Der alte Träumer trotzt dem Weltenbrand

Eindrücke nach einem Konzertabend mit Konstantin Wecker

„Dreamer“ nennen sie in Amerika jene – geschätzt etwa 1,9 Millionen – Menschen, die seit ihrer Geburt illegal in den USA leben. Sie träumen von einem gesicherten Aufenthaltsstatus, von Legalität und langfristiger Gewissheit über die eigene Zukunft.  Donald Trump wollte sie in seiner ersten Amtszeit allesamt ausweisen; gelungen ist ihm das nicht, und was nun für sie kommen wird, ist ungewiss.

Ein großer Poet, ein Musiker, ein Kämpfer: Konstantin Wecker. Aber gibt es die Welt noch, für die er kämpft? (Foto: Thomas Steinborn, bereitgestellt von wecker.de)

Auch in Deutschland leben sicher einige „Dreamer“ in diesem Sinne; aber, da es hier – anders als in den USA – eine allgemeine Meldepflicht gibt, dürften es nicht sehr viele sein. Deutsche Träumer sind üblicherweise nicht jung und auf der Suche nach einer gesicherten Existenz. Sie sind oft selbstzufriedene Inhaber einer rechtsstaatlich garantierten Gewissheit von Sicherheit und Wohlstand. Sie sind grauhaarig und faltengesichtig, sie verbergen ihre Handys in lederne Klapphüllen und wenn sie diese öffnen, dann machen sie verwackelte Fotos oder versuchen, mit zittrigen Wischbewegungen ihre südteuren Hightech-Hörgeräte zu bändigen.

Sie träumen nicht von einer Zukunft, sondern von ihrer Vergangenheit.

Die einen stemmen sich gegen Veränderungen, …

Die einen stemmen sich gegen alle Veränderungen der neuen Zeit, gegen die Vielfalt von Lebensentwürfen, gegen das vermeintlich Fremde in unserer Heimat, gegen das Ende der geliebten Verbrenner in Keller und Garage. Wenn sie mutig genug wären, würden sie sich gegen all dies auf irgendwelche Straßen kleben. Aber sie sind nicht mutig, sie sind feige und kreuzen ihren Zorn anonym auf dem Wahlzettel an. Sie vertrauen den falschen Versprechungen der Rattenfänger.

… die anderen trauen der Jugend nichts zu, …

Andere dieser Träumer eifern Aristoteles nach und sprechen der „Jugend von heute“ ab, dass diese den notwendigen Fleiß, die Ausdauer und Weitsicht besitzen würde, unsere Welt zu bewahren. Aber sie erwarten gleichzeitig, dass diese unfähige Generation mit ihren Steuern und Beiträgen verlässlich satte Renten finanziert und sich bereitwillig für eine allgemeine Dienstpflicht erwärmt.

… und die dritten wollen weiter kämpfen

Und die dritten schließlich, und um die soll es hier gehen, wollen den Kampf ihrer früheren Jahre fortsetzen. Sie wollen nicht aufgeben, da sie entsetzt erkennen, wohin ihr ungebremster Wohlstandsdrang geführt hat: überschwemmte Städte, brennende Wälder, Smogalarm, wiedererstarkter Rechtsradikalismus. Sie wollen es wieder gutmachen, das Rad der Schuld zurückdrehen. Sie wollen zeigen, dass sie gelernt haben. Nur: Was?

Zur letzten Gruppe zählt der Künstler Konstantin Wecker. 1947 in München geboren und aufgewachsen, hat ihn eine klassische West-Nachkriegsbiografie geprägt, mit Abstechern ins Gefängnis, in den Drogenentzug und in die Toskana. Wenn er zum Konzert ruft, dann sammelt ein alter Träumer seine Jünger um sich, und sie kommen in Scharen. Das Publikum ist homogen angegraut, kaum ein Gesicht unter dreißig, zwei Drittel über sechzig. Für sie liest ein alter Mann auf der Bühne seine Moderation vom Teleprompter ab, bewegt sich vorsichtig von links nach rechts und wieder zurück, mehr tastend als tanzend. Gelegentlich setzt er sich hin. Seine Lieder haben noch immer die alte Kraft, auch wenn die Stimme brüchiger ist als früher, oft gar kein Gesang, mehr ein Sprechen oder Rufen oder Flüstern.

Nach den wilden Träumen seiner Zeit sucht er noch immer

Nach den wilden Träumen seiner Zeit aber sucht er noch immer. Er hat Abstürze und Wiederkehr erlebt, große Erfolge als Komponist, als singender Poet, als Schauspieler. Er hat sich im Leben durchgesetzt mit klugen Worten und schöner Musik, und ist doch immer ein Mann der Disharmonie geblieben, ein widerborstiger Anarchist, ein sperriger Antifaschist, ein mahnender Pazifist. Und sein Publikum dankt es ihm. Für die ergraute Schar ist er so, wie sie sich selbst gerne sehen: Geläutert, demütig, nicht gebrochen. Und schließlich stimmt doch noch immer, was schon vor fünfzig Jahren gestimmt hat: Die Reichen nehmen sich zu viel vom Kuchen, die Menschlichkeit fehlt allerorten, und nur der Frieden, nicht die Waffen, versprechen eine Zukunft.

Ein Populist des Guten

Es sind solche Sätze, die den alten Träumer zu einem Populisten des Guten machen, zu einem Propagandisten für einfache Wahrheiten. Hier verspricht einer die Rückkehr in eine Welt, die noch nicht aus den Fugen war, nicht multipolar und komplex wie heute, sondern wohlgeordnet: Die Armut im Süden. Der Feind im Osten hinter einer gut gesicherten Mauer. Und der Reichtum im Westen, gegen dessen offenkundige Ungerechtigkeiten man guten Gewissens, weitgehend gefahr- und folgenlos, demonstrieren durfte. Die Linke war es damals, die den Staat grundlegend kritisierte; heute ist es die radikale Rechte.

Als dann auch noch der eiserne Vorhang fiel, da war für die Generation der deutschen Träumer ein Zeitalter ohne Kriege schon zum Greifen nah. Es war eine Welt, in der kein europäischer Nachbar mit todbringender Gewalt die Freiheit des Westens bedrohte.  Es war noch nicht Avantgarde, auf Aktienkurse statt auf Tarifverträge zu starren. Es war nicht üblich, sich anonym und ungestraft im Netz zu beleidigen. Und noch niemand war auf die Idee gekommen, mit Hass und Lüge Milliarden zu verdienen.

Nun aber herrscht „Weltenbrand“

Wecker singt die deutschen Träumer zurück in diese Zeit. Nun aber herrscht „Weltenbrand“, ganz real, und nicht nur im gleichnamigen Lied, das Wecker kurz vor Schluss in den Saal schreit und haucht und in die Tasten seines Flügels schlägt: „Tauchst in die Fluten du ein, bis alles erlischt – würdest gern Brandung sein, endest als Gischt.“

Beifall brandet auf. Der große alte Träumer steht auf der Bühne, inmitten des genialen Musikerteams, das er um sich geschart hat und das seinen Liedern moderne musikalische Wucht verleiht. Gebeugt, beansprucht von diesem Abend, vielleicht glücklich, sicherlich widerspenstig wie immer, nimmt er die Huldigungen entgegen. Ein großer Poet steht da, ein genialer Musiker, auch ein Kämpfer mit vielen Narben aus seinem Streit für eine bessere, friedlichere, menschlichere Welt.

Man spürt, dass er es weiß: „Würdest gern Brandung sein, endest als Gischt“. Weil sie einfach nicht auf ihn hören will, die Welt von heute.

 

Erlebt habe ich Konstantin Wecker bei einem Konzert seiner Tour „Der Soundtrack meines Lebens“ in Stuttgart am 3. Dezember 2024. Weitere Konzerte mit diesem Programm gibt es am 8.12. in Wien und am 10.12.2024 in Frankfurt. Konstantin Wecker startet im Frühjahr 2025 eine Tour „Lieder meines Lebens“ in 49 Städten.

Mehr Informationen über Wecker auf seiner Website. 

