Die Staudamm-Hymne als Naturerlebnis

Über das Minimal-Music-Oratorium „Itaipu“ von Philipp Glass

Zwanzig Riesenturbinen (der Bus dient dem Größenvergleich) werden am Staudamm „Itaipu“ mit den Wassermassen des Rio Parana angetrieben, verwandeln die Kräfte der Natur in Energie für die Menschen. Wie lässt sich dieses Werk in Musik ausdrücken? (Foto: Wutzofant via Wikipedia)

Irgendwo aus dem Nichts kommt der Ton, der hier das Wasser ist, ein Rinnsal nur. Am Anfang aller Wucht stehen die unendlichen Tiefen von Raum und Zeit. Dann sind aufwachsend tastende Stimmen zu hören. Ein gemischter Chor raunt in fremder Sprache, bedeutungsschwanger und düster klingende Botschaften, und der Zuhörer ahnt ihre Tragweite, von der doch nichts zu verstehen ist. Es zwitschert in den Holzbläsern und brummt in den Bässen, und schon bald wuchten sich Metall und Schlagwerk zu wachsender Dominanz auf, die Wasser werden mehr und schwellen an, werden zum Strom – und spätestens dann hat den Zuhörer diese Musik irgendwo zwischen Herz und Hirn und Ohr gepackt, hat ihn gefangen genommen – oder es wird ihr nicht mehr gelingen in den gut 30 Minuten, die noch folgen.

Meditative Eintönigkeit erzeugt Spannung

Die Rede ist von Minimal Music, einem Genre der Klassik, das mit meditativer Eintönigkeit akustische Spannungen erzeugt, denen sich der Willige kaum entziehen kann oder möchte. Er lässt sich gefangen nehmen von diesem Wunder der stetig wiederholten und doch variierten Töne, die vorbeiziehen wie ein Band von Klängen, genau so lange, bis es langweilig zu werden droht. Und genau dann kommt eine Disruption daher, öffnet sich das Klangbild in einer neuen Überraschung.

Philipp Glass (hier in einer animierten Darstellung von Alvarezroure, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons).

Einer der ganz großen Gestalter dieser Musikrichtung ist der heute 87jährige US-Komponist Philipp Glass. Ein großes Werk hat er geschaffen, so minimalistisch im Ton, so mächtig in seiner Wirkung auf die Musikgeschichte. In seinem Stil ist Glass-Musik sofort erkennbar. Klavier- und Violinkonzerte sind Teile seines Schaffens, Filmmusik, Opern, und auch Sinfonien für großes Orchester. Ein solches wird benötigt für das – vermutlich wegen des erheblichen Aufwandes selten aufgeführte – Oratorium „Itaipu“ über einen – Achtung! – Staudamm. Jawohl, über einen Fluss und den Staudamm, der sich ihm in den Weg stellt.

Wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Vivaldi oder Beethoven?

Ob Musik Geschichten erzählen kann, Landschaften beschreiben, dabei vielleicht sogar politisch ist, darf umstritten bleiben. Es gibt Freunde der Musik, die genau das ablehnen. Davon unbeeindruckt beschreiben berühmte Werke der klassischen Musik Landschaften – jedem und jeder fällt Smetanas „Moldau“ ein. Und wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Antonio Vivaldi oder Ludwig van Beethoven? Mit Tönen kann man auch dem zweitlängsten Fluss Südamerikas, dem Rio Parana, folgen. Glass zeichnet symbolisch seinen Weg nach, beginnt an der eingangs bereits beschriebenen Quelle aus den Tiefen von Raum und Zeit, lässt das Gewässer musikalisch anwachsen, bis es sich zu einem gewaltigen See erweitert, dessen Fläche zweieinhalbmal so groß werden kann wie der Bodensee.

Nur dass die Wassermassen im süddeutschen Voralpenland auf natürlichem Wege die unter dem glatten Spiegel liegenden Abgründe füllen  – der Parana dagegen künstlich in seinem Streben Richtung Meer aufgehalten wird – mit Hilfe einer fast acht Kilometer langen Staumauer, die den Namen „Itaipu“ trägt, „Stein“ in der Sprache der Guarini, jenes Volkes, das hier siedelte. Zwischen 1973 und 1984 wurde der Damm errichtet und stemmt sich seither gegen die Wucht der Physik, ringt der Natur ihre Kraft ab. Glass hat dafür in geradezu enervierender Weise Töne gefunden – repetierend, beruhigend, erregend, abschwellend, sich dramatisch steigernd. Und schließlich werden auch in der Musik die Kräfte des Wassers hineingezwungen in den einzigen Ausweg, der ihnen bleibt. In das Mahlwerk der zwanzig riesenhaften Turbinen, die triumphierend das Ungestüme der Natur verwandelnd in Energie und pure Kraft. Dreiviertel des Strombedarfs des ganzen Staates Paraguay werden hier erneuerbar erzeugt, und immerhin 17 Prozent des Stromhungers Brasiliens gestillt.

Das Oratorium setzt ein Denkmal für die vertriebenen Guarini

Etwa 40.000 Ureinwohner mussten ihre Heimat verlassen, damit der gewaltige See entstehen konnte. Ihnen setzt Glass ein Denkmal mit seinem Oratorium „Itaipu“, denn es wird vom Chor in der Sprache der Guarini gesungen und es erzählt von ihrer Religion. Der Zuhörer bleibt ob des Textes und seiner Bedeutung ratlos zurück, selbst dann, wenn er eine ins Deutsche übersetzte Fassung vor sich liegen hat. Nichts in dieser Geschichte klingt an für unsere Welt, auch wenn es um eine Sintflut geht. Unverständlich fremd bleiben die Bilder und Gleichnisse, die hier ausgebreitet werden – und bald bleibt auch gar keine Aufmerksamkeit mehr übrig, um sich diesen Worten zu widmen. Die Töne, gerade auch die unverständlichen gesungenen, überströmen in anschwellender Kraft das Musikerlebnis, als könnte man die hier beschriebene Sintflut höchstpersönlich erleben.

Philipp Glass hat den Staudamm fünf Jahre nach seiner Fertigstellung selbst besucht und war fasziniert von der gewaltigen Kraft, mit der sich hier Beton und Stahl gegen die Natur stemmt, auch von der technischen Perfektion, mit deren Hilfe der ungestümen Natur Energie für den Menschen abgerungen wird. Ist dieses Werk politisch? Es würdigt die Sprache der verdrängten Menschen, es achtet ihren Glauben an die Überwindung einer Sintflut und setzt ihn in eine kluge Beziehung zur Einmischung des Modernen in ihre Heimat. Es ist eine musikalische Beschreibung, keine Kritik, eine Hymne für das überschwemmt Untergegangene, und ein Jubelgesang für die Kraft des Fortschritts.

Schließlich verrinnen die Töne wie das Wasser in der Weite

Dann, im vierten Satz, sind die Turbinen überwunden, und die geschundenen Wasser verlieren sich nach der Tortur der Energieerzeugung in der Weite des Meeres. Tropfen um Tropfen, Welle um Welle geht es hinaus, und auch der Chor hat nur noch ein breites, zigfach wiederholtes „Ahhh“ zu hauchen. So verrinnen die Töne wie das Wasser, das gerade noch durch die menschlichen Höllenmaschinen gezwungen worden war, mit seiner ganzen Kraft in der Größe der Schöpfung.

Dann ist es vorbei. Zurück bleibt ein noch nie gehörtes Naturerlebnis.

 

 

Das Oratorium „Itaipu“ in einem Konzertsaal zu erleben, ist ein seltenes Vergnügen. Ich hatte die Gelegenheit am 15. Januar 2025 bei einer Interpretation der Münchner Philharmoniker. Wer nicht abwarten möchte, findet das Werk auch hier in einer Aufnahme des Atlanta Symphony Orchestra mit Chor (Klick führt zu Youtube). 

Mehr über den Staudamm von Itaipu und über Philipp Glass jeweils bei Wikipedia.

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Der alte Träumer trotzt dem Weltenbrand

Eindrücke nach einem Konzertabend mit Konstantin Wecker

„Dreamer“ nennen sie in Amerika jene – geschätzt etwa 1,9 Millionen – Menschen, die seit ihrer Geburt illegal in den USA leben. Sie träumen von einem gesicherten Aufenthaltsstatus, von Legalität und langfristiger Gewissheit über die eigene Zukunft.  Donald Trump wollte sie in seiner ersten Amtszeit allesamt ausweisen; gelungen ist ihm das nicht, und was nun für sie kommen wird, ist ungewiss.

Ein großer Poet, ein Musiker, ein Kämpfer: Konstantin Wecker. Aber gibt es die Welt noch, für die er kämpft? (Foto: Thomas Steinborn, bereitgestellt von wecker.de)

Auch in Deutschland leben sicher einige „Dreamer“ in diesem Sinne; aber, da es hier – anders als in den USA – eine allgemeine Meldepflicht gibt, dürften es nicht sehr viele sein. Deutsche Träumer sind üblicherweise nicht jung und auf der Suche nach einer gesicherten Existenz. Sie sind oft selbstzufriedene Inhaber einer rechtsstaatlich garantierten Gewissheit von Sicherheit und Wohlstand. Sie sind grauhaarig und faltengesichtig, sie verbergen ihre Handys in lederne Klapphüllen und wenn sie diese öffnen, dann machen sie verwackelte Fotos oder versuchen, mit zittrigen Wischbewegungen ihre südteuren Hightech-Hörgeräte zu bändigen.

Sie träumen nicht von einer Zukunft, sondern von ihrer Vergangenheit.

Die einen stemmen sich gegen Veränderungen, …

Die einen stemmen sich gegen alle Veränderungen der neuen Zeit, gegen die Vielfalt von Lebensentwürfen, gegen das vermeintlich Fremde in unserer Heimat, gegen das Ende der geliebten Verbrenner in Keller und Garage. Wenn sie mutig genug wären, würden sie sich gegen all dies auf irgendwelche Straßen kleben. Aber sie sind nicht mutig, sie sind feige und kreuzen ihren Zorn anonym auf dem Wahlzettel an. Sie vertrauen den falschen Versprechungen der Rattenfänger.

… die anderen trauen der Jugend nichts zu, …

Andere dieser Träumer eifern Aristoteles nach und sprechen der „Jugend von heute“ ab, dass diese den notwendigen Fleiß, die Ausdauer und Weitsicht besitzen würde, unsere Welt zu bewahren. Aber sie erwarten gleichzeitig, dass diese unfähige Generation mit ihren Steuern und Beiträgen verlässlich satte Renten finanziert und sich bereitwillig für eine allgemeine Dienstpflicht erwärmt.

