Moderner Narziss im Blütenmeer

Ein Besuch bei der Tulpenblüte in Holland

Reihe um Reihe recken die Tulpen, abertausende, vielleicht Millionen ihre farbigen Köpfe der Sonne entgegen. Dort, wo sie dicht an dicht stehen, schützt sie ihre eigene Pracht davor, einfach zertrampelt zu werden. Aber an ihrem Ende franst die Reihe aus, wird löchrig, und eine einzelne Pflanze hat schließlich das traurige Schicksal, dort ganz am Rand zu stehen, als äußerster Vorposten der Blütenpracht, gerade noch dazugehörig und doch schon gefährlich vereinzelt.

Diese Tulpe ist es, die größte Gefahr läuft, von Narziss übersehen zu werden.

Der schöne Jüngling war verliebt in sein Spiegelbild

Um diesen schönen Jüngling aus der griechischen Mythologie geht es in diesem Text. Die gelbe Frühlingsblume „Narzisse“, hierzulande auch oft als „Osterglocke“ bekannt, verdankt ihm ihren Namen. Die Sage erzählt, dass Narziss sich so sehr in sein eigenes Spiegelbild verliebt habe, dass er von den Göttern schließlich in diese Blume verwandelt worden sei. Gemeint war dies als eine Art Erlösung oder Gnade, damit die grenzenlose Eigenliebe irgendwann und irgendwie enden kann.

Narziss – verliebt in sein eigenes Spiegelbild – Gemälde von Michelangelo Merisi da Caravaggio (ca. 1599) – Foto: Gemeinfrei via Wikimedia

Auch ein Narzissenfeld, fast bis zum Horizont reichend, gehört zur „Tulip Barn“, der „Tulpenscheune“, einer Art Schaubauernhof für Tulpenfreunde in der holländischen Blumenregion Bollenstreek. Man sollte nicht überrascht sein, dort auf Selbstverliebtheit zu stoßen, denn schon die Webseite wirbt mit eindeutigen Verlockungen: „Entdecken Sie unseren Selfie-Garten“, wird versprochen, und: „Wir haben über 20 tolle Fotomotive platziert und ihn so zum Traum eines jeden Instagrammers gemacht.“

Dieser Lockruf zum unproblematisch Schönen, zum scheinbar Harmonischen, zum unpolitischen Blühen und Wachsen, das die Schrecknisse dieser Welt nicht kennt, besser noch: farbig überstrahlt – hallt weit hinaus während der Wochen der Tulpenblüte in Holland. Menschen aus aller Welt pilgern dorthin, wandern und radeln, oder stauen sich zu den Großparkplätzen. Allesamt sind sie voller Erwartung auf das magische Blütenwunder.

Der Tulpenwahnsinn erblüht zu Millionen

Zu Recht. Der Tulpenwahnsinn erblüht zu Millionen in praller Farbenfreude, soweit das Auge reicht. Mal in einheitlicher Farbe knallt einem schrilles Rot oder leuchtendes Gelb entgegen, dann wieder in gemischter Pflanzenformation die ganze bunte Welt der Tulpen, Hyazinthen oder Narzissen. Es ist fast des Schönen zuviel.

Auf der Suche nach der (eigenen?) Schönheit: Tulpenblüte in Holland als modernes Narziss-Erlebnis.

Eitel sind sie, diese Blüten, wie sie sich in ihrer vergänglichen Farbpracht dem Betrachter entgegenöffnen, ihn mit ihrem Duft locken, mit ihrer Vielfalt überwältigen! Aber noch eitler ist doch die Spezies Mensch, die Eintritt bezahlt, um Teil dieser Natur-Inszenierung werden zu können. Den „Traum eines jeden Instagrammers“ bereitzustellen, bedeutet: Nicht nur die blühende Überwältigung muss her, sondern auch sonst alles, damit schöne Fotos entstehen.

Ein bunt betulpter Oldtimer steht da, eine romantische Hollywood-Schaukel lädt zum Wippen im Blütenkranz, rosa Stühle im Tulpenfeld sorgen für die richtige Kulisse. Farblich passende Schmetterlingsflügel verwandeln den Fotografierten in ein liebenswertes Rieseninsekt, und auch menschhohe Spiegel im Tulpentsunami dürfen nicht fehlen. Narziss, hier als Tulpenfreund, will sich vor dem Hintergrund der Tulpenpracht selbst sehen und bewundern.

Es klickt und klackt und posiert sich

Ein lebendiges, selbstverliebtes Gewusel herrscht also zwischen den prächtig erblühten Pflanzreihen, es klickt und klackt und posiert sich das Volk der Narzissten vor dem bunten Hintergrund. Da werden Röcke gerichtet, Sakkos geschlossen und Haare drapiert, es wird gehüpft und getanzt und sogar manche filmende Drohne schwirrt über das Blütenmeer.

Aller Narzissten Blicke sind so gerichtet auf die eigene Schönheit, und die der Blüten wird zur Kulisse für eine große Inszenierung der Selbstliebe. Da bleibt kein Blick übrig, hinab vom Display, diesem Spiegelbild der Moderne, hinunter auf den grauen Grund, aus dem die Blüten herauswachsen, sich freigekämpft haben aus ihrer Zwiebel, das harte Erdreich durchstoßen haben, getrieben von ihrer Sehnsucht nach Licht.

Und ach – die arme kleine Tulpenpflanze, die das Schicksal ganz an den Rand der Pracht gedrängt hatte, sie lebt schon nicht mehr. Abgeknickt ist die Blüte, ein Selbstverliebter ist draufgetreten auf der Suche nach dem schönen eigenen Spiegelbild.

 

Mehr über die Mythologie des Narziss auf Wikipedia. 

Der Besuch der Tulpenblüte in Holland hinterlässt bleibende Eindrücke. Einen Eindruck dazu gibt es auf der Website der Tulip Barn in Hilegom. 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

Die sinnliche Seite der Zeit

Christian Marclays Videokunstwerk „The Clock“ in Stuttgart

„Sehen Sie nur“, sagt die blondgeföhnte, hochseriöse Dame im Verkauf für sehr, sehr teure Uhren zum solventen Kunden (natürlich ein Mann). „Sehen Sie nur: Die Akkuratesse der Mechanik, wie in jedem Innehalten des Zeigers die Möglichkeit von Stillstand steckt, und wie jedes Mal die gleiche Entscheidung getroffen wird: Weiter, immer weiter, es gibt keinen Weg zurück!“ Sie macht eine kunstvolle Pause, beider Blicke ruhen auf dem winzigen Uhrwerk hinter gewölbtem Glas, und der Kunde nippt am Sekt. „Und welche Eleganz in dieser Unerbittlichkeit liegt“, haucht sie ihm dann in die bereits von Gier geweiteten Ohren, „welche Schönheit und welche Traurigkeit …“

Mit dieser Szene beginnt die zweite Folge der großartigen Fernsehserie „Die Affäre Cum Ex“, die es derzeit ganz frisch in der ZDF-Mediathek abzurufen gilt. Der junge Mann ist zu Geld gekommen und will es standesgemäß in einer edlen Uhr anlegen. „Da wären wir bei 43.800 Euro,“ ergänzt die Dame im Kostüm eher beiläufig, „plus Mehrwertsteuer“, und der Banker blickt auf, aber verbietet sich jedes Zucken angesichts dieser Zahl. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem kleinen mechanischen Wunder.

Die Zeit vergeht, und wir alle schauen zu: „The Clock“ von Christian Marclay (Foto: Kunstmuseum Stuttgart)

Nichts tickt mehr, aufziehen ist out

Die sinnliche Erfahrung eines Uhrwerks muss nicht so teuer sein. Für nicht einmal fünfzig Euro ist ein Bausatz aus 166 Holz- und wenigen Metallteilen zu haben, mit dem auch ein ungeübter Bastler sich seine eigene Uhr zusammenstecken kann. Wer es macht, verbringt ein paar Stunden mit Heraus- und Zusammendrücken der vorgestanzten Zahnräder und Halterungen, mit Messen und Ausrichten, und erlebt dann staunend, wie sein Werk heranwächst. Und: Wie das zunächst tote Material nach einigem Balancieren und Justieren zu magischem Leben erwacht. Die Holzuhr, eben noch ein Stapel flacher Sperrholzbrettchen, tickt tatsächlich, die Zahnräder greifen ineinander, die Unruhe zappelt, das Pendel bewegt sich hin und her, wie von Zauberhand angetrieben (wenn auch in Wahrheit von einer aufgezogenen Feder). Weiter, immer weiter, es gibt keinen Weg zurück!, erzählt dann auch das laute Ticken dieser Uhr, beinahe selbst geschaffen, fast wie aus dem Nichts, und nun ein Symbol für das immer Verheißungsvolle des Kommenden, das ewig Verlorene des Vergangenen.