Das Lied „Weltenbrand“ gibt es auch als Video (Link führt zu Youtube) 

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Vaters Schuld im Überschwemmungsgebiet

Über eine moderne Deutung von Mozarts Oper „Idomeneo“ in Stuttgart

Wer erzieht, erwirbt sich – wenn es gut geht – bleibende Verdienste. Aber unweigerlich geht damit einher, sich schuldig zu machen; meist, ohne es zu bemerken. Ein zu oft überladener Familienalltag, das ununterbrochene, enge Zusammenleben, die Arbeit, der ständige Blick aufs Handy, die Sehnsucht, vom quengelnden Kind endlich einmal in Ruhe gelassen zu werden – alles das verführt zu unüberlegter Gereiztheit. Dazu begegnen die Kinder ihren Eltern meist in bedingungsloser, geradezu unzerstörbar erscheinender Liebe, die vieles wegsteckt. Schließlich verleiten die eigenen Laster und Süchte, die persönlichen Leidenschaften und Prioritäten dazu, jetzt und hier schnell etwas zu tun oder zu unterlassen. Und schon hat man sich schuldig gemacht.

Die Schuld des Vaters droht das Leben des Sohnes zu zerstören – in der Stuttgarter Inszenierung von „Idomeneo“ (Musik: Wolfgang Amadeus Mozart) überträgt Regisseur Bastian Kraft die individuelle Psychologie der antiken Sage auf die kollektive Schuld, die sich die heutige Väter-Generation aufgeladen hat – und ihren Kindern hinterlässt. (Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart)

Auch wenn es gut ausgeht – die Schuld verschwindet nicht

Oft gibt es eine Ahnung darüber, schon während es geschieht. Meist aber handelt der Erziehende in fester Überzeugung, das Richtige, das Notwendige, das Zulässige zu tun. Im Fernsehkrimi sind das die Fälle, in denen fehlerhaftes Verhalten den Tod eines Kindes verursacht hat, und davon ausgehend ganze Existenzen zerbersten. Im realen Leben endet solche Schuld erfreulicherweise nur selten so katastrophal. Oft braucht es Jahre des Abstandes, um zu erkennen: Ich habe mich schuldig gemacht. Auch wenn alle Beteiligten scheinbar unversehrt überleben, verschwindet die Schuld deshalb nicht, sie blitzt auf in den Gedanken des schlechten Gewissens, in bösen Erinnerungen, manchmal auch in der realen Welt, in psychischen oder körperlichen Symptomen.

Nach allem, was bekannt ist, war Wolfgang Amadeus Mozart seinem Vater durchaus respektvoll und zugewandt verbunden. Der Vater hatte ihn gefördert und auch gefordert; ohne ihn wäre er vielleicht niemals das Genie geworden, als das wir ihn heute kennen. Ob der Vater, Leopold Mozart, überhaupt darüber nachdachte – etwa hundert Jahre vor den Anfängen der modernen Psychologie – dass auch er Schuld haben könnte am rastlosen Leben seines Sohnes, das wissen wir nicht. Das frühe Sterben des Genies musste er nicht erleben.

Vaters Schuld und Sohnes Liebe – in Verzweiflung vereint

Was also mag den Sohn im Jahr 1781 bewogen haben, eine Oper zu schreiben, in der Vater und Sohn schicksalhaft verbunden sind in gemeinsamer Verzweiflung über väterliche Schuld und Sohnes Liebe? Den Stoff dafür entlehnte sich Mozart aus der griechischen Sagenwelt. Stark vereinfacht geht es darum: Der kretische König Idomeneo hat Troja besiegt. Kurz bevor er als strahlender Held in seine Heimat zurückkehrt, gerät er in einen wütenden Sturm und verspricht in höchster Not dem Meeresgott Neptun, zur Rettung des eigenen Lebens ein Menschenopfer zu bringen. Und zwar, so sagt er zu, solle der erste Mensch, dem er am Strand von Kreta begegnen würde, dem Gott gehören. Neptun lässt sich auf den Handel ein, Idomeneo kommt nach Hause – und trifft am Strand auf seinen Sohn, der ihm glücklich ob der Rückkehr und voller Liebe in die Arme fällt. Nichts ahnend über die schuldhafte Zusage des Vaters, versteht der Sohn nicht ansatzweise, warum der Vater ihn auf einmal meidet, sogar fortschicken möchte.

Mit allerlei Tricks versucht der König, den Vollzug des grausigen Menschenopfers hinauszuzögern oder, noch besser, gar nicht vollstrecken zu müssen. Aber der Gott lässt sich so leicht nicht besänftigen, und so ist Idomeneo schließlich bereit, sich zu fügen, sogar der inzwischen eingeweihte Sohn anerkennt die Pflicht, die dem grausamen Gott gegebene Zusage einzuhalten. Aber so wie der biblische Abraham von Engeln abgehalten wird, seinen Sohne Isaac zu töten – so verhindert schließlich die Liebe einer Frau und göttlicher Großmut auch bei Mozart den Tod des jungen Thronfolgers. Es gibt also ein Happy End in der Oper, das seine Kraft auch aus einer glücklichen Liebesgeschichte zieht, die das Geschehen begleitet, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll.

Der Sturm tobt, das Wasser kommt – und die Schuld bleibt

Zurück bleibt einmal mehr ein Vater, der überlebt, sich aber schuldig gemacht hat. Er war bereit gewesen, für seine eigene Rettung das Leben eines anderen zu opfern. In der Stuttgarter Neuinszenierung der Mozart-Oper „Idomeneo“ setzt Regisseur Bastian Kraft diese Schuld vom Einzelnen ins Allgemeine: Nicht nur der einzelne Vater macht sich schuldig gegenüber seinem Sohn, auch eine ganze Generation von Vätern lädt Schuld auf sich. Die kretische Gesellschaft watet auf der Opernbühne von Stuttgart über weite Teile des Abends durch ein Überschwemmungsgebiet, das ganz real ausgebreitet wird auf dem Bühnenboden. Der Sturm tobt, das Wasser kommt, die langen Kleider saugen sich voll, während leidendes Volk und eine ratlose Königsclique versuchen, einen Ausweg aus dem väterlich herbeigeführten Sumpf zu suchen.

Was dabei entsteht, sind starke Bilder zu grandioser Musik, die gemeinsam viel erzählen von der Schuld, welche die heutigen Väter-(und Mütter-)generationen sich aufgeladen haben – und die nun die Söhne (und Töchter) als Dürreperioden, Waldbrände, Sturm- und Überschwemmungskatastrophen im  wahrsten Sinne des Wortes ausbaden müssen. Dass dabei in Stuttgart ein weiteres Mal (wie bereits in einer anderen Inszenierung wenige Monate zuvor) das Knäuel des vom Sturm herabgefegten Opernhaus-Daches herhalten muss, ist ein eher überflüssiger Wink mit dem Zaunpfahl. Sie macht die Grundidee dieser Regiearbeit platt, anstatt ihr Tiefe zu verleihen. Der wache Betrachter hat längst verstanden: Es waren niemals die Götter oder irgendwelche Ideale, um deren Willen wir Väter uns schuldig machten. Es waren schon immer unsere eigenen, ganz egoistischen Wünsche. Und es sind bis heute unsere Kinder, die damit klarkommen müssen.

 

„Idomeneo “ von Wolfgang Amadeus Mozart in der Inszenierung von Bastian Kraft ist an der Oper Stuttgart noch bis 27. Dezember 2024 zu sehen. 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester. Gesehen habe ich die Generalprobe am 21. November 2024, sowie die Aufführung am 5.12.2024. 

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Was wir brauchen, ist wehrhafter Anstand

Fünf unbequeme Vorschläge nach Trump-Triumph und Ampel-Aus

Ok, Amerika! Du hast einen verurteilten Straftäter, Vergewaltiger und Lügner erneut zu Deinem Präsidenten gewählt – nicht, weil Du es nicht wusstest, sondern weil er so ist, wie er ist. Du hast Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Ok, Deutschland! Mehr als jede/r zehnte Deiner Wählenden gibt einer rechtsradikalen Partei die Stimme – nicht, weil sie es nicht wüssten, sondern weil sie es wollen. Sie entscheiden sich gegen den Anstand, ganz bewusst.