… und die dritten wollen weiter kämpfen

Und die dritten schließlich, und um die soll es hier gehen, wollen den Kampf ihrer früheren Jahre fortsetzen. Sie wollen nicht aufgeben, da sie entsetzt erkennen, wohin ihr ungebremster Wohlstandsdrang geführt hat: überschwemmte Städte, brennende Wälder, Smogalarm, wiedererstarkter Rechtsradikalismus. Sie wollen es wieder gutmachen, das Rad der Schuld zurückdrehen. Sie wollen zeigen, dass sie gelernt haben. Nur: Was?

Zur letzten Gruppe zählt der Künstler Konstantin Wecker. 1947 in München geboren und aufgewachsen, hat ihn eine klassische West-Nachkriegsbiografie geprägt, mit Abstechern ins Gefängnis, in den Drogenentzug und in die Toskana. Wenn er zum Konzert ruft, dann sammelt ein alter Träumer seine Jünger um sich, und sie kommen in Scharen. Das Publikum ist homogen angegraut, kaum ein Gesicht unter dreißig, zwei Drittel über sechzig. Für sie liest ein alter Mann auf der Bühne seine Moderation vom Teleprompter ab, bewegt sich vorsichtig von links nach rechts und wieder zurück, mehr tastend als tanzend. Gelegentlich setzt er sich hin. Seine Lieder haben noch immer die alte Kraft, auch wenn die Stimme brüchiger ist als früher, oft gar kein Gesang, mehr ein Sprechen oder Rufen oder Flüstern.

Nach den wilden Träumen seiner Zeit sucht er noch immer

Nach den wilden Träumen seiner Zeit aber sucht er noch immer. Er hat Abstürze und Wiederkehr erlebt, große Erfolge als Komponist, als singender Poet, als Schauspieler. Er hat sich im Leben durchgesetzt mit klugen Worten und schöner Musik, und ist doch immer ein Mann der Disharmonie geblieben, ein widerborstiger Anarchist, ein sperriger Antifaschist, ein mahnender Pazifist. Und sein Publikum dankt es ihm. Für die ergraute Schar ist er so, wie sie sich selbst gerne sehen: Geläutert, demütig, nicht gebrochen. Und schließlich stimmt doch noch immer, was schon vor fünfzig Jahren gestimmt hat: Die Reichen nehmen sich zu viel vom Kuchen, die Menschlichkeit fehlt allerorten, und nur der Frieden, nicht die Waffen, versprechen eine Zukunft.

Ein Populist des Guten

Es sind solche Sätze, die den alten Träumer zu einem Populisten des Guten machen, zu einem Propagandisten für einfache Wahrheiten. Hier verspricht einer die Rückkehr in eine Welt, die noch nicht aus den Fugen war, nicht multipolar und komplex wie heute, sondern wohlgeordnet: Die Armut im Süden. Der Feind im Osten hinter einer gut gesicherten Mauer. Und der Reichtum im Westen, gegen dessen offenkundige Ungerechtigkeiten man guten Gewissens, weitgehend gefahr- und folgenlos, demonstrieren durfte. Die Linke war es damals, die den Staat grundlegend kritisierte; heute ist es die radikale Rechte.

Als dann auch noch der eiserne Vorhang fiel, da war für die Generation der deutschen Träumer ein Zeitalter ohne Kriege schon zum Greifen nah. Es war eine Welt, in der kein europäischer Nachbar mit todbringender Gewalt die Freiheit des Westens bedrohte.  Es war noch nicht Avantgarde, auf Aktienkurse statt auf Tarifverträge zu starren. Es war nicht üblich, sich anonym und ungestraft im Netz zu beleidigen. Und noch niemand war auf die Idee gekommen, mit Hass und Lüge Milliarden zu verdienen.

Nun aber herrscht „Weltenbrand“

Wecker singt die deutschen Träumer zurück in diese Zeit. Nun aber herrscht „Weltenbrand“, ganz real, und nicht nur im gleichnamigen Lied, das Wecker kurz vor Schluss in den Saal schreit und haucht und in die Tasten seines Flügels schlägt: „Tauchst in die Fluten du ein, bis alles erlischt – würdest gern Brandung sein, endest als Gischt.“

Beifall brandet auf. Der große alte Träumer steht auf der Bühne, inmitten des genialen Musikerteams, das er um sich geschart hat und das seinen Liedern moderne musikalische Wucht verleiht. Gebeugt, beansprucht von diesem Abend, vielleicht glücklich, sicherlich widerspenstig wie immer, nimmt er die Huldigungen entgegen. Ein großer Poet steht da, ein genialer Musiker, auch ein Kämpfer mit vielen Narben aus seinem Streit für eine bessere, friedlichere, menschlichere Welt.

Man spürt, dass er es weiß: „Würdest gern Brandung sein, endest als Gischt“. Weil sie einfach nicht auf ihn hören will, die Welt von heute.

 

Erlebt habe ich Konstantin Wecker bei einem Konzert seiner Tour „Der Soundtrack meines Lebens“ in Stuttgart am 3. Dezember 2024. Weitere Konzerte mit diesem Programm gibt es am 8.12. in Wien und am 10.12.2024 in Frankfurt. Konstantin Wecker startet im Frühjahr 2025 eine Tour „Lieder meines Lebens“ in 49 Städten.

Mehr Informationen über Wecker auf seiner Website. 

Das Lied „Weltenbrand“ gibt es auch als Video (Link führt zu Youtube) 

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Vaters Schuld im Überschwemmungsgebiet

Über eine moderne Deutung von Mozarts Oper „Idomeneo“ in Stuttgart

Wer erzieht, erwirbt sich – wenn es gut geht – bleibende Verdienste. Aber unweigerlich geht damit einher, sich schuldig zu machen; meist, ohne es zu bemerken. Ein zu oft überladener Familienalltag, das ununterbrochene, enge Zusammenleben, die Arbeit, der ständige Blick aufs Handy, die Sehnsucht, vom quengelnden Kind endlich einmal in Ruhe gelassen zu werden – alles das verführt zu unüberlegter Gereiztheit. Dazu begegnen die Kinder ihren Eltern meist in bedingungsloser, geradezu unzerstörbar erscheinender Liebe, die vieles wegsteckt. Schließlich verleiten die eigenen Laster und Süchte, die persönlichen Leidenschaften und Prioritäten dazu, jetzt und hier schnell etwas zu tun oder zu unterlassen. Und schon hat man sich schuldig gemacht.

Die Schuld des Vaters droht das Leben des Sohnes zu zerstören – in der Stuttgarter Inszenierung von „Idomeneo“ (Musik: Wolfgang Amadeus Mozart) überträgt Regisseur Bastian Kraft die individuelle Psychologie der antiken Sage auf die kollektive Schuld, die sich die heutige Väter-Generation aufgeladen hat – und ihren Kindern hinterlässt. (Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart)

Auch wenn es gut ausgeht – die Schuld verschwindet nicht

Oft gibt es eine Ahnung darüber, schon während es geschieht. Meist aber handelt der Erziehende in fester Überzeugung, das Richtige, das Notwendige, das Zulässige zu tun. Im Fernsehkrimi sind das die Fälle, in denen fehlerhaftes Verhalten den Tod eines Kindes verursacht hat, und davon ausgehend ganze Existenzen zerbersten. Im realen Leben endet solche Schuld erfreulicherweise nur selten so katastrophal. Oft braucht es Jahre des Abstandes, um zu erkennen: Ich habe mich schuldig gemacht. Auch wenn alle Beteiligten scheinbar unversehrt überleben, verschwindet die Schuld deshalb nicht, sie blitzt auf in den Gedanken des schlechten Gewissens, in bösen Erinnerungen, manchmal auch in der realen Welt, in psychischen oder körperlichen Symptomen.

Nach allem, was bekannt ist, war Wolfgang Amadeus Mozart seinem Vater durchaus respektvoll und zugewandt verbunden. Der Vater hatte ihn gefördert und auch gefordert; ohne ihn wäre er vielleicht niemals das Genie geworden, als das wir ihn heute kennen. Ob der Vater, Leopold Mozart, überhaupt darüber nachdachte – etwa hundert Jahre vor den Anfängen der modernen Psychologie – dass auch er Schuld haben könnte am rastlosen Leben seines Sohnes, das wissen wir nicht. Das frühe Sterben des Genies musste er nicht erleben.

Vaters Schuld und Sohnes Liebe – in Verzweiflung vereint

Was also mag den Sohn im Jahr 1781 bewogen haben, eine Oper zu schreiben, in der Vater und Sohn schicksalhaft verbunden sind in gemeinsamer Verzweiflung über väterliche Schuld und Sohnes Liebe? Den Stoff dafür entlehnte sich Mozart aus der griechischen Sagenwelt. Stark vereinfacht geht es darum: Der kretische König Idomeneo hat Troja besiegt. Kurz bevor er als strahlender Held in seine Heimat zurückkehrt, gerät er in einen wütenden Sturm und verspricht in höchster Not dem Meeresgott Neptun, zur Rettung des eigenen Lebens ein Menschenopfer zu bringen. Und zwar, so sagt er zu, solle der erste Mensch, dem er am Strand von Kreta begegnen würde, dem Gott gehören. Neptun lässt sich auf den Handel ein, Idomeneo kommt nach Hause – und trifft am Strand auf seinen Sohn, der ihm glücklich ob der Rückkehr und voller Liebe in die Arme fällt. Nichts ahnend über die schuldhafte Zusage des Vaters, versteht der Sohn nicht ansatzweise, warum der Vater ihn auf einmal meidet, sogar fortschicken möchte.

Mit allerlei Tricks versucht der König, den Vollzug des grausigen Menschenopfers hinauszuzögern oder, noch besser, gar nicht vollstrecken zu müssen. Aber der Gott lässt sich so leicht nicht besänftigen, und so ist Idomeneo schließlich bereit, sich zu fügen, sogar der inzwischen eingeweihte Sohn anerkennt die Pflicht, die dem grausamen Gott gegebene Zusage einzuhalten. Aber so wie der biblische Abraham von Engeln abgehalten wird, seinen Sohne Isaac zu töten – so verhindert schließlich die Liebe einer Frau und göttlicher Großmut auch bei Mozart den Tod des jungen Thronfolgers. Es gibt also ein Happy End in der Oper, das seine Kraft auch aus einer glücklichen Liebesgeschichte zieht, die das Geschehen begleitet, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll.

