Doug Aitkens Videokunst und Freys Mini-Stuttgart – Zwei Ausstellungsbesuche
Das Licht kam aus Neonröhren. Wenn Wolfgang Frey (1960 – 2012) sein Lebenswerk betrat, seine „Festung der Einsamkeit“ (so das Stuttgarter Kulturprojekt SOUP), wenn er den Schlüssel herumdrehte, um in seine eigene, weitgehend geheim gehaltene Welt einzudringen, dann war dies ein 450 Quadratmeter großer, fensterloser Raum im Zwischengeschoss einer Stuttgarter S-Bahn-Station. Frey drückte dann vermutlich einen Schalter. Die Röhren blinkten, flackerten kurz, erwachten schließlich verlässlich zu ihrem kalten Leben, und nun lag sein Werk vor ihm, das Ergebnis unfassbaren Fleißes und manischer Akribie, nie fertig, eine ewige Baustelle. Eine gewaltige Landschaft aus Gleisen und Grabsteinen, aus Pappe und Plastik, aus Vision und Wahnsinn hatte er geschaffen, keine Modelleisenbahnanlage, sondern ein zeitgeschichtliches Kunstwerk.
Im Schauwerk blinkt und blitzt es in aseptischer Reinheit
Inzwischen ist jene dunkle Halle im Untergrund des Stuttgarter S-Bahn-Netzes einem anderen Zweck zugeführt worden (was das für das Werk bedeutete, bleibt noch zu schildern), aber auf dem Weg nach Sindelfingen, zu einer anderen dunklen Halle, käme der Kulturflaneur sogar vorbei an dieser Kasematte schwäbischer Besessenheit. Das Ziel in Sindelfingen ist auch hier ein fensterloser Ausstellungssaal, auch dieser in eher spröder Umgebung zwischen einem Möbel-verkaufenden „Erlebnis-Wohnzentrum“ und der Ödnis dahingewürfelter Bürogebäude platziert. Anders als in Freys gigantischem Bastelkeller ist in Sindelfingen immerhin der öffentliche Zugang erwünscht; man soll schauen im „Schauwerk“, dem Museum der Schaufler-Stiftung. Im dunklen Raum dort blinkt und blitzt es in aseptischer Reinheit. Auf gewaltigen Bildschirmen, die im Rund angeordnet sind, läuft in Endlosschleife eine Bilderserie mit dem Namen „Wilderness“. Mal zuckende, mal tanzende, dann wie im Trance verharrende Figuren verbringen einen virtuellen Tag von Sonnenauf- bis -untergang, ratlos und verloren in der ganzen Schönheit ihrer digitalisierten Einsamkeit. Denn echt ist nichts in dieser blankgeputzten Wildnis, alles ist virtuell, es sind nur noch bunte Bilder, die das Leben bilden, hier in Sindelfingen und auf Instagram, auf Tiktok, auf Youtube.
Return to the Real!
Return to the Real! Der international renommierte US-amerikanische Videokünstler Doug Aitken hat diese kreisrunde Virtualität für das Sindelfinger „Schauwerk“ geschaffen, die dort noch bis 16. Juni 2024 zu sehen ist. Der Ausstellungtitel „Return to the Real“ – Zurück zum Realen – ist blanker Hohn gegenüber dem Gezeigten, eine absichtsvolle Absurdität. Inmitten des bunten Videospektakels, mit Musikfetzen und Geräuschen unterlegt, findet sich der Betrachter in Ratlosigkeit wieder, irrt herum, sucht nach gedanklichen Auswegen aus dem Panorama der digitalen Bilder. Bis er schließlich ahnt, dass seine eigene Orientierungslosigkeit auch die der Figuren ist, die da sinnieren und singen, tanzen und sitzen und warten, dass endlich etwas geschieht. Immer wieder leuchten ihre Handydisplays, aber sie bleiben leer, nichts ist zu erkennen darauf. Es ereignet sich wenig, schon gar nichts Reales, und so mündet das letzte dumpfe Blinken der Autoscheinwerfer durch die Dunkelheit dieser Nacht im Sonnenaufgang für einen weiteren solchen Tag.
Frey bastelte Tausende Grabsteine und Bäumchen
Der Stuttgarter Eisenbahn-Angestellte Wolfgang Frey interessierte sich in seinem dunklen Saal im S-Bahn-Zwischengeschoss nicht für Virtualität, sondern nur für das Reale. Er schuf in zwanzig Jahren „eine original- und maßstabsgerechte Nachbildung“ (so der Ausstellungsprospekt „Stellwerk S“) großer Teile der Stuttgarter Innenstadt und des inzwischen in einer Großbaustelle versunkenen Hauptbahnhofs der Schwabenmetropole. Er fummelte aus Pappe und Holz, aus Abfallmaterialien, Spülschwämmen, Plastikstrohhalmen und Radiergummis in Eigenbau 450 Gebäude im Maßstab 1:160 zusammen, von deren Vorbildern viele heute schon nicht mehr stehen. Er schnitzte für die Minitaturausgabe eines Großfriedhofs 2500 Grabsteine, bastelte Tausende Bäumchen, bemalte Hunderte Automodelle und Schienenfahrzeuge, verlegte kilometerweit Kabel. Das tote Leben dieser Miniaturwelt, deren Schöpfer, deren Gott, er war, steuerte er schließlich mit einem eigenen Stellwerk, das er originalgetreu seinem eigentlichen Arbeitsplatz bei der Bahn nachbildete. Entstanden ist so das „größte Stadtmodell Europas“ (Prospekt) auf einer Fläche von 180 Quadratmetern. Dann starb Wolfgang Frey 2012 überraschend im Alter von 52 Jahren, und ließ sein übermenschliches Werk im Dunkel des S-Bahn-Zwischengeschoss zurück. Bis heute ist die Stadt, die er nachbaute, ratlos, wie mit diesem Erbe umzugehen ist.
