Alte Männer und ihre Koffer

Hinter der Maske verschwindet die Gier nach Ruhm: Manfred Zapatka als „Minetti“ am Residenztheater München (Regie Claus Peymann; Foto: Monica Rittershaus, bereitgestellt von Residenztheater München)

Über „Minetti“ im Theater und Gerhard Schröder im wirklichen Leben

Es wäre doch eine schöne Vorstellung, wenn ein alter Mensch seine Verdienste, die Nachweise der eigenen Unverzichtbarkeit, in einem Koffer mit sich herumtragen könnte. Was wäre in diesem Koffer drin? In Angela Merkels Koffer vielleicht die griechischen Ausgaben des Euro, von jeder Münze, die die Athener Zentralbank ausgegeben hatte, ein Exemplar. Oder eines der vielen gespendeten Kuscheltiere, wie sie im Sommer 2015 massenhaft am Münchner Hauptbahnhof bereitlagen. Die Geflüchteten aus Budapest kamen dort an und wir alle waren noch stolz auf unsere Menschlichkeit, statt sich ihrer wie heute zu schämen. Oder ein Modell der nie gebauten Magnetschwebebahn zwischen diesem Münchner Bahnhof und dem Flughafen im Koffer von Edmund Stoiber? Natürlich eine Gitarre im Koffer von Wolf Biermann!

In Minettis Koffer ist eine Maske. Geschaffen habe sie ein bekannter belgischer Künstler, sagt der alte Schauspieler. Wie sie aussieht, diese Maske, die „Minetti“ einst getragen haben will, um Shakespeares „Lear“ – natürlich unvergleichlich – auf die Bühne zu bringen, bleibt bis zuletzt verborgen. Die Maske ist in dem Theaterstück „Minetti“ von Thomas Bernhard, das derzeit im Münchner Residenztheater zu sehen ist, der Cliffhänger. Die Maske hält die Spannung aufrecht in diesem weitgehend als Monolog angelegten Bühnenstück. Eineinhalb Stunden bekommt in München der auch schon alternde Schauspieler Manfred Zapatka Zeit, unter der Regie des 80-jährigen Claus Peymann „Minetti“ zu spielen, den alten Mann, angelehnt am großen Schauspieler Bernhard Minetti. Vom Leben und von der Sucht nach Ruhm ein wenig sonderlich geworden ist dieser Bühnen-Minetti – und alle warten darauf, endlich sehen zu können, was in dem Koffer ist.

In „Außer Dienst“ schiebt Schröder keinen Koffer, sondern einen Golfwagen

Etwas kürzer, nur eine Stunde, dauert die überaus sehenswerte ARD-Dokumentation „Außer Dienst“ von Lucas Stratmann zum achtzigsten Geburtstag von Gerhard Schröder. Einen Koffer schiebt dort anfangs Schröder nicht vor sich her, sondern einen Golfwagen. Was wäre in seinem Koffer, wenn er einen hätte? Vielleicht eine sorgsam verpackte, tönerne Friedenstaube, weil er unser Land herausgehalten hat aus dem verbrecherischen Irak-Desaster des George W. Bush. Oder ein Bündel Geldscheine, symbolisch für das Wirtschaftswachstum, das die Reformen seiner unpopulären „Agenda 2010“ auf längere Sicht vielen Menschen in Deutschland Wohlstand verschafft hat. Auch wenn dieser zusammengespart war aus der gewachsenen Armut derer, die unter die Räder gerieten beim Abbau des Sozialstaates. Eine zusammengefaltete Traditionsfahne der SPD könnte drin sein, verstaubt und mottenzerfressen, weggepackt von seiner Partei, die sich bis heute nicht erholen konnte von Schröders toxischer Selbstherrlichkeit. Oder eine Maske, aber welche?

Demaskiert in seiner egozentrischen Begrenztheit ist der alte „Minetti“ längst, als er zum Ende des Theaterabends schließlich die Maske herausholt aus dem Koffer und aufsetzt. Große Ideen hat er verfolgt, die entscheidenden Fragen der Kunst malträtiert und wurde von ihnen gequält: Das Alte pflegen, oder das Neue wagen? Er beklagt sein Scheitern am konservativen Geist der Kulturbürokratie. Schon nach wenigen Minuten im Theater ist klar: Dieser alte Künstler hat den Höhepunkt seines Schaffens längst hinter sich, die Zeit ist an ihm vorübergezogen, der alte Mann hat fertig. Alle wissen es, alle merken es, nur er selbst nicht. Nun hofft er auf einen letzten Auftritt mit der sagenumwobenen Maske, die im Koffer wartet.

Welche Maske wäre in seinem Koffer? Gerhard Schröder im Herbst 2023 in Hannover. (Foto: Bernd Schwabe Hannover via Wikipedia)

„Armselige Gestalten“ nennt Schröder seine Genossen

„Armselige Gestalten“ seien das, sagt Gerhard Schröder in der ARD-Dokumentation über diejenigen, die ihn heute in Deutschland kritisieren. Man gehe ungerecht mit ihm um, aber das störe ihn nicht wirklich. Ganz generell erlebt man am Fernsehschirm eindrücklich, dass dieser Altkanzler nicht gerne zuhört. Er redet lieber: „Ich brauche für mein Lebenswerk nicht die Zustimmung der jetzigen SPD-Führung.“ Es ist eine ganz spezifische Form von schauspielerisch vorgeschobener, kokettierend dröhnender, eitler Un-Bescheidenheit, die der Altkanzler vorträgt.

Das Fernsehteam begleitet ihn auf einer „Geschäftsreise“ durch China. Wer die Reise bezahlt, interessiert ihn nicht, auch nicht, welche Motivationen seine Gastgeber leiten, ihn herumzureichen wie den Wanderpokal eines in die Jahre gekommenen Wettbewerbs. Kein Wort versteht er, wenn die chinesischen Claqueure ihm ein Dokument unterscheiben lassen, wenn ihm fahnenschwingende Kinder Blumen überreichen. Seine in China gesprochenen Worte sind für die Fragen des Jetzt von erschreckend platter Irrelevanz. Aber er kann es nicht lassen, mit sonorer Stimme ein weltpolitisches Gewicht zu simulieren, das er längst nicht mehr hat. „Wir machen doch hier kein Märchen!“, schnauzt er den Reporter Stratmann an, als dieser ihn nach der moralischen Seite seiner Kontakte zu Wladimir Putin befragt.

Nichts kann bestehen neben der Gier nach Ruhm

Nach eineinhalb Stunden weiß der Theaterbesucher längst, dass dieser „Minetti“ (anders als der Schauspieler Bernhard Minetti) gemessen an seinem Ego eine verheerende Lebensbilanz ziehen müsste, wenn es darauf ankäme. Er ahnt die nächste Demütigung, auf die er wartet, wenn jener Theaterleiter zum vereinbarten Treffen nicht einmal erscheint, das ihn auf einen letzten Auftritt als „Lear“ hoffen ließ. Aber die Gier nach Ruhm ist zu stark, nichts kann daneben bestehen. Vielleicht war dieser „Minetti“ ein liebender Familienvater und ein empathischer Mensch, voller Humor und geistreich im Gespräch mit allen, die mit ihm waren. Aber nichts davon wartet in seinem Koffer. Nur vergilbte Zeitungsausschnitte über seinen umstrittenen Theaterruhm. Und die Maske.

Als er die Maske schließlich herausholt, als er sie endlich aufsetzt, verschwindet die ganze eitle Selbstgerechtigkeit des alten Mannes hinter einer kunstvollen Fratze, einem wahren Kunstwerk, das sich viel stärker eingräbt in die Erinnerung des Zuschauers, als die ganze kleinliche Selbstverliebtheit desjenigen, der nicht loslassen konnte.

Gerhard Schröder weiß nichts von einem Koffer. Welche Maske wäre darin, wenn er sich doch trauen würde, ihn zu öffnen? Nicht die mit den Gesichtszügen seines Freundes Putin, das wäre zu billig, und würde auch dem Lebenswerk Schröders nicht gerecht. Es wäre vielleicht viel schlimmer: Gar keine Maske wäre drin, alles leer, nur ein paar Geldscheine.

„Minetti“ am Residenztheater München gibt es noch am 2. und 21. Mai 2024 zu sehen.

Die ARD-Dokumentation „Außer Dienst“ über Gerhard Schröder ist bis 2.4.2026 in der Mediathek abrufbar.

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„Ehre ist Zwang genug“ – Eine Tugend stürzt ab

Über den Verfall der Selbstachtung im politischen Diskurs

Gibt es noch so etwas wie Ehre im politischen Diskurs? Zählt es noch etwas in Zeiten von Fake News, Populismus, schnellen Schüssen, wenn jemand versucht, ehrenvoll zu sprechen und zu handeln?

„Ehr is dwang nog – Ehre ist Zwang genug.“ Dieser aus dem Mittelalter stammende Spruch ziert ein Kaufmannshaus in Münster. Die Historikerin und Schriftstellerin Ricarda Huch interpretierte 1927 den Satz so: „Der Freie, und das ist nach der damaligen Auffassung der Edle, erträgt keinen Zwang, aber er zwingt sich selbst.“

„Die Ehre ist, objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert“, sezierte klug schon vor rund zweihundert Jahren der Philosoph Arthur Schopenhauer. Wenn also sehr viele politische Zeitgenossen beispielsweise von Donald Trump oder Wladimir Putin glauben, dass auf ihr politisches Wort nicht wirklich Verlass sei, da sie ihre Aussagen schon allzu oft geändert haben, oder sie allzu schnell bereit sind, zulasten der Wahrheit zuzuspitzen, willentlich zu verletzen – dann wird solchen Menschen nach Schopenhauer nur eine sehr zurückhaltende „Meinung anderer“ von ihrem Wert begegnen – also eine geringe Ehre.

„Subjektiv“, so schrieb Schopenhauer jedoch weiter, „ist die Ehre unsere eigene Furcht vor dieser Meinung der anderen“. Wer den wenig Geehrten seine Wertlosigkeit also spüren lässt, der mag objektiv vielleicht Recht haben, aber trotzdem kränkt er möglicherweise die Ehre seines Gegenübers.

1895

In dem Roman „Effi Briest“ von Theodor Fontane geht es (auch) um eine Ehrverletzung. Der erfolgsverwöhnte Baron von Innstetten, Spitzenbeamter im Berliner Regierungsapparat kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts, heiratet Effi, eine viel zu junge Frau. Eine Tochter erblickt das Licht der Welt, aber der Baron vernachlässigt Frau und Familie zugunsten der Karriere. Mehr als sechs Jahre später entdeckt er durch einen unglücklichen Zufall, dass Effi sich in dieser Zeit auf ein außereheliches Techtelmechtel mit einem Offizier eingelassen hat. Effi wird in Schimpf und Schande verstoßen, das Kind dem „schuldlosen“ Vater (oder besser gesagt: einer von ihm beauftragten Amme) anvertraut.

Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende. Denn in der Moralvorstellung seiner Zeit hat nicht nur die treulose Ehefrau die Gefühle ihres Mannes verletzt, sondern vor allem der lotterhafte Nebenbuhler die Ehre des gehörnten Gatten. Der Baron sinnt nicht auf Rache, aber er hat auch das Gefühl, dass der Regelverstoß nicht hingenommen werden darf. Also denkt er einige Tage nach über die bedrückende Lage, und bittet dann seinen besten Freund Wüllersdorf zu sich: Er solle ihm als Adjutant dienen beim Duell mit dem Liebhaber. Es entspinnt sich im Roman an dieser Stelle ein Dialog, auf den noch einzugehen sein wird.

