Ev. Brenzkirche am Weissenhof, Am Kochenhof 7, 70192 Stuttgart
Mein Besuch am 5. April 2024
Die Nationalsozialisten waren wenige Wochen an der Macht, als am Stuttgarter Killesberg eine Kirche geweiht wurde, die ihresgleichen suchte. Im Stil der neuen Sachlichkeit, angelehnt an die weltberühmte Bauhaussiedlung am Weissenhof in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, war diese Kirche anders als fast alle anderen. Sie hatte ein Flachdach und abgerundete Fasssadenkanten, keinen Turm, und auch innen war sie so gebaut, dass sie mehr Gemeindezentrum war als Kirche.
Die Nazis konnten mit dem Bauhaus nicht nur nichts anfangen, sie verfolgten ihre Vertreter und die baulichen Ergebnisse regelrecht. Dass eine Kirche im Bauhaus-Stil direkt neben dem Eingang der Reichsgartenschau auf dem Killesberg von 1939 stehen sollte, war also ein kunstpolitisches Politikum. Und tatsächlich erreichten die mörderischen Machthaber, dass die Kirchengemeinde dem Druck nachgab, und die Kirche eiligst umbauen ließ – also verschandelte. Man nannte das damals allerdings tatsächlich „Entschandelung“. „In nur vier Monaten werden aus Flachdächern Steildächer, das Runde wird eckig, das markante Trapezfenster begradigt und verkleinert, der filigrane Glockenstuhl zu einem plumpen Türmchen“ (aus dem Flyer des Fördervereins).
Mehr oder weniger genauso verschandelt steht die „Entschandelte“ noch heute; und für den flüchtigen Spaziergänger am Killesberg ist sie kaum als Kirche erkennbar. Im Inneren aber erahnte ich auch heute noch das außergewöhnliche Raumprogramm – der schlichte Kirchenraum mit blau gestrichenen Bänken und einer asymmetrisch angeordneten Orgel liegt im Obergeschoss, darunter findet sich ein Gemeindesaal.
Nun wird es wieder eine internationale Ausstellung sein, die das Schicksal der Brenzkirche bestimmen könnte: Zur Internationalen Bauausstellung 2027 in Stuttgart plant ein Förderverein zusammen mit der Kirchengemeinde, die Entschandelung der verschandelten Kirche. Sie soll aber nicht in ihren Altzustand zurück verwandelt, sondern modern interpretiert dem Bauhaus-Stil wieder angenähert werden. Der Weg dorthin war nicht einfach, denn inzwischen steht sie unter Denkmalschutz, und zwar auch wegen ihrer Verschandelung unter Nazi-Druck, als Musterbeispiel für politischen Einfluss auf Kirchenbauten. Ich freue mich darauf, die neue, alte Bauhauskirche besuchen zu können, wenn sie denn zur IBA fertiggestellt sein sollte.
Nachdenken über Jeff Walls Fotokunstwerk „Restoration“ – und den neuen Bahnhof von Stuttgart
Eine junge Frau blickt in die Weite. Sie hat dunkle Haare, ein scharf geschnittenes Gesicht, trägt eine Brille aus dünnem, dunklen Metall. Sie steht auf einem Baugerüst, stützt sich auf das provisorische Geländer. Hinter ihr ist eine weitere Frau von hinten zu erkennen, die sich mit feinem Pinsel an der Wand zu schaffen macht. Auf den zweiten Blick versteht der Betrachtende: Das sind keine Handwerkerinnen. Kleine Papierzettelchen markieren weitere Stellen, die der sachkundigen Aufmerksamkeit der beiden Frauen bedürfen. Sie renovieren ein Gemälde, das viel größer ist als sie selbst. Es ist etwas wahrhaft Großes, an dem sie arbeiten.
Diese Zeilen beschreiben einen Ausschnitt aus einem sehr großen Foto. Das hinterleuchtete Bild misst fast fünf Meter in der Breite und 120 Zentimeter in der Höhe, und ist im Besitz des New Yorker Museum oder Modern Art (MoMA). Komponiert hat es der kanadische Fotokünstler Jeff Wall im Jahr 1993. Noch bis 21. April ist es im Rahmen einer Ausstellung in der Fondation Beyeler in Basel zu sehen.
Zu sehen ist eine Baustelle
Die beiden Frauen auf dem Foto stehen im Vordergrund, aber eigentlich ist eine Baustelle zu sehen. Gerüste wurden gebaut, eine Plattform als Arbeitsbühne in die Mitte aus grobem Holz zusammengezimmert. Das „Bourbaki-Panorama“ in Luzern wurde renoviert, als es entstand. Von dem Riesengemälde in seinem Hintergrund sind heute etwa 1000 Quadratmeter erhalten. Sie zeigen die Entwaffnung eines Teils der französischen Armee zum Ende des deutsch-französischen Krieges 1870/71. Gemalt hat es der Künstler Edouard Castres im Jahr 1881; die Renovierung des Kunstwerkes hat sieben Jahre gedauert.
Walls Foto heißt „Restoration“ und erzählt nichts über den Krieg, über die Verzweiflung der unterlegenen Soldaten, die Not der Menschen und die Hilfsbereitschaft, die ihnen begegnete. Das alles ist Thema des Panoramabildes. Das große Foto fängt nur einen einzigen Moment ein – den der Meditation, des demütigen Innehaltens der jungen Frau, ihres Nachdenkens über die Größe der Aufgabe, die ihr und ihrer Kollegin gestellt ist. Wann werden sie jemals damit fertig sein?
„Wann wird er endlich fertig sein?“
Vierzehn Jahre wurden von Baubeginn an benötigt, um den neuen Flughafen in Berlin fertigzustellen. Sechzehn Jahre lagen zwischen ersten Planungen und der Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie. „Wann wird er denn nun endlich fertig?“ fragen die Menschen, wenn sie am alten Stuttgarter Kopfbahnhof ankommen und nun schon seit Jahren absurd lange und beschwerliche Umgehungswege hinter sich bringen müssen, um vom maroden Bahnsteig in der taubenverdreckten, zugigen Resthalle, in die Innenstadt oder auch nur zur Anschluss-S-Bahn zu gelangen. Wann wird er endlich fertig, der neue Bahnhof?
Eine Gelegenheit, sich davon ein Bild zu machen – es gewissermaßen der Restauratorin bei Jeff Wall gleichzutun und in die Weite zu blicken – , hat die unter der Riesenbaustelle leidende Bevölkerung alle Jahre an Ostern. Bei „Tagen der offenen Baustelle“ drängen sich die Massen der Neugierigen unter spinnennetzartigem Gerüstgewirr hindurch, stolpern über Metalltreppen und provisorisch ausgebreitete Schalungsbretter durch die Wunde im Herzen Stuttgarts, still staunend und emsig fotografierend. Mehr als 100.000 Besucher waren es dieses Jahr an den drei Tagen, an denen sie eingeladen waren, das auch nach jetzt dreißig Jahren Planung und zwölf Jahren Bauzeit noch immer unvollendete Werk zu besichtigen.