Ok, Lindner! Du willst für Deutschland keine neuen Schulden machen. Nicht, weil Du nicht verstehen würdest, dass dies für unsere Wehrhaftigkeit unausweichlich ist – sondern weil Du weißt, dass es so ist, es aber nicht verantworten willst. Aus Angst vor den Illusionen Deiner Wähler/innen hast Du Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Es ist Zeit für einen Aufbruch

Es ist Zeit für einen Aufbruch. Politik und Gesellschaft brauchen eine neue Idee, einen breiten Konsens der Gutwilligen: Den wehrhaften Anstand. Anstand ist die Grundlage von allem, was uns wichtig ist:

Der Frieden, in dem wir seit siebzig Jahren leben, verdanken wir den Anständigen und ihrem Militär, mit dem sie die deutschen Nazi-Verbrecher vertrieben.

Die Freiheit, die halb Deutschland seither und ganz Deutschland seit 35 Jahren genieß, hat der Westen geschenkt bekommen. Der Osten hat sie ohne Gewalt erkämpft – ein wahrer Aufstand der Anständigen gegen die Stasi-Schergen.

Unseren Wohlstand haben sich die meisten von uns anständig erarbeitet, aber es gäbe ihn nicht ohne die Schuld, mit der unsere Vorfahren und wir Millionen anderer Menschen ausgebeutet und unsere natürlichen Lebensgrundlagen massiv geschädigt haben. Dies zu erkennen, zu benennen und zu ändern – das ist anständig.

 

Hier fünf unbequeme Vorschläge, wie wir zu wehrhaftem Anstand kommen:

Mehr Resilienz für die Anständigen

Wir Anständige sind im Recht, lasst Euch nicht verunsichern! Es ist unanständig, ein Nachbarland zu überfallen oder zu bedrohen. Es ist unanständig, den politischen Diskurs mit Gewalt, Lügen und Simplifizierungen zu durchtränken. Eine anständige Gesellschaft muss sich das nicht gefallen lassen. Sie braucht mehr Widerstandskraft nach innen und außen. Der Staat muss robuster auftreten, klar die Wahrheit benennen, mehr investieren in Sicherheit und Wehrhaftigkeit, aber auch in breite (politische) Bildung. Wir alle sollten aktiv eintreten für eine anstandsbasierte Kultur der Kommunikation.

Anstand erträgt keine Armut

Es ist nicht anständig, den eigenen Reichtum als unteilbar zu betrachten. Viel zu viele Menschen auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland, leiden reale Not, während andere gar nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Dieser Zustand ist unanständig und unerträglich. Ein legitimes Mittel dagegen ist staatlich gelenkte Umverteilung, beispielsweise durch Steuern. Früher waren Steuern eine unanständige Ausbeutung durch die Obrigkeit. Bis heute versuchen Ideologen, dieses Zerrbild auch auf das legitime Interesse des modernen Staates anzuwenden. Aber das ist falsch: In den Demokratien von heute ist Umverteilung ein notwendiges Instrument auf der Suche nach Gerechtigkeit. Wer sich ihm entzieht, wer es diskreditiert, handelt unanständig.

Anständige sind keine politischen Gegner

Wer den Anstand wahrt, ist kein Gegner. Die Anständigen im demokratischen Spektrum dürfen ihre Kräfte nicht im Streit mit den falschen Gegnern verschleißen.  Konservative sind nicht automatisch Populisten, so wie Grüne nicht immer Besserwisser sind. Anständige, gesprächsbereite Konservative sind keine Gefährder der Demokratie. Radikale und Populisten dagegen wollen Probleme zum eigenen Nutzen lieber vergrößern, anstatt mitzuhelfen, sie zu lösen. Das ist unanständig, und muss genau so bezeichnet und bekämpft werden.

Das Grundgesetz setzt politischen Anstand voraus

Es ist höchste Zeit, den Anstand wehrhaft zu machen. Gewalt, Lügen, radikale Vereinfachungen wider besseren Wissens und demokratieschädliche Tricksereien zielen auf die Grundlagen unseres demokratischen Zusammenlebens. Sie beabsichtigen, die Gesellschaft dumm zu machen und die demokratische Prozesse des Staates zu zersetzen. Jeder Blick in soziale Medien zeigt, wie tief dieses Gift bereits eingesickert ist. Wer da mitmacht, verstößt gegen die Idee des Anstandes, wie ihn das Grundgesetz für den politischen Raum voraussetzt. Auch hier ist wehrhafter Anstand gefordert – notfalls mit einem Verbotsverfahren.

Wer zu Unanständigkeit schweigt, macht sich mitschuldig

Jede und jeder kann zu wehrhaftem Anstand in einer Gesellschaft der demokratischen Resilienz beitragen, kann täglich gegen die Zersetzungskräfte der Billighändler der politischen Niedertracht eintreten – in der Arbeit, in der Familie, im Verein, in der Nachbarschaft. Wer schweigt, wenn der Anstand verletzt wird, macht sich mitschuldig.

 

Über Anstand hat der Autor Axel Hacke ein ganzes Buch geschrieben: „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ – das ich zur Lektüre sehr empfehle.

Die Idee für meinen Texteinstieg „Ok, Amerika!“ verdanke ich einem gleichnamigen Podcast von ZEITonline, mit dessen Hilfe ich viel besser verstanden habe, wie der Wahlkampf in den USA verlief und warum er das bekannte Ende nahm.

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Kein Mensch ist „süß“ – Eine Sprachkritik

Warum kein Mensch illegal ist – und auch nicht „süß“

Sie finde ihn „total süß“, sagt die junge Frau über ihren Freund und blickt treuherzig. Besonders „wenn er versucht, die Hemden zu bügeln, die danach mehr Falten haben als vorher“, spottet sie milde. Der Wille zählt!

„Richtig süß“ hat die Betreuerin von Kindern mit Down-Syndrom deren Zuwendungsfreude erlebt. „Wenn die sich dauernd umarmen und so fröhlich sind,“ sagt sie und meint es positiv, „dann können wir Normalos wirklich noch viel davon lernen“. Die ganze Sinnstiftung ihrer Arbeit begründet sie damit.

„Echt süß“ findet der Kollege, wie sich seine Großeltern damit zurechtfinden, per Whatsapp den Kontakt mit ihren Enkeln zu halten. Er meint es nett – aber ist es das auch? (Foto: congerdesign auf Pixabay)

Der Kollege berichtet beim Mittagessen von einem Besuch bei seinen Großeltern. Die älteren Herrschaften hätten sich doch tatsächlich Whatsapp und Facetime angeeignet, um mit ihren Enkeln in Kontakt zu bleiben! Ehrliche, aber herablassende Bewunderung schwingt in seinen Worten: „Alte Möbel und einen verstaubten Röhrenfernseher haben die“, sagt er, „überall noch CD´s und Schallplatten, und dazwischen tippen sie auf ihrem Seniorenhandy herum – echt süß!“

Gewiss ist auch das Neugeborene aus der Nachbarschaft „ganz besonders süß“, wobei die Frage erlaubt sein darf, welches Baby denn nicht „süß“ wäre und wie die übermüdeten Eltern das „süße“ Baby beurteilen, wenn es sich gerade zur tiefsten Nachtstunde nicht beruhigen lassen will.

Sprache ist Ausdruck von Werten

Nun soll an dieser Stelle keiner Sprachpolizei das Wort geredet werden, sondern nur dem sensiblen Sprachbewusstsein. Denn Sprache ist Macht, und genau darum geht es bei der Bezeichnung „süß“ für Menschen und ihr Verhalten.

Wie mächtig Sprache als Ausdruck von Werten ist, zeigt dieses Beispiel: „Kein Mensch ist illegal“. Erstmals hat diesen Satz im Jahr 1988 (auf englisch) der jüdische Friedensnobelpreisträger und Schriftsteller Eli Wiesel ausgesprochen. Daraus ist ein internationales Netzwerk gegen Rassismus und Migrationsfeindlichkeit entstanden. Die vier Worte – „Kein Mensch ist illegal“ – haben eine einfache, aber unmissverständliche Botschaft: Niemand, der sich irgendwo auf der Welt aufhält, ist dort allein aufgrund seiner Existenz illegal. Letztlich drückt sich darin die Idee einer unveräußerlichen Menschenwürde aus: Der Mensch selbst bleibt immer legal, auch wenn er oder sie sich gesetzeswidriges Verhalten vorwerfen lassen muss, falls dafür ein Anlass besteht. Der kann vielleicht auch allein darin liegen, wenn man sich ohne einen vom Staat gewährten Aufenthaltsstatus in einem Land aufhält, das dies nicht erlaubt. Dann ist dieser Aufenthalt illegal, nicht aber der Mensch an sich. Es ist nur eine kleine sprachliche Feinheit – aber sie übt Macht über Menschen aus.