2024

Es gibt keinen Grund, über solche Duelle der Vergangenheit den Kopf zu schütteln, gehören doch bei vergleichbaren Lebensbrüchen Ehrenmorde, Kindstötungen und Femizide als feste Größe in die Kriminalstatistik von heute. Verletzte Ehre treibt Menschen (vor allem Männer) noch immer zu den aberwitzigsten, oft mörderischen Grausamkeiten. Und das, obwohl der Begriff der „Ehre“ spätestens seit seinem Missbrauch durch die Nationalsozialisten mindestens für die Deutschen nachhaltig beschädigt ist.

Gibt es noch so etwas wie Ehre in der Politik? Zählt es noch etwas in Zeiten von Fake News, Populismus, schnellen Schüssen, wenn jemand versucht, Wort zu halten, ehrlich zu sein, vielleicht auch ehrgeizig in der Sache – kurz: ehrenvoll zu sprechen und zu handeln?

Politisch denkende Menschen tragen alltäglich Duelle aus, soweit sie sich nicht nur in der eigenen „Blase“ bewegen: Sie streiten für oder gegen die Aufnahme von Geflüchteten, für oder gegen die Wärmepumpe, für oder gegen die Atomkraft. Die einen verstehen eher die Angst der Juden, die anderen vor allem das Leid der Palästinenser, manche fordern mehr Waffen für den Krieg, und andere mehr Einsatz für den Frieden.

Zum Pistolenkampf kommt es dabei nicht, aber die Worte können hin und her schießen wie Kugeln, können verletzen und Wunden reißen. Die grobe Missachtung von Tatsachen, wissentliches Lügen, billiges Nachhängen an absurden Verschwörungserzählungen sind keine „Meinung“. Pauschaliert-herabsetzendes Sprechen über Dritte („Viele Bürgergeld-Empfänger sind faul“, „Die meisten Ausländer sind kriminell“, „Blonde Frauen sind dumm“) verletzen nicht nur die Ehre derer, über die gesprochen wird, sondern auch das Ehrgefühl jedes Zuhörenden, wenn er einen ehrenvollen Kompass hat. Dabei ist es ganz egal, ob solche Grobheiten von politischer Prominenz verbreitet werden oder im persönlichen Gespräch. „Ehre ist Zwang genug“ – wenn das gelten würde, dürften solche Sätze nicht fallen.

1895

„Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglück ist hin“, konzediert bei Fontane der herbeigerufene Freund Wüllersdorf dem vor Jahren ehelich betrogenen Baron von Innstetten. „Aber wenn Sie den Liebhaber totschießen, ist Ihr Lebensglück sozusagen doppelt hin. Muss es also sein?“, fragt der Freund.

„Ja, es muss sein“, antwortet der Baron. Weder treibe ihn Rache um, noch Hass auf seine Frau oder ihren Liebhaber. Aber man sei eben nicht nur ein einzelner Mensch, sondern stehe für das „Ganze“, die Gesellschaft habe Regeln herausgebildet, an die man sich halten müsse. „Und dagegen zu verstoßen, geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst.“

2024

Das muss man aushalten, sagen deutsche Politiker häufig, wenn sie auf harte Kritik, auch auf ehrverletzende Pöbeleien angesprochen werden. Da dürfe man nicht wehleidig sein, das gehöre zum „Geschäft“. Dabei hat es die Ehre sogar ins Grundgesetz geschafft. Das umfassende Recht auf Meinungsfreiheit findet in Artikel 5 seine „Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Man muss also nicht dulden, beleidigt oder verleumdet zu werden.

Wer in seiner politischen Ehre, in der Redlichkeit seines Denkens und seiner Argumentation, im Willen um einen ehrenvollen Austausch missachtet und verletzt wird, der wird auch um das Zuhören, das Nachdenken, vielleicht sogar das überzeugte Einlenken, betrogen. Ratlos steht er dann vor den Trümmern seines Ehrgefühls. Soll er weiter argumentieren, noch einen Versuch machen, weitere Statistiken heranzerren, glaubwürdige Zeugen seiner Position benennen? Soll er weiter kämpfen für das „Ganze“, für die Werte, die doch diese Gesellschaft zusammenhalten sollten? Oder sollte er schweigen, um des lieben Friedens willen – und auf Kosten seiner Selbstachtung einlenken?

1895

„Die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst“, hatte Innstetten gesagt. Sein Freund Wüllersdorf gibt sich geschlagen. „Unser Ehrenkodex ist ein Götzendienst“, stellt er resigniert fest, „und wir müssen ihm uns unterwerfen, solange der Götze gilt.“ Also überbringt er schon am nächsten Tag dem unglücklichen Liebhaber die mörderische Aufforderung zum Duell und organisiert das Zusammentreffen. Der Baron schießt, trifft tödlich.

Dem Götzen wurde geopfert. Aber Innstetten bleibt sein Leben lang unglücklich ob des Todes, den er der Ehre halber verschuldet hat. „Nichts gefällt mir mehr,“ sagt er ein paar Jahre später im Roman zu Wüllersdorf, „mein Leben ist verpfuscht.“

2024

Absurd mutet uns heute die Logik des „Götzendienstes“ am Ehrenkodex der beiden Romanfiguren an. Wie gut, dass wir solche Rituale im Regelfall nicht mehr benötigen. Aber immerhin, sie hatten ein Ehrgefühl, und die Gesellschaft um sie herum erwartete ehrenhaftes Verhalten. Inzwischen ist es längst nicht mehr „Zwang genug“, auf die eigene Ehre zu achten, ganz im Gegenteil. Heute bekommt das böse Wort den schnellen Beifall, die vielen Klicks und Likes. Politischer Erfolg ist nun ohne Ehrgefühl möglich.

So fühlt es sich dann also an, wenn man sich selbst verachtet.

 

 

Der Roman „Effi Briest“ von Theodor Fontane (1819 – 1898) ist 1895 erschienen und wurde mehrfach verfilmt. Schauen Sie in Ihrer Büchersammlung nach, vielleicht finden Sie ihn dort. Es lohnt sich, ihn einmal wieder zur Hand zu nehmen. Wenn nicht, ist er kostenlos online verfügbar, z.B. hier. 

Ein für mich erhellender Text war die „Spurensuche“ zum Thema Ehre des Deutschlandfunks: Über einen schwierigen Begriff – Der Kampf mit der Ehre

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Vom Blick der Ergebenheit auf große Aufgaben

Nachdenken über Jeff Walls Fotokunstwerk „Restoration“ – und den neuen Bahnhof von Stuttgart

Eine junge Frau blickt in die Weite. Sie hat dunkle Haare, ein scharf geschnittenes Gesicht, trägt eine Brille aus dünnem, dunklen Metall. Sie steht auf einem Baugerüst, stützt sich auf das provisorische Geländer. Hinter ihr ist eine weitere Frau von hinten zu erkennen, die sich mit feinem Pinsel an der Wand zu schaffen macht. Auf den zweiten Blick versteht der Betrachtende: Das sind keine Handwerkerinnen. Kleine Papierzettelchen markieren weitere Stellen, die der sachkundigen Aufmerksamkeit der beiden Frauen bedürfen. Sie renovieren ein Gemälde, das viel größer ist als sie selbst. Es ist etwas wahrhaft Großes, an dem sie arbeiten.

Ein meditativer Blick der Ergebenheit in die Größe der Aufgabe: Bildausschnitt aus „Restoration“ von Jeff Wall

Diese Zeilen beschreiben einen Ausschnitt aus einem sehr großen Foto. Das hinterleuchtete Bild misst fast fünf Meter in der Breite und 120 Zentimeter in der Höhe, und ist im Besitz des New Yorker Museum oder Modern Art (MoMA). Komponiert hat es der kanadische Fotokünstler Jeff Wall im Jahr 1993. Noch bis 21. April ist es im Rahmen einer Ausstellung in der Fondation Beyeler in Basel zu sehen.

Zu sehen ist eine Baustelle

Die beiden Frauen auf dem Foto stehen im Vordergrund, aber eigentlich ist eine Baustelle zu sehen. Gerüste wurden gebaut, eine Plattform als Arbeitsbühne in die Mitte aus grobem Holz zusammengezimmert. Das „Bourbaki-Panorama“ in Luzern wurde renoviert, als es entstand. Von dem Riesengemälde in seinem Hintergrund sind heute etwa 1000 Quadratmeter erhalten. Sie zeigen die Entwaffnung eines Teils der französischen Armee zum Ende des deutsch-französischen Krieges 1870/71. Gemalt hat es der Künstler Edouard Castres im Jahr 1881; die Renovierung des Kunstwerkes hat sieben Jahre gedauert.

Die Größe einer Aufgabe: Jeff Wall, „Restoration“ in der Fondation Beyeler

Walls Foto heißt „Restoration“ und erzählt nichts über den Krieg, über die Verzweiflung der unterlegenen Soldaten, die Not der Menschen und die Hilfsbereitschaft, die ihnen begegnete. Das alles ist Thema des Panoramabildes. Das große Foto fängt nur einen einzigen Moment ein – den der Meditation, des demütigen Innehaltens der jungen Frau, ihres Nachdenkens über die Größe der Aufgabe, die ihr und ihrer Kollegin gestellt ist. Wann werden sie jemals damit fertig sein?

„Wann wird er endlich fertig sein?“

Vierzehn Jahre wurden von Baubeginn an benötigt, um den neuen Flughafen in Berlin fertigzustellen. Sechzehn Jahre lagen zwischen ersten Planungen und der Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie. „Wann wird er denn nun endlich fertig?“ fragen die Menschen, wenn sie am alten Stuttgarter Kopfbahnhof ankommen und nun schon seit Jahren absurd lange und beschwerliche Umgehungswege hinter sich bringen müssen, um vom maroden Bahnsteig in der taubenverdreckten, zugigen Resthalle, in die Innenstadt oder auch nur zur Anschluss-S-Bahn zu gelangen. Wann wird er endlich fertig, der neue Bahnhof?

Eine Gelegenheit, sich davon ein Bild zu machen – es gewissermaßen der Restauratorin bei Jeff Wall gleichzutun und in die Weite zu blicken – , hat die unter der Riesenbaustelle leidende Bevölkerung alle Jahre an Ostern. Bei „Tagen der offenen Baustelle“ drängen sich die Massen der Neugierigen unter spinnennetzartigem Gerüstgewirr hindurch, stolpern über Metalltreppen und provisorisch ausgebreitete Schalungsbretter durch die Wunde im Herzen Stuttgarts, still staunend und emsig fotografierend. Mehr als 100.000 Besucher waren es dieses Jahr an den drei Tagen, an denen sie eingeladen waren, das auch nach jetzt dreißig Jahren Planung und zwölf Jahren Bauzeit noch immer unvollendete Werk zu besichtigen.

Die Fülle der Aufgaben gleicht einer Hydra

Es ist die Größe einer Aufgabe, die verstummen lässt. Einen solchen Bahnhof zu errichten – in diesem Fall: ihn hineinzugraben in den Untergrund des Zentrums einer Großstadt – gleicht einem geradezu babylonischen Plan. Die elegant geschwungenen Kelchstützen, die komplexen Lichtaugen, die ganze unfassbare Vielfalt und Vielzahl der Aufgaben, die hier geplant und abgearbeitet werden müssen, mit Abermillionen Details, Kabelanschlüssen, Dichtungen, Bewehrungen – sie alle gemeinsam gleichen einer Hydra: jedes gelöste Problem trägt die Gefahr in sich, dass sich zwei neue Herausforderungen auftun. Schließlich ist das, was zu sehen ist, erst der Rohbau, was wird noch alles folgen müssen: Gleise und Bodenbeläge, Lampen und Schilder, Papierkörbe und Signale, Treppen und Aufzüge, Kioske und Toiletten, Bänke und Automaten. Wann wird all das endlich fertig sein?