Die Fülle der Aufgaben gleicht einer Hydra
Es ist die Größe einer Aufgabe, die verstummen lässt. Einen solchen Bahnhof zu errichten – in diesem Fall: ihn hineinzugraben in den Untergrund des Zentrums einer Großstadt – gleicht einem geradezu babylonischen Plan. Die elegant geschwungenen Kelchstützen, die komplexen Lichtaugen, die ganze unfassbare Vielfalt und Vielzahl der Aufgaben, die hier geplant und abgearbeitet werden müssen, mit Abermillionen Details, Kabelanschlüssen, Dichtungen, Bewehrungen – sie alle gemeinsam gleichen einer Hydra: jedes gelöste Problem trägt die Gefahr in sich, dass sich zwei neue Herausforderungen auftun. Schließlich ist das, was zu sehen ist, erst der Rohbau, was wird noch alles folgen müssen: Gleise und Bodenbeläge, Lampen und Schilder, Papierkörbe und Signale, Treppen und Aufzüge, Kioske und Toiletten, Bänke und Automaten. Wann wird all das endlich fertig sein?
Die Größe einer Aufgabe macht demütig
Der Blick der jungen Frau vor ihrer Renovierungsarbeit ist kein Blick von Resignation, kein Protest, keine Gleichgültigkeit. Es ist ein Blick der Ergebenheit. Die Größe einer Aufgabe macht demütig. Hier ist keine Ungeduld zu sehen, auch keine Erschöpfung. Die Restaurierung wird brauchen, viele Stunden, Wochen, Monate, Jahre. Aber am Ende wird sie gelingen.
Noch kein Zug rollt durch die kühle, hohe Halle des neuen Stuttgarter Bahnhofs. So ist ausreichend Platz, dass sich sogar die Massen der Neugierigen verlaufen. Sie blicken in die Weite dieses fast 450 Meter langen Raumes, hinauf in die Höhe, die man dem Untergrund abgerungen hat, sehen hinweg über herumstehende Baustellenfahrzeuge, Dixi-Klos und gestapelte Materialien. Es wird viel länger dauern, als vor vielen Jahren berechnet wurde. Es wird mühsamer sein und teurer sowieso. Die Größe der Aufgabe fordert ihren Tribut.
Der weite Blick in die künftige Kathedrale der Züge
600 Jahre haben Menschen am Kölner Dom gebaut. Es hat sich gelohnt, denn wer heute unter seinen gotischen Bögen steht, versteht Geschichte. Ungezählte Menschen haben an ihm gewirkt, ihn in die Höhe getrieben und bekämpfen bis heute seinen Verfall. Es ist wie in der künftigen Kathedrale der Züge von Stuttgart: Am Ende sind es nicht die Besserwisser und Kritiker, die ein großes Werk schaffen, nicht die Zweifler und ungeduldigen Nörgler. Es sind die Menschen mit einem Blick für das Weite. Die, die einen kühner Plan fassen und genauso die, die ungezählte Details verwirklichen, hier ein Kabel, dort eine Schraube. Irgendwann wird das Ganze größer sein als wir selbst, und etwas erzählen von uns, wenn wir es selbst nicht mehr erzählen können.
Doug Aitkens Videokunst und Freys Mini-Stuttgart – Zwei Ausstellungsbesuche
Das Licht kam aus Neonröhren. Wenn Wolfgang Frey (1960 – 2012) sein Lebenswerk betrat, seine „Festung der Einsamkeit“ (so das Stuttgarter Kulturprojekt SOUP), wenn er den Schlüssel herumdrehte, um in seine eigene, weitgehend geheim gehaltene Welt einzudringen, dann war dies ein 450 Quadratmeter großer, fensterloser Raum im Zwischengeschoss einer Stuttgarter S-Bahn-Station. Frey drückte dann vermutlich einen Schalter. Die Röhren blinkten, flackerten kurz, erwachten schließlich verlässlich zu ihrem kalten Leben, und nun lag sein Werk vor ihm, das Ergebnis unfassbaren Fleißes und manischer Akribie, nie fertig, eine ewige Baustelle. Eine gewaltige Landschaft aus Gleisen und Grabsteinen, aus Pappe und Plastik, aus Vision und Wahnsinn hatte er geschaffen, keine Modelleisenbahnanlage, sondern ein zeitgeschichtliches Kunstwerk.
Im Schauwerk blinkt und blitzt es in aseptischer Reinheit
Inzwischen ist jene dunkle Halle im Untergrund des Stuttgarter S-Bahn-Netzes einem anderen Zweck zugeführt worden (was das für das Werk bedeutete, bleibt noch zu schildern), aber auf dem Weg nach Sindelfingen, zu einer anderen dunklen Halle, käme der Kulturflaneur sogar vorbei an dieser Kasematte schwäbischer Besessenheit. Das Ziel in Sindelfingen ist auch hier ein fensterloser Ausstellungssaal, auch dieser in eher spröder Umgebung zwischen einem Möbel-verkaufenden „Erlebnis-Wohnzentrum“ und der Ödnis dahingewürfelter Bürogebäude platziert. Anders als in Freys gigantischem Bastelkeller ist in Sindelfingen immerhin der öffentliche Zugang erwünscht; man soll schauen im „Schauwerk“, dem Museum der Schaufler-Stiftung. Im dunklen Raum dort blinkt und blitzt es in aseptischer Reinheit. Auf gewaltigen Bildschirmen, die im Rund angeordnet sind, läuft in Endlosschleife eine Bilderserie mit dem Namen „Wilderness“. Mal zuckende, mal tanzende, dann wie im Trance verharrende Figuren verbringen einen virtuellen Tag von Sonnenauf- bis -untergang, ratlos und verloren in der ganzen Schönheit ihrer digitalisierten Einsamkeit. Denn echt ist nichts in dieser blankgeputzten Wildnis, alles ist virtuell, es sind nur noch bunte Bilder, die das Leben bilden, hier in Sindelfingen und auf Instagram, auf Tiktok, auf Youtube.
Return to the Real!