Aber das ist doch nett gemeint!

Ist das eine Nummer zu groß als Parallelität für den kleinen süßen Ausspruch? Wer jemand anderen als „süß“ bezeichnet, der meint es doch nett! Vielleicht. Und doch ist die Bezeichnung „süß“ ein Urteil. Wer in diesem Sinne angeblich „süß“ ist oder handelt, steht nicht auf einer Stufe, wird zum goldigen Mäuschen herabgestuft.

Süß ist Zucker und Schokolade, ein Wein kann süßlich schmecken und ein Parfüm so duften. Wir nennen das „Süßwasser“ süß, obwohl es gar nicht süß ist, sondern nur nicht salzig. Wenn es denn sein muss, mag man das niedliche Kätzchen „süß“ finden. Und auch manche „süße Lust“, mancher „süßer Traum“ kann den menschlichen Körper durchfluten. Die Bezeichnung „süß“ für einen ganzen Menschen oder das Verhalten aber macht die Betroffenen klein. Im feministischen Kontext wird daher diskutiert, ob die Erwartung an Frauen, sich sanft oder „süß“ zu verhalten, wesentlicher Teil ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung sein könnte. Die Kulturwissenschaftlerin und Psychologien Ann-Kristin Tlusty hat darüber ein ganzes Buch geschrieben – mit dem Titel: „Süß“.

Verniedlichung übt Macht aus

Eine Verniedlichung kommt oft liebevoll-freundlich daher, aber sie übt auch Macht aus. Jede menschliche Kreatur ist von Geburt an gleichwertig in seiner Persönlichkeit, so millionenfach unterschiedlich die Wesensmerkmale auch sind – sympathisch oder garstig, freundlich oder abweisend, klug oder dumm –, und auch das Handeln: überlegt oder hitzig, zugewandt oder bemüht, machtbewusst oder schüchtern. Wie auch immer – aber gewiss nicht „süß“.

 

Eine weitere Sprachkritik zur Verwendung des Wortes „Dürfen“ finden Sie hier. 

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Eine Aura kann man nicht ausstellen

Über Musiker-Museen in Deutschland

Friedrich Silcher, dem Großmeister des deutschen Liedgutes der Romantik, war mehr als 100 Jahre ein Museum gewidmet – vor einem Jahr wurde es geschlossen. (Foto: Christoph Friedrich Dörr – Ausschnitt aus dem sog. „Hochzeitsbild“, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1423045

Wie klingt Deutschland? Ganz gewiss vielstimmig: laut und trotzig, wie auch leise und schüchtern. Deutsche Musik klingt gleichermaßen nach glasklarem Barock wie nach ruppigem Deutschrap, lärmt mit Rammstein, träumt von 99 Luftballons, fährt, fährt, fährt mit Kraftwerk auf der Autobahn, und singt sich atemlos.

Deutschland klingt auch nach Friedrich Silcher: „Alle Jahre wieder“ singen die Kinder bald wieder, und der eine oder andere Erwachsene wird mitbrummen. „Ännchen von Tharau“, oder das Lied der Loreley, und schließlich „Muss i denn, muss i denn …“ – alles deutsche Lieder, an deren Erhalt und Vertonung der schwäbische Komponist Friedrich Silcher (1789 bis 1860) entscheidend beteiligt war. Silcher war einmal ein ganz Großer seiner Zeit. Auf einer Ansichtskarte von 1900 wird er in einer Reihe genannt mit Schiller, Zeppelin, Kepler, Uhland und Mörike. Hunderte Straßen und Plätze, Schulen, Konzertsäle und andere Gebäude sind nach ihm benannt. Mehr als hundert Jahre lang wurde ihm in seinem Geburtsort, in Schnait unweit von Stuttgart, ein eigenes Museum gewidmet. Seit einem Jahr ist es geschlossen, und es wird auch nicht wieder eröffnet, sondern aufgelöst. Es ist das Ende eines „Musikermuseums“.

Wer sind Musiker? – Nicht die, denen Museen gewidmet sind

Schon der Begriff „Musikermuseum“ ist bestürzend irreführend. Letztlich gibt es fast so viele Musiker in Deutschland, wie es Menschen gibt, Abermillionen, mitten im Leben, nicht in einem Museum. Es gibt die Trompeterinnen in der Blaskapelle, die Posaunistinnen auf dem Kirchturm, die ungezählten Chorsängerinnen, die Kammermusikerinnen, die sich abends in ihren Wohnzimmern treffen. Es gibt die Akkordeonspielerinnen und die Flötistinnen – und es gibt diese alle auch noch in männlicher Form. Händeringend suchen laute Bands aller Altersgruppen nach gut isolierten Übungsräumen, zirpen leise Gitarren aus Kinderzimmern, grübeln Menschen über die nächste Note ihrer Komposition, üben sich Hobby-Rapper in den richtigen Rhythmus ihrer Worte hinein. Es klingt und spielt in Deutschland allerorten, und alle diese Musizierenden gemeinsam sind auf der Suche nach dem richtigen Ton, der richtigen Taste, dem gesuchten Ventil, der perfekten Lippenspannung.

„Es kann doch wohl nicht sein“, spottete eine Tochter über ihren musikinteressierten Vater, „dass es immer noch Komponisten-Museen gibt, die Du noch nicht besucht hast!“. Doch, das kann sein. Es gibt so viele Musikermuseen in Deutschland, dass sie sogar eine gemeinsame Internetplattform betreiben und eine Landkarte herausgeben. Was dort auffällt: Die meisten große Namen der Musik versammeln sich in einem breiten Streifen durch die Mitte Deutschlands. Das musikalische Band reicht von Bonn im Westen bis nach Dresden im Osten, mit einer Nord-Süd-Breite von vielleicht hundert Kilometern. In Deutschlands Mitte wirkten Johann Sebastian Bach und seine Söhne, Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Robert und Clara Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel, Richard Wagner, Franz Liszt, Carl Maria von Weber und viele weitere. Sie alle werden mit Musikermuseen gewürdigt. Weit nördlich lockt in Hamburg das Komponistenquartier mit Museen für weitere prominente Namen (Georg Philipp Telemann, Johannes Brahms, Gustav Mahler), weit südlich wurde in Augsburg Wolfgang Amadeus Mozart geboren, und noch weiter südlich lebte Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen.

Silcher stand einmal in einer Reihe mit Schiller und Mörike

Im deutschen Südwesten sticht nur ein Name hervor, und er verschwindet gerade von dieser Landkarte. Der Komponist und Musikpädagoge Friedrich Silcher machte sich unsterblich, weil er im Geist der Romantik mehr als 300 Werke des deutschen Liedgutes vertonte. Silcher schrieb nicht nur die überbrachten Texte und Melodien auf, er setzte sie auch in mehrstimmige Kompositionen um und fügte ihnen eigene musikalische Ideen hinzu. Ein Lied zu singen, das war in Silchers Zeit Teil von freiheitsstrebender Identität, Ausdruck des Traums einer klassenlosen Gesellschaft. Und doch konnte das vom Württembergischen Chorverband getragene, private Silcher-Museum nicht erhalten werden. Seine Bestände werden jetzt verteilt – an das Literaturarchiv in Marbach, an das Stadtmuseum in Tübingen (wo Silcher hauptsächlich wirkte) und an andere Stellen. Was zur Frage führt: Kann man Musik ausstellen?

Der Arbeitsraum des Gewandhaus-Direktors Felix Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig.

Wer nur einige der vielen deutschen Musikermuseen besucht, lernt unterschiedlichste Ansätze kennen, sich der Musik physisch zu nähern: Das Robert-Schumann-Geburtshaus in Zwickau gewährt Zutritt zu den Originalräumen von Schumanns Kindheit und füllt sie mit vielen Dokumenten und Lesestoff aus. Im Mendelssohn-Museum von Leipzig gewinnt der Besuchende Eindrücke über die Lebensumstände des Gewandhausdirektors, kann einzelne Gegenstände aus seinem Besitz bestaunen und in einem Raum dank Hightech selbst erleben, wie es sich anfühlt, ein Orchester zu dirigieren.