Doug Aitkens Bilderkreisel wird abgebaut werden, wenn die Sindelfinger Ausstellung endet. Die großen Videowände sorgsam verpackt, die Projektoren in gepuffte Folien gewickelt, die steuernde Software heruntergefahren. Das Werk wird in die nächste dunkle Halle verbracht werden, wo es wieder zu seinem virtuellen Leben erweckt wird und unsere eigene Ratlosigkeit ausbreiten kann vor uns selbst.
In der Realität musste zerhackt und zersägt werden
Return to the Real! Als Wolfgang Frey tot war, herrschte bleierne Ratlosigkeit im Umgang mit seiner riesigen Modellwelt. Die Bahn wollte ihr Zwischengeschoss wiederhaben, kaum jemand hatte zuvor das Werk jemals gesehen. Es war auch von Frey gar nicht gebaut worden als Gegenstand der allgemeinen Bewunderung, sondern als Sehnsuchtsort für seine eigene Welt. Schließlich musste die riesige Anlage brutal zerstückelt werden, die Gleise abgehackt, die Kabel gekappt, die Berge herausgesägt, der Friedhof geteilt werden, um das Monstrum erstarrter Zeitgeschichte überhaupt herauszubekommen aus dem Dunkel des Untergrunds.
Nach einer Zwischenstation sind nun die Fragmente im Stuttgarter Stadtzentrum, gleich gegenüber vom nachgebildeten Bahnhof, zu besichtigen. „Stellwerk S“ nennt sich das Ladengeschäft, in dem Ehrenamtliche versuchen, im zähen Ringen mit Staub und Geldnot die Ruinen von Freys analogem Bastelwerk der virtuell verwöhnten Öffentlichkeit von heute zu präsentieren. Die Bruchstücke, die dort, nun bei Tageslicht, zu sehen sind, vermitteln wenigstens in Ansätzen, welchem akribischen Wahnsinn dieser große Schöpfergeist des Realen nachjagte. Ganz nebenbei und vielleicht ohne Absicht hat dieser auch noch das ganze Scheitern der Stuttgarter Verkehrspolitik (nur Stau auf allen Straßen, sogar im Modell) verewigt, und auch die raffgierige Dürftigkeit einer Nachkriegs-Städtebaupolitik, die nur die schnelle Nutzbarmachung, nicht aber die Ästhetik eines Stadtbildes im Blick hatte. Frey hat genau diese Realität nachgebaut, hält sie seiner Stadt nun als Spiegel der Banalität in Karton und Farbe vor die Nase.
Zieht man den Stecker, versinkt die virtuelle Welt im Dunkel
Zwei Ausstellungsbesuche lassen erleben, wie sich in zwanzig Jahren Wahrnehmung und Zeitgeist verändert haben. Bei Aitken blinken die sauberen bunten Bilder einer sich ständig wiederholenden, nie endenden Suche nach Sinn, und zieht man den Stecker, versinkt diese Welt im beliebigen Dunkel. Freys verrücktes Miniatur-Stuttgart ist dagegen ein bitteres Abbild der Realität. Seine Tausenden Staub-ergrauten Bäumchen, seine akribisch sortierte Ödnis der Grabsteinchen, seine Tristesse der immer gleichen Bürohäuser, die verblassenden Aufschriften der inzwischen schon versunkenen Geschäfte, die schon zum Zeitpunkt ihres Nachbaus totgeweihten Industriehallen, die erstarrten Staus auf den Straßen – sie allesamt mahnen an das banal Reale, das uns umgibt.
Da hilft kein Stecker, ratlos bleiben wir zurück, hier wie dort.
„Return to the Real“, die Ausstellung des Videokünstlers Doug Aitken ist noch bis 16.6.202 zu besichtigen im Schauwerk Sindelfingen.
Die Stuttgarter Miniaturwelten „Stellwerk S“ sind zu finden gegenüber dem Hauptbahnhof am Arnulf-Klett-Platz 1-3. Geöffnet ist üblicherweise von Mittwoch bis Sonntag von 13 bis 17 Uhr. Das Projekt kämpft ums finanzielle Überleben; mit jedem Besuch des Werkes von Wolfgang Frey unterstützt man auch dessen Erhalt.
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