Return to the Real! Der international renommierte US-amerikanische Videokünstler Doug Aitken hat diese kreisrunde Virtualität für das Sindelfinger „Schauwerk“ geschaffen, die dort noch bis 16. Juni 2024 zu sehen ist. Der Ausstellungtitel „Return to the Real“ – Zurück zum Realen – ist blanker Hohn gegenüber dem Gezeigten, eine absichtsvolle Absurdität. Inmitten des bunten Videospektakels, mit Musikfetzen und Geräuschen unterlegt, findet sich der Betrachter in Ratlosigkeit wieder, irrt herum, sucht nach gedanklichen Auswegen aus dem Panorama der digitalen Bilder. Bis er schließlich ahnt, dass seine eigene Orientierungslosigkeit auch die der Figuren ist, die da sinnieren und singen, tanzen und sitzen und warten, dass endlich etwas geschieht. Immer wieder leuchten ihre Handydisplays, aber sie bleiben leer, nichts ist zu erkennen darauf. Es ereignet sich wenig, schon gar nichts Reales, und so mündet das letzte dumpfe Blinken der Autoscheinwerfer durch die Dunkelheit dieser Nacht im Sonnenaufgang für einen weiteren solchen Tag.
Frey bastelte Tausende Grabsteine und Bäumchen
Der Stuttgarter Eisenbahn-Angestellte Wolfgang Frey interessierte sich in seinem dunklen Saal im S-Bahn-Zwischengeschoss nicht für Virtualität, sondern nur für das Reale. Er schuf in zwanzig Jahren „eine original- und maßstabsgerechte Nachbildung“ (so der Ausstellungsprospekt „Stellwerk S“) großer Teile der Stuttgarter Innenstadt und des inzwischen in einer Großbaustelle versunkenen Hauptbahnhofs der Schwabenmetropole. Er fummelte aus Pappe und Holz, aus Abfallmaterialien, Spülschwämmen, Plastikstrohhalmen und Radiergummis in Eigenbau 450 Gebäude im Maßstab 1:160 zusammen, von deren Vorbildern viele heute schon nicht mehr stehen. Er schnitzte für die Minitaturausgabe eines Großfriedhofs 2500 Grabsteine, bastelte Tausende Bäumchen, bemalte Hunderte Automodelle und Schienenfahrzeuge, verlegte kilometerweit Kabel. Das tote Leben dieser Miniaturwelt, deren Schöpfer, deren Gott, er war, steuerte er schließlich mit einem eigenen Stellwerk, das er originalgetreu seinem eigentlichen Arbeitsplatz bei der Bahn nachbildete. Entstanden ist so das „größte Stadtmodell Europas“ (Prospekt) auf einer Fläche von 180 Quadratmetern. Dann starb Wolfgang Frey 2012 überraschend im Alter von 52 Jahren, und ließ sein übermenschliches Werk im Dunkel des S-Bahn-Zwischengeschoss zurück. Bis heute ist die Stadt, die er nachbaute, ratlos, wie mit diesem Erbe umzugehen ist.
Doug Aitkens Bilderkreisel wird abgebaut werden, wenn die Sindelfinger Ausstellung endet. Die großen Videowände sorgsam verpackt, die Projektoren in gepuffte Folien gewickelt, die steuernde Software heruntergefahren. Das Werk wird in die nächste dunkle Halle verbracht werden, wo es wieder zu seinem virtuellen Leben erweckt wird und unsere eigene Ratlosigkeit ausbreiten kann vor uns selbst.
In der Realität musste zerhackt und zersägt werden
Return to the Real! Als Wolfgang Frey tot war, herrschte bleierne Ratlosigkeit im Umgang mit seiner riesigen Modellwelt. Die Bahn wollte ihr Zwischengeschoss wiederhaben, kaum jemand hatte zuvor das Werk jemals gesehen. Es war auch von Frey gar nicht gebaut worden als Gegenstand der allgemeinen Bewunderung, sondern als Sehnsuchtsort für seine eigene Welt. Schließlich musste die riesige Anlage brutal zerstückelt werden, die Gleise abgehackt, die Kabel gekappt, die Berge herausgesägt, der Friedhof geteilt werden, um das Monstrum erstarrter Zeitgeschichte überhaupt herauszubekommen aus dem Dunkel des Untergrunds.
Nach einer Zwischenstation sind nun die Fragmente im Stuttgarter Stadtzentrum, gleich gegenüber vom nachgebildeten Bahnhof, zu besichtigen. „Stellwerk S“ nennt sich das Ladengeschäft, in dem Ehrenamtliche versuchen, im zähen Ringen mit Staub und Geldnot die Ruinen von Freys analogem Bastelwerk der virtuell verwöhnten Öffentlichkeit von heute zu präsentieren. Die Bruchstücke, die dort, nun bei Tageslicht, zu sehen sind, vermitteln wenigstens in Ansätzen, welchem akribischen Wahnsinn dieser große Schöpfergeist des Realen nachjagte. Ganz nebenbei und vielleicht ohne Absicht hat dieser auch noch das ganze Scheitern der Stuttgarter Verkehrspolitik (nur Stau auf allen Straßen, sogar im Modell) verewigt, und auch die raffgierige Dürftigkeit einer Nachkriegs-Städtebaupolitik, die nur die schnelle Nutzbarmachung, nicht aber die Ästhetik eines Stadtbildes im Blick hatte. Frey hat genau diese Realität nachgebaut, hält sie seiner Stadt nun als Spiegel der Banalität in Karton und Farbe vor die Nase.
Zieht man den Stecker, versinkt die virtuelle Welt im Dunkel
Zwei Ausstellungsbesuche lassen erleben, wie sich in zwanzig Jahren Wahrnehmung und Zeitgeist verändert haben. Bei Aitken blinken die sauberen bunten Bilder einer sich ständig wiederholenden, nie endenden Suche nach Sinn, und zieht man den Stecker, versinkt diese Welt im beliebigen Dunkel. Freys verrücktes Miniatur-Stuttgart ist dagegen ein bitteres Abbild der Realität. Seine Tausenden Staub-ergrauten Bäumchen, seine akribisch sortierte Ödnis der Grabsteinchen, seine Tristesse der immer gleichen Bürohäuser, die verblassenden Aufschriften der inzwischen schon versunkenen Geschäfte, die schon zum Zeitpunkt ihres Nachbaus totgeweihten Industriehallen, die erstarrten Staus auf den Straßen – sie allesamt mahnen an das banal Reale, das uns umgibt.
Da hilft kein Stecker, ratlos bleiben wir zurück, hier wie dort.
Die Stuttgarter Miniaturwelten „Stellwerk S“ sind zu finden gegenüber dem Hauptbahnhof am Arnulf-Klett-Platz 1-3. Geöffnet ist üblicherweise von Mittwoch bis Sonntag von 13 bis 17 Uhr. Das Projekt kämpft ums finanzielle Überleben; mit jedem Besuch des Werkes von Wolfgang Frey unterstützt man auch dessen Erhalt.