Seit sich die Digitalisierung auch unserer Zeit bemächtigt hat, ist die hier beschriebene sinnliche Seite des Alltagsgegenstandes „Uhr“ weitgehend verlorengegangen. Da tickt normalerweise nichts mehr, und aufziehen, dagegenklopfen, am Ohr horchen muss man auch nicht mehr. Die Uhrzeit wird schnöde in Zahlen angezeigt, sekundengenau zumeist, und wer die Uhr mit Sonnenenergie betreibt, braucht sich nicht einmal Gedanken um das Ermüden von Batterie oder Akku machen.

„The Clock“ – ein kommerziell erfolgreiches Kunstwerk

Alle diese Gedanken begleiten den Kulturflaneur, wenn er sich dem sensationellen Video-Kunstwerk „The Clock“ nähert. Noch bis 25. Mai ist es erstmals in Deutschland zu erleben – im Kunstmuseum Stuttgart, wegen eines Jubiläums noch dazu bei freiem Eintritt. Der US-amerikanisch-schweizerische Videokünstler Christian Marclay hat es zusammen mit vielen anderen geschaffen, es gibt weltweit davon nur sechs Kopien. Jede konnte Marclay für rund 500.000 US-Dollar verkaufen, vor allem an Museen. „The Clock“ ist damit vermutlich das bisher kommerziell erfolgreichste Werk der Videokunst. Streamen kann man es nicht, weil es eben kein Film ist, sondern ein Kunstwerk, für das Marclay im Jahr 2011 den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig gewann.

Zu sehen ist der Ablauf von genau 24 Stunden, also 1440 Minuten. Um „The Clock“ zu erstellen, wurden Zigtausende von Film- und Fernsehsequenzen gesichtet und nach Szenen durchsucht, in denen Uhren zu sehen sind oder von der Uhrzeit die Rede ist. Rund zwölftausend Filmschnipsel haben es schließlich in das Werk geschafft. Sie sind nicht sinnlos nacheinander gereiht, sondern so, dass sie durchaus so etwas wie eine Ahnung von kurzen Handlungen ergeben. Beispiel: Eine Frau springt aus dem Bett und geht durch eine Tür – Schnitt – eine ganz andere Frau aus einem ganz anderen Film kommt aus einer anderen Tür heraus, nimmt ein Baby in die Hand – Schnitt – Großaufnahme eines weinenden Babys auf dem Arm einer Krankenschwester – diese blickt auf die Uhr im Flur: 11.55 Uhr.

Das Werk über die Zeit ist selbst eine Uhr

„The Clock“ darf nur so synchronisiert gezeigt werden, dass während des Filmes die echte Zeit vergeht – oder auch angezeigt wird, je nachdem, wie man es betrachten möchte. Wenn es also 11.55 Uhr ist, so wird eine Filmszene gezeigt (manchmal auch mehrere), in der es ebenfalls genau fünf vor zwölf Uhr ist: Irgendwo, auf der Uhr an der Wand, auf einer Armbanduhr oder im Gespräch der Filmhandlung. Die Sequenzen bilden nebenbei oft den Tagesablauf ab: Vormittags wird meist gearbeitet, mittags viel gegessen, abends treffen sich Freunde in der Bar, nachts wird geschlafen. So geht das jede Minute, ohne Unterbrechung, 24 Stunden lang. Das Werk über das Vergehen der Zeit ist selbst eine Uhr.

Etwa zwanzig bequeme Sofas stehen im abgedunkelten Raum des Stuttgarter Kunstmuseums. Besuchende können sich hineinsaugen lassen in dieses einzigartige Monumentalwerk der Videokunst. Filmen und Fotografieren ist streng verboten. Minute um Minute vergeht, Stunde um Stunde blickt man gebannt auf die Zeit. Vom 17. auf den 18. Mai könnte man das sogar die ganze Nacht hindurch tun, denn dann hat das Museum aus diesem Anlass rund um die Uhr geöffnet.

„The Clock“ macht süchtig. Lümmelnd auf dem Sofa zieht die Zeit vorbei, sinnlich, vielfältig, tiefsinnig und albern. Beim Schauen auf dieses Räderwerk der Bilder bleibt keine Zeit zum Nachdenken, nur zum Mitspüren. Ist der Moment gelebt, schon ist er verloren. „Welche Schönheit in dieser Erkenntnis liegt!“ Ja, und auch: welch tröstende Traurigkeit. Ein großes, buntes, stumm machendes Erlebnis aus gut verbrachter Zeit.

Mehr zu „The Clock“ im Kunstmuseum Stuttgart finden Sie hier.

Die Fernsehserie „Die Affäre Cum-Ex“ finden Sie in der ZDF-Mediathek.

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In der großen Schule des Zuhörens

Mit zehntausend Anderen bei Ludovico Einaudi

Einer spielt – tausende hören zu. Ludovico Einaudi in der ausverkauften Stuttgarter Schleyerhalle.

Die Herausforderung des Zuhörens wird immer größer. Nicht nur, weil es immer mehr zu hören gibt, sondern auch, weil – genau deshalb – die allgemeine Bereitschaft zum Zuhören sinkt. Die Aufmerksamkeitsspannen reduzieren sich, gesellschaftlich wie individuell, und wir trainieren unser Gehirn immer mehr darauf, nach kürzester Zeit umzuschalten auf den nächsten Kanal. Wir zappen uns durch das Denken und Hören. Dabei kommt das Zuhören unter die Räder, also das pure Hinhören, nicht mitreden, nicht überlegen, was dagegenspricht, nicht an die abgelaufene Parkuhr denken oder an die nächste U-Bahn, die man noch erreichen könnte – sondern einfach: Zuhören.

Nun gibt es besondere Nischen des Zuhörens: Wer beispielsweise in ein klassisches Konzert geht, richtet sich aufs Zuhören ein. Dennoch ist auch dort das geräuschlose Zuhören schwerer als erwartet: Da kommt ein Hustenreiz hoch, dort muss ausgerechnet an den leisen Stellen doch schnell raschelnd ein Bonbon herausgekramt werden, hier fällt plumpsend das Programmheft herunter. Und jedes dieser störenden Geräusche lenkt wieder zig andere Zuhörende vom Zuhören ab, aktiviert Spiegelneuronen und Erinnerungen: Muss ich vielleicht auch gleich husten?

Dass es unter Menschen einfach einmal Stille gibt, um zuzuhören, ist ein nicht selbstverständlicher Glücksfall.

Wo so viele zusammenkommen, wird es rascheln und krächzen

Im mächtigen, allseits herbeieilenden Menschenstrom nähert sich auch der Kulturflaneur der großen Veranstaltungshalle, die für ein Konzert mehr als Zehntausend seinesgleichen aufnimmt. Wo so viele zusammenkommen, wird es unvermeidlich rascheln und rauschen, zappeln und krächzen, tuscheln und husten. Sie alle haben viel Geld bezahlt, um dabei sein zu können, wenn der fast siebzigjährige italienische Komponist und Pianist Ludovico Einaudi eines seiner eher seltenen Live-Konzerte gibt. Mächtige Lautsprecher drohen links und rechts von der Bühne, und beruhigen auch: Sie werden die Töne des Künstlers so verstärken, dass es auf ein einzelnes Räuspern gewiss nicht ankommen wird.

Und doch wird der Abend – neben dem musikalischen Eindruck – vor allem eine Schule darüber, dass auch in den zappeligen Zeiten, die wir durchleben, das pure Zuhören möglich ist. Da kommen sehr viele Menschen zusammen, zahlen viel Geld, um zuzuhören – nicht mitzutanzen, nicht mitzusingen, nicht zu schunkeln oder zu lachen, nicht zuzustimmen oder zu widersprechen, nicht zu pöbeln oder zu jubeln. Sie kommen nicht wegen einer spektakulären Bühnenshow, und keine Handylichter werden geschwenkt werden. Sie kommen, um sich überwältigen zu lassen durch einfaches Zuhören.

Der Meister geizt mit den Worten. Die Musik soll sprechen.