Die Größe einer Aufgabe macht demütig

Der Blick der jungen Frau vor ihrer Renovierungsarbeit ist kein Blick von Resignation, kein Protest, keine Gleichgültigkeit. Es ist ein Blick der Ergebenheit. Die Größe einer Aufgabe macht demütig. Hier ist keine Ungeduld zu sehen, auch keine Erschöpfung. Die Restaurierung wird brauchen, viele Stunden, Wochen, Monate, Jahre. Aber am Ende wird sie gelingen.

Die Größe einer Aufgabe: Noch keine Bahn rollt durch den neuen Bahnhof in Stuttgart, und bis die Kathedrale der Züge fertiggestellt sein wird, werden noch Abermillionen Details zu leisten sein.

Noch kein Zug rollt durch die kühle, hohe Halle des neuen Stuttgarter Bahnhofs. So ist ausreichend Platz, dass sich sogar die Massen der Neugierigen verlaufen. Sie blicken in die Weite dieses fast 450 Meter langen Raumes, hinauf in die Höhe, die man dem Untergrund abgerungen hat, sehen hinweg über herumstehende Baustellenfahrzeuge, Dixi-Klos und gestapelte Materialien. Es wird viel länger dauern, als vor vielen Jahren berechnet wurde. Es wird mühsamer sein und teurer sowieso. Die Größe der Aufgabe fordert ihren Tribut.

Der weite Blick in die künftige Kathedrale der Züge

600 Jahre haben Menschen am Kölner Dom gebaut. Es hat sich gelohnt, denn wer heute unter seinen gotischen Bögen steht, versteht Geschichte. Ungezählte Menschen haben an ihm gewirkt, ihn in die Höhe getrieben und bekämpfen bis heute seinen Verfall. Es ist wie in der künftigen Kathedrale der Züge von Stuttgart: Am Ende sind es nicht die Besserwisser und Kritiker, die ein großes Werk schaffen, nicht die Zweifler und ungeduldigen Nörgler. Es sind die Menschen mit einem Blick für das Weite. Die, die einen kühner Plan fassen und genauso die, die ungezählte Details verwirklichen, hier ein Kabel, dort eine Schraube. Irgendwann wird das Ganze größer sein als wir selbst, und etwas erzählen von uns, wenn wir es selbst nicht mehr erzählen können.

 

Die Fotokunstwerke von Jeff Wall sind eine Reise nach Basel wert. Die Ausstellung seiner großformatigen Werke in der Fondation Beyeler ist noch bis 21. April zu sehen.

Fotos und Animationen über den Stand der Baustelle für den neuen Stuttgarter Bahnhof gibt es massenhaft im Netz, z.B. hier.

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Kein Entrinnen aus der Vorstadt

Dora liegt darnieder. Mit der Welt ihrer Eltern und Geschwister kann sie nichts anfangen. Also sucht sie einen Zauber … Szene aus der Oper „Dora“ von Bernhards Lang (Musik) und Frank Witzel (Text) an der Oper Stuttgart. Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Eine Erzählung – anlässlich der Uraufführung von „Dora“ an der Oper Stuttgart

Prolog

Die Vorstadt liegt wenige Kilometer außerhalb der Metropole. Man erreicht sie mehr schlecht als recht mit den Fahrzeugen des öffentlichen Nahverkehrs, denn an dieser Form der Verkehrsanbindung wird noch gearbeitet. Zunächst waren die Autos dran. Eine notdürftig asphaltierte Stichstraße schiebt sich wie ein Damm durch die sumpfige Lagune der Baugruben. Sie bildet die einzige sichtbare Lebensader für das Neubauviertel. Wackelige Drahtzäune links und rechts bewahren die entlangschlingernden Laufräder samt ihrer kindlichen, stets mützen- und helmgeschützten Besitzer vor einem Absturz. Kräne wachen über die Pfützen in den tiefergelegten Betonwüsten, die einmal die Böden bilden werden für Tiefgaragen. Praktische Mehrfamilienhäuser werden sich einst darüber wölben.

Dann fächert sich diese für eine motorisierte Welt gedachte Lebensader auf in das Ghetto der kleinfamiliären Hoffnungen. Taubenstraße, Zaunkönigweg, Amselboulevard – so heißen hier die Sträßchen, die ein Kleinfamilienleben erschließen, das von sich behauptet, in sauber geordneten Reihenhäusern entfaltet zu werden. Die Rasenroboter rotieren in den Maschendraht-Quadraten hin und her wie der eingesperrte Tiger im Zoo. Der freie Blick durch die immergleichen Terrassenfenster auf die immergleichen, eckenausfüllenden Sofagarnituren wird versperrt durch die immer gleichen Grillvorrichtungen. Es herrscht geplante, selbstgewählte Monotonie in dieser Exklave für Jungeltern und ihre Kinder. Die Spielplätze sind wohlgeordnet, die akkurat eingepflanzten Bäumchen noch mehr Schule als Baum. Und nur ein Ausweg weist hinaus: Auf dem Asphaltdamm hinüber in den neueren Teil der Siedlung, wo der große Lebensmittel-Supermarkt lockt und das Fachgeschäft für alles, was die eingesperrten Haustiere benötigen. „Fressnapf“ heißt es, was auch für den Edeka passen würde.

„Wie ich diese Landschaft hasse …“

Eine junge Frau, laut Libretto „Mitte zwanzig“, steht im Mittelpunkt einer Opern-Neuproduktion von Bernhard Lang (Musik) und Frank Witzel (Text) in Stuttgart. Sie heißt „Dora“, und Dora ist es, die rebelliert gegen die Eintönigkeit ihres Lebens, gegen das konformistische, materialistische Lebenskonzept ihrer Eltern, gegen die dröge Anpassungsfreude ihrer Geschwister. Dora lebt nicht im hier beschriebenen Neubauviertel, aber das tut nichts zur Sache. „Wie ich diese Landschaft hasse“, singt sie voller Zorn dem Publikum entgegen, „und wie sich diese Landschaft von mir hassen lässt!“

Es ist also pure Fiktion, lustvoll inspiriert von der Stuttgarter Inszenierung, aber sie nicht abbildend, wenn nun dieser Faden weitergesponnen wird. Wenn eine kleine Dora heute leben würde in der Vorstadt, dann wäre sie noch etwa zwanzig Jahre mit dem Rest der Welt vor allem durch die Damm-förmige Lebensader verbunden. Diese wird dann eine normale Straße sein, weil aus den Baugruben Häuser gewachsen sein werden. Dora wird dann Schatten suchen unter den Bäumen, die dafür endlich groß genug sein könnten, und die Spielplätze werden verwaist sein, weil Dora nicht mehr spielen möchte. Sie will jetzt etwas Neues haben vom Leben, etwas Abenteuerliches.

Gesucht: Ein Zauber

Aber wie soll das dann gehen in dieser Vorstadthölle? Kaum zu übertreffen an Langweiligkeit und Konformität ist auch dann noch diese Welt, die ihr die Eltern geschaffen haben, sich verschuldet haben, um das Kind in eine Idylle einzusperren, die es niemals gab. Die es nicht gab, als man sich unter dem üppig geschmückten Weihnachtsbaum versammelte, die Geschenke aufriss und nichts darin fand, was das Herz berührte. Die es nicht gab, als die Eltern stritten und sich quietschend versöhnten; die es auch nicht gab, als sie über den Damm ihrer Eintönigkeit entflohen, all inclusive in die Türkei, immer auf der Suche nach dem „Sondern“, dem anderen. Gefunden haben sie es nicht, sondern immer war es nur ein teurer Tausch der einen Konformität gegen die andere gewesen.

Also wird Dora ausbrechen aus dieser Welt ihrer Eltern, die sie ohnehin nur mit drögen Vorhaltungen quälen. Sie wird die Welt erkunden wollen, nachsehen wollen, was es gibt jenseits der Fressnäpfe für Mensch und Tier. Einen Zauber wird sie suchen, ganz für sich allein, der ihrem Leben Sinn und Orientierung geben kann, ganz im Faust´schen Sinne hinausweist über die Monotonie der Vorstadthölle.

Gefunden: Ein Mann vom Amt

Aber was sie zunächst finden wird, ist: Ein Mann vom Amt. Ein Bürokrat wird ihr Vorträge halten darüber, sie sei viel zu jung zum Verzweifeln, und im Übrigen bestehe sein Auftrag darin, „hier etwas Ordnung zu schaffen“. Das genau wird Dora nicht suchen, denn diese Ordnung ist für Dora nur „Stumpfsinn, Trübsinn, Langeweile, Alltag“. Die Hilfe dieses alten weißen Mannes wird sie also ausschlagen, blind dafür, wer da in Wirklichkeit vor ihr steht. Mit pubertärem Zorn wird sie den Teufel verscheuchen, missmutig noch einmal zurückkehren in die verhasste Vorstadt, zurück in die Welt der selbstverschuldeten bequemen Perspektivlosigkeit hinter den primelbewaffneten Vorgärten.

Aber der Teufel wird über ausreichende Mittel verfügen, Doras Schicksal zu bestimmen. Er wird den in sie verliebten jungen Mann in bösartige Verstrickungen locken, die mit einem Suizidversuch enden werden. Immerhin, der schöne Jüngling wird überleben, wenn auch für das Leben gezeichnet und verstummt.

Der Teufel manipuliert das Leben der wütenden Dora. Hier ist er als Bürokrat unterwegs. Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Dora wird entsetzt sein über die Wirkung ihrer Emotionen. Und wieder wird der Teufel locken: Wie leicht würde Dora sich ihrer Verantwortung für den Geliebten billig entledigen können! Aber Dora ist klug, und sie wird verstanden haben: Es gibt kein „Sondern“ außerhalb des eigenen Lebens. Und so wird sich Dora ihrem Schicksal zuwenden: Gemeinsam mit dem Geliebten, und sei der noch so beschädigt, wird sie sich der Aufgabe stellen, des Lebens Sinn in der Vorstadt zu finden.

Mit dem letzten Paukenschlag verlischt das Licht

Als in der Oper „Dora“ dieser Moment erreicht ist, trommelt und kracht es, scheppert und vibriert das ganze große Opernhaus. Drei Schlagwerke, verteilt in den Logen, zeigen das Ende der Oper an, ein musikalischer Höhepunkt dieses an sinnlichen Unvergesslichkeits-Momenten reichen Abends modernen Musiktheaters. Noch während die Pauken krachen und die Trommeln wirbeln, wenn noch alles zittert und bangt, geht das Licht an, im ganzen Saal. Der Teufel ist vertrieben. Mit Dora und ihrem Geliebten finden wir uns im Licht der Realität wieder, und dann, mit dem letzten Paukenschlag, verlischt es doch. So schön, so intensiv und sensibel wurde die unabwendbare Sterblichkeit noch selten auf einer Opernbühne in Szene gesetzt, und der begeisterte Applaus holt alle zurück in diese Welt, der wir nicht entfliehen können.

Epilog

So bleibt noch, als Ende dieses Textes, also nicht der Oper selbst, über die Versöhnung der wütenden Dora aus der Vorstadt mit der Welt ihrer Kindheit zu spekulieren:

Viele Jahre später wird Dora vielleicht das Reihenhaus ihrer Eltern geerbt haben. Das Herbstlaub der großen Bäume wird hineintreiben in die dann zugewachsenen Gärten, die keinen Rasenroboter mehr brauchen, da dichtes Gebüsch die kleinen Flächen überwuchert. Keine Trampoline und keine gesattelten Holzpferde werden mehr triefen im Nass des Regens, und die Spielplätze werden ersetzt sein durch seniorengerechte Parkbänke. Dorthin wird Dora ihren Partner im Rollstuhl schieben, wird dort sitzen und darauf warten, dass der mächtige Tod sie sanft herausholen möge aus der unentrinnbaren Vorstadt.

 

„Dora“ ist ein uneingeschränkt empfehlenswertes Erlebnis. Mehr Infos dazu bei der Oper Stuttgart. Aufführung an mehreren Terminen im März und Anfang April, zuletzt in dieser Spielzeit am 4. April.