In schweren Zeiten unterwegs zu einer barocken Feier des Lebens
Tausendfach berühren weiße Tupfer den Asphalt, ein steter Strom nimmermüder Zwecklosigkeit, denn sogleich schmilzt das Weiß dahin, wenn es den Boden erreicht hat. Im Dämmerlicht bedarf es der Straßenlampen, denn erst deren Lichtkegel macht das endlos herabsinkende Raster des Schnees sichtbar. Was waren das für Zeiten, denkt der vorweihnachtliche Flaneur, als es noch galt, jeden Regentropfen herbeizusehnen in der sommerlichen Hitze und Trockenheit! Jetzt ist es nasskalt. Es ist Winter.
Fahl glitzert und blinkt es im nassen Licht. Im dahinschmelzenden Schnee triefen die Buden des Weihnachtsmarktes vor sich hin. Glühweinfreunde ducken sich unter die zu schmalen Vordächer, von denen es auf die Kapuzenköpfe tropft. Die tausend Lichter der Adventszeit schimmern wieder sorglos ins das Schneegestöber. Noch vor einem Jahr wurde gebangt, wie lange der Strom für Notwendigeres reichen wird. Noch immer ist es eine Welt voller Besorgnis, in die hinein die Lämpchen und Lichterketten nun ihre Eitelkeit verschwenden. Menschen überfallen einander, massakrieren ihre Nachbarn aus religiösem Eifer oder nationalistischem Hass. Die Antwort ist legitime Notwehr, eine Tat der Not. Glück entsteht so nicht, auch der wehrhafte Überfallene muss Leid zufügen.
Soviel Solidarität ist noch
Fünf Euro für einen Glühwein! Die Inflation!, wägt der Budenbesitzer das Haupt, kein Personal, die Energiekosten! Unter einem Trauf sucht der Flaneur Schutz, damit das teure Gebräu nicht auch noch vom steten Strom der nassen Flocken verdünnt wird. Immerhin: So viel Solidarität ist noch, dass die anderen Glühweintrinker willig zusammenrücken, um Platz zu machen am klebrigen Stehtisch. Das gemeinsam erduldete Nass verdrängt den vorschnellen Hass, der als unstillbarer Strom herausquillt aus dem Handy, sobald man die populären Netzwerke des Bösen aufsucht. Auf dem Weihnachtsmarkt gibt es keine Häme und keinen Spott für das notleidende Gemeinwesen, das eingeklemmt ist zwischen den Regeln des Staates und den Krisen der Welt. Höchstens für das Selfie wird das wasserempfindliche Gerät gezückt, sonst ist die winterliche Tändelei ein wohltuend digitalfreier Schonraum.
Ein Klang bricht sich seinen Weg
In ein paar Stunden wird der Weihnachtsmarkt schließen. Dann versiegt der Strom des teuren Glühweins, die letzte wärmende Bratwurst wird verspeist sein, die bunte Bude mit dem Zuckerzeug verbarrikadiert. Was bleibt, ist der Missmut: Das Milliardenloch im Haushalt, die Ratlosigkeit der ruhelos Regierenden, die Sprachlosigkeit des stocksteifen Kanzlers. Noch rieselt der nasse Schnee, noch dudelt die Musik aus dem quäkenden Lautsprecher über den Glühweinfreunden.
Was für Töne sind denn das?, grübelt der Flaneur, keine Weihnachtsklänge, sondern tastender Barock, breite Akkorde, kaum hörbar zwischen den Rufen der Kinder, dem Gequietsche des Karussells? Dann bricht sich der Klang seinen Weg, jubelnd, triumphierend. Eine Musik, die das Unbeschreibliche beschreibt, dem Aufglühen der Raketen Töne verleiht, ihrem Hinaufsteigen in den Himmel, ihrem kurzen Triumph, ihrem Verglühen in einer strahlenden Explosion der Farben, zweckfrei wie ein prächtiger Blumenstrauß, der verblühen wird. Ein Trost in Leben und Schönheit. Jetzt jubelt die Musik in ihrem Feuerwerk, das sie beschreibt.
Wie wäre es mit einem Fest?
Ein Feuerwerk als Musik! Ja, wie wäre es denn, statt der ganzen schweren Gedanken einfach ein Fest zu feiern? Um alles hinter sich zu lassen, was belastet, wenigstens für ein paar Stunden? Ein nächtlicher Traum wäre das, wirbelnd in einem Rausch aus Musik, Tanz, Gesang. Ein paar Stunden nur wie von Sinnen, albern, sinnlich, mit berstender Leidenschaft auf den Lippen, mit ungeahnter, noch niemals entdeckter Energie in den Gelenken, voller verrückter Ideen im Kopf? Wie wäre es, alle Last hineinzuschieben in Momente des heiteren Spiels, über sie hinwegzulachen, wie es Kinder können? Mit Topfschlagen und Flaschendrehen, mit der schnellen Suche nach einem freien Platz auf der Reise nach Jerusalem, ja genau jetzt: Nach Jerusalem!
Heillos verliebt dahinschweben, auch das dürfte einmal wieder sein für ein paar Stunden. Sich willenlos dem Glück des Lebens hingeben, hinaus aus der eigenen Routine der langweiligen Pflichten, hinein in die Hoffnungen von Leidenschaft und Fantasie. Bunt flattern wie die Schmetterlinge, vielarmig umarmen wie eine Krake, laut feiern, in der Musik versinken, knallig, schmissig – wie wäre es damit? Bei so einem Fest müsste sich gewiss auch die ganze Fragilität unseres menschlichen Daseins hineindrängen: Die eigene Dummheit und das Lernen daraus, die zwischenmenschlichen Abgründe, der Streit, die Eifersucht. Und unsere Sterblichkeit gar, die uns umklammert? Alles das würde dazugehören, weil es uns ausmacht, weil es der lauernde Ernst ist, der menschlicher Sinnlichkeit heiteren Sinn verleiht.
Die Fantasie muss fliegen, die Gedanken torkeln
Noch immer nasskaltes Schneetreiben. Der Flaneur fröstelt. Die Gespräche unter dem dürftigen Wasserschutz sind belanglos. Der teure Glühwein glüht schon längst nicht mehr. Die Bratwurst liegt schwer im Magen. Ein Fest, so ein Fest, in dem alles möglich ist, das die Fantasie fliegen, die Gedanken torkeln lässt, das wäre jetzt richtig. Ein Fest, das die Schwere des Lebens nicht ausblendet, sondern für ein paar wunderbare Stunden leicht werden lässt wie eine Traube silberner Luftballons.
Das ist mein Winternachtstraum, denkt sich der Flaneur, und lenkt seine Schritte unter dem schneedurchstöberten Nachthimmel, vorbei am träge in seinem Rund gefesselten Riesenrad, hinüber ins Stuttgarter Opernhaus. Dort gibt´s jetzt so ein Fest.