Ludovico Einaudi – Foto bereitgestellt von Konzertagentur Karsten Jahnke

Einaudi geizt mit den Worten. Keine fünf ganzen Sätze fallen; er begrüßt nach zwanzig Minuten die Zuhörenden, er bedankt sich zwischendurch höflich und stellt später seine Musikerinnen und Musiker vor. Mehr nicht. Die Musik soll hier sprechen, und das Publikum soll zuhören. Eher meditativ sind anfangs die Klänge, basieren auf leisen Akkorden. Einaudi verzaubert sie, variiert sie mit häufigen Wiederholungen, bis sie sich steigern in gewaltiger Wucht und einmünden in ein Stampfen und Toben, das die ganze Halle in Schwingung versetzt. In solchen Momenten gibt der Meister am Klavier den Einpeitscher, und die ihn begleitenden Streicher, das Schlagwerk, das Akkordeon – sie alle gleichen dann den Sklaven in römischen Galeeren, die auf ihre Stühle wie gefesselt im Rhythmus durch die Töne rudern, bis ein Mehr an Wucht nicht mehr möglich scheint, bis der pulsierende Takt sich ausgelebt hat. Ein Handwink von Einaudi gibt das Signal zum abrupten Schluss. Dann entlädt sich auch die Anspannung der Zuhörenden, die vom Spektakel der Töne überwältigt, ihr Glück kaum fassen können, nun endlich klatschen zu dürfen.

„Neoklassik“ nennt sich diese Musik

„Neoklassik“ nennt sich diese Art von Musik, minimalistisch, auf die eingängige Wirkung bedacht – und daher unter Musikfreunden nicht unumstritten. Aber was ist schon unumstritten? Immerhin beweist der Abend: Es geht also noch, das Zuhören. Es ist möglich, und zwar nicht nur für eine kleine, gesittete, vielleicht auch so gebildete wie eingebildete Minderheit, die sich Zeit und Raum nimmt, zuzuhören – in edlen Konzerthallen, in prunkvollen Opernhäusern oder in kleinen Zirkeln im Literaturhaus.

Es geht auch in der großen Masse, wenn Tausende zusammenkommen. Es geht ohne Worte, einfach nur für die Töne. Es geht, Menschen dazu zu bringen, zuzuhören. Es muss eben das ein Glück begründen, was es zu hören gibt.

 

Ludovico Einaudi ist zur Zeit auf Tournee. Einige Konzerte in Deutschland gibt es noch im März und im Juni. 

Weitere Eindrücke als #Kulturflaneur fin den Sie hier. 

 

 

 

Die Staudamm-Hymne als Naturerlebnis

Über das Minimal-Music-Oratorium „Itaipu“ von Philipp Glass

Zwanzig Riesenturbinen (der Bus dient dem Größenvergleich) werden am Staudamm „Itaipu“ mit den Wassermassen des Rio Parana angetrieben, verwandeln die Kräfte der Natur in Energie für die Menschen. Wie lässt sich dieses Werk in Musik ausdrücken? (Foto: Wutzofant via Wikipedia)

Irgendwo aus dem Nichts kommt der Ton, der hier das Wasser ist, ein Rinnsal nur. Am Anfang aller Wucht stehen die unendlichen Tiefen von Raum und Zeit. Dann sind aufwachsend tastende Stimmen zu hören. Ein gemischter Chor raunt in fremder Sprache, bedeutungsschwanger und düster klingende Botschaften, und der Zuhörer ahnt ihre Tragweite, von der doch nichts zu verstehen ist. Es zwitschert in den Holzbläsern und brummt in den Bässen, und schon bald wuchten sich Metall und Schlagwerk zu wachsender Dominanz auf, die Wasser werden mehr und schwellen an, werden zum Strom – und spätestens dann hat den Zuhörer diese Musik irgendwo zwischen Herz und Hirn und Ohr gepackt, hat ihn gefangen genommen – oder es wird ihr nicht mehr gelingen in den gut 30 Minuten, die noch folgen.

Meditative Eintönigkeit erzeugt Spannung

Die Rede ist von Minimal Music, einem Genre der Klassik, das mit meditativer Eintönigkeit akustische Spannungen erzeugt, denen sich der Willige kaum entziehen kann oder möchte. Er lässt sich gefangen nehmen von diesem Wunder der stetig wiederholten und doch variierten Töne, die vorbeiziehen wie ein Band von Klängen, genau so lange, bis es langweilig zu werden droht. Und genau dann kommt eine Disruption daher, öffnet sich das Klangbild in einer neuen Überraschung.

Philipp Glass (hier in einer animierten Darstellung von Alvarezroure, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons).

Einer der ganz großen Gestalter dieser Musikrichtung ist der heute 87jährige US-Komponist Philipp Glass. Ein großes Werk hat er geschaffen, so minimalistisch im Ton, so mächtig in seiner Wirkung auf die Musikgeschichte. In seinem Stil ist Glass-Musik sofort erkennbar. Klavier- und Violinkonzerte sind Teile seines Schaffens, Filmmusik, Opern, und auch Sinfonien für großes Orchester. Ein solches wird benötigt für das – vermutlich wegen des erheblichen Aufwandes selten aufgeführte – Oratorium „Itaipu“ über einen – Achtung! – Staudamm. Jawohl, über einen Fluss und den Staudamm, der sich ihm in den Weg stellt.

Wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Vivaldi oder Beethoven?

Ob Musik Geschichten erzählen kann, Landschaften beschreiben, dabei vielleicht sogar politisch ist, darf umstritten bleiben. Es gibt Freunde der Musik, die genau das ablehnen. Davon unbeeindruckt beschreiben berühmte Werke der klassischen Musik Landschaften – jedem und jeder fällt Smetanas „Moldau“ ein. Und wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Antonio Vivaldi oder Ludwig van Beethoven? Mit Tönen kann man auch dem zweitlängsten Fluss Südamerikas, dem Rio Parana, folgen. Glass zeichnet symbolisch seinen Weg nach, beginnt an der eingangs bereits beschriebenen Quelle aus den Tiefen von Raum und Zeit, lässt das Gewässer musikalisch anwachsen, bis es sich zu einem gewaltigen See erweitert, dessen Fläche zweieinhalbmal so groß werden kann wie der Bodensee.

Nur dass die Wassermassen im süddeutschen Voralpenland auf natürlichem Wege die unter dem glatten Spiegel liegenden Abgründe füllen  – der Parana dagegen künstlich in seinem Streben Richtung Meer aufgehalten wird – mit Hilfe einer fast acht Kilometer langen Staumauer, die den Namen „Itaipu“ trägt, „Stein“ in der Sprache der Guarini, jenes Volkes, das hier siedelte. Zwischen 1973 und 1984 wurde der Damm errichtet und stemmt sich seither gegen die Wucht der Physik, ringt der Natur ihre Kraft ab. Glass hat dafür in geradezu enervierender Weise Töne gefunden – repetierend, beruhigend, erregend, abschwellend, sich dramatisch steigernd. Und schließlich werden auch in der Musik die Kräfte des Wassers hineingezwungen in den einzigen Ausweg, der ihnen bleibt. In das Mahlwerk der zwanzig riesenhaften Turbinen, die triumphierend das Ungestüme der Natur verwandelnd in Energie und pure Kraft. Dreiviertel des Strombedarfs des ganzen Staates Paraguay werden hier erneuerbar erzeugt, und immerhin 17 Prozent des Stromhungers Brasiliens gestillt.

Das Oratorium setzt ein Denkmal für die vertriebenen Guarini

Etwa 40.000 Ureinwohner mussten ihre Heimat verlassen, damit der gewaltige See entstehen konnte. Ihnen setzt Glass ein Denkmal mit seinem Oratorium „Itaipu“, denn es wird vom Chor in der Sprache der Guarini gesungen und es erzählt von ihrer Religion. Der Zuhörer bleibt ob des Textes und seiner Bedeutung ratlos zurück, selbst dann, wenn er eine ins Deutsche übersetzte Fassung vor sich liegen hat. Nichts in dieser Geschichte klingt an für unsere Welt, auch wenn es um eine Sintflut geht. Unverständlich fremd bleiben die Bilder und Gleichnisse, die hier ausgebreitet werden – und bald bleibt auch gar keine Aufmerksamkeit mehr übrig, um sich diesen Worten zu widmen. Die Töne, gerade auch die unverständlichen gesungenen, überströmen in anschwellender Kraft das Musikerlebnis, als könnte man die hier beschriebene Sintflut höchstpersönlich erleben.