Für das Werk mancher Musiker reicht ein Museum nicht aus

Manche Komponisten haben solche Wucht in ihren Werken, dass ein einziges Museum gar nicht ausreicht. Johann Sebastian Bach kann man sich am Geburtsort Eisenach nähern, aber auch in Gedenkstätten in Wechmar (Heimat der Bach-Familie), Arnstadt (erste Organistenstelle) und in einem mächtigen Museumsneubau an seiner wichtigsten Wirkungsstätte in Leipzig. Dort drückt man auf Knöpfe, toucht auf Bildschirme und bleibt doch ratlos zurück darüber, wie der Thomaskantor neben seiner ganzen schier unerschöpflichen, bis heute gültigen Schaffenskraft auch noch eine schwindelerregende Verpflichtungsdichte (z.B. bei der Beaufsichtigung seiner Chorschüler) bewältigen konnte. Richard Wagner machte Urlaub in Graupa, unweit von Dresden. Der dortigen Entstehung seiner Oper „Lohengrin“ ist heute ein schickes modernes Museum gewidmet, neben dem berühmten Haus Wahnfried in Bayreuth und einer privaten Wagner-Sammlung in Eisenach.

Nicht das Museum macht den Musiker unsterblich

Das Museum schließt, die Musik bleibt – wenn die Musiker es möchten: Das frühere Silcher-Museum in seinem Geburtshaus in Schnait bei Stuttgart. (Foto. Thomoesch, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28057926

Macht also ein Museum den Musiker unsterblich? Gewiss nicht. „Die Aura ist nichts, das ohne Kenntnis leuchtet,“ berichtet Elisabeth Hardtke, die Kustodin des aufgelösten Silcher-Museums in einem eindrücklichen Film, der über Silcher informiert und das Ende des Museums erklärt und dokumentiert. Wenn die Zeiten sich wandeln, bleiben die Besucher aus, und dann fehlt auch das Geld zur Modernisierung der notwendigen museumspädagogischen Ansätze.

Und so hat manches angestaubte Musikermuseum auch etwas Tröstliches: Das Museum mag eines Tages sterben, aber die Musik lebt fort, und klingt millionenfach durch Deutschland – weniger wegen des Komponisten, mehr wegen der vielen Musiker und ihrer Zuhörer. Alle Jahre wieder …

 

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Im Text finden Sie die Links zur Internetdomain musikermuseen.de und zum sehr sehenswerten Film  über das Leben von Friedrich Silcher – und das Ende des Silcher-Museums in Schnait. 

 

Artikel Siebenunddreißig und Vierundachtzig

Über Populismus im Föderalismus – und zwei heimliche Stars des deutschen Grundgesetzes

Fabian Hinrichs als „Volksbürger“-Ministerpräsident. (Screenshot von der ARTE-Aufzeichnung)

Man solle doch regieren nach „gesundem Menschenverstand“, sagen Politikerinnen und Politiker – und auch viele Wählende – immer dann, wenn sie sich der Komplexität der Dinge verweigern möchten. Es sei doch ganz einfach, es müsse sich „was ändern im Land“, „die Mehrheit“, „das Volk“ habe in der Demokratie doch ein Anrecht darauf, dass ihr Wille geschehe.

Es sind diese Floskeln des Populismus, die Raum greifen im gesellschaftlichen Diskurs, und denen zu widersprechen schwerfällt. Wer sollte schon etwas haben gegen „Vernunft“, auch wenn jederfrau und -mann weiß, dass jedes seine eigene „Vernunft“ hat. Und heißt denn Demokratie nicht tatsächlich, dass die Macht vom Volk, und damit letztlich von dessen mehrheitlichem Willen ausgeht?

Föderalismus heißt oft: Bund beschließt, Land setzt um

Wohin das führen kann, ist ansatzweise im Freistaat Bayern zu besichtigen. Dort gibt es bekanntlich einen Ministerpräsidenten, der bei jeder Gelegenheit behauptet, die Bundesregierung würde sein Land benachteiligen. „Es dauert nicht lange“, schreibt zum Beispiel die Allgäuer Zeitung über Söder-Auftritte, „und schon ist die Rede vom Vorwurf, der Bund mache bewusst dem Freistaat das Leben schwer.“ Söder sage dann gerne: „Es soll bewusst der Norden bevorzugt und der Süden benachteiligt werden“, oder nennt es gar eine spürbare „Anti-Bayern-Stimmung“, die sich schon darin zeige, dass es keine Bundesminister aus Bayern gebe.

Nun sieht das Grundgesetz vor, dass in vielen Bereichen der föderalen Struktur in Deutschland der Bundestag unter jeweils gestaffelt strenger Mitwirkung der Länderkammer Gesetze erlässt, und diese in der Regel durch die Landesbehörden umzusetzen sind. Ein Beispiel: Man muss kein Freund der neuen Cannabis-Gesetzgebung sein (wie z.B. der Autor dieser Zeilen), man kann auch aus guten Gründen der Überzeugung sein, dass sie nicht den Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht und vielleicht sogar gegen den gesunden Menschenverstand verstößt – das Gesetz ist trotzdem gültig. Bei der nun folgenden Umsetzung durch Landesbehörden gibt es freilich einen Spielraum. „Wer mit Cannabis glücklich werden will, ist anderswo besser aufgehoben als in Bayern“, sagte Söder schon im Februar. Laut BR24 werde Bayern das Gesetz „extremst restriktiv“ anwenden. Später ergänzte der Ministerpräsident Söder: Der Freistaat soll „kein Kiffer-Paradies“ werden, was die Frage aufwirft, ob diese Gefahr je bestanden hätte. Alles das mag an der Grenze zwischen einer legitimen politischen Positionierung einer Landesregierung und ihrer Verpflichtung zur regelkonformen Umsetzung eines Bundesgesetzes liegen. Gegen den restriktiven bayerischen Kurs in dieser Sache regt sich inzwischen Widerstand, eine Klage dagegen wurde gerade angekündigt.

„Der Volksbürger“ regiert nach dem Prinzip „Freistaat first“

Was aber, wenn ein Land sich ganz und gar weigern würde, ein Bundesgesetz umzusetzen? Auf ARTE ist dies noch bis 2.10.2027 anschaulich, unterhaltsam und sehr lehrreich zu besichtigen. Gezeigt wird die Aufzeichnung eines Theaterereignisses, das Ende September im bekannten großen Saal der Bundespressekonferenz stattfand. Als „Politische Farce“ bezeichnet sich das zweistündige Stück, und der Titel lautet: „Der Volksbürger“. Gespielt vom famosen Fabian Hinrichs wird dort der jung-dynamische Ministerpräsident eines nicht näher bezeichneten „Freistaats“ gezeigt, der nach dem Prinzip „Freistaat first“ seine Landtagswahl mit absoluter Mehrheit gewinnt und sich dann tatsächlich daran macht, die bundesgesetzlich vorgegebenen Regelungen zum Ausländerrecht durch Nicht-Umsetzung ins Leere laufen zu lassen. Die betroffenen Menschen werden entweder obdachlos oder suchen sich ein anderes Bundesland zur Geltendmachung ihrer Rechte, wären also gewissermaßen „anderswo besser aufgehoben“ – um noch einmal Söder in anderem Zusammenhang zu zitieren.

Dabei ist dieser vom Schauspieler Hinrichs interpretierte, smarte Politik-Charakter kein unsympathischer Radikalinski, sondern ein charismatischer, sich seiner Außenwirkung allzu bewusster Populist, der das hässlich Konkrete im Vagen lässt, sein Volk glauben lässt, er hätte die Macht, vieles zu verwirklichen, was (früher) der Stammtisch und (heute) das Netz als „gesunden Menschenverstand“ palavert. Er müsse im Interesse seines Volkes dem „moralischen Gesetz“ folgen, nicht dem „Gesetz zwischen Aktendeckeln“.