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

Gesehen habe ich die Generalprobe am 29. Februar 2023. 

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Immersive Art – and Politics?

Die moderne Lust am Mittendrin-Erlebnis

Hereinspaziert! Das ultimative Erlebnis wartet. Es ist fast wie früher auf dem Jahrmarkt: „Eine Frau ohne Beine! Öffentliche Hinrichtung ohne Blut!“ Schaudernd und zögerlich stand man davor: Soll man diesen Verlockungen folgen? Selbst dabei sein, mittendrin, nicht nur davor?

Immersive Art verspricht das intensive Kulturerlebnis. Im Kirchengewölbe (hier der Stuttgarter Kirche am Feuersee) ist virtuell die Schöpfungsgeschichte zu erleben. Wie wäre es mit Immersive Politics? (Auf dem rechten Foto ein Blick auf die Großdemonstration für Demokratie in Hamburg am 20.1.2024)

 

Die Attraktionen von heute warten nicht auf das nächste Volksfest, sondern lauern in den würfelförmigen Zweckbauten der Moderne am Rande unserer Städte. „Aufwändige Installationen und Projektionen erzeugen in Verbindung mit Musik rauschende Farbwelten und lassen die Gemälde auf noch nie zuvor gesehenen Weisen lebendig und spürbar werden“, wird in Aussicht  gestellt, und: „Erleben Sie selbst, wie sich für Sie Illusion in Realität verwandelt!“ Illusion in Realität? Das ist viel versprochen, das muss man doch erleben.

Vorgebuchte Timeslots für schmucklose Hallen

Mit solchen Lockrufen wirbt beispielsweise „Monets Garten“ für ein immersives Kulturerlebnis rund um den französischen Ausnahmekünstler. Die bunten Welten der virtuellen Kunst boomen und verführen mit interaktivem Spektakel zum Besuch der großen Namen mit den berühmten Bildern.  Menschen, die sonst vielleicht niemals ein Museum betreten hätten, strömen für das immersive Erlebnis zu vorgebuchten Timeslots in schmucklose Hallen, und zahlen dafür satte Eintrittsgebühren.

Mit Vincent van Gogh kann man sich so übergießen lassen, geradezu virtuell ertrinken in seinen Sonnenblumen, oder auch in das endlose Gold von Gustav Klimt abtauchen. Leonardo da Vinci, Claude Monet, Rene Magritte, Frida Kahlo, Salvador Dalí – sie alle wurden schon immersiv aufbereitet. Das Erlebnis beschränkt sich dabei nicht auf die digitale Vervielfältigung des Einmaligen, nicht auf die Vergrößerung des großartig Kleinen ins Vielfache. Es geht um ein sinnliches Gesamterlebnis. Bei „Monets Garten“ kann man über eine mit Plastikblumen ausgeschmückte und synthetischem Fliederduft bestäubte Brücke gehen, also höchst körperlich selbst hineinsteigen in das berühmte Bild mit den Seerosen. Frida Kahlo darf man per VR-Brille durch einen Traumflug folgen, und bei Vincent van Gogh wird dazu eingeladen, sich virtuell in das berühmte Schlafzimmer von Arles hineinzubeamen.

Selfie-tauglich in die Überwältigung starten

Das immersive Erlebnis verspricht ein Eintauchen (engl. Immersion) in die Bild- und Farbwelt eines Künstlers, und das ganz mühelos und ohne dass auch nur ein einziges originales Bild vor Ort wäre. Replikationen ersetzen die millionenschweren Gemälde, ergänzt um eine einleitende Erlebniswelt mit ein paar Informationen zum besseren Verständnis. Gut ausgeleuchtet, Smartphone-Selfie-tauglich wird der Kunstfreund so auf die sinnliche Überwältigung vorbereitet. Die wartet in der großen Halle, über und über bespielt mit Projektoren. Die künstlerische Farbwelt überflutet den Besucher, der dort selbst zur nebensächlichen Projektionsfläche wird, denn eigentlich perlt die Bilderwelt über die Wände und auch auf den Boden. Von sanften Klängen umspielt darf man sich in die bereitliegenden Sitzsäcke fallen lassen, und dann gibt es Seerosen ohne Ende, überall, so schön und nah, wie man sie nie erleben könnte, wenn man ins Museum ginge. Dort würde kein Sitzsack warten und wäre auch keine Musik zu hören. Man dürfte sich unter dem strengen Blick des Aufsichtspersonals dem oftmals als überraschend kleinformatig empfundenen Original allenfalls auf einen halben Meter nähern.

Seerosen ohne Ende … bei „Monets Garten“ sitzt man inmitten eines virtuellen Seerosenteichs. Das Konzept der Überwältigung funktioniert, Menschen erleben Kunst, die vielleicht niemals ein Museum aufsuchen würden.

Da mögen nun die altklugen Kunstkenner die Nase rümpfen über so viel flachen Kommerz und so wenig echte Aura, über die billige Vervielfältigung des Einmaligen, auch über die eitle Sucht, sich ständig selbst digital verewigen zu wollen in der Welt der Großen. Aber das Prinzip Wachsfigurenkabinett funktioniert auch mit Malerei: Wer das Original nicht haben kann, fotografiert sich eben mit der gut gemachten Kopie.

In kirchlichen Gewölben wachsen Pflanzen

Mittendrin, nicht nur davor. Bei solchem Erfolg wollen nicht einmal die Hüter der biblischen Schöpfungsgeschichte beiseite stehen. Unter dem Titel „Genesis“ verteilen sich derzeit die virtuellen Wassermassen strohtrocken über die Kirchenbänke, erlebt der zahlende Besucher die Geburt der Sterne und das erste Licht des Lebens, wachsen in kirchlichen Gewölben dank moderner Projektion gewaltige bunte Pflanzen und versinken dann in der Evolution. „Die audiovisuelle Reise nimmt das Publikum mit in die Erschaffung von Sonne, Mond und Sternen, der Tierwelt und den Menschen“, verspricht der Veranstalter. Und auch hier sind die Kirchenbänke gefüllt bis auf den letzten Platz, die effektvoll ausgeleuchteten Gotteshäuser so voll wie selten sonst im regulären Religionsbetrieb.

Mittendrin im Pulk ist die Kraft zu spüren

Mittendrin, nicht nur davor. Hereinspaziert in die Demokratie!, könnte doch da auch ein politisch bewusster Jahrmarktsgaukler rufen. Wie ist denn schließlich heute Politik zu erleben? Öde ist der flüchtige Blick auf den Bildschirm, das Lauschen nebenbei aufs Radio, das langweilige Scrollen durch die Nachrichten auf dem Smartphone. Das Geschehen um das Gemeinwohl kann so nicht mit sinnlicher Pracht erlebt werden. Wer den Blick stets nur auf die kleinen Bilder heftet, die uns das nimmermüde Netz zuspielt, verpasst das große Bild – das immersive Abenteuer der Demokratie.

Also raus zum lebendigen Politikerlebnis! Hinauszugehen auf den Platz, der Einladung zur Demonstration oder zur Kundgebung zu folgen, sich zu nähern der Gruppe Gleichgesinnter, zu erleben, wie sie wächst und größer wird, wie sie schließlich eine Macht bildet, jedenfalls an diesem Platz und zu diesem Augenblick – das ist die ultimative Erfahrung von immersive politics. Mittendrin im Pulk ist die einende Kraft zu erahnen, die den Einzelnen mit dem wildfremden Nachbarn in der Masse verbindet, ist zu spüren, dass es möglich ist, sich gemeinsam bemerkbar zu machen.

Gewiss, dieses immersive Erlebnis geht vorüber, verglüht wie van Goghs virtuelle Sonnenblumen oder Monets versickerter Seerosenteich in der ausgeleuchteten Eventlocation. Aber immerhin: Einmal wenigstens war man mittendrin, nicht nur davor; einmal ist man der Einladung zum Mitmachen gefolgt. Warum nicht öfter? Es ist ganz kostenlos und ein echtes Erlebnis.

 

Immersive Kunsterlebnisse gibt es derzeit in vielen Städten in Deutschland. Hier eine Auswahl: Frida Kahlo kann man so noch bis 7. April in Berlin erleben, Claude Monet derzeit in München, Hannover, Dresden, Freiburg und Frankfurt und Vincent van Gogh ab 16. Februar in Erfurt.

Die biblische Schöpfungsgeschichte „Genesis I und II“ gibt es derzeit in München zu sehen, und ab 15. Februar auch in Hamburg.

Politische Demonstrationen zur Verteidigung der Demokratie gibt es an vielen Orten. Eine aktuelle Übersicht veröffentlicht z.B. regelmäßig der Deutsche Gewerkschaftsbund.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier, als #Politikflaneur da.

Verirrt im Virtuellen, ratlos in der Realität

Doug Aitkens Videokunst und Freys Mini-Stuttgart – Zwei Ausstellungsbesuche

Das Licht kam aus Neonröhren. Wenn Wolfgang Frey (1960 – 2012) sein Lebenswerk betrat, seine „Festung der Einsamkeit“ (so das Stuttgarter Kulturprojekt SOUP), wenn er den Schlüssel herumdrehte, um in seine eigene, weitgehend geheim gehaltene Welt einzudringen, dann war dies ein 450 Quadratmeter großer, fensterloser Raum im Zwischengeschoss einer Stuttgarter S-Bahn-Station. Frey drückte dann vermutlich einen Schalter. Die Röhren blinkten, flackerten kurz, erwachten schließlich verlässlich zu ihrem kalten Leben, und nun lag sein Werk vor ihm, das Ergebnis unfassbaren Fleißes und manischer Akribie, nie fertig, eine ewige Baustelle. Eine gewaltige Landschaft aus Gleisen und Grabsteinen, aus Pappe und Plastik, aus Vision und Wahnsinn hatte er geschaffen, keine Modelleisenbahnanlage, sondern ein zeitgeschichtliches Kunstwerk.

Im Schauwerk blinkt und blitzt es in aseptischer Reinheit

Inzwischen ist jene dunkle Halle im Untergrund des Stuttgarter S-Bahn-Netzes einem anderen Zweck zugeführt worden (was das für das Werk bedeutete, bleibt noch zu schildern), aber auf dem Weg nach Sindelfingen, zu einer anderen dunklen Halle, käme der Kulturflaneur sogar vorbei an dieser Kasematte schwäbischer Besessenheit. Das Ziel in Sindelfingen ist auch hier ein fensterloser Ausstellungssaal, auch dieser in eher spröder Umgebung zwischen einem Möbel-verkaufenden „Erlebnis-Wohnzentrum“ und der Ödnis dahingewürfelter Bürogebäude platziert. Anders als in Freys gigantischem Bastelkeller ist in Sindelfingen immerhin der öffentliche Zugang erwünscht; man soll schauen im „Schauwerk“, dem Museum der Schaufler-Stiftung. Im dunklen Raum dort blinkt und blitzt es in aseptischer Reinheit. Auf gewaltigen Bildschirmen, die im Rund angeordnet sind, läuft in Endlosschleife eine Bilderserie mit dem Namen „Wilderness“. Mal zuckende, mal tanzende, dann wie im Trance verharrende Figuren verbringen einen virtuellen Tag von Sonnenauf- bis -untergang, ratlos und verloren in der ganzen Schönheit ihrer digitalisierten Einsamkeit. Denn echt ist nichts in dieser blankgeputzten Wildnis, alles ist virtuell, es sind nur noch bunte Bilder, die das Leben bilden, hier in Sindelfingen und auf Instagram, auf Tiktok, auf Youtube.

Alles bewegt sich, und doch geschieht nichts im Panorama der bunten Bilder von Doug Aitkens Videoinstallation „Wilderness“. „Return to the Real“ heißt die Ausstellung im Schauwerk Sindelfingen. Foto: Frank Kleinbach, bereitgestellt von Schauwerk Sindelfingen

Return to the Real!