Der Sturm tobt, das Wasser kommt – und die Schuld bleibt

Zurück bleibt einmal mehr ein Vater, der überlebt, sich aber schuldig gemacht hat. Er war bereit gewesen, für seine eigene Rettung das Leben eines anderen zu opfern. In der Stuttgarter Neuinszenierung der Mozart-Oper „Idomeneo“ setzt Regisseur Bastian Kraft diese Schuld vom Einzelnen ins Allgemeine: Nicht nur der einzelne Vater macht sich schuldig gegenüber seinem Sohn, auch eine ganze Generation von Vätern lädt Schuld auf sich. Die kretische Gesellschaft watet auf der Opernbühne von Stuttgart über weite Teile des Abends durch ein Überschwemmungsgebiet, das ganz real ausgebreitet wird auf dem Bühnenboden. Der Sturm tobt, das Wasser kommt, die langen Kleider saugen sich voll, während leidendes Volk und eine ratlose Königsclique versuchen, einen Ausweg aus dem väterlich herbeigeführten Sumpf zu suchen.

Was dabei entsteht, sind starke Bilder zu grandioser Musik, die gemeinsam viel erzählen von der Schuld, welche die heutigen Väter-(und Mütter-)generationen sich aufgeladen haben – und die nun die Söhne (und Töchter) als Dürreperioden, Waldbrände, Sturm- und Überschwemmungskatastrophen im  wahrsten Sinne des Wortes ausbaden müssen. Dass dabei in Stuttgart ein weiteres Mal (wie bereits in einer anderen Inszenierung wenige Monate zuvor) das Knäuel des vom Sturm herabgefegten Opernhaus-Daches herhalten muss, ist ein eher überflüssiger Wink mit dem Zaunpfahl. Sie macht die Grundidee dieser Regiearbeit platt, anstatt ihr Tiefe zu verleihen. Der wache Betrachter hat längst verstanden: Es waren niemals die Götter oder irgendwelche Ideale, um deren Willen wir Väter uns schuldig machten. Es waren schon immer unsere eigenen, ganz egoistischen Wünsche. Und es sind bis heute unsere Kinder, die damit klarkommen müssen.

 

„Idomeneo “ von Wolfgang Amadeus Mozart in der Inszenierung von Bastian Kraft ist an der Oper Stuttgart noch bis 27. Dezember 2024 zu sehen. 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester. Gesehen habe ich die Generalprobe am 21. November 2024, sowie die Aufführung am 5.12.2024. 

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Kein Mensch ist „süß“ – Eine Sprachkritik

Warum kein Mensch illegal ist – und auch nicht „süß“

Sie finde ihn „total süß“, sagt die junge Frau über ihren Freund und blickt treuherzig. Besonders „wenn er versucht, die Hemden zu bügeln, die danach mehr Falten haben als vorher“, spottet sie milde. Der Wille zählt!

„Richtig süß“ hat die Betreuerin von Kindern mit Down-Syndrom deren Zuwendungsfreude erlebt. „Wenn die sich dauernd umarmen und so fröhlich sind,“ sagt sie und meint es positiv, „dann können wir Normalos wirklich noch viel davon lernen“. Die ganze Sinnstiftung ihrer Arbeit begründet sie damit.

„Echt süß“ findet der Kollege, wie sich seine Großeltern damit zurechtfinden, per Whatsapp den Kontakt mit ihren Enkeln zu halten. Er meint es nett – aber ist es das auch? (Foto: congerdesign auf Pixabay)

Der Kollege berichtet beim Mittagessen von einem Besuch bei seinen Großeltern. Die älteren Herrschaften hätten sich doch tatsächlich Whatsapp und Facetime angeeignet, um mit ihren Enkeln in Kontakt zu bleiben! Ehrliche, aber herablassende Bewunderung schwingt in seinen Worten: „Alte Möbel und einen verstaubten Röhrenfernseher haben die“, sagt er, „überall noch CD´s und Schallplatten, und dazwischen tippen sie auf ihrem Seniorenhandy herum – echt süß!“

Gewiss ist auch das Neugeborene aus der Nachbarschaft „ganz besonders süß“, wobei die Frage erlaubt sein darf, welches Baby denn nicht „süß“ wäre und wie die übermüdeten Eltern das „süße“ Baby beurteilen, wenn es sich gerade zur tiefsten Nachtstunde nicht beruhigen lassen will.

Sprache ist Ausdruck von Werten

Nun soll an dieser Stelle keiner Sprachpolizei das Wort geredet werden, sondern nur dem sensiblen Sprachbewusstsein. Denn Sprache ist Macht, und genau darum geht es bei der Bezeichnung „süß“ für Menschen und ihr Verhalten.

Wie mächtig Sprache als Ausdruck von Werten ist, zeigt dieses Beispiel: „Kein Mensch ist illegal“. Erstmals hat diesen Satz im Jahr 1988 (auf englisch) der jüdische Friedensnobelpreisträger und Schriftsteller Eli Wiesel ausgesprochen. Daraus ist ein internationales Netzwerk gegen Rassismus und Migrationsfeindlichkeit entstanden. Die vier Worte – „Kein Mensch ist illegal“ – haben eine einfache, aber unmissverständliche Botschaft: Niemand, der sich irgendwo auf der Welt aufhält, ist dort allein aufgrund seiner Existenz illegal. Letztlich drückt sich darin die Idee einer unveräußerlichen Menschenwürde aus: Der Mensch selbst bleibt immer legal, auch wenn er oder sie sich gesetzeswidriges Verhalten vorwerfen lassen muss, falls dafür ein Anlass besteht. Der kann vielleicht auch allein darin liegen, wenn man sich ohne einen vom Staat gewährten Aufenthaltsstatus in einem Land aufhält, das dies nicht erlaubt. Dann ist dieser Aufenthalt illegal, nicht aber der Mensch an sich. Es ist nur eine kleine sprachliche Feinheit – aber sie übt Macht über Menschen aus.

Aber das ist doch nett gemeint!

Ist das eine Nummer zu groß als Parallelität für den kleinen süßen Ausspruch? Wer jemand anderen als „süß“ bezeichnet, der meint es doch nett! Vielleicht. Und doch ist die Bezeichnung „süß“ ein Urteil. Wer in diesem Sinne angeblich „süß“ ist oder handelt, steht nicht auf einer Stufe, wird zum goldigen Mäuschen herabgestuft.

Süß ist Zucker und Schokolade, ein Wein kann süßlich schmecken und ein Parfüm so duften. Wir nennen das „Süßwasser“ süß, obwohl es gar nicht süß ist, sondern nur nicht salzig. Wenn es denn sein muss, mag man das niedliche Kätzchen „süß“ finden. Und auch manche „süße Lust“, mancher „süßer Traum“ kann den menschlichen Körper durchfluten. Die Bezeichnung „süß“ für einen ganzen Menschen oder das Verhalten aber macht die Betroffenen klein. Im feministischen Kontext wird daher diskutiert, ob die Erwartung an Frauen, sich sanft oder „süß“ zu verhalten, wesentlicher Teil ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung sein könnte. Die Kulturwissenschaftlerin und Psychologien Ann-Kristin Tlusty hat darüber ein ganzes Buch geschrieben – mit dem Titel: „Süß“.

Verniedlichung übt Macht aus

Eine Verniedlichung kommt oft liebevoll-freundlich daher, aber sie übt auch Macht aus. Jede menschliche Kreatur ist von Geburt an gleichwertig in seiner Persönlichkeit, so millionenfach unterschiedlich die Wesensmerkmale auch sind – sympathisch oder garstig, freundlich oder abweisend, klug oder dumm –, und auch das Handeln: überlegt oder hitzig, zugewandt oder bemüht, machtbewusst oder schüchtern. Wie auch immer – aber gewiss nicht „süß“.

 

Eine weitere Sprachkritik zur Verwendung des Wortes „Dürfen“ finden Sie hier. 

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Eine Aura kann man nicht ausstellen

Über Musiker-Museen in Deutschland

Friedrich Silcher, dem Großmeister des deutschen Liedgutes der Romantik, war mehr als 100 Jahre ein Museum gewidmet – vor einem Jahr wurde es geschlossen. (Foto: Christoph Friedrich Dörr – Ausschnitt aus dem sog. „Hochzeitsbild“, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1423045

Wie klingt Deutschland? Ganz gewiss vielstimmig: laut und trotzig, wie auch leise und schüchtern. Deutsche Musik klingt gleichermaßen nach glasklarem Barock wie nach ruppigem Deutschrap, lärmt mit Rammstein, träumt von 99 Luftballons, fährt, fährt, fährt mit Kraftwerk auf der Autobahn, und singt sich atemlos.

Deutschland klingt auch nach Friedrich Silcher: „Alle Jahre wieder“ singen die Kinder bald wieder, und der eine oder andere Erwachsene wird mitbrummen. „Ännchen von Tharau“, oder das Lied der Loreley, und schließlich „Muss i denn, muss i denn …“ – alles deutsche Lieder, an deren Erhalt und Vertonung der schwäbische Komponist Friedrich Silcher (1789 bis 1860) entscheidend beteiligt war. Silcher war einmal ein ganz Großer seiner Zeit. Auf einer Ansichtskarte von 1900 wird er in einer Reihe genannt mit Schiller, Zeppelin, Kepler, Uhland und Mörike. Hunderte Straßen und Plätze, Schulen, Konzertsäle und andere Gebäude sind nach ihm benannt. Mehr als hundert Jahre lang wurde ihm in seinem Geburtsort, in Schnait unweit von Stuttgart, ein eigenes Museum gewidmet. Seit einem Jahr ist es geschlossen, und es wird auch nicht wieder eröffnet, sondern aufgelöst. Es ist das Ende eines „Musikermuseums“.

