Über das Minimal-Music-Oratorium „Itaipu“ von Philipp Glass

Irgendwo aus dem Nichts kommt der Ton, der hier das Wasser ist, ein Rinnsal nur. Am Anfang aller Wucht stehen die unendlichen Tiefen von Raum und Zeit. Dann sind aufwachsend tastende Stimmen zu hören. Ein gemischter Chor raunt in fremder Sprache, bedeutungsschwanger und düster klingende Botschaften, und der Zuhörer ahnt ihre Tragweite, von der doch nichts zu verstehen ist. Es zwitschert in den Holzbläsern und brummt in den Bässen, und schon bald wuchten sich Metall und Schlagwerk zu wachsender Dominanz auf, die Wasser werden mehr und schwellen an, werden zum Strom – und spätestens dann hat den Zuhörer diese Musik irgendwo zwischen Herz und Hirn und Ohr gepackt, hat ihn gefangen genommen – oder es wird ihr nicht mehr gelingen in den gut 30 Minuten, die noch folgen.
Meditative Eintönigkeit erzeugt Spannung
Die Rede ist von Minimal Music, einem Genre der Klassik, das mit meditativer Eintönigkeit akustische Spannungen erzeugt, denen sich der Willige kaum entziehen kann oder möchte. Er lässt sich gefangen nehmen von diesem Wunder der stetig wiederholten und doch variierten Töne, die vorbeiziehen wie ein Band von Klängen, genau so lange, bis es langweilig zu werden droht. Und genau dann kommt eine Disruption daher, öffnet sich das Klangbild in einer neuen Überraschung.

Einer der ganz großen Gestalter dieser Musikrichtung ist der heute 87jährige US-Komponist Philipp Glass. Ein großes Werk hat er geschaffen, so minimalistisch im Ton, so mächtig in seiner Wirkung auf die Musikgeschichte. In seinem Stil ist Glass-Musik sofort erkennbar. Klavier- und Violinkonzerte sind Teile seines Schaffens, Filmmusik, Opern, und auch Sinfonien für großes Orchester. Ein solches wird benötigt für das – vermutlich wegen des erheblichen Aufwandes selten aufgeführte – Oratorium „Itaipu“ über einen – Achtung! – Staudamm. Jawohl, über einen Fluss und den Staudamm, der sich ihm in den Weg stellt.
Wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Vivaldi oder Beethoven?
Ob Musik Geschichten erzählen kann, Landschaften beschreiben, dabei vielleicht sogar politisch ist, darf umstritten bleiben. Es gibt Freunde der Musik, die genau das ablehnen. Davon unbeeindruckt beschreiben berühmte Werke der klassischen Musik Landschaften – jedem und jeder fällt Smetanas „Moldau“ ein. Und wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Antonio Vivaldi oder Ludwig van Beethoven? Mit Tönen kann man auch dem zweitlängsten Fluss Südamerikas, dem Rio Parana, folgen. Glass zeichnet symbolisch seinen Weg nach, beginnt an der eingangs bereits beschriebenen Quelle aus den Tiefen von Raum und Zeit, lässt das Gewässer musikalisch anwachsen, bis es sich zu einem gewaltigen See erweitert, dessen Fläche zweieinhalbmal so groß werden kann wie der Bodensee.
Nur dass die Wassermassen im süddeutschen Voralpenland auf natürlichem Wege die unter dem glatten Spiegel liegenden Abgründe füllen – der Parana dagegen künstlich in seinem Streben Richtung Meer aufgehalten wird – mit Hilfe einer fast acht Kilometer langen Staumauer, die den Namen „Itaipu“ trägt, „Stein“ in der Sprache der Guarini, jenes Volkes, das hier siedelte. Zwischen 1973 und 1984 wurde der Damm errichtet und stemmt sich seither gegen die Wucht der Physik, ringt der Natur ihre Kraft ab. Glass hat dafür in geradezu enervierender Weise Töne gefunden – repetierend, beruhigend, erregend, abschwellend, sich dramatisch steigernd. Und schließlich werden auch in der Musik die Kräfte des Wassers hineingezwungen in den einzigen Ausweg, der ihnen bleibt. In das Mahlwerk der zwanzig riesenhaften Turbinen, die triumphierend das Ungestüme der Natur verwandelnd in Energie und pure Kraft. Dreiviertel des Strombedarfs des ganzen Staates Paraguay werden hier erneuerbar erzeugt, und immerhin 17 Prozent des Stromhungers Brasiliens gestillt.
Das Oratorium setzt ein Denkmal für die vertriebenen Guarini
Etwa 40.000 Ureinwohner mussten ihre Heimat verlassen, damit der gewaltige See entstehen konnte. Ihnen setzt Glass ein Denkmal mit seinem Oratorium „Itaipu“, denn es wird vom Chor in der Sprache der Guarini gesungen und es erzählt von ihrer Religion. Der Zuhörer bleibt ob des Textes und seiner Bedeutung ratlos zurück, selbst dann, wenn er eine ins Deutsche übersetzte Fassung vor sich liegen hat. Nichts in dieser Geschichte klingt an für unsere Welt, auch wenn es um eine Sintflut geht. Unverständlich fremd bleiben die Bilder und Gleichnisse, die hier ausgebreitet werden – und bald bleibt auch gar keine Aufmerksamkeit mehr übrig, um sich diesen Worten zu widmen. Die Töne, gerade auch die unverständlichen gesungenen, überströmen in anschwellender Kraft das Musikerlebnis, als könnte man die hier beschriebene Sintflut höchstpersönlich erleben.
Philipp Glass hat den Staudamm fünf Jahre nach seiner Fertigstellung selbst besucht und war fasziniert von der gewaltigen Kraft, mit der sich hier Beton und Stahl gegen die Natur stemmt, auch von der technischen Perfektion, mit deren Hilfe der ungestümen Natur Energie für den Menschen abgerungen wird. Ist dieses Werk politisch? Es würdigt die Sprache der verdrängten Menschen, es achtet ihren Glauben an die Überwindung einer Sintflut und setzt ihn in eine kluge Beziehung zur Einmischung des Modernen in ihre Heimat. Es ist eine musikalische Beschreibung, keine Kritik, eine Hymne für das überschwemmt Untergegangene, und ein Jubelgesang für die Kraft des Fortschritts.
Schließlich verrinnen die Töne wie das Wasser in der Weite
Dann, im vierten Satz, sind die Turbinen überwunden, und die geschundenen Wasser verlieren sich nach der Tortur der Energieerzeugung in der Weite des Meeres. Tropfen um Tropfen, Welle um Welle geht es hinaus, und auch der Chor hat nur noch ein breites, zigfach wiederholtes „Ahhh“ zu hauchen. So verrinnen die Töne wie das Wasser, das gerade noch durch die menschlichen Höllenmaschinen gezwungen worden war, mit seiner ganzen Kraft in der Größe der Schöpfung.
Dann ist es vorbei. Zurück bleibt ein noch nie gehörtes Naturerlebnis.
Das Oratorium „Itaipu“ in einem Konzertsaal zu erleben, ist ein seltenes Vergnügen. Ich hatte die Gelegenheit am 15. Januar 2025 bei einer Interpretation der Münchner Philharmoniker. Wer nicht abwarten möchte, findet das Werk auch hier in einer Aufnahme des Atlanta Symphony Orchestra mit Chor (Klick führt zu Youtube).
Mehr über den Staudamm von Itaipu und über Philipp Glass jeweils bei Wikipedia.
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