Philipp Glass hat den Staudamm fünf Jahre nach seiner Fertigstellung selbst besucht und war fasziniert von der gewaltigen Kraft, mit der sich hier Beton und Stahl gegen die Natur stemmt, auch von der technischen Perfektion, mit deren Hilfe der ungestümen Natur Energie für den Menschen abgerungen wird. Ist dieses Werk politisch? Es würdigt die Sprache der verdrängten Menschen, es achtet ihren Glauben an die Überwindung einer Sintflut und setzt ihn in eine kluge Beziehung zur Einmischung des Modernen in ihre Heimat. Es ist eine musikalische Beschreibung, keine Kritik, eine Hymne für das überschwemmt Untergegangene, und ein Jubelgesang für die Kraft des Fortschritts.

Schließlich verrinnen die Töne wie das Wasser in der Weite

Dann, im vierten Satz, sind die Turbinen überwunden, und die geschundenen Wasser verlieren sich nach der Tortur der Energieerzeugung in der Weite des Meeres. Tropfen um Tropfen, Welle um Welle geht es hinaus, und auch der Chor hat nur noch ein breites, zigfach wiederholtes „Ahhh“ zu hauchen. So verrinnen die Töne wie das Wasser, das gerade noch durch die menschlichen Höllenmaschinen gezwungen worden war, mit seiner ganzen Kraft in der Größe der Schöpfung.

Dann ist es vorbei. Zurück bleibt ein noch nie gehörtes Naturerlebnis.

 

 

Das Oratorium „Itaipu“ in einem Konzertsaal zu erleben, ist ein seltenes Vergnügen. Ich hatte die Gelegenheit am 15. Januar 2025 bei einer Interpretation der Münchner Philharmoniker. Wer nicht abwarten möchte, findet das Werk auch hier in einer Aufnahme des Atlanta Symphony Orchestra mit Chor (Klick führt zu Youtube). 

Mehr über den Staudamm von Itaipu und über Philipp Glass jeweils bei Wikipedia.

Mehr Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

Kein Mensch ist „süß“ – Eine Sprachkritik

Warum kein Mensch illegal ist – und auch nicht „süß“

Sie finde ihn „total süß“, sagt die junge Frau über ihren Freund und blickt treuherzig. Besonders „wenn er versucht, die Hemden zu bügeln, die danach mehr Falten haben als vorher“, spottet sie milde. Der Wille zählt!

„Richtig süß“ hat die Betreuerin von Kindern mit Down-Syndrom deren Zuwendungsfreude erlebt. „Wenn die sich dauernd umarmen und so fröhlich sind,“ sagt sie und meint es positiv, „dann können wir Normalos wirklich noch viel davon lernen“. Die ganze Sinnstiftung ihrer Arbeit begründet sie damit.

„Echt süß“ findet der Kollege, wie sich seine Großeltern damit zurechtfinden, per Whatsapp den Kontakt mit ihren Enkeln zu halten. Er meint es nett – aber ist es das auch? (Foto: congerdesign auf Pixabay)

Der Kollege berichtet beim Mittagessen von einem Besuch bei seinen Großeltern. Die älteren Herrschaften hätten sich doch tatsächlich Whatsapp und Facetime angeeignet, um mit ihren Enkeln in Kontakt zu bleiben! Ehrliche, aber herablassende Bewunderung schwingt in seinen Worten: „Alte Möbel und einen verstaubten Röhrenfernseher haben die“, sagt er, „überall noch CD´s und Schallplatten, und dazwischen tippen sie auf ihrem Seniorenhandy herum – echt süß!“

Gewiss ist auch das Neugeborene aus der Nachbarschaft „ganz besonders süß“, wobei die Frage erlaubt sein darf, welches Baby denn nicht „süß“ wäre und wie die übermüdeten Eltern das „süße“ Baby beurteilen, wenn es sich gerade zur tiefsten Nachtstunde nicht beruhigen lassen will.

Sprache ist Ausdruck von Werten

Nun soll an dieser Stelle keiner Sprachpolizei das Wort geredet werden, sondern nur dem sensiblen Sprachbewusstsein. Denn Sprache ist Macht, und genau darum geht es bei der Bezeichnung „süß“ für Menschen und ihr Verhalten.

Wie mächtig Sprache als Ausdruck von Werten ist, zeigt dieses Beispiel: „Kein Mensch ist illegal“. Erstmals hat diesen Satz im Jahr 1988 (auf englisch) der jüdische Friedensnobelpreisträger und Schriftsteller Eli Wiesel ausgesprochen. Daraus ist ein internationales Netzwerk gegen Rassismus und Migrationsfeindlichkeit entstanden. Die vier Worte – „Kein Mensch ist illegal“ – haben eine einfache, aber unmissverständliche Botschaft: Niemand, der sich irgendwo auf der Welt aufhält, ist dort allein aufgrund seiner Existenz illegal. Letztlich drückt sich darin die Idee einer unveräußerlichen Menschenwürde aus: Der Mensch selbst bleibt immer legal, auch wenn er oder sie sich gesetzeswidriges Verhalten vorwerfen lassen muss, falls dafür ein Anlass besteht. Der kann vielleicht auch allein darin liegen, wenn man sich ohne einen vom Staat gewährten Aufenthaltsstatus in einem Land aufhält, das dies nicht erlaubt. Dann ist dieser Aufenthalt illegal, nicht aber der Mensch an sich. Es ist nur eine kleine sprachliche Feinheit – aber sie übt Macht über Menschen aus.

Aber das ist doch nett gemeint!

Ist das eine Nummer zu groß als Parallelität für den kleinen süßen Ausspruch? Wer jemand anderen als „süß“ bezeichnet, der meint es doch nett! Vielleicht. Und doch ist die Bezeichnung „süß“ ein Urteil. Wer in diesem Sinne angeblich „süß“ ist oder handelt, steht nicht auf einer Stufe, wird zum goldigen Mäuschen herabgestuft.

Süß ist Zucker und Schokolade, ein Wein kann süßlich schmecken und ein Parfüm so duften. Wir nennen das „Süßwasser“ süß, obwohl es gar nicht süß ist, sondern nur nicht salzig. Wenn es denn sein muss, mag man das niedliche Kätzchen „süß“ finden. Und auch manche „süße Lust“, mancher „süßer Traum“ kann den menschlichen Körper durchfluten. Die Bezeichnung „süß“ für einen ganzen Menschen oder das Verhalten aber macht die Betroffenen klein. Im feministischen Kontext wird daher diskutiert, ob die Erwartung an Frauen, sich sanft oder „süß“ zu verhalten, wesentlicher Teil ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung sein könnte. Die Kulturwissenschaftlerin und Psychologien Ann-Kristin Tlusty hat darüber ein ganzes Buch geschrieben – mit dem Titel: „Süß“.

Verniedlichung übt Macht aus

Eine Verniedlichung kommt oft liebevoll-freundlich daher, aber sie übt auch Macht aus. Jede menschliche Kreatur ist von Geburt an gleichwertig in seiner Persönlichkeit, so millionenfach unterschiedlich die Wesensmerkmale auch sind – sympathisch oder garstig, freundlich oder abweisend, klug oder dumm –, und auch das Handeln: überlegt oder hitzig, zugewandt oder bemüht, machtbewusst oder schüchtern. Wie auch immer – aber gewiss nicht „süß“.

 

Eine weitere Sprachkritik zur Verwendung des Wortes „Dürfen“ finden Sie hier. 

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Eine Aura kann man nicht ausstellen

Über Musiker-Museen in Deutschland

Friedrich Silcher, dem Großmeister des deutschen Liedgutes der Romantik, war mehr als 100 Jahre ein Museum gewidmet – vor einem Jahr wurde es geschlossen. (Foto: Christoph Friedrich Dörr – Ausschnitt aus dem sog. „Hochzeitsbild“, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1423045

Wie klingt Deutschland? Ganz gewiss vielstimmig: laut und trotzig, wie auch leise und schüchtern. Deutsche Musik klingt gleichermaßen nach glasklarem Barock wie nach ruppigem Deutschrap, lärmt mit Rammstein, träumt von 99 Luftballons, fährt, fährt, fährt mit Kraftwerk auf der Autobahn, und singt sich atemlos.