Wer sind Musiker? – Nicht die, denen Museen gewidmet sind

Schon der Begriff „Musikermuseum“ ist bestürzend irreführend. Letztlich gibt es fast so viele Musiker in Deutschland, wie es Menschen gibt, Abermillionen, mitten im Leben, nicht in einem Museum. Es gibt die Trompeterinnen in der Blaskapelle, die Posaunistinnen auf dem Kirchturm, die ungezählten Chorsängerinnen, die Kammermusikerinnen, die sich abends in ihren Wohnzimmern treffen. Es gibt die Akkordeonspielerinnen und die Flötistinnen – und es gibt diese alle auch noch in männlicher Form. Händeringend suchen laute Bands aller Altersgruppen nach gut isolierten Übungsräumen, zirpen leise Gitarren aus Kinderzimmern, grübeln Menschen über die nächste Note ihrer Komposition, üben sich Hobby-Rapper in den richtigen Rhythmus ihrer Worte hinein. Es klingt und spielt in Deutschland allerorten, und alle diese Musizierenden gemeinsam sind auf der Suche nach dem richtigen Ton, der richtigen Taste, dem gesuchten Ventil, der perfekten Lippenspannung.

„Es kann doch wohl nicht sein“, spottete eine Tochter über ihren musikinteressierten Vater, „dass es immer noch Komponisten-Museen gibt, die Du noch nicht besucht hast!“. Doch, das kann sein. Es gibt so viele Musikermuseen in Deutschland, dass sie sogar eine gemeinsame Internetplattform betreiben und eine Landkarte herausgeben. Was dort auffällt: Die meisten große Namen der Musik versammeln sich in einem breiten Streifen durch die Mitte Deutschlands. Das musikalische Band reicht von Bonn im Westen bis nach Dresden im Osten, mit einer Nord-Süd-Breite von vielleicht hundert Kilometern. In Deutschlands Mitte wirkten Johann Sebastian Bach und seine Söhne, Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Robert und Clara Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel, Richard Wagner, Franz Liszt, Carl Maria von Weber und viele weitere. Sie alle werden mit Musikermuseen gewürdigt. Weit nördlich lockt in Hamburg das Komponistenquartier mit Museen für weitere prominente Namen (Georg Philipp Telemann, Johannes Brahms, Gustav Mahler), weit südlich wurde in Augsburg Wolfgang Amadeus Mozart geboren, und noch weiter südlich lebte Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen.

Silcher stand einmal in einer Reihe mit Schiller und Mörike

Im deutschen Südwesten sticht nur ein Name hervor, und er verschwindet gerade von dieser Landkarte. Der Komponist und Musikpädagoge Friedrich Silcher machte sich unsterblich, weil er im Geist der Romantik mehr als 300 Werke des deutschen Liedgutes vertonte. Silcher schrieb nicht nur die überbrachten Texte und Melodien auf, er setzte sie auch in mehrstimmige Kompositionen um und fügte ihnen eigene musikalische Ideen hinzu. Ein Lied zu singen, das war in Silchers Zeit Teil von freiheitsstrebender Identität, Ausdruck des Traums einer klassenlosen Gesellschaft. Und doch konnte das vom Württembergischen Chorverband getragene, private Silcher-Museum nicht erhalten werden. Seine Bestände werden jetzt verteilt – an das Literaturarchiv in Marbach, an das Stadtmuseum in Tübingen (wo Silcher hauptsächlich wirkte) und an andere Stellen. Was zur Frage führt: Kann man Musik ausstellen?

Der Arbeitsraum des Gewandhaus-Direktors Felix Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig.

Wer nur einige der vielen deutschen Musikermuseen besucht, lernt unterschiedlichste Ansätze kennen, sich der Musik physisch zu nähern: Das Robert-Schumann-Geburtshaus in Zwickau gewährt Zutritt zu den Originalräumen von Schumanns Kindheit und füllt sie mit vielen Dokumenten und Lesestoff aus. Im Mendelssohn-Museum von Leipzig gewinnt der Besuchende Eindrücke über die Lebensumstände des Gewandhausdirektors, kann einzelne Gegenstände aus seinem Besitz bestaunen und in einem Raum dank Hightech selbst erleben, wie es sich anfühlt, ein Orchester zu dirigieren.

Für das Werk mancher Musiker reicht ein Museum nicht aus

Manche Komponisten haben solche Wucht in ihren Werken, dass ein einziges Museum gar nicht ausreicht. Johann Sebastian Bach kann man sich am Geburtsort Eisenach nähern, aber auch in Gedenkstätten in Wechmar (Heimat der Bach-Familie), Arnstadt (erste Organistenstelle) und in einem mächtigen Museumsneubau an seiner wichtigsten Wirkungsstätte in Leipzig. Dort drückt man auf Knöpfe, toucht auf Bildschirme und bleibt doch ratlos zurück darüber, wie der Thomaskantor neben seiner ganzen schier unerschöpflichen, bis heute gültigen Schaffenskraft auch noch eine schwindelerregende Verpflichtungsdichte (z.B. bei der Beaufsichtigung seiner Chorschüler) bewältigen konnte. Richard Wagner machte Urlaub in Graupa, unweit von Dresden. Der dortigen Entstehung seiner Oper „Lohengrin“ ist heute ein schickes modernes Museum gewidmet, neben dem berühmten Haus Wahnfried in Bayreuth und einer privaten Wagner-Sammlung in Eisenach.

Nicht das Museum macht den Musiker unsterblich

Das Museum schließt, die Musik bleibt – wenn die Musiker es möchten: Das frühere Silcher-Museum in seinem Geburtshaus in Schnait bei Stuttgart. (Foto. Thomoesch, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28057926

Macht also ein Museum den Musiker unsterblich? Gewiss nicht. „Die Aura ist nichts, das ohne Kenntnis leuchtet,“ berichtet Elisabeth Hardtke, die Kustodin des aufgelösten Silcher-Museums in einem eindrücklichen Film, der über Silcher informiert und das Ende des Museums erklärt und dokumentiert. Wenn die Zeiten sich wandeln, bleiben die Besucher aus, und dann fehlt auch das Geld zur Modernisierung der notwendigen museumspädagogischen Ansätze.

Und so hat manches angestaubte Musikermuseum auch etwas Tröstliches: Das Museum mag eines Tages sterben, aber die Musik lebt fort, und klingt millionenfach durch Deutschland – weniger wegen des Komponisten, mehr wegen der vielen Musiker und ihrer Zuhörer. Alle Jahre wieder …

 

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Im Text finden Sie die Links zur Internetdomain musikermuseen.de und zum sehr sehenswerten Film  über das Leben von Friedrich Silcher – und das Ende des Silcher-Museums in Schnait. 

 

Vertreibung aus dem Paradies

Eindrücke über Gerhart Hauptmann

Die Totenmaske von Gerhart Hauptmann. Er starb im Juni 1946 in „Haus Wiesenstein“, der „Schützhülle meiner Seele“.

Die schlesischen Weber hatten keine Häuser. Sie waren bitterarm, verlorene Gestalten im Mühlwerk von Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Ein löchriges Dach über dem Kopf, eine Hütte irgendwo, das war das Höchste der Gefühle für diese Menschen, die ihr karges Auskommen mit textiler Heimarbeit zu bestreiten gezwungen waren. Ihnen hat der damals sozialkritisch eingestellte deutsche Schriftsteller Gerhart Hauptmann ein Portrait gewidmet. „Die Weber“ heißt das Theaterstück, für das Hauptmann im Jahr 1912 den Literaturnobelpreis erhielt. Es geht darin um die soziale Wirklichkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 1844 hatten die Weber in Schlesien (und auch anderswo) Aufstände angezettelt, weil sie es nicht mehr ertrugen, herabgewürdigt und um den kargen Lohn ihrer Arbeit gebracht zu werden. Sie wollten es nicht mehr hinnehmen, in ihrer Ehre beleidigt, entwürdigt  und immer tiefer in den Morast der Armut gestoßen zu werden von denen, die schon alles haben und noch viel mehr, und deren Gier trotzdem niemals gestillt sein würde.

Wer „Die Weber“ heute erlebt als modern interpretiertes Schauspiel, sieht die Bedrückten unserer Zeit: Die Alleinerziehende, die sich rechtfertigen muss für das Bürgergeld, mit dem sie das ärmliche Leben für sich und ihr Kind bestreitet; die Kleinrentnerin, deren Monatszahlung kaum für die Miete reicht; der verschämte Flaschensammler am Rande der Überflussgesellschaft; die Geflüchteten, die in trostlosen Container-Unterkünften jahrelang auf eine Entscheidung über ihr weiteres Schicksal warten.

Hauptmanns Weber hatten keinen Anspruch auf Würde

Immerhin, sie alle haben heute – anders als Hauptmanns Weber – einen in unserem Grundgesetz verbrieften Anspruch auf jenes Existenzminimum, das ihnen ihre Würde garantieren soll. Dafür müssen sie sich auf ein Amt begeben, ihre Rechte geltend machen, von denen sie oft gar nichts wissen, in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Und noch dazu müssen sie sich die Ohren verkleben und die Augen verbinden, um sich vor den ehrabschneidenden Pöbeleien zu schützen, die ihnen Faulheit und berechnende Niedertracht unterstellen.

Hauptmann (1862 – 1946) hatte den sozialkritischen Ton gefunden, um diese schreienden Ungerechtigkeiten zeitlos gültig zu beschreiben. Er selbst aber lebte vom Erfolg auch dieses Werkes bestens etabliert in seinen Villen in Erkner, auf Hiddensee und im Riesengebirge. Damit war er in guter Gesellschaft mit anderen literarischen Berühmtheiten seiner Zeit: Fünfzig Jahre zuvor hatte Viktor Hugo (1802 – 1885) das Schicksal der „Elenden“ („Les Miserables“) beschrieben und mit dem Erfolg des Buches sich ein Prachthaus im Exil auf Guernsey leisten können. Und auch der Kommunist Pablo Neruda (1904 – 1973) hatte kein schlechtes Gewissen, politisch wie literarisch die soziale Gleichheit zu fordern und selbst in Saus und Braus in mehreren Häusern in Chile zu wohnen.