Die Barock-Revue im Stuttgarter Opernhaus mit dem Titel „La Fest“, gestaltet und inszeniert und auch selbst präsentiert von Eric Gautier, entzieht sich einer regulären Schilderung. Sie ist als gesamtsinnliches Erlebnis der Extraklasse jeden Weg Wert, nicht nur den hier geschilderten kurzen vom Stuttgarter Weihnachtsmarkt hinüber zum Opernhaus. Wer noch dabei sein will bei diesem ebenso klugen, fantasievollen, leichtfüßigen, wie auch nachdenklich stimmenden Fest, muss sich allerdings auf das Glück an der Abendkasse verlassen. Schon jetzt sind alle derzeit geplanten neun Vorstellungen im Dezember 23 und Januar 24 ausverkauft.
(Premiere am 3.12.2023; gesehen habe ich die Generalprobe am 30. November).
Es ist schwer, über diese Kirche zu schreiben, und vielleicht deshalb habe ich es lange nicht getan. Die Evangelische Stiftskirche im Zentrum Stuttgarts ist in der tief-protestantischen Stadt so etwas wie die Hauptkirche, aber man muss sie suchen; kein prächtiger Platz gruppiert sich um sie, kein dominanter Turm prägt das Stadtbild. Immerhin ist sie im Regelfall täglich von 10 bis 16 Uhr geöffnet und lädt zu einem Besuch ein, eine meditative Insel im materialistischen Umfeld schicker Markenshops.
Es ist auch schwer, über diese Kirche zu schreiben, weil sie so geschunden ist. Seit 1000 Jahren wird am Platz dieser Kirche gebetet, schreibt die lesenswerte und einladend gestaltete Webseite der Kirchengemeinde. Anfang Oktober feiert die Kirche ihr 700-jähriges Jubiläum, und bezieht sich dabei auf die Errichtung des frühgotischen Chorbaus, der im Wesentlichen bis heute an dieser Stelle steht.
Seither ist die Kirche mehrfach erweitert, zerstört, umgebaut, ausgebombt, niedergebrannt, eingestürzt – und anders als in anderen Städten hat man nicht den alten Bau immer und und immer wieder neu errichtet, oder sich zu einer vollständigen Neuerrichtung entschlossen. Jedes Mal haben sich die Herrscher und Bürger den dann gerade aktuellen Gegebenheiten und Bedürfnissen angepasst, das Vorgefundene ergänzt und erweitert. Jede Generation, die an dieser Kirche herumbastelte, hatte für sich gesehen, dafür sicherlich gute Gründe.
Als Besucher heute ging es mir aber so, dass dabei ein Sammelsurium herausgekommen ist, ein zerrissenes Gebäude, dessen Türme nicht zueinanderpassen und dessen Raumwirkung unter den vielen Kompromissen leidet. Beispielswiese ist schon seit Jahrhunderten der Chorraum seitlich gegenüber dem Hauptschiff verschoben, vermutlich deshalb, weil die engstehende Umgebungsbebauung nichts anderes zuließ. Zugangstore wurden verändert und verschoben, die im Krieg zerstörten Fenster in verschiedensten Stilen ersetzt. Die Harmonie der Raumwirkung leidet unter diesen Spannungen, und auch die vor 20 Jahren eingebauten Akustiksegel stellen ein weiteres, fremdartiges Element in diesem komplexen Bau dar, auch wenn sie für die Kirchenmusik ganz sicher unverzichtbar sind.
Für mich ist diese Kirche ein Sinnbild für gesellschaftliche Pragmatik: Die württembergische Seele hat hier klug, engagiert und immer auf den bewussten Einsatz der Mittel achtend eine Kirche über Jahrhunderte erhalten und immer wieder neu gestaltet. Das ist ehrenwert und auf gewisse Weise auch sympathisch, vielleicht sogar vorbildlich. Ein großer Wurf, ein kühner Plan, eine gestalterische Vision freilich, die ist dabei nicht herausgekommen.
Mehr über die Baugeschichte der Stiftskirche bei Wikipedia.
Die Website der Kirchengemeinde ist neu und sehr informativ und ansprechend gestaltet. Dort findet sich auch das Jubiläumsprogramm zum 700. „Geburtstag“ der Kirche vom 6. bis 8. Oktober 2023.
Über die besondere Magie der Begegnung von Richard Wagner und der Stadt Stuttgart im Jahr 1864 hätte man sich natürlich schon viel früher informieren können. Sie ist offen nachlesbar in den Biografien über den Komponisten, und echte Wagnerianer kennen sie längst.
Trotzdem sei sie hier noch einmal kurz erzählt: Fünf Tage hat sich der schwierige Charakter in Stuttgart aufgehalten, vom 29. April bis 3. Mai, und er befand sich in einer katastrophalen Situation. Zwar hatten seine Werke durchaus Aufmerksamkeit in ganz Europa gefunden, und auch eine umstrittene Bekanntheit hatte sich Wagner bereits erarbeitet. Aber wo auch immer der stürmische Mensch in Erscheinung trat, gab es Ärger. Sachsen hatte er fluchtartig verlassen müssen, da ihm aufrührerische Aktivitäten vorgeworfen wurden. In Wien hatte er Schulden gemacht, die er nicht ausgleichen konnte, auch nicht mit Hilfe von Gönner(inn)en. Auch Wien musste er also auf schnellstem Wege hinter sich lassen, die Gläubiger im Nacken.
Verarmt, unerreichbar verliebt, obdachlos
Verliebt hatte er sich auch noch, ungeschickterweise in die Ehefrau Cosima seines Freundes und wesentlichsten Förderers, Hans von Bülow, wobei für Wagner keine relevante Rolle spielte, dass er bereits seit 28 Jahren, wenn auch aus seiner Sicht unglücklich, verheiratet war. Wagner lebte auf der Flucht vor seiner eigenen Vergangenheit, auch vor den Folgen seines ungestümen, oft rücksichtslosen Charakters. Zu seiner Frau Minna in Dresden konnte er aus politischen Gründen nicht zurück und wollte es auch emotional nicht.
Er war ein Obdachloser, verkaufte Teile seines Hausstandes und bei Konzertauftritten und Reisen erhaltene Gastgeschenke, um wenigstens die Hotelrechnungen bezahlen zu können. Seine Förderer zogen sich vor dem wilden, ungebändigten Geist dieses Mannes zurück und signalisierten wachsenden Widerwillen, ihn bei sich aufzunehmen.
„Ich bin am Ende!“
In dieser Lage kam Richard Wagner am 29. April 1864 nach Stuttgart. Logis nahm Wagner – ohne dafür zahlen zu können – im damaligen Hotel „Marquardt“ neben dem alten Bahnhof. Am Neckar hatte er noch einen Freund, den Kapellmeister der württembergischen Hofkapelle, Karl-Anton Eckert. Der versprach ihm nicht nur Kost, er wollte auch den Kontakt zum Intendanten des Hoftheaters herstellen. Seinen Freund Wendelin Weißheimer, der ihn in Stuttgart aufsuchte, und mit dem er die „Meistersinger“ fertigstellen wollte, begrüßte er mit den Worten: „Ich bin am Ende!“ Und der befreundeten Schriftstellerin Eliza Wille schrieb er aus Stuttgart an den Zürichsee: „Freundin, Sie kennen den Umfang meiner Leiden nicht, nicht die Tiefe des Elends, das vor mir liegt.“
Ein Festspielhaus im Kurpark?