Deutschland klingt auch nach Friedrich Silcher: „Alle Jahre wieder“ singen die Kinder bald wieder, und der eine oder andere Erwachsene wird mitbrummen. „Ännchen von Tharau“, oder das Lied der Loreley, und schließlich „Muss i denn, muss i denn …“ – alles deutsche Lieder, an deren Erhalt und Vertonung der schwäbische Komponist Friedrich Silcher (1789 bis 1860) entscheidend beteiligt war. Silcher war einmal ein ganz Großer seiner Zeit. Auf einer Ansichtskarte von 1900 wird er in einer Reihe genannt mit Schiller, Zeppelin, Kepler, Uhland und Mörike. Hunderte Straßen und Plätze, Schulen, Konzertsäle und andere Gebäude sind nach ihm benannt. Mehr als hundert Jahre lang wurde ihm in seinem Geburtsort, in Schnait unweit von Stuttgart, ein eigenes Museum gewidmet. Seit einem Jahr ist es geschlossen, und es wird auch nicht wieder eröffnet, sondern aufgelöst. Es ist das Ende eines „Musikermuseums“.

Wer sind Musiker? – Nicht die, denen Museen gewidmet sind

Schon der Begriff „Musikermuseum“ ist bestürzend irreführend. Letztlich gibt es fast so viele Musiker in Deutschland, wie es Menschen gibt, Abermillionen, mitten im Leben, nicht in einem Museum. Es gibt die Trompeterinnen in der Blaskapelle, die Posaunistinnen auf dem Kirchturm, die ungezählten Chorsängerinnen, die Kammermusikerinnen, die sich abends in ihren Wohnzimmern treffen. Es gibt die Akkordeonspielerinnen und die Flötistinnen – und es gibt diese alle auch noch in männlicher Form. Händeringend suchen laute Bands aller Altersgruppen nach gut isolierten Übungsräumen, zirpen leise Gitarren aus Kinderzimmern, grübeln Menschen über die nächste Note ihrer Komposition, üben sich Hobby-Rapper in den richtigen Rhythmus ihrer Worte hinein. Es klingt und spielt in Deutschland allerorten, und alle diese Musizierenden gemeinsam sind auf der Suche nach dem richtigen Ton, der richtigen Taste, dem gesuchten Ventil, der perfekten Lippenspannung.

„Es kann doch wohl nicht sein“, spottete eine Tochter über ihren musikinteressierten Vater, „dass es immer noch Komponisten-Museen gibt, die Du noch nicht besucht hast!“. Doch, das kann sein. Es gibt so viele Musikermuseen in Deutschland, dass sie sogar eine gemeinsame Internetplattform betreiben und eine Landkarte herausgeben. Was dort auffällt: Die meisten große Namen der Musik versammeln sich in einem breiten Streifen durch die Mitte Deutschlands. Das musikalische Band reicht von Bonn im Westen bis nach Dresden im Osten, mit einer Nord-Süd-Breite von vielleicht hundert Kilometern. In Deutschlands Mitte wirkten Johann Sebastian Bach und seine Söhne, Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Robert und Clara Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel, Richard Wagner, Franz Liszt, Carl Maria von Weber und viele weitere. Sie alle werden mit Musikermuseen gewürdigt. Weit nördlich lockt in Hamburg das Komponistenquartier mit Museen für weitere prominente Namen (Georg Philipp Telemann, Johannes Brahms, Gustav Mahler), weit südlich wurde in Augsburg Wolfgang Amadeus Mozart geboren, und noch weiter südlich lebte Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen.

Silcher stand einmal in einer Reihe mit Schiller und Mörike

Im deutschen Südwesten sticht nur ein Name hervor, und er verschwindet gerade von dieser Landkarte. Der Komponist und Musikpädagoge Friedrich Silcher machte sich unsterblich, weil er im Geist der Romantik mehr als 300 Werke des deutschen Liedgutes vertonte. Silcher schrieb nicht nur die überbrachten Texte und Melodien auf, er setzte sie auch in mehrstimmige Kompositionen um und fügte ihnen eigene musikalische Ideen hinzu. Ein Lied zu singen, das war in Silchers Zeit Teil von freiheitsstrebender Identität, Ausdruck des Traums einer klassenlosen Gesellschaft. Und doch konnte das vom Württembergischen Chorverband getragene, private Silcher-Museum nicht erhalten werden. Seine Bestände werden jetzt verteilt – an das Literaturarchiv in Marbach, an das Stadtmuseum in Tübingen (wo Silcher hauptsächlich wirkte) und an andere Stellen. Was zur Frage führt: Kann man Musik ausstellen?

Der Arbeitsraum des Gewandhaus-Direktors Felix Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig.

Wer nur einige der vielen deutschen Musikermuseen besucht, lernt unterschiedlichste Ansätze kennen, sich der Musik physisch zu nähern: Das Robert-Schumann-Geburtshaus in Zwickau gewährt Zutritt zu den Originalräumen von Schumanns Kindheit und füllt sie mit vielen Dokumenten und Lesestoff aus. Im Mendelssohn-Museum von Leipzig gewinnt der Besuchende Eindrücke über die Lebensumstände des Gewandhausdirektors, kann einzelne Gegenstände aus seinem Besitz bestaunen und in einem Raum dank Hightech selbst erleben, wie es sich anfühlt, ein Orchester zu dirigieren.

Für das Werk mancher Musiker reicht ein Museum nicht aus

Manche Komponisten haben solche Wucht in ihren Werken, dass ein einziges Museum gar nicht ausreicht. Johann Sebastian Bach kann man sich am Geburtsort Eisenach nähern, aber auch in Gedenkstätten in Wechmar (Heimat der Bach-Familie), Arnstadt (erste Organistenstelle) und in einem mächtigen Museumsneubau an seiner wichtigsten Wirkungsstätte in Leipzig. Dort drückt man auf Knöpfe, toucht auf Bildschirme und bleibt doch ratlos zurück darüber, wie der Thomaskantor neben seiner ganzen schier unerschöpflichen, bis heute gültigen Schaffenskraft auch noch eine schwindelerregende Verpflichtungsdichte (z.B. bei der Beaufsichtigung seiner Chorschüler) bewältigen konnte. Richard Wagner machte Urlaub in Graupa, unweit von Dresden. Der dortigen Entstehung seiner Oper „Lohengrin“ ist heute ein schickes modernes Museum gewidmet, neben dem berühmten Haus Wahnfried in Bayreuth und einer privaten Wagner-Sammlung in Eisenach.

Nicht das Museum macht den Musiker unsterblich

Das Museum schließt, die Musik bleibt – wenn die Musiker es möchten: Das frühere Silcher-Museum in seinem Geburtshaus in Schnait bei Stuttgart. (Foto. Thomoesch, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28057926

Macht also ein Museum den Musiker unsterblich? Gewiss nicht. „Die Aura ist nichts, das ohne Kenntnis leuchtet,“ berichtet Elisabeth Hardtke, die Kustodin des aufgelösten Silcher-Museums in einem eindrücklichen Film, der über Silcher informiert und das Ende des Museums erklärt und dokumentiert. Wenn die Zeiten sich wandeln, bleiben die Besucher aus, und dann fehlt auch das Geld zur Modernisierung der notwendigen museumspädagogischen Ansätze.

Und so hat manches angestaubte Musikermuseum auch etwas Tröstliches: Das Museum mag eines Tages sterben, aber die Musik lebt fort, und klingt millionenfach durch Deutschland – weniger wegen des Komponisten, mehr wegen der vielen Musiker und ihrer Zuhörer. Alle Jahre wieder …

 

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Im Text finden Sie die Links zur Internetdomain musikermuseen.de und zum sehr sehenswerten Film  über das Leben von Friedrich Silcher – und das Ende des Silcher-Museums in Schnait. 

 

Das Hakenkreuz auf der Wartburg

Ein Plädoyer für tätige Hoffnung nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen

Der erste Versuch

Zweimal haben sie es versucht, und beide Male haben sie gelogen. Fake News gehörten schon damals zum Alltagswerkzeug der Faschisten. Sie streuten das Gerücht, der Unterbau des Kreuzes auf der Burgturm müsse überprüft werden, das Kreuz drohe herabzustürzen, da Fäulnis die Tragfähigkeit des hölzernen Fundaments angegriffen habe. Die Burgverwaltung protestierte, aber es nutzte ihr wenig: In einer Nacht- und Nebel-Aktion  wurde das Kreuz abmontiert und durch ein Hakenkreuz ersetzt.

Auf dem höchsten Punkt der Wartburg prangt ein goldenes Kreuz – als Symbol für Freiheitssinn und geistige Größe. Es gab Zeiten, in denen es ersetzt wurde. (Foto: Jürgen lizenzfrei auf Pixabay)

 

Dieser Vorgang ereignete sich tatsächlich, und zwar am 10. und 11. April 1938 auf dem Bergfried der Wartburg nahe der thüringischen Stadt Eisenach. Die Wartburg war schon damals weltberühmt, vor allem, weil sie Martin Luther zehn Monate lang als Versteck diente, er also Asyl genoss in Thüringen, und damit vermutlich seinem Tod entging. Nebenbei übersetzte er in dieser Zeit die Bibel auf Deutsch.