Ein deutsches Leben in den Wirren des 20. Jahrhunderts

Nun kann ein Mensch viele Häuser haben, sich großen Ruhm erwerben und beruhigenden Reichtum anhäufen, er bleibt doch dem mächtigen Zugriff der Geschichte ausgeliefert. Das zeigt eindrücklich die Biografie Hauptmanns, ein deutsches Lebens in den Wirren des 20. Jahrhunderts. Weltweit und gerade auch in der kommunistischen Sowjetunion besonders geachtet, versagte der große Mann des Geistes vor den Herausforderungen seiner Zeit. So konnte er sich nicht durchringen zu einer klaren Haltung im Nationalsozialismus. Er chargierte zwischen vorsichtiger Zustimmung und leisen Vorbehalten gegenüber dem Völkischen, lavierte sich durch, zog sich vorwiegend ins Private zurück, blieb daher anders als der dreizehn Jahre jüngere Thomas Mann (1875 – 1955) in Deutschland und landete schließlich sogar auf Hitlers Liste der „Gottbegnadeten“, was ihm die Freistellung von allen Kriegsverpflichtungen garantierte. Alles das ist ihm nicht vorzuwerfen, schon gar nicht aus der Perspektive der Nachgeborenen, die in friedlichen Zeiten leben dürfen. Im Februar 1945 erlebte Hauptmann bei einem Klinikaufenthalt am Rande von Dresden den apokalyptischen Luftangriff die Stadt. „Ich stehe am Ausgangstor des Lebens und beneide alle meine toten Geisteskameraden, denen dieses Erlebnis erspart geblieben ist,“ schrieb er damals.

Wenige Wochen später lag die Welt der Deutschen in Trümmern, die Häuser von Hauptmann aber nicht. Hoch am Hang, weit abseits von der Welt stand „Haus Wiesenstein“ in Agnetendorf im Riesengebirge noch immer (und steht es bis heute) unverwundet zwischen den verschwiegenen Tannen. Die Zerstörungswalze des Krieges hatte es verschont, wie auch seinen Sommersitz auf der Insel Hiddensee. Der weltbekannte Geistesmann fand sich als Greis wieder in dem Teil seiner Heimat, der nun polnisch geworden war.

Armut, Hunger, Ungerechtigkeit – und Hauptmann mittendrin

Was folgte, ist bekannt: Weggejagt wurde die deutsche Bevölkerung, damit die von den Russen ihrerseits aus der heutigen Ukraine vertriebenen Polen eine neue Heimat finden konnten. Armut, Hunger, Ungerechtigkeit allerorten, ein einziges Elend, und der Schriftsteller in seiner Villa mittendrin, deren Zimmer prallvoll waren mit Büchern und edlem Mobiliar, das prächtige Treppenhaus blau-golden ausgemalt. Hochgeachtet und hochbetagt lebte der berühmte Schriftsteller auch dann noch dort in seinem schlesischen Paradies, als seine Landleute bereits hungernd ihr Hab und Gut mit Leiterwagen gen Westen zerrten.

Das Treppenhaus der Hauptmann-Villa in Agnetendorf: Ein Paradies als Fluchtort vor dem Grauen der Wirklichkeit. „Bin ich noch in meinem Haus?“ sollen die letzten Worte des Schriftsellers gewesen sein.

„Bin ich noch in meinem Haus?“ Angeblich waren dies die letzten Worte des sterbenden Gerhart Hauptmann am 6. Juni 1946.  Noch ein Jahr nach Kriegsende war Hauptmann von den sowjetischen Militärs besonders beschützt worden. Dann aber bestanden die neuen Herrscher darauf, dass nun endlich auch Hauptmann – wie alle anderen Deutschen – Schlesien zu verlassen hätte. Aber dazu kam es nicht mehr. Hauptmann verstarb in seiner Riesengebirgs-Villa, und es bedurfte danach umfassender Interventionen, sechs Wochen andauerndem Hin und Her, bis die in einem Zinnsarg eingelötete Leiche des Schriftstellers zusammen mit seinem gesamten beweglichen Hausrat, unzähligen Büchern, seiner Witwe und einer Gruppe von Intellektuellen und Künstlern, die in seinem Umfeld gelebt hatten, in einem Sonderzug ausquartiert wurden.

Die Vertreibung einer Leiche als Medienereignis

Die Vertreibung einer Leiche war ein Medienereignis. Fernsehkameras warteten am Bahnhof von Forst (bei Cottbus), als der Sonderzug mit dem toten Hauptmann auf dem Weg nach Berlin die neue Ostgrenze Deutschlands erreichte. Am 28. Juli 1946, 52 Tage nach seinem Tod, fand Gerhart Hauptmann endlich auf Hiddensee seine letzte Ruhe, immerhin in deutscher Erde, wenn auch nicht – wie es sein Wunsch gewesen war – im Riesengebirge.

Fünfzig Jahre lang diente danach das Haus Wiesenstein als Kinderheim. Im heute polnischen Schlesien muss man gut orientiert sein, wenn man das verwunschene Literatenschlösschen finden will, das abgelegen am Ende einer kurvigen Bergstraße wartet. Mit Mitteln der Bundesrepublik Deutschland wurde es in ein schmuckes Museum umgestaltet und 2001 als solches eröffnet.

Es gibt keine Flucht in die Idylle

Die „mystische Schutzhülle meiner Seele“ sei dieses Haus gewesen, hat Gerhart Hauptmann formuliert. Wer heute durch diese Räume schlendert, aus den Fenstern hinausblickt in die dunkle Waldlandschaft, in die sich der Schriftsteller hineingeflüchtet hat, Hoffnung und Distanz suchend vor dem Grauen, das sich um ihn herum ereignete, versteht diese Sehnsucht nach einer „Schutzhülle“ – und lernt doch die bittere Wahrheit: Es gibt keine Flucht vor der Geschichte in die Idylle, nicht im Riesengebirge, nicht auf Hiddensee, und auch heute nicht in der naiven Hoffnung auf ein ruhiges Leben auf dem Lande.

Wer Glück hat, mag dort verschont bleiben vor den Bomben des Krieges, mag dort nichts oder weniger hören vom Lärm der Geschichte, mag sich berauschen am lauschigen Rascheln der Blätter und jubelndem Pfeifen der Vögel, mag sich die Ohren verstopfen vor den schlechten Nachrichten aus den Städten, in denen die Armut wohnt und schreit – aber irgendwann wird die Geschichte doch anklopfen und ihr Recht verlangen. Irgendwann kommt sie, die Vertreibung aus dem Paradies.

 

Das Hauptmann-Museum in Haus Wiesenstein in Agnetendorf hat eine informative Website auf deutsch und polnisch. Auch das Hauptmann-Museum in Kloster auf Hiddensee informiert über den Schriftsteller.

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Und der Jubel wird grenzenlos sein

Europas Tanz um die Freiheit  – neu gehört in Beethovens 7. Sinfonie

Zweihundert Stundenkilometer auf der Schiene, irgendwo am Rhein, auf dem Weg von Amsterdam nach Wien. Ein ICE jagt grenzüberschreitend dahin. Von seiner luftdurchwirbelnden Gewalt, die zufällig Wartende auf einem Durchfahrts-Bahnsteig viele Schritte zurückweichen lässt, ist im Inneren des Zuges wenig zu spüren. Ein sanftes Ruckeln vielleicht, ein schwaches Wanken. Erste Klasse, gediegene Atmosphäre: Jeder für sich, und dem alten Europäer gegenüber sitzt eine junge Frau, um die dreißig Jahre alt, zurückgesteckte Haare, elegantes Kostüm, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihr Notebook zu richten scheint. Gemeinsam durchgleiten sie diese Kulturlandschaft aus grünen Hügeln und schütteren Wäldern, gemeinsam durchfliegen sie die Tunnels und Brücken, die dem rasenden Lindwurm den Weg ebenen. Gemeinsam sind sie sich ihrer jeweils eigenen Freiheit so sicher, dass sie diese gar nicht mehr spüren. Selbstverständlich selbstbestimmt reisen sie durch Europa.

Die Schöne wird schon nichts merken, denkt sich der alte Europäer, und schiebt den Regler noch etwas weiter nach oben, die Warnung vor möglichen Hörschädigungen lustvoll missachtend. Beethoven schwillt an im Kopfhörer, 7. Sinfonie, der ganze klangumspannende Wirbel der Noten durchzuckt seinen Kopf, die Augen geschlossen, aber hellwach. Ein paar verstohlen wiegende Kopfbewegungen macht er dazu, ein paar zart mitdirigierende Gesten aus dem Handgelenk.

Die Idee der Freiheit als Tanz: Sasha Waltz Compagnie interpretiert Beethovens 7. Sinfonie. (Foto: Sebastian Bolesch, bereitgestellt von Sasha Waltz)

Als Napoleons Stern sank, entstand diese Musik

Als der französische Autokrat Napoleon Bonaparte mit seinen Truppen diese schöne Landschaft am Rhein unter seine Kontrolle brachte, da lebte Ludwig van Beethoven schon längst nicht mehr in seinem Geburtsort Bonn. Er verfolgte von Wien aus das europäische Geschehen. Er jubelte Napoleon zu, solange dieser sich nach dem revolutionären Chaos in Frankreich um Ordnung bemühte, für alle Menschen gleichermaßen Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit versprach. Und er wandte sich von ihm ab, als Napoleon genau diese Werte verriet, sich selbst zum Kaiser ernannte und Europa, auch Beethovens Heimat, mit Kriegen überzog.

Dann aber, im Jahr 1813, sank der Stern Napoleons. Das Kriegsglück, das nie ein Glück, sondern immer ein mörderisches Schlachten war, wandte sich von ihm ab. Seine ausgezehrten Armeen waren überfordert mit den Eroberungsfantasien ihres Befehlshabers. Die großen europäischen Adelshäuser in Österreich, Russland und Preußen waren dabei, sich zusammenzufinden. Beethoven wusste: sie wollen nicht Brüderlichkeit und Gleichheit und Freiheit retten, sondern vor allem sich selbst genau davor. Vermutlich sehnte der Komponist das militärische und politische Ende des Franzosen zwar herbei, aber dessen ursprüngliche Idee eines freien Menschen, der mit seinesgleichen, klassenlos und humanistisch, in Frieden und Freiheit verbunden ist – diese Idee trieb ihn weiter an.

In solcher Stimmung war Beethoven, als er die Noten für seine 7. Sinfonie niederschrieb, die im Dezember 1813 in Wien erstmals gespielt wurde. Was er vorhersah, was er, selbst schon halb ertaubt, vorher-hörte, war der gewaltige Rhythmus, der Europa in dieser Zeit durcheinanderwirbelte und seine Menschen in eine neue Ordnung hineinwarf. Es sollte eine Ordnung sein, in der bis heute zumindest der Anspruch besteht, dass „alle Menschen Brüder“ sein mögen, wie Beethoven elf Jahre später am Ende der 9. Sinfonie im Text von Friedrich Schiller vertonte. Die Noten (nicht der Text) der „Ode an die Freude“ ist heute die Hymne Europas.