Return to the Real! Der international renommierte US-amerikanische Videokünstler Doug Aitken hat diese kreisrunde Virtualität für das Sindelfinger „Schauwerk“ geschaffen, die dort noch bis 16. Juni 2024 zu sehen ist. Der Ausstellungtitel „Return to the Real“ – Zurück zum Realen – ist blanker Hohn gegenüber dem Gezeigten, eine absichtsvolle Absurdität. Inmitten des bunten Videospektakels, mit Musikfetzen und Geräuschen unterlegt, findet sich der Betrachter in Ratlosigkeit wieder, irrt herum, sucht nach gedanklichen Auswegen aus dem Panorama der digitalen Bilder. Bis er schließlich ahnt, dass seine eigene Orientierungslosigkeit auch die der Figuren ist, die da sinnieren und singen, tanzen und sitzen und warten, dass endlich etwas geschieht. Immer wieder leuchten ihre Handydisplays, aber sie bleiben leer, nichts ist zu erkennen darauf. Es ereignet sich wenig, schon gar nichts Reales, und so mündet das letzte dumpfe Blinken der Autoscheinwerfer durch die Dunkelheit dieser Nacht im Sonnenaufgang für einen weiteren solchen Tag.

Frey bastelte Tausende Grabsteine und Bäumchen

Kein Luftbild: Der Stuttgarter Pragfriedhof in Wolfgang Freys Nachbildung.

Der Stuttgarter Eisenbahn-Angestellte Wolfgang Frey interessierte sich in seinem dunklen Saal im S-Bahn-Zwischengeschoss nicht für Virtualität, sondern nur für das Reale. Er schuf in zwanzig Jahren „eine original- und maßstabsgerechte Nachbildung“ (so der Ausstellungsprospekt „Stellwerk S“) großer Teile der Stuttgarter Innenstadt und des inzwischen in einer Großbaustelle versunkenen Hauptbahnhofs der Schwabenmetropole. Er fummelte aus Pappe und Holz, aus Abfallmaterialien, Spülschwämmen, Plastikstrohhalmen und Radiergummis in Eigenbau 450 Gebäude im Maßstab 1:160 zusammen, von deren Vorbildern viele heute schon nicht mehr stehen. Er schnitzte für die Minitaturausgabe eines Großfriedhofs 2500 Grabsteine, bastelte Tausende Bäumchen, bemalte Hunderte Automodelle und Schienenfahrzeuge, verlegte kilometerweit Kabel. Das tote Leben dieser Miniaturwelt, deren Schöpfer, deren Gott, er war, steuerte er schließlich mit einem eigenen Stellwerk, das er originalgetreu seinem eigentlichen Arbeitsplatz bei der Bahn nachbildete. Entstanden ist so das „größte Stadtmodell Europas“ (Prospekt) auf einer Fläche von 180 Quadratmetern. Dann starb Wolfgang Frey 2012 überraschend im Alter von 52 Jahren, und ließ sein übermenschliches Werk im Dunkel des S-Bahn-Zwischengeschoss zurück. Bis heute ist die Stadt, die er nachbaute, ratlos, wie mit diesem Erbe umzugehen ist.

Doug Aitkens Bilderkreisel wird abgebaut werden, wenn die Sindelfinger Ausstellung endet. Die großen Videowände sorgsam verpackt, die Projektoren in gepuffte Folien gewickelt, die steuernde Software heruntergefahren. Das Werk wird in die nächste dunkle Halle verbracht werden, wo es wieder zu seinem virtuellen Leben erweckt wird und unsere eigene Ratlosigkeit ausbreiten kann vor uns selbst.

In der Realität musste zerhackt und zersägt werden

Return to the Real! Als Wolfgang Frey tot war, herrschte bleierne Ratlosigkeit im Umgang mit seiner riesigen Modellwelt. Die Bahn wollte ihr Zwischengeschoss wiederhaben, kaum jemand hatte zuvor das Werk jemals gesehen. Es war auch von Frey gar nicht gebaut worden als Gegenstand der allgemeinen Bewunderung, sondern als Sehnsuchtsort für seine eigene Welt. Schließlich musste die riesige Anlage brutal zerstückelt werden, die Gleise abgehackt, die Kabel gekappt, die Berge herausgesägt, der Friedhof geteilt werden, um das Monstrum erstarrter Zeitgeschichte überhaupt herauszubekommen aus dem Dunkel des Untergrunds.

Stau im Maßstab 1:160 – Freys zeithistorisches Kunstwerk legt die Banalität des Realen offen: eine gescheiterte Verkehrspolitik und zweckorientierter Nachkriegs-Städtebau.

Nach einer Zwischenstation sind nun die Fragmente im Stuttgarter Stadtzentrum, gleich gegenüber vom nachgebildeten Bahnhof, zu besichtigen. „Stellwerk S“ nennt sich das Ladengeschäft, in dem Ehrenamtliche versuchen, im zähen Ringen mit Staub und Geldnot die Ruinen von Freys analogem Bastelwerk der virtuell verwöhnten Öffentlichkeit von heute zu präsentieren. Die Bruchstücke, die dort, nun bei Tageslicht, zu sehen sind, vermitteln wenigstens in Ansätzen, welchem akribischen Wahnsinn dieser große Schöpfergeist des Realen nachjagte. Ganz nebenbei und vielleicht ohne Absicht hat dieser auch noch das ganze Scheitern der Stuttgarter Verkehrspolitik (nur Stau auf allen Straßen, sogar im Modell) verewigt, und auch die raffgierige Dürftigkeit einer Nachkriegs-Städtebaupolitik, die nur die schnelle Nutzbarmachung, nicht aber die Ästhetik eines Stadtbildes im Blick hatte. Frey hat genau diese Realität nachgebaut, hält sie seiner Stadt nun als Spiegel der Banalität in Karton und Farbe vor die Nase.

Zieht man den Stecker, versinkt die virtuelle Welt im Dunkel

Zwei Ausstellungsbesuche lassen erleben, wie sich in zwanzig Jahren Wahrnehmung und Zeitgeist verändert haben. Bei Aitken blinken die sauberen bunten Bilder einer sich ständig wiederholenden, nie endenden Suche nach Sinn, und zieht man den Stecker, versinkt diese Welt im beliebigen Dunkel. Freys verrücktes Miniatur-Stuttgart ist dagegen ein bitteres Abbild der Realität. Seine Tausenden Staub-ergrauten Bäumchen, seine akribisch sortierte Ödnis der Grabsteinchen, seine Tristesse der immer gleichen Bürohäuser, die verblassenden Aufschriften der inzwischen schon versunkenen Geschäfte, die schon zum Zeitpunkt ihres Nachbaus totgeweihten Industriehallen, die erstarrten Staus auf den Straßen – sie allesamt mahnen an das banal Reale, das uns umgibt.

Da hilft kein Stecker, ratlos bleiben wir zurück, hier wie dort.

 

 

„Return to the Real“, die Ausstellung des Videokünstlers Doug Aitken ist noch bis 16.6.202 zu besichtigen im Schauwerk Sindelfingen.

 

Die Stuttgarter Miniaturwelten „Stellwerk S“ sind zu finden gegenüber dem Hauptbahnhof am Arnulf-Klett-Platz 1-3. Geöffnet ist üblicherweise von Mittwoch bis Sonntag von 13 bis 17 Uhr. Das Projekt kämpft ums finanzielle Überleben; mit jedem Besuch des Werkes von Wolfgang Frey unterstützt man auch dessen Erhalt.

 

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Fünfzig Jahre nach Ho Chi Minh

Mit dem Rad durch Vietnam und Kambodscha – ein politisch geprägter Reisebericht

Von Hubert Seiter

Das alte Saigon heißt jetzt Ho Chi Minh-City – aber von den Schrecken des Vietnam-Krieges ist im Alltag kaum etwas zu spüren. Überall begegnen dem Touristen überaus freundliche Menschen. (Foto: Seiter)


 

 

Hubert Seiter war von 1996 bis 2016 Geschäftsführer der Rentenversicherung Baden-Württemberg. Ehrenamtlich engagierte er sich in zahlreichen Institutionen, unter anderem im Krebsverband Baden-Württemberg, in zahlreichen Patienten- und Behindertenorganisationen und als alternierender Vorsitzender im Verwaltungsrat des Medizinischen Dienstes (MD) Baden-Württemberg. Seiter ist passionierter Radfahrer und lebt in Bietigheim-Bissingen. (Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg)


„Ho Ho  – Ho Chi Minh!“ –  dieser rund fünfzig Jahre alte Schlachtruf weckte meine Erinnerungen bei einer Radreise im Spätherbst 2023 nach Vietnam und Kambodscha. Als „Bub vom Land“ habe ich damals die weltweiten Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner zunächst nur aufmerksam verfolgt. Erst zum Schluss habe ich mich getraut mitzudemonstrieren, aber bitte möglichst unauffällig. Als junger „Beamtenanwärter für den gehobenen, nichttechnischen württembergischen Verwaltungsdienst“ wusste oder ahnte ich, dass solche Aktivitäten den allermeisten Chefs – Landräten oder Bürgermeistern (damals fast nur Männer) – gar nicht gefallen würden.

Das alles ging mir auf dem viel zu langen Flug nach Saigon durch den Kopf, pardon: nach Ho-Chi-Minh-City – wie die 9-Milionen-Metropole seit 1976 zu Ehren des 1969 verstorbenen Revolutionärs und Präsidenten von Vietnam heute offiziell heißt. Drei Wochen lagen vor mir, in denen ich überwiegend auf dem Rad durch Südvietnam, durch das riesige Mekongdelta, und schließlich im benachbarten Kambodscha die Hauptstadt Phnom Penh und die unzähligen Tempel in Angkor Wat entdecken würde. Ich wollte mehr, und auch etwas darüber erfahren: Wie haben die Menschen in diesen Ländern den grausamen Vietnamkrieg gegen die Amerikaner und die nicht minder barbarische Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha verarbeitet – knapp fünfzig Jahre nach Kriegsende im Jahr 1975?

Das frühere Saigon lächelt

Das frühere Saigon lächelt, als ob nichts gewesen wäre. Man sieht fast nur junge, überwiegend sehr freundliche Menschen auf den Straßen. Das Durchschnittsalter der knapp 100 Millionen Einwohner Vietnams liegt gerade mal bei 32 Jahren – in Deutschland beträgt der Vergleichswert 45 Jahre. Die wenigsten Menschen haben daher unmittelbar mit- und überlebt, wie die USA in einer beispiellosen Material- und Menschenschlacht in Vietnam einen „Stellvertreterkrieg gegen den Weltkommunismus“ (so der Marco-Polo-Reiseführer „Vietnam“) geführt hat. Viele Millionen Tonnen Bomben, chemischen Kampfmitteln („Agent Orange“), einfach alles, was modernste Waffenarsenale damals hergaben, wurde eingesetzt.

Geschätzt 3,5 Millionen Menschen – Soldaten und Zivilisten – wurden getötet, unzählige Menschen verletzt und vertrieben. Es gibt Gedenkstätten, welche die Erinnerung an die Gräueltaten und an den stolzen Sieg wachhalten, z.B. in Cu Chi. Nachzuerleben ist dort, wie die „sehr schmächtigen Vietnamesen“ unter der Erde ein Tunnelsystem, auch mit Schutzräumen und Krankenhäusern, gegraben haben, das für die „beleibten Feinde“ unzugänglich war. Auch ein Museum mit allerlei Kriegsgerätschaften gibt es. Im Alltag dominierend ist die Erinnerung an diese Zeit jedoch nicht. Auf den mit tausenden Mopeds überfüllten Straßen habe ich keinerlei Hass gespürt. Man hat offensichtlich selbst mit Amerika seinen Frieden gefunden – spätestens seit dem Besuch von Bill Clinton im Jahr 2000, berichtet unser kundiger Reiseführer.