Jede gute Lüge hat einen realen Hintergrund

Das Kreuz wurde dem Turm im Jahr 1859 aufgesetzt – als weithin sichtbares Zeichen für die zuvor abgeschlossene Rekonstruktion der Burgruine zur Prachtburg. Heute ist sie  das weltbekannte Wahrzeichen für zwei zentrale deutsche Ideen: Die der Reformation und die eines geeinten Deutschlands, wie es von den Studenten auf der Wartburg im Jahr schon 1817 gefordert worden war.

Drei Tage lang strahlte das Nazi-Symbol auf der Wartburg, dann wurde es auf Weisung aus Berlin wieder abgebaut. (Foto: Leffler, gefunden auf DDR-postkartenmuseum.de)

Jede gute Lüge hat einen realen Hintergrund, was sie vielleicht glaubwürdiger, aber nicht wahr macht. Die thüringischen Nationalsozialisten machten sich bei ihrer Hakenkreuz-Aktion zu Nutze, dass tatsächlich zwanzig Jahre zuvor das Kreuz vorübergehend eingelagert worden war, um sein vermoderndes Holzpodest zu erneuern. 1938 aber ging es in Wahrheit nicht um das Podest, sondern um das Kreuz. Der Austausch gelang, und drei Tage lang belästigte das beleuchtete Nazi-Symbol Tag und Nacht die Umgebung. Die Vollendung dieser Verschandelung feierte ein Marsch von Hitlerjugendlichen durch Eisenach, aber in der Bevölkerung formierte sich Widerstand gegen das Hakenkreuz, vor allem auch die evangelische Kirche protestierte.

Dann kam die Anordnung aus Berlin, dass das Hakenkreuz zu entfernen sei. Hitlers Regierung wollte nach dem gerade vollzogenen „Anschluss“ Österreichs keinen außenpolitischen Ärger wegen des Thüringer Kreuzes. Die Verbreitung von Fotos und Presseartikeln über das falsche Kreuz wurde verboten. Noch am nächsten Tag verschwand es vom Turm, und am 14. Mai 1938 war der alte Zustand wieder hergestellt. So endete der erste Versuch.

Was die Geschichte des Kreuzes lehrt

In unseren Tagen leuchtet das vergoldete, christliche Kreuz auf der Wartburg, fünf Meter hoch, tief hinein in den Thüringer Wald, und für alle, die seine Botschaft verstehen möchten, auch weit darüber hinaus als imposantes Zeichen von Freiheitssinn und geistiger Größe. Nicht ohne Wirkung, denn zwei Drittel der Wählenden in Thüringen und Sachsen haben am vergangenen Sonntag den Fake News unserer Zeit widerstanden – und nicht blau-braun gewählt. Der Kleingeist des anderen Drittels, auf billige Lügen zu hören und einfache Unwahrheiten zu glauben,  ist bestürzend genug. Aber die Geschichte des wiedererstandenen Kreuzes auf der Wartburg lehrt: Was auch immer Menschen durch Lügen an Verbrechen und Verheerungen anrichten, wie lang und schwer auch immer die Zeit ihrer dummen Kraftmeierei ist –  danach gewinnt die Wahrheit.

Denn erstens sind diejenigen, die bereit sind, die Komplexität unserer Welt zu verstehen und unsere Werte im Umgang damit zu verteidigen noch immer in der großen Mehrheit – und zum anderen wird das Geschrei der politischen Billighändler zwar schmerzhaften Schaden anrichten – aber kein einziges Problem lösen. Mehr Lehrende für bessere Bildung, mehr Pflegende für ein würdiges Alter, mehr Polizei für ein besseres Sicherheitsgefühl – sie alle fallen nicht vom Himmel. Der Mangel an Fachkräften wird nicht geringer, sondern größer, wenn deutsche wie nicht-deutsche Menschen die verödenden Gebiete meiden, in denen sich dumpfe Ressentiments sammeln. Folgen dieser fehlenden Attraktivität sind das traurige Sterben der Infrastruktur, die geschlossenen Läden in den überalterten Kleinstädten und Dörfern, der fehlende Bus, der Mangel an Hausärztinnen, die Schließung von kleinen Krankenhäusern. Alles das können Herr Höcke und Frau Wagenknecht zwar beklagen, aber sie lügen, wenn sie behaupten, dass sie es mit ihren Vorschlägen aufhalten könnten.

Kein Plädoyer für Passivität, sondern für tätige Hoffnung

Die Klimakatastrophe wird sich nicht abschwächen, weil sie geleugnet wird. Die Hitzewellen werden heißer werden und die Überschwemmungen höher. Den Atommüll wollen auch die Thüringer nicht in ihrem Wald vergraben, und in Sachsen kein neues Atomkraftwerk bauen.

Wenn es schließlich weit genug ist, dann wird die Wahrheit gewinnen. Dies ist kein Plädoyer für Passivität, sondern eines für tätige Hoffnung. Sie beginnt mit der Wahrnehmung der Wahrheit, die uns umgibt. Sie bedeutet aktives Eintreten gegen die Lüge, gegen die Gewalt, die bedenkenlose Verachtung in Sprache und Tat.  Sie gründet sich auf die Werte für das menschliche Zusammenlebens, für die auch das Kreuz der Wartburg steht. In seinem Schatten muss sich niemand schämen, dafür einzutreten, Menschen in Not zu helfen, egal, woher sie kommen.

Der zweite Versuch

Es ist diese wuchtige Botschaft, wegen der die Nazis das Kreuz auf der Wartburg unbedingt zerstören wollten. Den zweiten Versuch unternahmen sie ein halbes Jahr vor Kriegsende im November 1944. Wieder musste eine Propagandalüge herhalten: englische Jagdbomber hätten das Kreuz beim Tiefflug zerstört. In Wahrheit war es mit Schneidbrennern zerteilt und demoliert worden. Zum geplanten, erneuten Ersatz durch ein Hakenkreuz kam es nicht mehr. Amerikanische Truppen besetzten Thüringen, und ein Eisenacher Kunstschlosser schweißte die Trümmer zu einem neuen Kreuz zusammen, das (etwas verspätet zum 400. Todestag von Martin Luther am 18. Februar) im November 1946 wieder auf dem Turm der Wartburg stand.

Da war Thüringen bereits von russischen Soldaten besetzt, aber weder sie, noch die atheistisch orientierte DDR tastete das Kreuz jemals wieder an. Mehrfach erhielt es seither eine neue Goldschicht, und so strahlt es bis heute, und erzählt von der Hoffnung auf die Macht der Wahrheit.

 

 

Die Geschichte vom Hakenkreuz auf der Wartburg habe ich auf Wikipedia und bei domradio.de gefunden.

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Vertreibung aus dem Paradies

Eindrücke über Gerhart Hauptmann

Die Totenmaske von Gerhart Hauptmann. Er starb im Juni 1946 in „Haus Wiesenstein“, der „Schützhülle meiner Seele“.

Die schlesischen Weber hatten keine Häuser. Sie waren bitterarm, verlorene Gestalten im Mühlwerk von Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Ein löchriges Dach über dem Kopf, eine Hütte irgendwo, das war das Höchste der Gefühle für diese Menschen, die ihr karges Auskommen mit textiler Heimarbeit zu bestreiten gezwungen waren. Ihnen hat der damals sozialkritisch eingestellte deutsche Schriftsteller Gerhart Hauptmann ein Portrait gewidmet. „Die Weber“ heißt das Theaterstück, für das Hauptmann im Jahr 1912 den Literaturnobelpreis erhielt. Es geht darin um die soziale Wirklichkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 1844 hatten die Weber in Schlesien (und auch anderswo) Aufstände angezettelt, weil sie es nicht mehr ertrugen, herabgewürdigt und um den kargen Lohn ihrer Arbeit gebracht zu werden. Sie wollten es nicht mehr hinnehmen, in ihrer Ehre beleidigt, entwürdigt  und immer tiefer in den Morast der Armut gestoßen zu werden von denen, die schon alles haben und noch viel mehr, und deren Gier trotzdem niemals gestillt sein würde.