Der Anspruch auf Freiheit ist kein Leisetreter

Den Rhythmus von Freiheit, Gleichheit, individueller Selbstbestimmung, also jener Werte, die den Kontinent prägen sollten, den hat Beethoven aber bereits in der Siebten komponiert. Diese zu erreichen und zu verteidigen, ist kein Geschenk, es ist ein Kampf, ein Wachsen, ein Jubel schließlich. Und so kommt der Anspruch auf Freiheit mit Wucht daher. Die sanften Töne zu Beginn der Sinfonie perlen keine ganze Minute dahin, als schon die ersten kräftigen Schläge durch das Orchester zucken. Sie lassen noch nicht ahnen, mit welcher Energie die Musik zehn Minuten später den ganzen Saal in Bewegung setzen wird, die Wände wanken lässt, die Menschen von den Sitzen reißen könnte, wenn es zulässig wäre, im Konzertsaal den Emotionen freien Lauf zu lassen.

Der Anspruch auf Freiheit ist kein Leisetreter. Ein tobender Rhythmus tanzt durch den Saal, stößt links an, und dann rechts und dann überall zugleich schwebt und schwirrt er und jubelt und schweigt und schreit, spannt die Luft zum Zerreißen – ach was, zerreißt sie mit ihrer Kraft, ihrer Energie, bis endlich Stille herrscht und alles zurücksinkt in glückliche Erschöpfung.

Der Weg zur Freiheit fordert Opfer

Kein Jubel ist ohne Abgrund, auch der Weg zur Freiheit fordert Opfer. Der zweite Satz beginnt als verhaltener Trauermarsch. Wieder dauert es nur wenige Takte bis sich das leise Motiv Bahn bricht, bis es weniger Trauer und mehr Triumpf ist. Hier trottet keine Trauergemeinde, hier wird trotzig Kraft gesammelt. Vorbei geht es an den fraglichen Prioritäten des Alltages, vorbei am allgegenwärtigen Geplänkel und Geplauder.

Auf die Kraft der Trauer folgt der Übermut. Im dritten Satz betreibt das Orchester eine Jagd auf die Klänge, wirbelt ihnen hinterher, atemlos, wie in einem kindlichen Versteckspiel, bis plötzlich alles weg ist und der Klang tastend gesucht werden muss. Da, dort, wo? – noch einmal beginnt die Hetzjagd, noch einmal büxen sie aus, die Töne der Freiheit, noch zu ungestüm, um gestaltende Kraft zu entfalten und nicht nur Toberei zu sein voll überschießender Energie.

Ach, möchte man diesen Tönen der Freiheit zurufen, nehmt Euch Zeit, die Aufgaben, die vor Euch liegen sind noch groß, spart Eure Kräfte auf, Ihr müsst den Kampf um Gleichheit und Brüderlichkeit noch gewinnen, immer wieder neu lernen, klug zu sein!

Das Gewonnene kann schon morgen zerronnen sein

Dann das Finale, ein einziger Wirbel, ein tänzelnder Wahnsinn, ein rasendes Kettenkarussell der Töne, ein Aufschrei, ein grenzenloser Jubel der Freude über das Erreichte, das Gewonnene, das doch zugleich gefährdet ist, schon morgen zum Zerronnenen zu werden.

Nichts weniger als das alles lässt Beethoven in seiner Siebten ertönen, und für den, der will, ist herauszuhören: Habt Mut, die großen Linien zu sehen, das große Ganze! Haltet Euch nicht auf mit Kleinigkeiten, mit der der Wärmepumpe oder dem Verbrenner, mit  Steuern und der Schuldenbremse, ein paar Geflüchteten mehr oder weniger – alles unwichtig, weil es nun gerade gilt, Frieden in Freiheit zu verteidigen, nach Brüderlichkeit und Gleichheit zu streben. Es kann gelingen, lässt uns Beethoven hören, und der Jubel wird grenzenlos sein.

„Muss tolle Musik sein“, spricht die junge Frau

Da spürt er einen Ruck. Der ICE steht. Gerade war der Gipfel des Tongebirges erklommen gewesen, das jubelnde Finale hatte getobt und klang aus, glückstrunken war der alte Europäer hineingefallen in diese Umarmung der Töne. Seine Hände sinken zurück auf die Armlehnen, und jetzt schlägt er die Augen auf und schaut aus dem Fenster: „Siegburg/Bonn“ steht da. Noch halb benommen vom großen Tanz der Töne nimmt er den Kopfhörer ab.

„Muss tolle Musik sein, die Sie da hören“, spricht ihn da die junge Frau von Gegenüber an. „Was war das? Das will ich auch hören.“

 

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Die rhythmisch-tänzerische Dimension von Beethovens 7. Sinfonie ist schon vielfach gewürdigt worden, u.a. von Richard Wagner, der das Werk als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet hat. Mich hat zu diesem Text auch das Erlebnis einer modernen Tanz-Aufführung der Compagnie von Sasha Waltz inspiriert, die unter dem Titel „Beethoven 7“ die Sinfonie mit der modernen Komposition „Freiheit/Extasis“ von  Diego Noguera kombiniert. Noguera wurde 1982 in Chile geboren und lebt seit 2019 in Berlin. Dieser Teil Tanzdarbietung, von überaus lautstarker Techno-Musik unterlegt, war für mich allerdings nicht die Darstellung von Freiheit, sondern eher eine apokalyptische Vision einer nach-menschlichen Welt, die im quälenden, aber auch  eindrücklichen Gegensatz zu der nachfolgenden leichtfüßig-eleganten, tänzerischen Interpretation der Freiheitsphantasien von Ludwig van Beethoven stand. Die Performance „Beethoven 7“ war Teil des Programms der diesjährigen Ludwigsburger Schlossfestspiele und ist wieder zu erleben am 13. und 14. September 2024 in Rom.

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Kleiner Ausflug ins Konservative

Sieben Miniaturen, erlebt auf einer Reise durch Polen

Grabsteine als Zeitzeugen der polnisch-deutschen Geschichte: Eine Szene im Schatten der Kirchenruine von Milkow.

Krakow, früher Nachmittag

Die Maisonne wärmt die Straßen der alten Residenzstadt, vom Berg leuchtet die stolze Burg der polnischen Könige. Das Leben beginnt zu pulsieren im jüdischen Viertel, die Bars warten auf verfrühte Nachmittagsgäste, eine Gruppe orthodoxer Juden läuft  herum, ihre Locken wippen, während sie Reisekoffer in das Taxi wuchten, das die enge Gasse versperrt. Dort Synagogen, im Stadtzentrum Kirchen. Touristen bestimmen das Bild, viele Europäer in kurzen Hosen und bunten Hemden. In der ganzen Stadt ist fast ausschließlich weiße Haut zu sehen, ein paar Gäste mit asiatisch anmutenden Gesichtszüge. Dann, am Rand der Innenstadt, lockt in einem der alten Häuser das Wort „Döner“. Ein weißer Mann blickt aus dem Fenster. Menschen mit südeuropäischer oder arabischer Prägung gibt es nicht im Straßenbild. Da sage nochmal jemand, Politik habe keine Folgen.

Wroclaw, gegen Mittag

Die Straßenbahn rollt heran. Der Kauf einer Fahrkarte war kein Problem, der Automat versteht auch deutsch oder englisch, ein Tastendruck genügt. Die Kreditkarte akzeptiert er mit einem befriedigten Piepsen, und schon spuckt die Maschine das Kärtchen aus. Es ist warm auf dem schmalen Bahnsteig, und der Gast spürt, wie ihm die Tropfen auf die Stirn treten. Die Bahn ist voll, und in ihrem Inneren ist es noch wärmer. Klack!, macht der Entwerter, und der Gast richtet sich auf eine ruckelige Fahrt im Stehen ein. Schon Sekunden später springt ein junger Mann auf.

Es wird zum stabilen Eindruck bei dieser und weiteren Gelegenheiten: Hier ist wenig woke, und öffentlich noch weniger queer. Selten ein Kuss auf der Straße, das Private ist privat, und in der Sauna bleibt die Badehose an. Lastenräder fehlen im Stadtbild genauso wie Väter, die Kinderwägen schieben. Aber Höflichkeit zählt noch etwas in Polen. Man bietet Älteren den Platz an, Männer lassen Frauen den Vortritt, die Tür wird aufgehalten.

 

Opole, früher Samstagabend

Die Kirchenglocken hatten durch das offene Hotelfenster hindurch geläutet, als wollten sie die Stabilität ihrer Aufhängung prüfen. Dann war Stille gewesen. Beim Spaziergang eine halbe Stunde später durch die Kleinstadt war der fromme Lärm längst vergessen. Warum nicht einmal hineinsehen in die schöne Kirche am Weg? Schnell ist klar: Hineinsehen bedeutet: den laufenden Gottesdienst besuchen. Das war nicht der Plan. Es wäre auch kaum Platz. Die Kirche ist bestens besucht, auch viele junge Menschen sitzen in den Bänken und blicken in ihr Gesangbuch. Es ist nicht Weihnachten und auch nicht Ostern. Es ist ein normaler Samstagabend in Polen.

 

Jelena Gora, später Nachmittag

Ein winziges Café hatte gelockt, und das frisch gemahlene und gebrühte Koffeingebräu war unter schattigen Arkaden ein glücklicher Genuss gewesen, der kleine Kuchen dazu auch. Nun aber würde der Gast eine Toilette benötigen. Die Barista im Rentenalter bedauert, keine eigene Gelegenheit anbieten zu können und gestikuliert deutlich in Richtung Rathaus gegenüber. Richtig, da steht ja: Tourist Information. Aber die Information hat seit 15.30 Uhr geschlossen, nun ist es schon fünf Minuten später, und die Not wird größer. Schließlich Hoffnung: ein anderer Eingang des Rathauses ist noch offen. Schon auf dem Weg zur ersehnten Lokalität stürmt ein Wachmann herbei, verweist grimmig auf seine Uhr und schüttelt entschlossen den Kopf. Ordnung muss sein, Gnade keine Pflicht.

Wie gut: Nebenan, das große Steak- und Burger-Lokal ist schon geöffnet. Beim ersten schüchternen „Sorry, could I …?“ lächelt die Bedienung am Eingang ein entschlossenes „Of course!“ und weist den erleichternden Weg.