Gibt es eine „Verzeihenskultur“?

Kann das stimmen? Mir ist es zu einfach und ich nehme mir deshalb vor, mich zu Hause intensiver mit Konfuzius, Buddha und dem Daoismus zu befassen. Vielleicht finde ich Erklärungen für „eine Friedens- und Verzeihenskultur“, Werte, die beim Aggressor Putin, aber auch bei vielen „Zündlern“ in der NATO derzeit leider überhaupt keine Konjunktur haben.

Der Mekong mündet im zweitgrößten Delta der Welt (nach dem Amazonasdelta) in das Südchinesische Meer. Diese Landschaft auf dem Rad zu entdecken ist überwältigend. Fischfang, große Reisfelder, Handwerksbetriebe, viele Fähren (statt Brücken) und zunehmend -hoffentlich – auch ein bald wieder wachsender Fremdenverkehr, ermöglichen vielen Menschen ein bescheidenes Auskommen. Wir übernachteten überwiegend in sog. Homestays und ließen uns von vietnamesischer Hausmannskost verwöhnen. In allen Variationen gab es Fisch, Fleisch, vielfältiges Gemüse, Reis und tolle Früchte zum Nachtisch. Besondere Gewürze machten den (großen) Unterschied zum „Vietnamesen um die Ecke“ in Deutschland.

Auf kleinen Pfaden fuhren wir von Dorf zu Dorf.  Unser Guide hat es geschafft, uns fünf Tage lang durch das Delta zu lotsen, ohne dass wir einem Touristen begegnet wären, immer und überall begleitet von nur freundlichen Menschen, die uns „Hello“ zujubelten.

Mitten in Phnom Penh: Eine Begegnung auf Deutsch

Mit dem Tuk-Tuk durch Phnom Penh gefahren werden – und dabei kann man viel darüber erfahren, wie es war, als Arbeitskraft in der früheren DDR gelebt zu haben. (Foto: Seiter)

Dann weiter nach Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas. Die Busfahrt aus dem märchenhaften Mekongdelta und ein langwieriger Grenzübergang – trotz einiger Dollar Bestechungsgeld – waren eine angemessene Einstimmung. Im Reiseführer steht: „Die 600 Jahre alte Hauptstadt (ca. 2 Mio. Einwohner) ist auf einer rasanten Zeitreise ins 21 Jh. und dem bäuerlichen Rest des Landes um Lichtjahre voraus“ (Marco Polo „Kambodscha“). Nicht ganz so viele Mopeds gibt es dort wie in Saigon, dafür aber sehr viele Tuk-Tuks – motorisierte Rikschas. Unglaublich, was auf diesen „Dreirädern“ alles transportiert werden kann! Wir fanden ein Tuk-Tuk mit einem hervorragend Deutsch sprechenden Fahrer. Bis zur Wende war er „auf Arbeit“ bei Zeiss in Jena. Er hatte viel zu erzählen, auch aus seinen Lehr- und Arbeitsjahren in der DDR. „Gönnt euch einen Abend in dem Dachkaffee eines Hochhauses“, empfahl er uns. Wir folgten dieser Empfehlung und genossen einen wunderschönen Sonnenuntergang über den Dächern von Phnom Penh… bei Cocktails zu einem Preis, den sich unser „deutscher“ Tuk-Tuk-Fahrer trotz üppigem Trinkgeld wohl kaum leisten kann.

Segen und Fluch des Tourismus

Bleibt zu hoffen, dass Kambodscha im Aufschwung doch noch erspart bleibt, was sich – leider – anzudeuten scheint: Sextourismus und/oder Raubtierkapitalismus. Je ein Edelkarosse „Maybach mit Chauffeur“ in Saigon und in Phnom Penh werteten wir dafür als nicht unbedingt gute Zeichen.

Nicht mehr zu entscheiden hat man das in Angkor mit seinen unzähligen Tempel- und Klosterruinen im Dschungel. Dort gibt es bereits im benachbarten Siem Reap eine Partyszene. Nicht auszudenken, wenn jetzt – nach Corona – wieder der Massentourismus aus China einsetzt. Die Kehrseite: Über 300 Hotels (2022), und doch sind viele Gaststätten in Siem Reap immer noch geschlossen, viele Reiseführer arbeitslos. Stattdessen verkaufen Kinder im Vergnügungsviertel kleine Souvenirs und tragen so zum kümmerlichen Lebensunterhalt ihrer Familien bei.

Da einfach nur mildtätig kaufen nicht mein Ding ist, versuchte ich mit einigen – meist – VerkäuferInnen ins Gespräch zu kommen. Ein besonders neugieriges und wissbegieriges kleines Mädchen hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ich bat sie gestenreich, sich zu uns zu setzten. Auf einer Papierserviette löste sie kleine Rechenaufgaben und vergaß dabei einige Minuten völlig ihren „Job“. Die Serviette – und einen Dollar für einen kleinen Anhänger – packte sie in ihr Täschchen. Wir trafen sie auf dem Heimweg nochmals. Freudestrahlend – und ich glaube auch etwas stolz – zeigte sie uns die Serviette aus ihrem Täschchen.  Ich nahm mir vor, zu Hause nach Projekten zu suchen, die Kindern in Kambodscha – immer noch eines der ärmsten Länder weltweit – Schule und damit Zukunft ermöglichen.

Zwei Tage unterwegs, nur einen Bruchteil gesehen

Einen Teil der riesigen Tempelanlagen in Angkor zu entdecken – verteilt auf eine Fläche so groß wie Berlin! – gelingt am besten auf dem Rad. Auf dem Mountainbike, abseits der Massen, geführt von einem kundigen Guide war es ein unbeschreibliches Erlebnis, im Dschungel nicht nur die gängigen Tempel zu finden. Zwei Tage waren wir unterwegs und haben doch nur einen Bruchteil der sehenswerten Ruinen gesehen. Einfach unvorstellbar, was die Hochkultur der Khmer vor eintausend Jahren hier geschaffen hat. Diese Schätze der Vergangenheit zu schützen und zu erhalten, ist eine Herkulesaufgabe – nicht nur für das arme Kambodscha, sondern für die ganze Welt!

Mit dem Fahrrad durch den Dschungel, und dabei die geheimnisvolle Tempelwelt des Angkor Wat entdecken – ein unvergleichliches Erlebnis. (Foto: Seiter)

Auch dafür ist der nagelneue, hochmoderne Flughafen von Siem Reap Segen und Fluch zugleich. Millionen von Touristen werden in den nächsten Jahren erwartet. Sie bringen die dringend notwendigen Devisen in die Region und nach Kambodscha, aber die Touristen sind auch eine Gefahr für die unverfälschte Freundlichkeit dieser liebenswerten Menschen und den Erhalt der unschätzbaren Kunstwerke vor Ort.

Auf dem Rückflug: Träumen ist erlaubt

So war für mich während des 13-stündigen Fluges zurück von einer nachhaltig- beeindruckenden Reise durch Vietnam und Kambodscha das Träumen angesagt: Bemühen wir uns alle um viel mehr und behutsame Wertschätzung. Reagieren wir wütend auf unmenschliche und unsagbar teure Kriege auf der Welt. Fordern wir Versöhnung statt Revanchismus! Christen, Juden, Buddhisten, Muslime, Atheisten – einfach alle sind gleichermaßen verpflichtet!

 

Dieser Text ist ein Gastbeitrag auf vogtpost.de und gibt ausschließlich die persönliche Meinung von Hubert Seiter wieder.

Wer der Empfehlung von Hubert Seiter folgen und Projekte für Kinder in Kambodscha unterstützen möchte, kann dies an zahlreichen Stellen tun. Hier eine Auswahl: UNICEF-Projekte für Kambodscha, SOS-Kinderdorf in Kambodscha, oder das Projekt „Raise and support the Poor“, das dem Autor persönlich bekannt ist.

 

Mit dem Vietnam-Krieg und wie er in den USA und Deutschland wirkte, setzt sich auch der Text „Vom Frieden träumen, im Krieg aufwachen“ auseinander, veröffentlicht anlässlich eines Musical-Besuchs von „Hair“ in Saarbrücken im Frühjahr 2023.

 

Winternachtstraum – Ein Kulturspaziergang

In schweren Zeiten unterwegs zu einer barocken Feier des Lebens

Tausendfach berühren weiße Tupfer den Asphalt, ein steter Strom nimmermüder Zwecklosigkeit, denn sogleich schmilzt das Weiß dahin, wenn es den Boden erreicht hat. Im Dämmerlicht bedarf es der Straßenlampen, denn erst deren Lichtkegel macht das endlos herabsinkende Raster des Schnees sichtbar. Was waren das für Zeiten, denkt der vorweihnachtliche Flaneur, als es noch galt, jeden Regentropfen herbeizusehnen in der sommerlichen Hitze und Trockenheit! Jetzt ist es nasskalt. Es ist Winter.

Alles schwebt, alles dreht, alles fliegt – Oper als „barockes Fest des Lebens“ verspricht der Abend „La Fest“ von und mit Eric Gautier in der Stuttgarter Oper. Und jedes Wort davon ist wahr. (hier: Diana Haller) Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Fahl glitzert und blinkt es im nassen Licht. Im dahinschmelzenden Schnee triefen die Buden des Weihnachtsmarktes vor sich hin. Glühweinfreunde ducken sich unter die zu schmalen Vordächer, von denen es auf die Kapuzenköpfe tropft. Die tausend Lichter der Adventszeit schimmern wieder sorglos ins das Schneegestöber. Noch vor einem Jahr wurde gebangt, wie lange der Strom für Notwendigeres reichen wird. Noch immer ist es eine Welt voller Besorgnis, in die hinein die Lämpchen und Lichterketten nun ihre Eitelkeit verschwenden. Menschen überfallen einander, massakrieren ihre Nachbarn aus religiösem Eifer oder nationalistischem Hass. Die Antwort ist legitime Notwehr, eine Tat der Not. Glück entsteht so nicht, auch der wehrhafte Überfallene muss Leid zufügen.

Soviel Solidarität ist noch

Fünf Euro für einen Glühwein! Die Inflation!, wägt der Budenbesitzer das Haupt, kein Personal, die Energiekosten! Unter einem Trauf sucht der Flaneur Schutz, damit das teure Gebräu nicht auch noch vom steten Strom der nassen Flocken verdünnt wird. Immerhin: So viel Solidarität ist noch, dass die anderen Glühweintrinker willig zusammenrücken, um Platz zu machen am klebrigen Stehtisch. Das gemeinsam erduldete Nass verdrängt den vorschnellen Hass, der als unstillbarer Strom herausquillt aus dem Handy, sobald man die populären Netzwerke des Bösen aufsucht. Auf dem Weihnachtsmarkt gibt es keine Häme und keinen Spott für das notleidende Gemeinwesen, das eingeklemmt ist zwischen den Regeln des Staates und den Krisen der Welt. Höchstens für das Selfie wird das wasserempfindliche Gerät gezückt, sonst ist die winterliche  Tändelei ein wohltuend digitalfreier Schonraum.

Ein Klang bricht sich seinen Weg

In ein paar Stunden wird der Weihnachtsmarkt schließen. Dann versiegt der Strom des teuren Glühweins, die letzte wärmende Bratwurst wird verspeist sein, die bunte Bude mit dem Zuckerzeug verbarrikadiert. Was bleibt, ist der Missmut: Das Milliardenloch im Haushalt, die Ratlosigkeit der ruhelos Regierenden, die Sprachlosigkeit des stocksteifen Kanzlers. Noch rieselt der nasse Schnee, noch dudelt die Musik aus dem quäkenden Lautsprecher über den Glühweinfreunden.