Wagner hoffte in höchster Not, in Stuttgart Aufführungschancen zu erhalten, vielleicht einen Vorschuss, der ihn über die nächsten Wochen retten könnte. Welche Wendung hätte das Stuttgarter Kulturleben nehmen können, wenn es zu einem Engagement Wagners am Neckar gekommen wäre? Vielleicht stünde dann jetzt das Festspielhaus nicht auf dem Hügel in Bayreuth, sondern im Kurpark von Bad Cannstatt?
Aber es kam anders. Ohne dass Wagner etwas davon ahnte, reiste ihm bereits seit zwei Wochen auf seinen wilden Fahrten durch halb Europa ein Mann hinterher. Er hatte einen prominenten Auftraggeber. Der bayerische König Ludwig II., gerade erst auf den Thron gelangt, ein „Jüngling von bedenklicher Schwermut und Menschenscheu, schön, dunkeläugig und homophil“ (so Martin Gregor-Dellin in seiner Biografie über Richard Wagner) hatte als 15jähriger den „Lohengrin“ gesehen und war seither besessen davon, Richard Wagner kennenzulernen und zu fördern. Nun, als König, hatte er auch Macht und Mittel dafür. Er ließ nach Wagner fahnden.
In Stuttgart spürte der bayerische Abgesandte Franz von Pfistermeister das unmittelbar vor dem Ruin stehende Genie auf und informierte den Staunenden über die Anbetung durch den jungen König. Er habe den Auftrag, Wagner sofort nach München zu bringen und dem König persönlich vorzustellen.
Ein gemachter Mann – von einem Tag auf den anderen
Und so kam es. Noch am selben Tag, dem 3. Mai, nachmittags um fünf bestieg Wagner zusammen mit Pfistermeister den Zug von Stuttgart nach München, überwand die Alb, überquerte die Donau, dampfte an Augsburg vorbei und eilte schließlich in die Münchner Residenz. Wagner war von diesem Tage an ein gemachter Mann, er hatte keine materiellen Sorgen mehr, denn für sein Auskommen sorgte der junge König. Beide bezahlten dafür einen Preis, massive Ablehnung und persönliche Demütigungen kosteten dem kranken König schließlich das Leben und Wagner musste aus München nach Bayreuth flüchten.
„Grünliche Dämmerung“ über den Hügeln des Kessels …
An Hügeln hätte es nicht gemangelt, aber hätte Stuttgart ein Wagner-Festspielhaus geschmückt? Wäre die protestantische Stadt bereit gewesen für die Kunst des romantisch-barocken Wagner? Der Kulturflaneur darf skeptisch sein. Die Oper Stuttgart nähert sich dieser Frage mit dem durchaus anspruchsvollen Film über die Stuttgarter Tage von Richard Wagner. Es ist eine sehr schwäbische Antwort. Der Film trägt den Titel „Grünliche Dämmerung“, und lässt schon allein damit allen politischen Spekulationen Raum. Er dauert etwa eine halbe Stunde, erfordert Humor und Aufmerksamkeit, und am Ende geht man hinaus und denkt sich: Vielleicht ist es besser, dass er nach München weitergezogen ist. Wir haben den Daimler und die Mineralbäder.
Inspiriert zu diesem Text hat mich das Frühjahrsfestival der Oper Stuttgart mit dem Titel „Hotel Utopia – Richard Wagners fünf Tage am Neckar zwischen Ruin und Rettung“, insbesondere auch der geistreiche und sehr sinnliche Stadtspaziergang zu Wagners Ankunft in Stuttgart (vom 18. Mai 2022). Das Programm des Frühjahrsfestivals dauert noch bis 22. Mai: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/hotel-utopia/
Zum Film „Grünliche Dämmerung“ gibt es derzeit auf Youtube nur den Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=hfcKtGDNezM Über das weitere Schicksal des Films außerhalb des Frühjahrsfestivals wurde noch nicht entschieden.
Stuttgart Hauptbahnhof – bitte alles aussteigen! Willkommen in der ersten Station unserer Reise zum Hass. Gebaut wird viel rund um den nun schon ziemlich heruntergekommenen Kopfbahnhof. Dreißig Jahren wurde diskutiert und gestritten, endlose Debatten und ein quälendes Hin und Her hat es gegeben. Die Politik von damals setzte schließlich den Baubeschluss für eine unterirdische Durchgangsstation durch. Sie säte Gewalt und erntete: Hass.
Jahrhunderte alte Baumriesen mussten für die Baugrube weichen, und so gab es an der Baustelle des Bahnhofs schaurige Bilder. Fast schien es so, als würden aus dem zusammengesunkenen Grün der tödlich verletzten Bäume immer mehr und immer neues hässliches Gewächs sprießen: Immer mehr staatliche Gewalt, immer wieder Prügelszenen, noch mehr schwer verletzte Demonstrierende.
Wohin soll´s gehen? Bild vom Hass gesucht
Auf zur nächsten Station! Stöbern wir, kaum hundert Meter vom Ort des hass-auslösenden Baugeschehens entfernt, durch die (auch digital verfügbaren) Bestände der stolzen Stuttgarter Staatsgalerie. Voll ist dieses Haus von Bildern, von Gemälden, die Emotionen zeigen, von Liebe und Mord erzählen. Nach dem Hass müssen wir lange suchen in den stillen Hallen des Museums.
Schließlich dreht uns doch ein junger Mann den Kopf entgegen, heftig nach rechts gewendet, seine tiefliegenden Augen blicken aus den Höhlen zornig hervor, sein starrer Blick fixiert voller Wachsamkeit und Ablehnung irgendetwas jenseits des Betrachters. „Hass oder Eifersucht“ nennt sich das Bild. Der französische Maler Charles LeBrun hatte sich vor mehr als 300 Jahren daran gemacht, in einem dicken Buch alle menschlichen Emotionen aufzuschreiben, zu definieren und mustergültige Zeichnungen über ihre Ausdrucksformen anzufertigen – eine Gebrauchsanleitung für das Malen von Emotionen.