 

Milkow (Podgorzyn), am Vormittag

Gerade erst losgefahren, schon ein erster Halt, ungeplant. Fasziniert hat der Blick durch die Windschutzscheibe. Ein grauer Turm steht da, mit löchriger Haube, rabenumflattert, und das Kirchengebäude daneben ist eine Ruine. Sattes, hohes Grün bahnt sich den Weg durch die gähnend leeren Fensterhöhlen und wiegt sich im Wind, wo das Dach fehlt. Ein Bauzaun versperrt jeden Weg dorthin. Immerhin, drumherum lädt ein großer Friedhof ein. Hunderte Grablaternen, bunte Plastikblumen auf den Gräbern mit polnischen Namen.

Eine Erläuterungstafel bleibt unverständlich, da nur polnisch. Aber ein Blick ins allwissende Netz hilft: Die evangelische Pfarrkirche des einstmals deutschen Dorfes wurde im Krieg durch Bombeneinschlag zerstört. Nach Kriegsende war die evangelische Bevölkerung geflohen oder vertrieben worden. Die neuen Bewohner waren katholisch, und es gab keinen Bedarf mehr an einer evangelischen Kirche. Warum also wieder aufbauen? Der Friedhof wurde weiter betrieben. Die alten deutschen Grabsteine liegen als steinerne Zeitdokumente zusammengewürfelt im Schatten der Ruine. Dieses Erlebnis schärft den Blick auf der weiteren Fahrt: An vielen anderen Stellen wurden die alten Friedhöfe schlicht rückstandslos eingeebnet.

 

Wroclaw, am Vormittag

Die runde Halle steht in jedem Reiseführer, wird beworben als besondere Sehenswürdigkeit. Unesco-Welterbe! Bei ihrem Bau im Jahr 1927 war die „Jahrhunderthalle“ die größte freitragende Halle Deutschlands, eine Ikone des frühen Stahlbeton. Aber die Dame am Ticketschalter schaut nur widerwillig vom Handy auf. Nein, erklärt sie auf Englisch, eine Besichtigung sei jetzt nicht möglich. Es sei eine Gruppe in der Halle, und daher die Kapazität für die Besichtigung erschöpft. Wie lange das dauere? Könne sie nicht sagen. Ob man schon mal ein Ticket kaufen könne? Nein, besser nicht, vielleicht überlege man es sich ja doch noch anders.

Zwanzig Minuten später ein erneuter Vorstoß. Ob die Gruppe jetzt draußen sei? Wieder ein zögerndes Aufblicken vom privaten Display. Nein, das wisse sie nicht. Da kommen zwei Besucher aus der Halle. Hoffnungsvoller Verweis: Wenn die beiden da jetzt draußen sind, könnten wir doch rein? Richtig, freut sich die Dame, legt das Handy aus der Hand und verkauft zwei Tickets. In der riesigen Halle sind zur Besichtigung zwei Logen freigegeben. Sie haben mindestens hundert Plätze. Besetzt sind etwa zwanzig.

 

Karpacz, um die Mittagsstunde

Das ehemalige Bergdorf ist ein Touristenhotspot mit einer alten Holzkirche als herausragende Attraktion. Die Szenerie gleicht der Annäherung an Schloss Neuschwanstein. Vorbei an Hotels und Restaurants nähert sich das Auto, schon frühzeitig lotsen geschäftstüchtige Helfer auf gebührenpflichtige Parkplätze. Der Anstieg von dort zur Stabkirche Wang ist steil, aber kurz und kurzweilig. Rechts und links des Weges glotzt tausendäugig quietschbunter China-Plüsch von Touristenständen, locken überteuerte Porzellanverkäufe und alberner Erinnerungskitsch, warten Grillwürste und einsturzgefährdete Softeispyramiden.

Dann endlich die Kirche, vor mindestens 800 Jahren in Norwegen aus Holz erbaut, vor knapp 200 Jahren von dort nach Berlin transportiert, dann schließlich im Jahr 1844 an dieser Stelle auf halbem Weg aus dem Tal zum Gipfel der Schneekoppe wieder zusammengesetzt. Gedacht als meditativer Einkehrpunkt für Wanderer. Nun treibt ein festgefügter Ablauf im Viertelstundentakt die Touristen busladungsweise in das Kirchlein. Wie eine brave Schulklasse hören wir die Erklärung vom Band und sehen der Aufseherin zu, die mit einem langen Stock und humorlosem Blick auf das Erläuterte zeigt. Es fühlt sich an wie in einem alten Pauker-Film aus den 60er Jahren. Aber schon bald ist Schule aus.

 

Mein Text „Germania, Europa und der Stier“ nimmt ebenfalls Bezug auf meine Reiseeindrücke durch Polen.

 

Gutgelaunt Richtung Abgrund

Wagners „Rheingold“ und die Schuldenbremse 

Mit diesem alt gewordenen Patriarchen würde kein Familienunternehmen glücklich werden. Selbstbezogen regiert er sein Reich, seine Familie lungert verwöhnt herum. Schlapp und ohne eigene Meinung lässt er sich von seiner Frau verleiten, für den Clan ein neues Haus bauen zu lassen, obwohl er schon bei Auftragserteilung weiß, dass er den Preis dafür nicht bezahlen kann. So kommt es denn auch, als die noble Hütte fertig ist. Die Baufirma verlangt ihren Lohn, aber die Kasse ist leer.

Der Göttervater Wotan als Zirkusdirektor.
Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von der Oper Stuttgart

Sein Generaldirektor soll das Problem lösen. Letztlich fällt auch dem nichts Besseres als ein Raubzug ein. Immerhin, der ist listig geplant. Der Coup gelingt, und die eroberte Beute begleicht die Rechnung der Baukosten. So gelingt es dem Patriarchen tatsächlich, unter lautem Jubelklang mit seiner ganzen fragwürdigen Sippschaft in das neue Prachtgebäude einzuziehen. Das schale Glück ist auf unsolidem Boden errichtet, wie alle wissen und ahnen – aber wen kümmert´s? The Show must go on!

Der „Ring“: Epos, Gesamtkunstwerk, Krimi

Dies ist eine verkürzte (und auch stark vereinfachte) Zusammenfassung der Handlung des „Vorabends“ für das danach folgende dreiteilige (also insgesamt eigentlich vierteilige) Opernwerk „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner. Der erste Abend ist der kürzeste Teil dieses Riesenwerks, heißt „Das Rheingold“ und dauert „nur“ gut zweieinhalb Stunden. Erzählt wird die Vorgeschichte des Dramas, das sich danach entspinnt. Das hier vorgeführte Familienunternehmen ist nichts weniger als die Götterwelt, und im verlogenen Unrecht des Anfangs ist alles angelegt, was am Ende nach mehr als siebzehn Stunden Musik mit der „Götterdämmerung“ im Untergang der Mächtigen enden wird.

Der „Ring“ ist ein großes Gesamtkunstwerk, ein Epos über alles, was die Welt zusammenhält, und deshalb auch ein Krimi um Liebe, Geld und Macht. Dieser große märchenhafte Entwurf tut gut in unserer auf hektische Kurzfristigkeit angelegten Gegenwart. Aber Wagners eigenwilliges Weltengemälde ist eben auch komplex und umstritten, so wie es Wagner selbst gewesen ist zu Lebzeiten und bis heute.

Die Bilder aus der Stuttgarter Inszenierung des „Rheingold“ (Regie: Stephan Kimmig) waren  Inspiration für den saloppen Einstieg in diese Kurzzusammenfassung. Denn im Opernhaus am Eckensee ist nichts mehr übrig vom Heldenepos, der in Richard Wagners Fantasie zumindest noch partiell eine Rolle gespielt haben mag. Hier nimmt der Untergang der Götterfamilie höchst ironisch und sehr unterhaltsam in Form eines maroden Zirkusbetriebs Fahrt auf, schnurstracks dem moralischen Abgrund entgegen.

„Wir sind angefeuert vom Drang, etwas zu besitzen“

Dieser Einstieg in den vierteilig dahintreibenden Untergang der Götterwelt ist eine wunderbar sinnliche Geschichte, eine Parabel für die Anzeichen und katastrophalen Folgen von Moralverfall und Machtmissbrauch. „Wir üben Gewalt gegeneinander und übereinander aus“, sagt Regisseur Stephan Kimmig in einem Interview im Programmheft, „angefeuert vom Drang, etwas zu besitzen, was uns das Gefühl verleiht, wertvoller, mächtiger, größer und bedeutender zu sein als die Anderen.“

Sorgloses Treiben der Götter auf der Stuttgarter Opernbühne
Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Das Geschehen auf der Bühne lädt also ein zum Grübeln darüber, ob am Ende immer das Geld über die Moral siegt. „Wir verraten permanent die Liebe, das Mitgefühl mit anderen“, wie Kimmig im gleichen Interview ausführt. Seine Inszenierung gestaltet einen zeitaktuellen Abend, der jeder Fantasie über Parallelen des Gesehenen zum aktuell Erlebten freien Lauf lässt.

Eine davon könnte zum Beispiel ein Nachdenken über das hartnäckige Festhalten des aktuellen deutschen Finanzministers an der grundgesetzlich verankerten „Schuldenbremse“ sein. Im Hinblick auf die aktuellen Nöte und Erfordernisse mag sie lästig sein, aber wohin es führt, wenn es kein Halten mehr gibt, keine Moral, keinen Anstand bei der allseitigen Wunscherfüllung – das ist eben im „Rheingold“ zu besichtigen.

Kurzfristige Problemlösung mit einem Raubzug

„Prioritäten setzen“, wäre angesagt gewesen im maroden Götterstaat, ganz so wie Christian Lindner es heute für Deutschland fordert. Es ist tröstlich und demaskierend zugleich, dass die Götter in der Nibelungenwelt von Richard Wagner dazu genauso wenig Spielraum haben, wie die Politik von heute. Die Wahrheit ist nämlich: Wenn der Staat wirklich „Prioritäten“ setzen würde, wäre der Grad der verhassten Veränderungen in der Gesellschaft noch viel größer, als wenn er schuldenfinanziert möglichst viele Wünsche erfüllt, damit vieles so bleibt wie es ist.