Eitle Medien, Lokalpolitiker ohne Rückrad

Zu erleben ist auch allerhand nebenbei. Wie etwa die Medien zwar zunächst Freude daran haben, Aufmerksamkeit auf die rechtswidrige Praxis im „Freistaat“ zu lenken, mit der langfristigen Strategie des regierenden „Volksbürgers“ aber überfordert sind in ihrer Sucht nach der schnellen Schlagzeile. Oder: Wie der Politikbetrieb im Land sich blitzschnell nach den jeweils neuen, realen Machtverhältnissen ausrichtet wie die Nägel auf einen Magneten.

Allerdings: Der Rechtsstaat wehrt sich. Wie müsste die Bundesregierung in einem solchen Fall vorgehen (denn noch nie hat es diese Notwendigkeit wirklich gegeben)? Die Eskalation endet in einer Auseinandersetzung auf Messers Schneide, und wie sie ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Das zu Recht so viel gelobte deutsche Grundgesetz hat 146 Artikel, und es ist ein gutes Zeichen für den Zustand unserer Demokratie, dass der gesunde Menschenverstand der großen Mehrheit der Volksbürger in Deutschland die meisten davon nicht zu kennen braucht. Das gilt auch für die Artikel 37 und 84 GG.

Aber dass es sie gibt, das ist auch ein gutes Zeichen.

 

Den Film finden Sie auf  ARTE hier, aber auch in den Mediatheken von ZDF und 3sat.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

Tag 5: Der Rennsteig und das Space

Tag 5 (20.9.2024)

Von Nordhalben nach Reichenbach

Nicht nur die kleinen Orte im Osten verfallen, auch das bayerische Nordhalben stemmt sich gegen den Niedergang: Hilferuf im Ortszentrum.

„Ein deutscher Bergpfad ist’s! Die Städte flieht er und birgt im Dickicht seinen scheuen Lauf.“

So beschreibt der Dichter Joseph Victor von Scheffel den Rennsteig. Der berühmte Fernwanderweg über die Thüringer Gipfel ist uralt, und erst seit der deutschen Wiedervereinigung wieder komplett begehbar. Meine Wanderstrecke dieses Tages führt mich auf den Rennsteig, denn mehrfach kreuzt er auch den Kolonnenweg, auf dem ich in der Regel unterwegs bin.
Die Begegnung mit dem Rennsteig ist in zweifacher Hinsicht prägend:
Erstens sind plötzlich andere Menschen da. Während mir auf dem Kolonnenweg so gut wie nie Menschen begegnen, sind es auf den wenigen Kilometern, die ich heute auf dem Rennsteig unterwegs bin, gleich mehrere Wanderer und Mountain-Biker. Der Rennsteig ist hervorragend ausgeschildert und komfortabel; es gibt Rastplätze und Schutzhütten.
Zweitens irritiert mich, dass bei den Kreuzungspunkten des Rennsteigs mit dem Kolonnenweg der DDR-Grenzer nur selten ein Hinweis darauf zu finden ist, was das für merkwürdige Lochplatten sind, die da kilometerweit in der Landschaft liegen. Wanderer sind unpolitisch? Vielleicht, aber man muss sie nicht unwissend lassen.

Mein Weg begann vor fünf Tagen in der Nähe der sächsischen Kleinstadt Adorf. Auf der Suche nach Wanderproviant schlenderte ich damals dort durch das Städtchen und war entsetzt: Ein wunderbar renovierter Marktplatz, einladende Bänke, ein plätschernder Brunnen – aber sonst alles völlig verödet. Leere Schaufenster, verfallende Häuser, blickten mich an, und nur mit Mühe habe ich eine Bäckerei gefunden, die wenige Stunden geöffnet hat. Der Osten verfällt, habe ich mir da gedacht.

Nun Quartier in Nordhalben, gut siebzig Kilometer westwärts entlang der früheren Grenze, diesmal auf bayerischer Seite. Dasselbe Bild: Verfallende Häuser, leere Schaufenster, dröhnende Leblosigkeit trotz renoviertem Ortskern. Der Westen verfällt auch, denke ich mir.

Der Ort ist so sehr aus der Zeit gefallen, dass der Kino-Erfolgsfilm „Ballon“ im Oktober 2017 zu einem guten Teil hier gedreht wurde. Nicht nur, weil die atemberaubende Handlung sich tatsächlich in der Nähe abspielte – sondern auch, weil man zwischen diesen Häusern die graue Stimmung der späten DDR am besten nachbilden konnte. Überall im Ort wird an die Zeit erinnert, da Nordhalben Drehort für „Bully“ Herbig und seine Schauspieler war.

Straßenszene aus Nordhalben: In den Schaufenstern steht nichts, und ein Graffiti erinnert an die Aufnahmen für die Film „Ballon“, die hier gemacht wurden – auch, weil der Ort so sehr an die graue Realität der späten DDR erinnert.

Danach aber sank Nordhalben zurück in die ländliche Perspektivlosigkeit. Ein großes Transparenz beim Rathaus ruft um Hilfe: „Wir suchen: Ärzte, Handwerker … Wir bieten: Arbeitsplätze, bezahlbare Häuser“. Der einzige Supermarkt kündigt an, früher zu schließen. eine Jugendgruppe lädt zum Theaterabend: „Kerwa im Weltall“ heißt das Stück, das gezeigt wird, wobei man wissen muss, dass „Kerwa“ fränkisch ist für „Kirchweih“ – also Volksfest.

Das Stück ist Programm. Denn mittendrin in Nordhalben findet sich ein „Space“, gelandet wie ein Ufo auf einem vergreisenden Himmelskörper. Via Buchungsportal war ich zum Übernachten dort gelandet. Gut geschlafen habe ich, vor allem aber habe ich Unglaubliches gelernt: Als Maßnahme der bayerischen Wirtschaftsförderung wurde hier, inmitten des berechtigt befürchteten Niedergangs, eine alte Schule zu einem hochmodern renovierten Experiment umgestaltet: Konferenzräume, Co-Working-Räume, leistungsstarkes W-Lan, Gästeapartments.  Der verwaltende Hausherr, als ITler im Hauptberuf ortsungebunden, ist selbst mit Prämien und billigem Leben aus der Großstadt hierher gelockt worden. Nun kümmert er sich um seinen „Space“, sprüht vor Ideen, wie er mit dem ungewöhnlichen Bau dem sterbenden Nordhalben neues Leben einhauchen könnte. Vielleicht Yoga-Kurse? Rückzugsort zum Lernen und Schreiben für Studierende und Schriftsteller? Co-Working als Fluchtpunkt für erschöpfte Home-Office-Väter und -Mütter? Oder eine Akademie gründen, um das überbordende, stylische Raumprogramm zu füllen? Auch ein Verein gründet sich: Im Space wehrt sich Nordhalben gegen den Absturz.

Allein: Außer mir ist bisher wohl kaum noch einer da, der hier co-worken will. Und auch ich wandere  weiter.

 

Distanz: 17,2 Kilometer, 24.500 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 10, dazu 4 Mountainbiker (alle auf dem Rennsteig) 

Jäger-Hochsitze am Weg: 14

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Das Nordwald Space finden sie im Netz hier. 

Für mich ist der teilweise auch in Nordhalben gedrehte Film „Ballon“ ein herausragendes Beispiel dafür, wie man Geschichte erzählen kann, mit unfassbarer Spannung und Action, ohne dass ein einziger Schuss fällt oder sonst irgendeine körperliche Gewalt gezeigt werden muss. Der Film ist über verschiedene Streaming-Dienst zu erhalten. Hier der Trailer (Link führt zu Youtube):

 

 

Tag 4: Die Flucht am Schwarzen Teich

Tag 4 (19.9.2024)

Von Blechschmidtenhammer nach Hermesgrün

Verfall der Infrastruktur in Deutschland: Die erste benutzbare Sitzbank am Kolonnenweg der DDR-Grenzer taucht nach zehn Kilometern auf. Dort dann immerhin mit einer Gedenktafel über die Flucht am Schwarzen Teich.

„So viel der Helden, tapfer, deutsch und weise, – ein stolzer Eichwald, herrlich, frisch und grün!“, singt in der Wagner-Oper „Tannhäuser“ der Barde Wolfram von Eschenbach. Das fand der Sage nach unweit vom Frankenwald statt, auf der waldumstandenen Wartburg bei Eisenach in Thüringen. Der deutsche Wald meines Weges wird solchen Erwartungen nicht gerecht. Er ist kein stolzer Eichwald, sondern ein  grau zerfasertes Einerlei aus kränklichen Fichtenstämmen, frisch und grün ist er auch nicht. Der deutsche Wald, jedenfalls hier, krankt.

