Die eingestürzte Welt des Händedrucks

Eine Geschwistergeschichte

Nun war es schon wieder ein warmer Sommer gewesen, und die Sonne flirrte auch heute vom wolkenlos blauen Himmel. Nur Schattenplätze stellten Schweißfreiheit in Aussicht. Und wer sich unter Menschen begab, so hatte es sich eingegraben in seinen Lebensüberzeugungen, der sollte möglichst nicht schwitzen; Umarmungen von Schweißleibern waren ihm eine besondere Herausforderung. Also stand er im dichten Schatten der Weide, deren Blätterdach sich üppig-girlandenhaft auf die stille Wasserfläche des kleinen Sees herabsenkte. Besser kühl bleiben, dachte er sich, obwohl gar kein Anlass für eine klebrige Umarmung in Sichtweite war.

„An körperlicher Nähe hatte er das Sitzen auf dem weichen Schoß seiner Mutter in Erinnerung, auch das Raufen mit seinen Brüdern, später das Händeschütteln der Erwachsenen, in das er sachte hineinwuchs.“  Foto: Lizenzfrei von HeungSoon auf Pixabay

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Daran, dass sich alle ständig umarmten, hatte er sich erst mühsam gewöhnen müssen. Aufgewachsen war er ohne Umarmungen. An körperlicher Nähe hatte er das Sitzen auf dem weichen Schoß seiner Mutter in Erinnerung, auch das Raufen mit seinen Brüdern, später das Händeschütteln der Erwachsenen, in das er sachte hineinwuchs. Wenn es sein musste, fasste man sich an, aber man umarmte sich nicht. Die feuchten Küsse seiner Tanten auf die Backe hatte er ekelverzerrt ertragen wie alle Kinder, und war dankbar gewesen, dass seine Eltern ihn nicht küssten.

Dann hatte er die Welt außerhalb seiner Familiengewohnheiten kennengelernt, und die Umarmung hatte sich in sein Leben geschlichen. Anfangs noch als besonderes Ereignis, fand er sich bald schon sinnenberauscht in den Armen seiner ersten schüchternen Frauenbekanntschaften wieder. Er sog den Duft ihrer Haare ein, spürte den sanften Druck begehrter Körperstellen, fühlte eine unerhörte, nie erlebte, ganz singulär empfundene Nähe, und verwechselte sie verwirrt mit Liebe. Enttäuscht schreckte er zurück, wenn ihm der Irrtum bewusst gemacht wurde. Eine Umarmung war neu für ihn, sie war intensiv, aber was bedeutete sie?

„Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“, hatte ein deutscher Bundesinnenminister noch im Jahr 2017 als Teil einer deutschen „Leitkultur“ vorgeschlagen. 2017! Da hatte die Umarmung für ihn längst den geschützten Raum des Intimen verlassen. Seine festgefügte Welt des Händedrucks als Regelfall war schon viel früher eingestürzt. Sommer um Sommer hatte sich die Umarmung immer fester an seine anwachsende Lebenserfahrung geklammert. Wie eine Epidemie, so schien es ihm, griff das Umarmen um sich. Eingerissen wurde die wohlvertraute Mauer zwischen Liebe und Bekanntschaft, die in seiner erwachsenen Welt anfangs noch sauber sortiert hatte, wen es zu umarmen gilt und wen nicht. Irritiert beobachtete er, wie seine halbwüchsigen Kinder bei jedem nichtig erscheinenden Anlass ihre Freundinnen und Freunde umarmten, und seine Frau wusste sowieso nichts von seiner Mauer. Fasziniert beobachtete er, wie Männer sich gegenseitig in den Arm nahmen, undenkbar in seiner Welt, und staunte über Frauen, die sich mit Umarmungen begrüßten, die das Ziel hatten, zur Schonung von Makeup und Frisur sich möglichst wenig zu berühren. Was für ein absurdes Ritual gespielter Nähe, dachte er sich.

Sogar seine Arbeitskolleginnen -kollegen, die er doch jahrelang mit geübtem Händedruck routiniert begrüßt hatte, begannen zu seinem Erstaunen damit, sich gegenseitig zu umarmen. Eifersüchtig schielte er auf die emotionale Nähe, die manche damit auszudrücken schienen, wo doch professionell ermittelte Distanz angebracht gewesen wäre. Er fühlte sich ausgeschlossen. Neid und Misstrauen wucherten in ihm, und deshalb überwand er sich schließlich in geeigneten Momenten. Er übte das Umarmen ein, wie andere eine Sprache oder ein Musikinstrument erlernen. Rechts oder links? Mit oder ohne Küsschen? Einmal oder zweimal?

Er lernte es also, zu umarmen, aber eine körperliche Muttersprache war es ihm nicht. Für sich selbst entschied er sich schließlich für die distanziert trockene Variante als Regelfall. Entschlossen wich er Küsschen-Überfällen aus, und verweigerte den Lippeneinsatz.