Wer „Die Weber“ heute erlebt als modern interpretiertes Schauspiel, sieht die Bedrückten unserer Zeit: Die Alleinerziehende, die sich rechtfertigen muss für das Bürgergeld, mit dem sie das ärmliche Leben für sich und ihr Kind bestreitet; die Kleinrentnerin, deren Monatszahlung kaum für die Miete reicht; der verschämte Flaschensammler am Rande der Überflussgesellschaft; die Geflüchteten, die in trostlosen Container-Unterkünften jahrelang auf eine Entscheidung über ihr weiteres Schicksal warten.

Hauptmanns Weber hatten keinen Anspruch auf Würde

Immerhin, sie alle haben heute – anders als Hauptmanns Weber – einen in unserem Grundgesetz verbrieften Anspruch auf jenes Existenzminimum, das ihnen ihre Würde garantieren soll. Dafür müssen sie sich auf ein Amt begeben, ihre Rechte geltend machen, von denen sie oft gar nichts wissen, in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Und noch dazu müssen sie sich die Ohren verkleben und die Augen verbinden, um sich vor den ehrabschneidenden Pöbeleien zu schützen, die ihnen Faulheit und berechnende Niedertracht unterstellen.

Hauptmann (1862 – 1946) hatte den sozialkritischen Ton gefunden, um diese schreienden Ungerechtigkeiten zeitlos gültig zu beschreiben. Er selbst aber lebte vom Erfolg auch dieses Werkes bestens etabliert in seinen Villen in Erkner, auf Hiddensee und im Riesengebirge. Damit war er in guter Gesellschaft mit anderen literarischen Berühmtheiten seiner Zeit: Fünfzig Jahre zuvor hatte Viktor Hugo (1802 – 1885) das Schicksal der „Elenden“ („Les Miserables“) beschrieben und mit dem Erfolg des Buches sich ein Prachthaus im Exil auf Guernsey leisten können. Und auch der Kommunist Pablo Neruda (1904 – 1973) hatte kein schlechtes Gewissen, politisch wie literarisch die soziale Gleichheit zu fordern und selbst in Saus und Braus in mehreren Häusern in Chile zu wohnen.

Ein deutsches Leben in den Wirren des 20. Jahrhunderts

Nun kann ein Mensch viele Häuser haben, sich großen Ruhm erwerben und beruhigenden Reichtum anhäufen, er bleibt doch dem mächtigen Zugriff der Geschichte ausgeliefert. Das zeigt eindrücklich die Biografie Hauptmanns, ein deutsches Lebens in den Wirren des 20. Jahrhunderts. Weltweit und gerade auch in der kommunistischen Sowjetunion besonders geachtet, versagte der große Mann des Geistes vor den Herausforderungen seiner Zeit. So konnte er sich nicht durchringen zu einer klaren Haltung im Nationalsozialismus. Er chargierte zwischen vorsichtiger Zustimmung und leisen Vorbehalten gegenüber dem Völkischen, lavierte sich durch, zog sich vorwiegend ins Private zurück, blieb daher anders als der dreizehn Jahre jüngere Thomas Mann (1875 – 1955) in Deutschland und landete schließlich sogar auf Hitlers Liste der „Gottbegnadeten“, was ihm die Freistellung von allen Kriegsverpflichtungen garantierte. Alles das ist ihm nicht vorzuwerfen, schon gar nicht aus der Perspektive der Nachgeborenen, die in friedlichen Zeiten leben dürfen. Im Februar 1945 erlebte Hauptmann bei einem Klinikaufenthalt am Rande von Dresden den apokalyptischen Luftangriff die Stadt. „Ich stehe am Ausgangstor des Lebens und beneide alle meine toten Geisteskameraden, denen dieses Erlebnis erspart geblieben ist,“ schrieb er damals.

Wenige Wochen später lag die Welt der Deutschen in Trümmern, die Häuser von Hauptmann aber nicht. Hoch am Hang, weit abseits von der Welt stand „Haus Wiesenstein“ in Agnetendorf im Riesengebirge noch immer (und steht es bis heute) unverwundet zwischen den verschwiegenen Tannen. Die Zerstörungswalze des Krieges hatte es verschont, wie auch seinen Sommersitz auf der Insel Hiddensee. Der weltbekannte Geistesmann fand sich als Greis wieder in dem Teil seiner Heimat, der nun polnisch geworden war.

Armut, Hunger, Ungerechtigkeit – und Hauptmann mittendrin

Was folgte, ist bekannt: Weggejagt wurde die deutsche Bevölkerung, damit die von den Russen ihrerseits aus der heutigen Ukraine vertriebenen Polen eine neue Heimat finden konnten. Armut, Hunger, Ungerechtigkeit allerorten, ein einziges Elend, und der Schriftsteller in seiner Villa mittendrin, deren Zimmer prallvoll waren mit Büchern und edlem Mobiliar, das prächtige Treppenhaus blau-golden ausgemalt. Hochgeachtet und hochbetagt lebte der berühmte Schriftsteller auch dann noch dort in seinem schlesischen Paradies, als seine Landleute bereits hungernd ihr Hab und Gut mit Leiterwagen gen Westen zerrten.

Das Treppenhaus der Hauptmann-Villa in Agnetendorf: Ein Paradies als Fluchtort vor dem Grauen der Wirklichkeit. „Bin ich noch in meinem Haus?“ sollen die letzten Worte des Schriftsellers gewesen sein.

„Bin ich noch in meinem Haus?“ Angeblich waren dies die letzten Worte des sterbenden Gerhart Hauptmann am 6. Juni 1946.  Noch ein Jahr nach Kriegsende war Hauptmann von den sowjetischen Militärs besonders beschützt worden. Dann aber bestanden die neuen Herrscher darauf, dass nun endlich auch Hauptmann – wie alle anderen Deutschen – Schlesien zu verlassen hätte. Aber dazu kam es nicht mehr. Hauptmann verstarb in seiner Riesengebirgs-Villa, und es bedurfte danach umfassender Interventionen, sechs Wochen andauerndem Hin und Her, bis die in einem Zinnsarg eingelötete Leiche des Schriftstellers zusammen mit seinem gesamten beweglichen Hausrat, unzähligen Büchern, seiner Witwe und einer Gruppe von Intellektuellen und Künstlern, die in seinem Umfeld gelebt hatten, in einem Sonderzug ausquartiert wurden.

Die Vertreibung einer Leiche als Medienereignis

Die Vertreibung einer Leiche war ein Medienereignis. Fernsehkameras warteten am Bahnhof von Forst (bei Cottbus), als der Sonderzug mit dem toten Hauptmann auf dem Weg nach Berlin die neue Ostgrenze Deutschlands erreichte. Am 28. Juli 1946, 52 Tage nach seinem Tod, fand Gerhart Hauptmann endlich auf Hiddensee seine letzte Ruhe, immerhin in deutscher Erde, wenn auch nicht – wie es sein Wunsch gewesen war – im Riesengebirge.

Fünfzig Jahre lang diente danach das Haus Wiesenstein als Kinderheim. Im heute polnischen Schlesien muss man gut orientiert sein, wenn man das verwunschene Literatenschlösschen finden will, das abgelegen am Ende einer kurvigen Bergstraße wartet. Mit Mitteln der Bundesrepublik Deutschland wurde es in ein schmuckes Museum umgestaltet und 2001 als solches eröffnet.

Es gibt keine Flucht in die Idylle

Die „mystische Schutzhülle meiner Seele“ sei dieses Haus gewesen, hat Gerhart Hauptmann formuliert. Wer heute durch diese Räume schlendert, aus den Fenstern hinausblickt in die dunkle Waldlandschaft, in die sich der Schriftsteller hineingeflüchtet hat, Hoffnung und Distanz suchend vor dem Grauen, das sich um ihn herum ereignete, versteht diese Sehnsucht nach einer „Schutzhülle“ – und lernt doch die bittere Wahrheit: Es gibt keine Flucht vor der Geschichte in die Idylle, nicht im Riesengebirge, nicht auf Hiddensee, und auch heute nicht in der naiven Hoffnung auf ein ruhiges Leben auf dem Lande.

Wer Glück hat, mag dort verschont bleiben vor den Bomben des Krieges, mag dort nichts oder weniger hören vom Lärm der Geschichte, mag sich berauschen am lauschigen Rascheln der Blätter und jubelndem Pfeifen der Vögel, mag sich die Ohren verstopfen vor den schlechten Nachrichten aus den Städten, in denen die Armut wohnt und schreit – aber irgendwann wird die Geschichte doch anklopfen und ihr Recht verlangen. Irgendwann kommt sie, die Vertreibung aus dem Paradies.

