrheit gewinnt und sich dann tatsächlich daran macht, die bundesgesetzlich vorgegebenen Regelungen zum Ausländerrecht durch Nicht-Umsetzung ins Leere laufen zu lassen. Die betroffenen Menschen werden entweder obdachlos oder suchen sich ein anderes Bundesland zur Geltendmachung ihrer Rechte, wären also gewissermaßen „anderswo besser aufgehoben“ – um noch einmal Söder in anderem Zusammenhang zu zitieren.

Dabei ist dieser vom Schauspieler Hinrichs interpretierte, smarte Politik-Charakter kein unsympathischer Radikalinski, sondern ein charismatischer, sich seiner Außenwirkung allzu bewusster Populist, der das hässlich Konkrete im Vagen lässt, sein Volk glauben lässt, er hätte die Macht, vieles zu verwirklichen, was (früher) der Stammtisch und (heute) das Netz als „gesunden Menschenverstand“ palavert. Er müsse im Interesse seines Volkes dem „moralischen Gesetz“ folgen, nicht dem „Gesetz zwischen Aktendeckeln“.

Eitle Medien, Lokalpolitiker ohne Rückrad

Zu erleben ist auch allerhand nebenbei. Wie etwa die Medien zwar zunächst Freude daran haben, Aufmerksamkeit auf die rechtswidrige Praxis im „Freistaat“ zu lenken, mit der langfristigen Strategie des regierenden „Volksbürgers“ aber überfordert sind in ihrer Sucht nach der schnellen Schlagzeile. Oder: Wie der Politikbetrieb im Land sich blitzschnell nach den jeweils neuen, realen Machtverhältnissen ausrichtet wie die Nägel auf einen Magneten.

Allerdings: Der Rechtsstaat wehrt sich. Wie müsste die Bundesregierung in einem solchen Fall vorgehen (denn noch nie hat es diese Notwendigkeit wirklich gegeben)? Die Eskalation endet in einer Auseinandersetzung auf Messers Schneide, und wie sie ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Das zu Recht so viel gelobte deutsche Grundgesetz hat 146 Artikel, und es ist ein gutes Zeichen für den Zustand unserer Demokratie, dass der gesunde Menschenverstand der großen Mehrheit der Volksbürger in Deutschland die meisten davon nicht zu kennen braucht. Das gilt auch für die Artikel 37 und 84 GG.

Aber dass es sie gibt, das ist auch ein gutes Zeichen.

 

Den Film finden Sie auf  ARTE hier, aber auch in den Mediatheken von ZDF und 3sat.

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