Was für Töne sind denn das?, grübelt der Flaneur, keine Weihnachtsklänge, sondern tastender Barock, breite Akkorde, kaum hörbar zwischen den Rufen der Kinder, dem Gequietsche des Karussells? Dann bricht sich der Klang seinen Weg, jubelnd, triumphierend. Eine Musik, die das Unbeschreibliche beschreibt, dem Aufglühen der Raketen Töne verleiht, ihrem Hinaufsteigen in den Himmel, ihrem kurzen Triumph, ihrem Verglühen in einer strahlenden Explosion der Farben, zweckfrei wie ein prächtiger Blumenstrauß, der verblühen wird. Ein Trost in Leben und Schönheit. Jetzt jubelt die Musik in ihrem Feuerwerk, das sie beschreibt.

Wie wäre es mit einem Fest?

Ein Feuerwerk als Musik! Ja, wie wäre es denn, statt der ganzen schweren Gedanken einfach ein Fest zu feiern? Um alles hinter sich zu lassen, was belastet, wenigstens für ein paar Stunden? Ein nächtlicher Traum wäre das, wirbelnd in einem Rausch aus Musik, Tanz, Gesang. Ein paar Stunden nur wie von Sinnen, albern, sinnlich, mit berstender Leidenschaft auf den Lippen, mit ungeahnter, noch niemals entdeckter Energie in den Gelenken, voller verrückter Ideen im Kopf? Wie wäre es, alle Last hineinzuschieben in Momente des heiteren Spiels, über sie hinwegzulachen, wie es Kinder können?  Mit Topfschlagen und Flaschendrehen, mit der schnellen Suche nach einem freien Platz auf der Reise nach Jerusalem, ja genau jetzt: Nach Jerusalem!

Heillos verliebt dahinschweben, auch das dürfte einmal wieder sein für ein paar Stunden. Sich willenlos dem Glück des Lebens hingeben, hinaus aus der eigenen Routine der langweiligen Pflichten, hinein in die Hoffnungen von Leidenschaft und Fantasie. Bunt flattern wie die Schmetterlinge, vielarmig umarmen wie eine Krake, laut feiern, in der Musik versinken, knallig, schmissig – wie wäre es damit? Bei so einem Fest müsste sich gewiss auch die ganze Fragilität unseres menschlichen Daseins hineindrängen: Die eigene Dummheit und das Lernen daraus, die zwischenmenschlichen Abgründe, der Streit, die Eifersucht. Und unsere Sterblichkeit gar, die uns umklammert? Alles das würde dazugehören, weil es uns ausmacht, weil es der lauernde Ernst ist, der menschlicher Sinnlichkeit heiteren Sinn verleiht.

Die Fantasie muss fliegen, die Gedanken torkeln

Noch immer nasskaltes Schneetreiben. Der Flaneur fröstelt. Die Gespräche unter dem dürftigen Wasserschutz sind belanglos. Der teure Glühwein glüht schon längst nicht mehr. Die Bratwurst liegt schwer im Magen. Ein Fest, so ein Fest, in dem alles möglich ist, das die Fantasie fliegen, die Gedanken torkeln lässt, das wäre jetzt richtig. Ein Fest, das die Schwere des Lebens nicht ausblendet, sondern für ein paar wunderbare Stunden leicht werden lässt wie eine Traube silberner Luftballons.

Das ist mein Winternachtstraum, denkt sich der Flaneur, und lenkt seine Schritte unter dem schneedurchstöberten Nachthimmel, vorbei am träge in seinem Rund gefesselten Riesenrad, hinüber ins Stuttgarter Opernhaus. Dort gibt´s jetzt so ein Fest.

 

 

 

Die Barock-Revue im Stuttgarter Opernhaus mit dem Titel „La Fest“, gestaltet und inszeniert und auch selbst präsentiert von Eric Gautier, entzieht sich einer regulären Schilderung. Sie ist als gesamtsinnliches Erlebnis der Extraklasse jeden Weg Wert, nicht nur den hier geschilderten kurzen vom Stuttgarter Weihnachtsmarkt hinüber zum Opernhaus. Wer noch dabei sein will bei diesem ebenso klugen, fantasievollen, leichtfüßigen, wie auch nachdenklich stimmenden Fest, muss sich allerdings auf das Glück an der Abendkasse verlassen. Schon jetzt sind alle derzeit geplanten neun Vorstellungen im Dezember 23 und Januar 24 ausverkauft.

(Premiere am 3.12.2023; gesehen habe ich die Generalprobe am 30. November).

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Ideale Fehlbesetzung für das große Glück

Wolf Biermann erzählt vom ewigen Kampf für die Freiheit

Natürlich steht am Anfang die Gitarre. Noch bevor Wolf Biermann irgendetwas gesagt hat in einer Podcast-Aufnahme, die erst enden soll, wenn der Gast der Meinung ist, dass „alles gesagt“ sei, greift er zur Gitarre. Er sing eines seiner Lieder, und stellt dann die Gitarre zur Seite, seufzend fast. „Hier geht es ja nicht im Lieder“, sagt er, „heute soll geredet werden.“ Wie ein stiller Gast wird die Gitarre auf dem kleinen Podium verbleiben, geduldig wartend, bis sie mehr als sieben Stunden später wieder erklingen wird. Dazwischen wurde geredet.

Geredet über Deutschland. „Ist Biermann moderierbar?“, hatte sich Co-Moderator Jochen Wegner, Chefredakteur von „Zeit online“ bei einem Kollegen mit Erfahrung im Umgang mit dem 86-jährigen erkundigt, und als lapidare Auskunft ein „Nein“ erhalten. Diebische Freude hat der kleine Wolf daran, jede Regie durcheinanderzubringen, sich jeder Anweisung zu widersetzen. Eine Schar von Biermann-Fans hatte sich dafür im Rahmen des Hamburger Harbour Literatur-Festivals in einem ausverkauften Tonstudio durchaus kuschelig zusammengefunden.

Gezeichnet von vielen Stunden schwerer Last eines Gesprächs über deutsche Geschichte: Wolf Biermann im Gespräch mit Christoph Amend, Editorial Director ZEITmagazin, bei der Podcast-Aufnahme „alles gesagt“ in Hamburg

Biermann moderiert sich selbst

Biermann führt hier das wortwuchtige Kommando, moderiert sich nahezu selbst in diesem mäandernden Gesprächsmarathon. Ein Leben wird da ausgebreitet, das Leben einer deutschen Ikone der Gegenwart. Wie konnte dieser kleine Mann mit dem markanten, heruntergezogenen Schnauzbart dazu werden?

Im Laufe der Gesprächsstunden mangelt es nicht an Selbstbeschreibungen des putzmunteren Gastes, der von seinen Gastgebern als „größter Drachentöter der deutschen Nachkriegsgeschichte“ begrüßt wurde. Immer wieder tadelt er sich selbst als „Idiot“, schlägt sich gegen die eigene Stirn dabei, spart aber mit solcher Bewertung auch nicht gegenüber seinen Mitmenschen. Vor allem sei er ein Glückskind, eine „ideale Fehlbesetzung“, wundert er sich in eigener Sache. Wer ihm folgt über alle diese Stunden, geduldig den Redeschwall aushält, mit ihm seine häufigen Denkpausen durchschweigt, unterwirft sich seiner geschulten Dominanz, die prallvoll ist von einem deutschen Leben.

Eine Biografie, die verstummen lässt

Zuhören ist also angesagt. Aber diese Biografie lässt ohnehin jeden verstummen, der sie nicht durchlebt hat. Gesäugt an der Brust wurde er, während seine Mutter in den Gestapo-Verhörräumen mit klugen Lügen das Schicksal des Vaters zum Guten zu wenden versuchte. Erfolglos, denn der Vater war zu stolz, sich retten zu lassen. Wolf Biermann, der aus einer Hamburger Kommunisten-Familie stammt, war drei Monate alt, als sein Vater von den Nazis (bereits zum zweiten Mal) verhaftet wurde und nicht mehr freikam, bis sie ihn 1943 in Auschwitz ermordeten. Als Jude, wozu sich der Vater ausdrücklich gegenüber den SS-Schergen bekannt hatte, obwohl er als Kommunist ja eigentlich gar keinen Gott kennen wollte.

Als 17-jähriger siedelte der kleine Wolf Biermann im Jahr 1953 auf Veranlassung der Kommunistischen Partei in die gerade erstandene DDR über, ohne seine Mutter, aber mit ihrem Einverständnis. Schon wieder so ein Glücksfall, meint der Sohn heute, da die Mutter sich niemals dem diktatorischen Duktus der DDR-Bonzen untergeordnet hätte: „Die wäre in Bautzen gelandet“.

Aber so blieb die Mutter im Westen, und der Sohn legte sich im Osten mit den Bonzen an. Unbeugsam verfolgte er seinen künstlerischen Weg, der ihn schon bald isolierte in der berühmten Wohnung in der Chausseestraße, wo seine ersten illegalen Plattenaufnahmen entstanden. Nach und nach geriet Wolf Biermann in die Heldenrolle „dieses deutschen Theaterstücks, das wir aufführen“, wie er sagt.  Wer hätte erwarten können, dass dieser in einer kommunistischen Arbeiterfamilie aufgewachsene Hamburger „Jung“, einmal so gefährlich für den Arbeiter- und Bauernstaat werden könnte, dass dieser ihn 1976 in den verhassten Westen entließ, nur um ihm dann eine Rückkehr zu verweigern?

Loswerden wollten sie ihn, aber das Gegenteil haben sie erreicht

Loswerden wollten sie ihn, den Unbequemen, aber das Gegenteil haben sie erreicht. Er wurde zum Kronzeugen für viele, die dreizehn Jahre später mit dem damals noch so mächtigen, unbelasteten Ruf „Wir sind das Volk“ massenhaft den Kollaps des Systems herbeidemonstrierten. 5000 Menschen kamen am 1. Dezember 1989 zu seinem ersten Konzert nach dem Mauerfall nach Leipzig. Sein Auftritt war damals so bedeutend, dass beide deutschen Fernsehanstalten, Ost wie West, ihn live übertrugen.

Nochmal 25 Jahre später saß der Drachentöter im Bundestag, nicht gewählt, sondern eingeladen, mit Gitarre natürlich, und zupfte sein Lied von der „Ermutigung“. Zuvor aber ließ er es sich nicht nehmen, auch nicht vom launigen Hausherren Norbert Lammert, bei dieser Gelegenheit die unmittelbar vor ihm versammelten Linken-Politiker als „Drachenbrut“ zu beschimpfen. Der Präsident ließ ihn damals gewähren, was ihm Kritik einbrachte, aber beide zu Freunden machte. Vor einiger Zeit, erzählt Biermann, sei er dann von Lammert, der inzwischen Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ist, in die CDU-Parteizentrale eingeladen worden. Dorthin sei er seinem Freund zuliebe natürlich gerne gekommen. Neben Lammert habe dann da aber auch der Friedrich Merz gesessen, und da habe er zu dem gesagt: Na, wenn Sie mich eingeladen hätten, dann hätte ich natürlich abgesagt.

Unbeugsam, rebellisch, selbstgewiss: Es bedarf viel Disziplin, Wolf Biermanns Erzählungen über mehr als sieben Stunden zu folgen. Wer es tut, blickt staunend und sprachlos auf eine deutsche Biografie der Sonderklasse.

Ein Rebell ist er also geblieben, der Kommunistensohn, unbeugsam jetzt als straffer Antikommunist.  Die Mischung aus Schalk und Haltung lässt im Laufe der Gesprächsstunden in Hamburg die Luft immer nebeliger werden vor lauter gelebtem Leben, sanfter Wut und sprachlicher Fantasie. Biermann schreibt Lieder und Gedichte, die oft nicht gefällig sind, anstrengend, aber auch klug, voller Kraft und Wortwitz, der nichts zu tun hat mit dem billigen, berechneten Humor von Komödianten. Ein ganz einmaliges Amalgam schafft er, ist er selbst, eine Mischung aus Stolz und Trotz, aus Reflexion und Scharfsinn, aus kontrollierter Angst und unbändiger Lebenslust.