 

Das Hauptmann-Museum in Haus Wiesenstein in Agnetendorf hat eine informative Website auf deutsch und polnisch. Auch das Hauptmann-Museum in Kloster auf Hiddensee informiert über den Schriftsteller.

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Die Östlichste mit der Sonnenorgel (#59)

Pfarrkirche St. Peter und Paul, Bei der Peterskirche, 02826 Görlitz

Mein Besuch am 24. Mai 2024

St. Peter und Paul in Görlitz: Deutschlands östlichste Kirche steht hoch über der Neiße, unmittelbar an der Grenze zu Polen.

Vielleicht muss man sich es vorstellen, wie es gewesen war, als deutsche Soldaten in apokalyptischer Verzweiflung die Brücke unmittelbar unterhalb dieser Kirche in die Luft jagten. War es Hoffnung, die sie hatten, mit diesem Akt der Gewalt irgendwie doch noch die bevorstehende Niederlage abzuwenden? Es war der 7. Mai 1945, als dies geschah, und als die Wucht der Detonationen nahezu alle Glasfenster des oberhalb der Brücke stehenden Gotteshauses zersplittern ließ.

Vielleicht muss man nicht in diese Kirche hinein gehen; vielleicht genügt es, auf ihren Stufen über der Neiße zu stehen, um  sich bewusst zu machen: Das war damals mitten in Deutschland, und die Soldaten, die hier den Sprengstoff zündeten, konnten sich vermutlich gar nicht ausdenken, dass diese Kirche einmal die östlichste in ihrer Heimat sein würde. So steht man also heute vor dieser Kirche, blickt hinunter auf die längst wieder aufgebaute Brücke, die nun eine von einem gelangweilten Polizeiauto bewachte EU-Binnengrenze zu Polen darstellt. Die Augen ruhen auf dem träge dahinströmenden Fluss, und was zu spüren ist, das ist die Wucht der Geschichte, die am Ende stärker ist als alles Dynamit.

Wie ein lichter Wald: Dem gotischen Innenraum der Kirche fehlt jede Strenge, was auch am hellen Licht liegt, das durch die ersetzten Fenster strömt, deren kunstvollen Originale wenige Stunden vor Kriegsende am 7. Mai 1945 infolge einer Sprengung der Neißebrücke zerstört wurden.

Aber ganz sicher lohnt es sich auch, sich umzuwenden und diese Kirche zu betreten, die jeden Besuchenden mit ihrer schieren Größe überwältigt. Das gotische Gotteshaus ist weit, klar, hat wenig von der Strenge, die gotische Kirchen oft sonst ausstrahlen, ist auch hell, da die zerstörten Fenster mit modernen hellstrahlendem Glas ersetzt wurden. Es ist ein Gefühl, als wandle man durch einen lichten Wald voll himmelstrebender, schlanker Bäume, deren hohes Astwerk sich zu einem schützenden Dach in weiter Höhe vereint.

Der Prospekt der Sonnenorgel von Görlitz.

Und hinein strahlt in diesen gotischen Hain der grün-goldene Prospekt der „Sonnenorgel“, ein Wunderwerk aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, in dem 17 Sonnen kreisförmig angeordnet wurden. Die mächtigen Orgelpfeifen kann man als ihre Strahlen sehen, und zwölf davon werden selbst aus Pfeifen gebildet. Diese mächtige, und doch so lichte Kirche steht genau richtig dort, wo sie seit Jahrhunderten steht: nicht am Rande Deutschlands, sondern in der Mitte Europas.

Mehr über die Peterskirche von Görlitz finden Sie hier.

Weitere Kirchen meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier.

 

 

 

Das Fachwerk-Wunder von Jawor (#58)

Friedenskirche „Zum heiligen Geist“, Jawor (Polen), ehem. Jauer

Mein Besuch am 21. Mai 2024

Eine solche Kirche hatte ich noch niemals zuvor gesehen. Das evangelische Riesenbauwerk aus Holz und Lehm steht zusammen mit einem weiteren solchen Wunderwerk in Świdnica (Polen, ehem. Schweidnitz) auf der Liste des UNESCO-Weltkulturerbes. Im tiefkatholischen Polen ist der spektakuläre Bau kaum ausgeschildert. Als ich ihn, etwas versteckt hinter Bäumen in einem Park – dem ehemaligen Friedhof -, endlich erreicht und entdeckt hatte, deutete nichts auf die sinnliche Überwältigung hin, die mir gleich bevorstand.

Ein Kirchenraum ohne Beispiel: Bis zu 6000 Menschen konnten hier einem Gottesdienst beiwohnen, errichtet aus Holz und Lehm, mit mehr als 200 Motivtafeln ausgemalt.

Dass diese Kirche entstanden ist, gleicht einem Wunder; dass man es heute noch besuchen kann auch. Ihre pure Existenz gibt Mut, auf Frieden zu hoffen, auch wieder in heutigen Zeiten. Die europäische Ordnung lag in rauchenden Trümmern, als der Dreißigjährige Krieg 1648 endete. Die Herrschenden und erst Recht die Bevölkerung waren müde vom Schlachten,  Brandschatzen und Morden. Mit den Friedensverträgen von Osnabrück und Münster und einigen nachfolgenden Vereinbarungen wurden Regelungen getroffen, die ein halbwegs friedliches Miteinander der europäischen Völker und auch der beiden christlichen Konfessionen in Europa gewährleisten sollten.

Eine davon bestand darin, dass im zum österreichischen Herrschaftsbereich gehörenden Schlesien die evangelischen Christen alle bestehenden Gotteshäuser den Katholiken zurückzugeben hatten. Im Gegenzug erlaubte der König der evangelischen Bevölkerung in Schlesien, drei neue Kirchen (zwei davon bestehen noch, nämlich diese hier in Jawor und in Świdnica) zu errichten. Aber unter welchen Bedingungen! Sie mussten innerhalb eines Jahres fertig sein, sie mussten selbst finanziert werden, sie mussten mindestens einen Kanonenschuss außerhalb der Stadtmauern liegen, und sie durften nicht aus Steinen gebaut werden, sondern nur aus Holz und Lehm und Stroh.

Nur ein Jahr durfte der Bau des Riesen-Gotteshauses dauern, und es steht noch bis heute.

Unter diesen Bedingungen errichteten die evangelischen Christen in Jauer ein Gebäude, das fast 45 Meter lang und mehr als 15 Meter hoch ist. Vier umlaufende Emporen-Reihen und das Kirchenschiff selber boten und bieten bis heute Platz für fast 6000 Menschen. Über und über ist diese Kirche ausgemalt, rund 200 Motivtafeln schmücken den hohen und weiten Raum, auf eine barocke Kanzel richtet sich die Kirche aus. Der Andrang in das Gotteshaus war im 17. und 18.  Jahrhundert so groß, dass an Sonntagen bis zu sechs Gottesdienste gefeiert werden mussten, um allen Gläubigen gerecht zu werden.

Alleine diese Geschichte ist unglaublich, aber auch, dass alles das (ab 1991 zehn Jahre lang renoviert mit tatkräftiger deutscher Unterstützung) noch vorhanden ist. Der bröckelnde, und doch so zähe Riesenbau aus Holz und Lehm (nach 1707 ergänzt um einen steinernen Kirchturm) hat alle Unbill der Geschichte überlebt, zwei Weltkriege, Bombennächte und die fast vollständige Vertreibung der evangelischen (weil deutschen) Bevölkerung nach Kriegsende 1945.

Der gemauerte Turm kam erst später hinzu.

Ich habe dieses Wunder durchmessen, durchschritten, den staubigen Duft der Balken und Bänke eingesogen, fassungslos gestaunt über die Wucht der mehr als 350 Jahre alten Volkskunst, die mich hier überwältigte. Vierzig Gläubige umfasst die evangelische Kirchengemeinde von Jawor heute, und noch immer hält ihr Kirchenraum Platz vor für Tausende von Besuchern. Ein paar mehr Schilder im Ort täten gut, um sie alle dorthin zu locken, und auch eine bessere Platzierung in den Reiseführern. Seht her, erzählt diese außergewöhnliche Kirche, seht her, was menschlicher Wille in kurzer Zeit zu schaffen vermag.

 

Mehr über die Baugeschichte der Friedenskirche von Jawor finden Sie hier.

Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen kann man hier nachlesen.

Der Besuch in Jawor war Teil einer Rundreise durch Polen, vor allem durch die ehemals deutschen Gebiete. meine Eindrücke habe ich auch hier zusammengefasst.