Ein Abbau des Sozialstaates, der für viele das blanke Überleben sichert, kann kaum so viel Geld erbringen, wie nötig ist, um den weiteren Verfall unserer Infrastruktur aufzuhalten. Noch dazu leisten wir uns gegen jede Vernunft so manche moderne Götterburg: Klimaschädliche Subventionen für Diesel- und Flugbenzin, noch immer neue Autobahnen statt funktionierender  Schienenwege, Luxuslofts statt Sozialwohnungen. Rheingold-Wotan handelt also genauso rational, wie es die Politik in Deutschland früher oder später tun wird: Gegen alle Moral sich doch mehr Schuld(en) aufzuerlegen, um möglichst vieles zu ermöglichen, was unseren Wohlstand sichert. Wotan löst sein Problem übrigens kurzfristig mit purer Kriminalität – durch einen Raubzug. Wie wäre es für Christian Lindner, endlich für eine konsequente Verfolgung von Steuerbetrug zu sorgen?

Im „Rheingold“ ziehen die selbstverliebten Götter am Ende gutgelaunt und gewissenlos ein in ihr neues Haus, angelockt von seiner Pracht und Schönheit, aber noch blind für die Schuld, die sie um des schönen Baus willen auf sich geladen haben. Auf den Staat und sein Schulden-Dilemma zu schimpfen, ist einfach. Auf sich selbst zu blicken, dagegen schwer: Wer könnte sich gewiss sein, nicht bereits selbst solcher eitler Verblendung unterlegen gewesen zu sein?

Ein Besuch des „Rheingold“ ist eine überaus unterhaltsame Gelegenheit, sich dessen bewusst zu werden.

 

 

Dieser Text ist eine aktualisierte Neufassung eines Essays aus dem November 2021 nach der Premiere der Neuinszenierung in Stuttgart. Er erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

 

Das „Rheingold“ ist an der Stuttgarter Oper ist in der laufenden Saison 23/24 noch viermal zu sehen: am 7. und 25. Mai, 10. und 13. Juni. Auf der Website der Oper Stuttgart sind auch zahlreiche weiterführende Informationen aufbereitet (einschließlich einer kompletten Handlungsbeschreibung): https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/kalender/das-rheingold/4277/

 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.  

Dort finden Sie auch Texte zu den anderen Teilen des „Ring“:

Die Walküre

Siegfried

Götterdämmerung

sowie eine an die Ring-Idee angelehnte moderne Parabel: „Der Ring des Diktators“

Alte Männer und ihre Koffer

Hinter der Maske verschwindet die Gier nach Ruhm: Manfred Zapatka als „Minetti“ am Residenztheater München (Regie Claus Peymann; Foto: Monica Rittershaus, bereitgestellt von Residenztheater München)

Über „Minetti“ im Theater und Gerhard Schröder im wirklichen Leben

Es wäre doch eine schöne Vorstellung, wenn ein alter Mensch seine Verdienste, die Nachweise der eigenen Unverzichtbarkeit, in einem Koffer mit sich herumtragen könnte. Was wäre in diesem Koffer drin? In Angela Merkels Koffer vielleicht die griechischen Ausgaben des Euro, von jeder Münze, die die Athener Zentralbank ausgegeben hatte, ein Exemplar. Oder eines der vielen gespendeten Kuscheltiere, wie sie im Sommer 2015 massenhaft am Münchner Hauptbahnhof bereitlagen. Die Geflüchteten aus Budapest kamen dort an und wir alle waren noch stolz auf unsere Menschlichkeit, statt sich ihrer wie heute zu schämen. Oder ein Modell der nie gebauten Magnetschwebebahn zwischen diesem Münchner Bahnhof und dem Flughafen im Koffer von Edmund Stoiber? Natürlich eine Gitarre im Koffer von Wolf Biermann!

In Minettis Koffer ist eine Maske. Geschaffen habe sie ein bekannter belgischer Künstler, sagt der alte Schauspieler. Wie sie aussieht, diese Maske, die „Minetti“ einst getragen haben will, um Shakespeares „Lear“ – natürlich unvergleichlich – auf die Bühne zu bringen, bleibt bis zuletzt verborgen. Die Maske ist in dem Theaterstück „Minetti“ von Thomas Bernhard, das derzeit im Münchner Residenztheater zu sehen ist, der Cliffhänger. Die Maske hält die Spannung aufrecht in diesem weitgehend als Monolog angelegten Bühnenstück. Eineinhalb Stunden bekommt in München der auch schon alternde Schauspieler Manfred Zapatka Zeit, unter der Regie des 80-jährigen Claus Peymann „Minetti“ zu spielen, den alten Mann, angelehnt am großen Schauspieler Bernhard Minetti. Vom Leben und von der Sucht nach Ruhm ein wenig sonderlich geworden ist dieser Bühnen-Minetti – und alle warten darauf, endlich sehen zu können, was in dem Koffer ist.

In „Außer Dienst“ schiebt Schröder keinen Koffer, sondern einen Golfwagen

Etwas kürzer, nur eine Stunde, dauert die überaus sehenswerte ARD-Dokumentation „Außer Dienst“ von Lucas Stratmann zum achtzigsten Geburtstag von Gerhard Schröder. Einen Koffer schiebt dort anfangs Schröder nicht vor sich her, sondern einen Golfwagen. Was wäre in seinem Koffer, wenn er einen hätte? Vielleicht eine sorgsam verpackte, tönerne Friedenstaube, weil er unser Land herausgehalten hat aus dem verbrecherischen Irak-Desaster des George W. Bush. Oder ein Bündel Geldscheine, symbolisch für das Wirtschaftswachstum, das die Reformen seiner unpopulären „Agenda 2010“ auf längere Sicht vielen Menschen in Deutschland Wohlstand verschafft hat. Auch wenn dieser zusammengespart war aus der gewachsenen Armut derer, die unter die Räder gerieten beim Abbau des Sozialstaates. Eine zusammengefaltete Traditionsfahne der SPD könnte drin sein, verstaubt und mottenzerfressen, weggepackt von seiner Partei, die sich bis heute nicht erholen konnte von Schröders toxischer Selbstherrlichkeit. Oder eine Maske, aber welche?

Demaskiert in seiner egozentrischen Begrenztheit ist der alte „Minetti“ längst, als er zum Ende des Theaterabends schließlich die Maske herausholt aus dem Koffer und aufsetzt. Große Ideen hat er verfolgt, die entscheidenden Fragen der Kunst malträtiert und wurde von ihnen gequält: Das Alte pflegen, oder das Neue wagen? Er beklagt sein Scheitern am konservativen Geist der Kulturbürokratie. Schon nach wenigen Minuten im Theater ist klar: Dieser alte Künstler hat den Höhepunkt seines Schaffens längst hinter sich, die Zeit ist an ihm vorübergezogen, der alte Mann hat fertig. Alle wissen es, alle merken es, nur er selbst nicht. Nun hofft er auf einen letzten Auftritt mit der sagenumwobenen Maske, die im Koffer wartet.

Welche Maske wäre in seinem Koffer? Gerhard Schröder im Herbst 2023 in Hannover. (Foto: Bernd Schwabe Hannover via Wikipedia)

„Armselige Gestalten“ nennt Schröder seine Genossen

„Armselige Gestalten“ seien das, sagt Gerhard Schröder in der ARD-Dokumentation über diejenigen, die ihn heute in Deutschland kritisieren. Man gehe ungerecht mit ihm um, aber das störe ihn nicht wirklich. Ganz generell erlebt man am Fernsehschirm eindrücklich, dass dieser Altkanzler nicht gerne zuhört. Er redet lieber: „Ich brauche für mein Lebenswerk nicht die Zustimmung der jetzigen SPD-Führung.“ Es ist eine ganz spezifische Form von schauspielerisch vorgeschobener, kokettierend dröhnender, eitler Un-Bescheidenheit, die der Altkanzler vorträgt.

Das Fernsehteam begleitet ihn auf einer „Geschäftsreise“ durch China. Wer die Reise bezahlt, interessiert ihn nicht, auch nicht, welche Motivationen seine Gastgeber leiten, ihn herumzureichen wie den Wanderpokal eines in die Jahre gekommenen Wettbewerbs. Kein Wort versteht er, wenn die chinesischen Claqueure ihm ein Dokument unterscheiben lassen, wenn ihm fahnenschwingende Kinder Blumen überreichen. Seine in China gesprochenen Worte sind für die Fragen des Jetzt von erschreckend platter Irrelevanz. Aber er kann es nicht lassen, mit sonorer Stimme ein weltpolitisches Gewicht zu simulieren, das er längst nicht mehr hat. „Wir machen doch hier kein Märchen!“, schnauzt er den Reporter Stratmann an, als dieser ihn nach der moralischen Seite seiner Kontakte zu Wladimir Putin befragt.

Nichts kann bestehen neben der Gier nach Ruhm

Nach eineinhalb Stunden weiß der Theaterbesucher längst, dass dieser „Minetti“ (anders als der Schauspieler Bernhard Minetti) gemessen an seinem Ego eine verheerende Lebensbilanz ziehen müsste, wenn es darauf ankäme. Er ahnt die nächste Demütigung, auf die er wartet, wenn jener Theaterleiter zum vereinbarten Treffen nicht einmal erscheint, das ihn auf einen letzten Auftritt als „Lear“ hoffen ließ. Aber die Gier nach Ruhm ist zu stark, nichts kann daneben bestehen. Vielleicht war dieser „Minetti“ ein liebender Familienvater und ein empathischer Mensch, voller Humor und geistreich im Gespräch mit allen, die mit ihm waren. Aber nichts davon wartet in seinem Koffer. Nur vergilbte Zeitungsausschnitte über seinen umstrittenen Theaterruhm. Und die Maske.

Als er die Maske schließlich herausholt, als er sie endlich aufsetzt, verschwindet die ganze eitle Selbstgerechtigkeit des alten Mannes hinter einer kunstvollen Fratze, einem wahren Kunstwerk, das sich viel stärker eingräbt in die Erinnerung des Zuschauers, als die ganze kleinliche Selbstverliebtheit desjenigen, der nicht loslassen konnte.

Gerhard Schröder weiß nichts von einem Koffer. Welche Maske wäre darin, wenn er sich doch trauen würde, ihn zu öffnen? Nicht die mit den Gesichtszügen seines Freundes Putin, das wäre zu billig, und würde auch dem Lebenswerk Schröders nicht gerecht. Es wäre vielleicht viel schlimmer: Gar keine Maske wäre drin, alles leer, nur ein paar Geldscheine.

„Minetti“ am Residenztheater München gibt es noch am 2. und 21. Mai 2024 zu sehen.

Die ARD-Dokumentation „Außer Dienst“ über Gerhard Schröder ist bis 2.4.2026 in der Mediathek abrufbar.

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