Und nun? Biermann ist 86 Jahre alt, kein „verdorbener Greis“ (wie er 1989 die Nomenklatura der versinkenden DDR gegeißelt hatte), sondern ein Institution der deutsche Geschichte. Ruhig könnte er sein, sich in Hamburg-Altona zurückziehen. Oft genug Recht behalten, könnte er sich denken, der schon immer vor Putin gewarnt hatte, der die DDR von innen kritisierte, als dazu noch ein Maß von Mut gehörte, das sich die von einem Rechtsstaat verwöhnten Kritiker deutscher Wirklichkeiten von heute gar nicht mehr vorstellen können.

Resignieren ist keine Option, sagt der alte Kämpfer

Aber der proletarische Kämpfer in ihm lebt noch immer. Wie er auf das heutige Deutschland blicke, auf den Rechtsruck im Osten,  wie man das alles aushalten soll mit AfD, mit Populismus, mit dem von Putin angezettelten Krieg?

Lange muss er nachdenken. Mucksmäuschenstill ist es im Tonstudio, keiner zuckt, keiner räuspert, bis Biermann sich eine Antwort zurechtgelegt hat: Der Krieg in der Ukraine, sagt er dann, und auch die Hinwendung vieler Menschen nach rechts, das seien doch letztlich auch nichts anderes als Teile des großen Freiheitskrieges, den die Menschheit führen muss, schon seit Jahrhunderten. Schon immer eigentlich, setzt er hinzu. Zu resignieren sei keine Option, sagt er,  nirgends, die Freiheit gibt’s nur im Kampf, nicht umsonst.

„Was wird mit meinem Vaterland?“

Schließlich der Griff zur Gitarre. „Was wird mit meinem Vaterland?“, singt er, und bricht doch wieder ab. Es gibt noch etwas loszuwerden, über die DDR, über die Feigheit, über die Stasi und die Uneinlösbarkeit ihrer Vertraulichkeitsversprechen. Dann setzt er neu an und bringt das Lied zu Ende. Es geht um Putin und seine Todesfurcht „vor eine Frau, die Freiheit heißt“.

Damit ist nach seiner Meinung alles gesagt, und nach sieben Stunden und vierzig Minuten trotten erschöpft die verbliebenen Zuhörer hinaus in den Hamburger Nieselregen, hinaus in die „fetten finst´ren Zeiten“, wie der in einer jüdisch-kommunistischen Familie aufgewachsene „Drachentöter“ in seinem Schlusslied noch reimte. Finstere, fette Zeiten – es ist der Abend von Freitag, dem 6. Oktober 2023, und am nächsten Morgen ermorden Hamas-Terroristen in Israel mehr als 1200 wehrlose Menschen.

 

Den ZEIT-Podcast mit Wolf Biermann in voller Länge finden Sie kostenlos unter diesem Link: https://www.zeit.de/politik/2023-11/wolf-biermann-interviewpodcast-alles-gesagt

Von dem in meinen Text angesprochene Konzert in Leipzig gibt es einen Mitschnitt auf Youtube, wie auch von Biermanns Auftritt im Deutschen Bundestag zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.  (Klick führt jeweils zu Youtube).

Noch bis 2. Juni 2024 widmet auch das Deutsche Historische Museum in Berlin Wolf Biermann eine Ausstellung: https://www.dhm.de/ausstellungen/wolf-biermann-ein-lyriker-und-liedermacher-in-deutschland/

Weitere Texte als #Kuturflaneur finden Sie hier. 

 

 

 

 

Aktuell kein Messias in Sicht

Eine politische Textarbeit über Händels Oratorium „Messiah“

Herbstregen in Deutschland. Die Tropfen platschen auf die Windschutzscheibe, breiten sich aus, bis der unermüdliche Wischer sie zur Seite schaufelt. Es dämmert ungewohnt früh. Ah, Sommerzeit vorbei, erinnert sich der Kirchgänger. Stimmt, heute Morgen länger geschlafen. Dafür muss man jetzt den Preis bezahlen: Es ist dunkel, wenn es noch hell sein sollte. Finsternis jetzt, Dunkelheit überall.

Ein Windstoß treibt einen Schwall brauner Blätter über die Straße, eines davon verfängt sich im Blech unterhalb der Scheibe, will sich dort festhalten, aber der Fahrtwind zerrt es auf das rutschige Glas, wo es der Wischer zur Seite schiebt. Kein Halt auf dem Glatt, da segelt es fort, zur Seite, irgendwohin, seinem fauligen Tod entgegen.

Wegschauen ist auch keine Lösung

„Die Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wird immer schlimmer“, nimmt sich der Nachrichtensender im Autoradio wichtig. Nichts neues also, denkt sich der Kirchgänger, nichts neues nach den Meldungen der letzten Tage. Vielleicht die Bilder gar nicht mehr ansehen? Die Bilder von den blutigen Betten, in denen Menschen ermordet wurden? Keine Kamerafahrten mehr ertragen? Keine Videos voller zerbombter Trümmer, panisch rollender Krankenwagen, blutiger Pritschen mehr zur Kenntnis nehmen?

Andererseits: Wegschauen ist auch keine Lösung.

Der Kirchgänger drückt auf den Knopf, der das Radio abstellt. Mit welchem Recht fahre ich hier herum, satt und sicher, geht ihm durch den Kopf, während er einen Parkplatz sucht. Was soll ich hier, während überall die Menschen sterben, um ihr Überleben kämpfen. In Israel. In Gaza. In der Ukraine. Und an tausend anderen Orten auf der Welt. Im strömenden Regen steigt er aus, fummelt seinen Schirm heraus. Autos zischen vorüber. Da erwischt ihn ein Schwall Wasser von hinten. Zu spät springt er zur Seite. Es gibt keine Sicherheit mehr.

Barocke Klänge füllen die Friedenskirche

Als er die Kirche betritt, die „Friedenskirche“ heißt, wartet kein Gottesdienst. In Gottesdienste geht der Kirchgänger schon lange nicht mehr. Aber in Kirchen geht er gerne, oft sucht er dort die Stille des Raumes, das Glück des Lichts, den Duft der Kerzen. Heute lockt ihn die Musik, die den Raum füllen wird. „Messiah“ heißt das Werk, das zur Aufführung kommt.

Die Friedenskirche füllt sich schnell. Dann erstirbt das Surren der geflüsterten Gespräche und das Rascheln der Jacken und Mäntel um ihn herum. Die barocken Klänge dringen auf den Kirchgänger ein, sie bohren sich in ihrer berechenbaren Gefälligkeit in seine Sinne. 275 Jahre ist es her, dass das gottesfürchtige Oratorium von Georg Friedrich Händel in Dublin erstmals erklang. Zweieinhalb Stunden wird es dauern.

Eigentlich warten Christen wie Juden gleichermaßen

Der Kirchgänger liest mit, was da gesungen wird, und vielleicht ist das ein Fehler in diesen aufgewühlten Zeiten. Wer geht schon wegen des antiquierten Textes in ein Oratorium aus der Barockzeit? Da geht es doch um die Musik, um die schönen Stimmen, um den wuchtigen Chor! Aber er kann nicht anders, er muss auf Deutsch lesen, was in Englisch zu hören ist.

Ein Messias ist wörtlich übersetzt ein „Gesalbter“, hier in einer Darstellung aus dem 3. Jahrhundert n.Chr.: Samuel salbt David; Wandmalerei in der Ruinenstadt Dura Europos, heute Syrien, nahe der irakischen Grenze. Foto: gemeinfrei aus Wikipedia

Die Geschichte, die erzählt wird, ist ein Kirchenstreit der Jahrtausende. Der Kirchgänger kramt in seinem abgespeicherten Halbwissen. Der Messias, das ist doch der, auf den die Juden noch warten? Für die Christen war er schon da, in Gestalt von Jesus Christus. Andererseits: Auch für die Christen soll er nochmal wiederkommen. Also eigentlich warten beide. Unstrittig sollten also in heutigen aufgeklärten Zeiten zwei Dinge sein: Erstens, dass die Idee ursprünglich jüdisch ist, wonach ein Messias, ein „Gesalbter“, die Menschen aus ihrem Zustand erlösen könnte. Und der Zustand ist schlecht, denn da steht es doch im Text: „Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich, und Dunkel die Völker“.

Und zweitens, dass er auf alle Fälle kommen oder wiederkommen wird: für die Christen erneut, für die Menschen jüdischen Glaubens erstmals. Händels „Messiah“ erzählt aber fromm nur die christliche Version der umstrittenen biblischen Geschichte. Suchend blättert der Kirchgänger vor und zurück im Textheft – kein Hinweis auf die jüdische Sicht. Sicher zu viel verlangt in einer christlichen Kirche, räumt er ein.

Der Kirchgänger schreckt auf: „Halleluja!“ wird gejubelt.

Ganz verloren war der Kirchgänger in der meditativen Folge der Klänge, ganz abgeschweift in seinen Gedanken. Da ruft ihn der Chor lautstark zurück: „Halleluja!“, wird gejubelt. Anschwellend, von den Trompeten und Pauken unterstützt, ansteigend, wuchtig, füllen die Töne des geistlichen Gassenhauers die Kirche, rollen immer wieder neu über die Konzertbesucher hinweg. Halleluja! Halleluja! „Der allmächtige Gott regiert, wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit! Halleluja!“

Vielleicht besser nicht, werden sie denken in Tel Aviv, wo sie sich vor den Bomben der Hamas in die Keller flüchten müssen. Oder bei uns, wo Menschen jüdischen Glaubens sich nicht mehr mit Kippa auf deutsche Straße trauen. Oder in der Ukraine und in Gaza, wo Hilfe fehlt für die Kranken und Alten, für alle, die schutzlos die Folgen tragen müssen in Kriegen, die ohne ihr Zutun über sie gekommen sind.

Keine gute Zeit für ein christliches Halleluja, meint der Kirchgänger. Müde folgt er dem weiteren Verlauf des Oratoriums. Die edlen Töne tragen ihn fort, die Auferstehung der Toten wird verhießen, der Sieg des ewigen Lebens über das irdische Sterben. Dann schließlich singt der Chor vielstimmig: „Amen“. Beifall brandet auf, anfangs schüchtern, dann immer stärker. Ermattet klatscht auch der Kirchgänger. Seit Monaten haben die wackeren Sänger, das feinsinnige Orchester, der engagierte Chor das alte fromme Werk eingeübt, Note um Note, Ton um Ton. Nichts haben sie mit seinen Textzweifeln zu tun.

Noch immer herrscht Finsternis und Dunkel

Noch immer Finsternis und Dunkelheit rund um die Friedenskirche. Autos brausen vorbei, Konzertbesucher strömen auseinander in ihre verwöhnte Welt, in der Frieden herrscht und Freiheit dazu. Es hat aufgehört zu regnen. „Heute wieder antisemitische Demonstrationen in deutschen Innenstädten“, meldet das Autoradio. „Die Polizei griff ein und beschlagnahmte verbotene Flaggen und Spruchbänder, die das Existenzrecht Israels in Frage stellten.“

Der Kirchgänger schaltet das Radio ab. Kein Messias in Sicht. Und wir singen hier Halleluja? Nein, nein, denkt er sich. Das passt nicht.

 

Erlebt habe ich die Aufführung des „Messiah“ von Georg Friedrich Händel (Link führt zu weiteren Informationen auf Wikipedia) durch die Kantorei der Karlshöhe in der Friedenskirche Ludwigsburg am 29. Oktober 2023. Mehr über das Konzert, die Mitwirkenden und Bilder davon auf der Webseite der Kantorei Karlshöhe. 

Die Friedenskirche in Ludwigsburg ist auch Teil meiner Sammlung der #1000Kirchen, nämlich als #51.