Ich bin in der Mitte Deutschlands, auch geografisch, und auf dem teilweise fast zugewachsenen Kolonnenweg herrscht absolute Einsamkeit. Die Geräusche der Natur begleiten mich auf dem Weg, auf dem mir den ganzen Tag über kein einziges menschliches Wesen begegnet. Eine nicht bewachte, aber umzäunte Schafherde grast auf einer Wiese, sonst nur Wald, Gebüsch, Schmetterlinge, Käfer, Spinnen, die ganze Vielfalt der Schöpfung.

Hinsetzen, anlehnen, ausruhen – das wäre gut. Ein für Wanderer gedachter Rastplatz nach etwa fünf Kilometern erweist sich als archäologisches Artefakt, verfallen und unbrauchbar. Nach zehn Kilometern endlich die erste nutzbare Rastbank am Schwarzen Teich.  Ich setze mich und lese eine Gedenktafel über die Geschichte der Flucht an dieser Stelle: Ein Vater mit zwei Kindern versuchte hier vor sechzig Jahren, im Sommer 1964,über die bereits befestigte Grenze von Ost nach West zu gelangen. Die Kinder erreichten unversehrt die bayerische Seite, der Vater aber trat auf eine Bodenmine und blieb schwer verletzt im Grenzstreifen liegen.

Zufällig griff ein fränkisches Pärchen im Auto die zwei an der Straße herumirrenden Kinder auf und übergaben sie der Polizei. Diese kehrte zurück an den Platz des grausigen Geschehens und brachte auch gleich den örtlichen Landarzt mit. Der Vater der Kinder lag noch immer schreiend vor ihnen, in Rufweite, aber auf DDR-Gebiet. Die DDR-Grenzer warnten vor Betreten ihres Staatsgebietes, aber die beiden Polizisten fassten sich ein Herz: Einer schoss als Feuerschutz in die Luft, und der andere zog den Schwerverletzten auf westdeutsches Gebiet. Der so Gerettete verlor durch die Detonation der Mine ein Bein, aber hatte die Freiheit gewonnen. Nach seiner Genesung und Rehabilitation kam er zur Polizeistation zurück und hat sich dort bedankt.

Das waren noch Zeiten, denke ich mir bei dieser Geschichte, als bayerische Polizei einen Flüchtenden nach Bayern hinein rettete! Die Zeiten sind anders, und ganz sicher ist es trotz allem, was man aktuell kritisieren kann und muss, nun doch besser als damals, da dies hier eine todbringende Grenze war.

Ein Plätschern , ein paar Steine – sie sieht die Landesgrenze zwischen Thüringen (vorne) und Bayern (hinten) am Schwarzen Teich heute aus. Vor 60 Jahren halfen hier bayerische Polizisten einem Flüchtenden über die Grenze, nachdem ihm eine Tretmine das Bein zerfetzt hatte.

Ich breche wieder auf, denke über meine Freiheit nach und über meine beiden gesunden Beine, während ich auf Flusskieseln hinüberhüpfe über den kleinen Bach, der einst die Grenze war. Menschenleere Stille – auf beiden Seiten.

Distanz: 13,9 Kilometer, 22.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 0

Jäger-Hochsitze am Weg: 19

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr Informationen über die Flucht am Schwarzen Teich als PDF auf der Website Grenzer-Stammtisch.de 

 

Tag 3: Der Gesang der Zivilisation

Tag 3 (18.9.2024)

Von Mödlareuth nach Blankenstein

Deutsche Einheit von unten: Rechts die Bogenbrücke der alten Hitler-Autobahn, links die ergänzte Brücke aus den 90er Jahren. Gemeinsam überspannen sie das Saaletal zwischen Thüringen und Bayern.

Ein Gärtner bläst das erste Herbstlaub vom Museumsgelände in Mödlareuth; das Museum ist noch geschlossen, aber das habe ich ja auch schon besucht. Es ist ein Aufbruch im spätsommerlichen Morgennebel, aber die feuchten Schwaden verziehen sich schnell. Strahlende Sonne über dem Grenzstreifen. Es herrscht vormittägliche Stille in der Natur, links ein Rascheln, rechts ein Pfeifen, oben das Keckern der Elstern. Eichhörnchen huschen über den Kolonnenstreifen. Die Blätter in den Bäumen rauschen im Wind.

Viele Gebäude im einst so stolzen Hirschberg, einem Zentrum der Lederproduktion, verfallen. Die Lederfabrik selbst wurde nach der „Wende“ abgerissen.

Der Weg führt durch Hirschberg und Rudolphstein. Beide Ortsnamen habe ich schon hunderte Male gelesen: Autobahnprominenz. Es gibt auch Orte dazu: Hirschberg in Thüringen war zweihundert Jahre ein Schwerpunkt der Lederfabrikation. Der DDR war das Leder von dort so wichtig, dass sie sogar akzeptierte, dass das Fabrikgelände bis unmittelbar an die tödlich bewachte Staatsgrenze reichen durfte. Nur drei Jahre benötigte dann das wiedervereinigte Deutschland (in Form der Treuhand), das riesige Fabrikgelände an einen österreichischen Investor zu veräußern, der ein halbes Jahr später Konkurs anmeldete. Das ganze Gelände, ein Labyrinth von Hallen, Gruben, Lagern wurde abgeräumt, heute erinnert eine Parklandschaft unmittelbar am alten Grenzstreifen an die Geschichte der Lederproduktion in Hirschberg.

Der Großstädter in mir vermisst den Müll. Am Weg liegt nichts, was nicht von der Natur selbst stammt. Keine Dosen, keine Kippen, keine Pizzakartons. Die Zivilisation nähert sich nur akustisch. Je näher ich der sechsspurigen A9 entgegenkomme, desto lauter liegt ihr ewiger Gesang in meinen Ohren. Zuerst ganz weit weg, eher zu ahnen, dann immer lauter singen die LKW-Bässe ihre Arie, schmachten die Tenöre der PKWs, dringt der Mezzosopran der Motorräder zu mir durch. Wüsste ich nicht, dass es sich um Vorbeirasende handelt, könnte man es für moderne E-Musik halten.

Mit diesem Gesang im Ohr gehe ich unter der „Brücke der Deutschen Einheit“ hindurch, die das Saaletal überspannt und damit Thüringen und Bayern verbindet. Ursprünglich war das ein Teil einer Hitler-Autobahn; die Bogenkonstruktion der Brücke galt schon in den 30er Jahren als spektakulär und beispielgebend. Nach der Einheit wurde sie kühn ergänzt um eine zweite Spannbetonbrücke. Nichts davon nehmen wir wahr, wenn wir oben auf der Fahrbahn zwischen Rudolphstein und Hirschberg entlangrasen. In ihrer ganzen Unterschiedlichkeit nebeneinander und einig verkraften diese Brücken die tägliche Last von Tausenden LKW und PKW und Motorrädern, dienen stumm dem nun so selbstverständlichen Hin und Her unseres deutschen Zusammenlebens. Ich schreite weiter, an der Saale entlang, und das rätselhafte Lied der Mobilität wird hinter mir immer leiser, bis es ganz verstummt.

Nur sehr gelegentlich begegne ich Menschen: Plötzlich, mitten im Wald, kommt mir eine junge Frau mit Baby im Tragetuch entgegen. Sie telefoniert und unterbricht ihr Gespräch, da sie genauso überrascht ist wie ich über diese Begegnung im Nirgendwo. Wo kam sie her? Später treffe ich zwei Damen meines Alters, plaudernd auf dem Spazierweg entlang der Saale. Sie bemitleiden mich darüber, dass ich in der Großstadt wohnen muss. Ein Rentner im akribisch gepflegten Trabi freut sich, mir seine Geschichte als geschasster DDR-Zöllner erzählen zu können.

 

Distanz: 22,2 km, 30.700 Schritte

Begegnung mit Wanderern: 4

Jäger-Hochsitze am Weg: 15

Alle Texte aus meinem deutschen Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr über die Geschichte der Brücke der Deutschen Einheit bei Wikipedia, über die Geschichte der Lederfabrik von Hirschberg hier.