Für unser heutiges Empfinden ist der hassende Jüngling aus der Staatsgalerie allerdings zu schön geraten. Denn Hass ist hässlich. Er sei eine „leidenschaftliche Abneigung“, schreibt Wikipedia, und diese beschränke sich nicht darauf, den Gehassten nur nicht zu mögen, sondern will ihm auch aktiv schaden. Ganz offensichtlich werden wir ohne Hass geboren. Ein Kind hasst nicht, vielleicht wird es zornig oder wütend. Auch eines Kindes Trotz, seine nervige Bockigkeit und hartnäckige Widerspenstigkeit – all dies erleben wir nicht als Hass. Irgendetwas muss also passieren zwischen dieser Zeit der Unschuld und dem Hass auf Andersdenkende, Andersgläubige, Anders-Lebende, auf „die da oben“.
Nächster Halt: Belohnung! Wer hasst, fühlt sich gut!
Wieder sind es nur wenige Schritte zur nächsten Reisestation. Von der edlen Bilderwelt der Staatsgalerie wechseln wir in das Untergeschoss des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg. Dort beschäftigt sich (noch bis 24. 7. 2022) eine Ausstellung mit dem Hass. Wer hinabsteigt in den fensterlosen Keller des Museums findet fein säuberlich alle gesellschaftlichen Facetten dieser Emotion abgebildet: den Hass, der Kriege auslöst; den Hass, der Frauen tötet; den Hass, der Genozide antreibt, der den Mob entfesselt. Was allenfalls angedeutet wird in dieser Ausstellung ist die psychologische Herleitung – warum hassen wir?
„Ganze Völker erklären sich selbst für wertvoller, andere für minderwertig“, stellt Christian Stöcker in einem klugen Essay im „Spiegel“ fest: Das Herabschauen auf andere belohnt uns, und es macht uns süchtig auf immer mehr Belohnung, es tröstet uns über eigene Defizite hinweg. „Am Ende,“ meint Christian Stöcker, „so paradox das klingt, hassen Menschen andere Menschen – Juden, Schwarze, Ausländer, wen auch immer – um sich selbst besser zu fühlen. Verachtung als Methode der Selbstwertsteigerung.“
Ein Anschluss zum Verpassen: Der digitale Schnellzug zum Hass
Millionenfach geklickte und mit einem Herzchen geadelte Schadenfreude-Videos, „Daumen hoch“ für verbale Unflätigkeiten oder ekelhafte Hasspostings führen uns täglich vor Augen, wie sehr das stimmt. Die digitale Welt kann ein Schnellzug zum Hass sein. In den dunklen Ecken der Netzwerke türmt sich der Hass zu stinkenden Abfallbergen der Kommunikation, toxisch, im schlimmsten Fall tödlich. Und in den Dachkammern anonymer Einsamkeit fühlen sich manche großartig dabei, herabsetzende Hasstiraden per Tastendruck und Mausklick in die ganze Welt hinauszuposaunen.
Fahrscheinkontrolle!
Wenigstens gibt es Gegenbewegungen. Die Politik hat die Netzwerkbetreiber verpflichtet, Hass-Botschaften schnell zu entfernen und will bei der Polizei die Kapazitäten dafür schaffen, damit Verfasser strafbarer Inhalte auch tatsächlich bestraft werden. Gerade hat die Bundestagsabgeordnete Renate Künast dazu ein wichtiges Grundsatzurteil des Verfassungsgerichts erwirkt – auch als Person des öffentlichen Lebens muss sie nicht jede Form von Beleidigung hinnehmen.
Auch jeder Nutzer des Netzes kann selbst aktiv werden gegen Hass: Einmal länger überlegen, was man da schreibt. Sich nicht auf einlassen auf die Rattenlogik: Je schärfer dahingerotzt, desto mehr Belohnungs-Herzchen oder Daumen-rauf-Bildchen, desto besser fühlt man sich. Hasspostings konsequent melden, damit sie gelöscht und verfolgt werden können; unangemessener Sprache aktiv entgegentreten. Wir sind nicht machtlos gegen den Hass.
Bitte nachlösen: Hass ist überwindbar
Die Reise führt uns zurück zum alten, noch in Betrieb befindlichen Stuttgarter Bahnhof. Wir stolpern nun, mehr als zehn Jahre nach der Eskalation des Hasses, durch ein Gewirr von Baugruben, mäandern herum auf provisorischen Wegen und Übergängen, zwängen uns hindurch zwischen klapprige Bauzäune und vorbei am röhrenden Gewühl der Bagger und Betonpumpen. Denn der neue Bahnhof wächst, viele seiner künftigen Lichtaugen schielen bereits, noch blind ohne ihre Glasabdeckung, aber gut erkennbar, in den Stuttgarter Winterhimmel.
Nach der Eskalation gab es eine öffentliche Schlichtung, dann eine Volksabstimmung, schließlich eine behutsame Rückkehr zur sachlichen Debatte. Noch immer wird gestritten und geklagt. Mit manchem haben die Kritiker Recht behalten; so wird der Untergrundbahnhof ein Vielfaches dessen kosten, was einmal geplant war. Verschwunden sind aber die hasserfüllten Parolen, abgekratzt die Aufkleber der Ablehnung. Es gibt schließlich auch wichtigeres als ein paar Gleise unter schwäbischer Wohlstandsbebauung.
Einsteigen bitte!
Zum Abschluss unserer Gefühlsreise wartet ein französischer Schnellzug abfahrbereit am Bahnsteig. Hinaus in die Welt geht es, Richtung Westen, ein knappes Stündchen nur. Unsere Urgroßväter hielten noch vor 100 Jahren in waffenstarrem Hass-Überschwang die „Wacht am Rhein“. Heute gleitet der Zug zwischen Kehl und Straßburg ohne Halt hinweg über den breiten Strom, hinein in das schöne Nachbarland, ohne Passkontrolle, ohne Geldumtausch. Was für eine wunderbare Belohnung!
Wie das Schöne politisch wird – eine Stuttgart-Erfahrung
Ein Pferd sollte her! Wir befinden uns in Stuttgart, das ein Pferd in seinem Wappen führt, weil sein Name sich von einem Garten für Stuten ableitet. Ein stolzes Pferd sollte es also sein!
So oder so ähnlich mögen die Verantwortlichen der ersten Gartenschau am Neckar sich das gedacht haben. Eine „Reichsgartenschau“ sollte 1939 eröffnet werden, und so wurde der Auftrag erteilt, den schönen Park über der Stadt nicht nur mit Hakenkreuz-Flaggen, sondern auch mit einem Denkmal-Pferd zu schmücken.
Wer heute den Schauplatz betritt, der noch immer ein schöner Park ist, muss genau hinsehen, wenn er am Eingang noch ein Pferd erkennen möchte. Ein steinerner Torso fristet dort sein trauriges Dasein, angenagt von Wetter und Zeit. Sollte das hier das stolze Pferd von Stuttgart sein? Man kann es kaum glauben. Und es ist auch das falsche Pferd, zwar drei Jahre früher entstanden, aber erst seit den 70er Jahren hier aufgestellt.