 

 

 

 

Das Hakenkreuz auf der Wartburg

Ein Plädoyer für tätige Hoffnung nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen

Der erste Versuch

Zweimal haben sie es versucht, und beide Male haben sie gelogen. Fake News gehörten schon damals zum Alltagswerkzeug der Faschisten. Sie streuten das Gerücht, der Unterbau des Kreuzes auf der Burgturm müsse überprüft werden, das Kreuz drohe herabzustürzen, da Fäulnis die Tragfähigkeit des hölzernen Fundaments angegriffen habe. Die Burgverwaltung protestierte, aber es nutzte ihr wenig: In einer Nacht- und Nebel-Aktion  wurde das Kreuz abmontiert und durch ein Hakenkreuz ersetzt.

Auf dem höchsten Punkt der Wartburg prangt ein goldenes Kreuz – als Symbol für Freiheitssinn und geistige Größe. Es gab Zeiten, in denen es ersetzt wurde. (Foto: Jürgen lizenzfrei auf Pixabay)

 

Dieser Vorgang ereignete sich tatsächlich, und zwar am 10. und 11. April 1938 auf dem Bergfried der Wartburg nahe der thüringischen Stadt Eisenach. Die Wartburg war schon damals weltberühmt, vor allem, weil sie Martin Luther zehn Monate lang als Versteck diente, er also Asyl genoss in Thüringen, und damit vermutlich seinem Tod entging. Nebenbei übersetzte er in dieser Zeit die Bibel auf Deutsch.

Jede gute Lüge hat einen realen Hintergrund

Das Kreuz wurde dem Turm im Jahr 1859 aufgesetzt – als weithin sichtbares Zeichen für die zuvor abgeschlossene Rekonstruktion der Burgruine zur Prachtburg. Heute ist sie  das weltbekannte Wahrzeichen für zwei zentrale deutsche Ideen: Die der Reformation und die eines geeinten Deutschlands, wie es von den Studenten auf der Wartburg im Jahr schon 1817 gefordert worden war.

Drei Tage lang strahlte das Nazi-Symbol auf der Wartburg, dann wurde es auf Weisung aus Berlin wieder abgebaut. (Foto: Leffler, gefunden auf DDR-postkartenmuseum.de)

Jede gute Lüge hat einen realen Hintergrund, was sie vielleicht glaubwürdiger, aber nicht wahr macht. Die thüringischen Nationalsozialisten machten sich bei ihrer Hakenkreuz-Aktion zu Nutze, dass tatsächlich zwanzig Jahre zuvor das Kreuz vorübergehend eingelagert worden war, um sein vermoderndes Holzpodest zu erneuern. 1938 aber ging es in Wahrheit nicht um das Podest, sondern um das Kreuz. Der Austausch gelang, und drei Tage lang belästigte das beleuchtete Nazi-Symbol Tag und Nacht die Umgebung. Die Vollendung dieser Verschandelung feierte ein Marsch von Hitlerjugendlichen durch Eisenach, aber in der Bevölkerung formierte sich Widerstand gegen das Hakenkreuz, vor allem auch die evangelische Kirche protestierte.

Dann kam die Anordnung aus Berlin, dass das Hakenkreuz zu entfernen sei. Hitlers Regierung wollte nach dem gerade vollzogenen „Anschluss“ Österreichs keinen außenpolitischen Ärger wegen des Thüringer Kreuzes. Die Verbreitung von Fotos und Presseartikeln über das falsche Kreuz wurde verboten. Noch am nächsten Tag verschwand es vom Turm, und am 14. Mai 1938 war der alte Zustand wieder hergestellt. So endete der erste Versuch.

Was die Geschichte des Kreuzes lehrt

In unseren Tagen leuchtet das vergoldete, christliche Kreuz auf der Wartburg, fünf Meter hoch, tief hinein in den Thüringer Wald, und für alle, die seine Botschaft verstehen möchten, auch weit darüber hinaus als imposantes Zeichen von Freiheitssinn und geistiger Größe. Nicht ohne Wirkung, denn zwei Drittel der Wählenden in Thüringen und Sachsen haben am vergangenen Sonntag den Fake News unserer Zeit widerstanden – und nicht blau-braun gewählt. Der Kleingeist des anderen Drittels, auf billige Lügen zu hören und einfache Unwahrheiten zu glauben,  ist bestürzend genug. Aber die Geschichte des wiedererstandenen Kreuzes auf der Wartburg lehrt: Was auch immer Menschen durch Lügen an Verbrechen und Verheerungen anrichten, wie lang und schwer auch immer die Zeit ihrer dummen Kraftmeierei ist –  danach gewinnt die Wahrheit.

Denn erstens sind diejenigen, die bereit sind, die Komplexität unserer Welt zu verstehen und unsere Werte im Umgang damit zu verteidigen noch immer in der großen Mehrheit – und zum anderen wird das Geschrei der politischen Billighändler zwar schmerzhaften Schaden anrichten – aber kein einziges Problem lösen. Mehr Lehrende für bessere Bildung, mehr Pflegende für ein würdiges Alter, mehr Polizei für ein besseres Sicherheitsgefühl – sie alle fallen nicht vom Himmel. Der Mangel an Fachkräften wird nicht geringer, sondern größer, wenn deutsche wie nicht-deutsche Menschen die verödenden Gebiete meiden, in denen sich dumpfe Ressentiments sammeln. Folgen dieser fehlenden Attraktivität sind das traurige Sterben der Infrastruktur, die geschlossenen Läden in den überalterten Kleinstädten und Dörfern, der fehlende Bus, der Mangel an Hausärztinnen, die Schließung von kleinen Krankenhäusern. Alles das können Herr Höcke und Frau Wagenknecht zwar beklagen, aber sie lügen, wenn sie behaupten, dass sie es mit ihren Vorschlägen aufhalten könnten.

Kein Plädoyer für Passivität, sondern für tätige Hoffnung

Die Klimakatastrophe wird sich nicht abschwächen, weil sie geleugnet wird. Die Hitzewellen werden heißer werden und die Überschwemmungen höher. Den Atommüll wollen auch die Thüringer nicht in ihrem Wald vergraben, und in Sachsen kein neues Atomkraftwerk bauen.

Wenn es schließlich weit genug ist, dann wird die Wahrheit gewinnen. Dies ist kein Plädoyer für Passivität, sondern eines für tätige Hoffnung. Sie beginnt mit der Wahrnehmung der Wahrheit, die uns umgibt. Sie bedeutet aktives Eintreten gegen die Lüge, gegen die Gewalt, die bedenkenlose Verachtung in Sprache und Tat.  Sie gründet sich auf die Werte für das menschliche Zusammenlebens, für die auch das Kreuz der Wartburg steht. In seinem Schatten muss sich niemand schämen, dafür einzutreten, Menschen in Not zu helfen, egal, woher sie kommen.

Der zweite Versuch

Es ist diese wuchtige Botschaft, wegen der die Nazis das Kreuz auf der Wartburg unbedingt zerstören wollten. Den zweiten Versuch unternahmen sie ein halbes Jahr vor Kriegsende im November 1944. Wieder musste eine Propagandalüge herhalten: englische Jagdbomber hätten das Kreuz beim Tiefflug zerstört. In Wahrheit war es mit Schneidbrennern zerteilt und demoliert worden. Zum geplanten, erneuten Ersatz durch ein Hakenkreuz kam es nicht mehr. Amerikanische Truppen besetzten Thüringen, und ein Eisenacher Kunstschlosser schweißte die Trümmer zu einem neuen Kreuz zusammen, das (etwas verspätet zum 400. Todestag von Martin Luther am 18. Februar) im November 1946 wieder auf dem Turm der Wartburg stand.

Da war Thüringen bereits von russischen Soldaten besetzt, aber weder sie, noch die atheistisch orientierte DDR tastete das Kreuz jemals wieder an. Mehrfach erhielt es seither eine neue Goldschicht, und so strahlt es bis heute, und erzählt von der Hoffnung auf die Macht der Wahrheit.

 

 

Die Geschichte vom Hakenkreuz auf der Wartburg habe ich auf Wikipedia und bei domradio.de gefunden.

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