Also ein paar Schritte den Hang aufwärts, hinein in den Park! Dort oben blinkt und lockt es schon im Sonnenlicht, das stolze Pferd von 1939, diesmal ein schmucker Bronzeguss. Dieses Pferd ist zeitlose Kunst, eine Pracht von Kraft und Energie, erstarrt in seiner aufstrebenden Bewegung. Eine Verbeugung vor der Schöpfung, die es vermocht hatte, ein solches schönes Geschöpf entstehen zu lassen.
Die beiden Pferde, der steinerne Torso wie auch das schöne aus Bronze (genauer gesagt: ein Nachguss von 1955) sind zu besichtigen im Höhenpark Killesberg in Stuttgart. Kaum jemand achtet heute auf das verschlissene Steinpferd am Eingang, aber fast jede und jeder Stuttgarter/in kennt den Pferderücken aus Bronze. Keine Kindheit in dieser Stadt, während der man nicht den in luftiger Höhe über der Stadt liegenden Park besucht hätte, seine Spielplätze, die kleine Kirmes, den Aussichtsturm, das Höhencafé, das sommerliche Lichterfest.
Das Bronze-Pferd steht dort mittendrin an zentraler Stelle. Abertausende Stuttgarter Kindesbeine haben schon seinen glattpoliert glänzenden Rücken erstiegen, haben des Hals dieses starren, stolzen Geschöpfs umarmt. „Das größte Glück der Erde …“ – für manches Kind lag es auf diesem Rücken.
Ein Museum, …
Geschaffen hat beide Pferde der Stuttgarter Bildhauer Fritz von Graevenitz, der von 1892 bis 1959 lebte, hochgeachtet als Künstler und bis 1945 Leiter der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Graevenitz entstammte altem württembergischem Militäradel, erlitt schwer Verwundungen im ersten Weltkrieg, aus dem seine beiden Brüder nicht zurückkehrten. Fritz von Graevenitz wusste wohl aus eigenem schmerzhaftem Erleben, was Krieg bedeutet, und vielleicht auch deshalb konzentrierte sich ein großer Teil seines Schaffens ganz politikfern auf die künstlerische Darstellung von Tieren.
Aber leider auch auf Portraitbüsten.
Denn Fritz von Graevenitz erfuhr nicht die Gnade der späten Geburt (wie Helmut Kohl über sich sagte), sondern musste während des Nationalsozialismus leben. Wer hinaufsteigt am Nordwestrand von Stuttgart auf die „Solitude“, das Lustschloss württembergischer Herzöge, kann dort sonntags ein kleines Museum besichtigen, das sich Graevenitz widmet. Viele Tiere in Bild und Skulptur sind dort zu sehen, und auch Portraitbüsten – Darstellungen seiner Frau, seiner vier Töchter in unterschiedlichen Altersstufen, ein frühes Portrait seines Neffen Richard von Weizsäcker.
… das Wichtiges verschweigt
Und – politisch besonders erläutert – die Büste von Rudi Daur, einem evangelisch-pietistisch orientierten Pfarrer, der sich nach dem ersten Weltkrieg für eine Überwindung des Militarismus eingesetzt hatte. Das Vorhandensein dieser Erläuterung ist von Bedeutung, weil sie bewusst ablenkt von dem, was dezidiert nicht zu sehen ist und auch mit keinem Wort erwähnt wird. Fritz von Graevenitz fertigte im Jahr 1935 eine Portraitbüste von Adolf Hitler, die vielmals kopiert im ganzen deutschen Reich zu sehen war.
Im Stuttgarter Graevenitz-Museum aber ist die Zeit stehen geblieben in den 60er Jahren unserer Republik. Hier wird einmal tatsächlich eine sprichwörtliche „Geschichte vom Pferd“ erzählt. Nicht nur, weil sich auch hier mehrere Studien und Gemälde von Pferden finden, sondern weil es keinen Hinweis auf die Rolle des Künstlers im sog. „Dritten Reich“ gibt. Der Kunstfreund, der sich hierhin verirrt, wird im Unklaren gelassen über fragwürdige Aufträge der Nationalsozialisten und verfehlte kulturpolitische Einordnungen, die Graevenitz als Direktor der Stuttgarter Kunstakademie kriegskonformistisch verlauten ließ. Künstlerische Irrtümer und politische Fehltritte waren das. Es steht nicht an, über diese zu richten. Aber ihr Verschweigen durch die Nachkommen darf man als Skandal empfinden.
Trägt das Pferd eine vergiftete Ladung in sich?
Was ein Museumsbesuch bewirken kann! Auch der Blick auf das stolze Bronzepferd von 1939 wandelt sich. Was für eine prachtvolle Darstellung kräftiger Muskelpartien, kein Gramm Fett, keine Spur Dekadenz ist an diesem Tier! Sind wirklich alle Pferde so makellos? War da ein vom Hitlerwahn verblendeter Künstler ästhetisch verliebt in Stärke und Energie, in rassisch überlegene Vitalität, in kriegerischen Durchsetzungswillen, wenige Wochen vor dem deutschen Überfall auf Polen? Trägt das Bronzepferd vom Killesberg ganz nach seinem sagenhaften Vorbild aus Troja eine vergiftete Ladung, eine mörderische List, in sich?
Fritz von Graevenitz musste auch gewusst, vielleicht sogar gebilligt haben, dass jüdische Mitbürger erniedrigt und durch Stuttgarts Straßen getrieben wurden, seine jüdischen Akademiekollegen verfolgt, ihre Synagogen verbrannt waren – während er an ästhetischen Details dieses schönen Pferdes feilte. Während die Stuttgarter am Pferd vorbei durch den Höhenpark flanierten, stand nur wenige Meter entfernt von seinem luftigen Hufschlag jene Halle, in der sich ab Dezember 1941 die geächtet Todgeweihten der Stadt zur Deportation in den Tod einzufinden hatten.
Beladen mit solchen Fragen könnte der Betrachter von heute wieder hinausschreiten aus dem Park, ein paar tausend Schritte hinüber zum Nordbahnhof, wo eine gut versteckt gelegene Gedenkstätte an den Startpunkt der Stuttgarter Deportationszüge in die Todeslager erinnert.
Ein trostloser Weg; immerhin, er führt wieder am steinernen Pferdetorso vorbei. Sein Kalkstein war zu weich für Sturm und Regen und Sonne, zu anfällig für die Luftverschmutzung der modernen Zivilisation. Es ist ein Mahnmal der Vergänglichkeit, und als solches hat es auch etwas Tröstliches.
Ganz aktuell (8. Februar 2022): Die Stiftung Geißstraße in Stuttgart will sich in einem Projekt der kulturhistorischen Aufarbeitung des Werkes von Fritz von Graevenitz im Stadtraum von Stuttgart annehmen. Wer Interesse hat, dort mitzuwirken, kann sich bei der Stiftung melden.
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