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War da schon der Herbst in den Blättern? Er prüfte die Farbe des satten Grüns über sich, ließ auch den Blick schweifen über den See, auf die im Wasser dahintreibende Entenfamilie, die dahinterliegenden Bäume, musterte das Laub: Alles noch lebendig und saftig grün. Der Herbst wird kommen, überlegte er, das prächtige Sterben der Blätter wird sich ereignen, wie immer, und der unerbittliche Wind wird es herunterzerren und nur kahles Geäst zurücklassen. Es wird sich Eis bilden auf dem See. Aber noch war es nicht so weit, noch war Sommer.

Er war schon tief in der zweiten Lebenshälfte, im goldenen Spätsommer des Lebens gewissermaßen, von der Arbeit befreit, aber auskömmlich wohlhabend, halbwegs gesund und voller Tatendrang. Aus Sicht seiner Kinder war er alt, aber doch der ewig jüngste von insgesamt vier Geschwistern: eine Schwester, die in diesem Jahr einen runden Geburtstag feierte, zwei Brüder.

Der kleine See war ein Urlaubsort. Ein Fest hatte seine Schwester gegeben, eine fröhliche Geburtstagssause mit launigen Ansprachen und musikalischen Einlagen, und sogar sein ältester Bruder, der seit Jahrzehnten in Südamerika lebte, deutlich über achtzig, hatte zu diesem Zweck die weite Reise in die gemeinsame Heimat auf sich genommen. Damit sich dieser Aufwand auch lohnt, hatten sich die vier Geschwister aus Anlass der seltenen Zusammenkunft zu einer gemeinsamen Woche am See verabredet.

Wer glücklich alt werden wolle, der müsse auf gelungene, menschliche Kontakte setzen. Das sei Ergebnis einer großen amerikanischen Langzeitstudie. Ein Interview dazu hatte er auf der Autofahrt an den See mit der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates gehört. „Der eine Faktor, der alles übertrumpft, der am stabilsten ist als Prädiktor dafür, dass man mit achtzig sagt: Ich habe ein gutes Leben gelebt, ein sinnvolles Leben,“ so hatte die kluge Frau die Studie wiedergegeben, „sind gute Beziehungen zu Geschwistern.“ Natürlich sei das auch nur ein Faktor, nicht der einzige, aber eben der stärkste. Wer ein gutes Verhältnis zu seinen Geschwistern habe, der könne mit guten Chancen darauf hoffen, lang und zufrieden zu leben. Geschwister würden verlässlich dem eigenen Leben einen Rahmen geben.

Seine Geschwister waren fast immer fort gewesen, ihm uneinholbar weit voraus im Leben. Sie führten alle ihre eigenen Leben, ungezählte Kilometer und noch viel mehr Erfahrungen entfernt voneinander. Jahre war es her, dass sie sich zu viert getroffen hatten, monatelang sahen und hörten sie zweitweise nichts voneinander.

Ein großes Hallo war es gewesen, als sie beim Fest aufeinandertrafen. Schon seit einiger Zeit hatte er sich angewöhnt, seine Geschwister nicht mehr wie einst mit Handschlag, sondern mittels einer Umarmung zu begrüßen. Wenn ich schon meine Arbeitskollegen umarme, hatte er sich gedacht, dann kann ich doch bei meinen Geschwistern nicht zur ausgestreckten Hand greifen. Ungefragt nötigte er ihnen also seither Umarmungen auf, auch wenn er regelmäßig das Gefühl hatte, dass sie ihm als linkisch-peinliche Momente herbeigezwungener Körpernähe misslangen. Ganz besonders empfand er es so, als er dem fernen Ältesten, dem es abstandsbedingt an Routine im neuen Begrüßungsritual fehlen musste, der auch gerade erst übernächtigt aus dem Flugzeug gestiegen war, die brüderliche Umarmung aufzwang. Und doch: Alles andere wäre ihm noch unpassender erschienen.

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„Da bist Du ja“, rief er jetzt aus seinem Weidenversteck heraus genau diesem ältesten Bruder entgegen. Er hatte ihn auf dem Rundweg um den See entdeckt. Vorsichtig schritt der alte Mann behutsam auf dem Kiesweg dahin, in seiner typischen Haltung: Die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Blick fest auf den Weg geheftet. Hatte er den Zuruf überhaupt gehört?

Es war eine vorhersehbare Zufallsbegegnung. Er hatte die Absicht gehabt, den See allein zu umrunden. Das war sein täglicher Spaziergang hier in der Spätsommerfrische, seine persönliche Rückzugszeit vom Familien-Intensivprogramm. Die letzte Woche war vor allem damit vergangen, dass sich die Geschwister tagelang Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt hatten, ihre Erinnerungen abgeglichen hatten, endlos, immer wieder und wieder sich ihrer selbst versichernd. Alte Fotos hatten sie durchsucht, alte Geschichten aufgewärmt, gelacht über Dinge, über die nur sie lachen konnten. Es war ihm eine warme Lust gewesen, sich in diesem Gefühl wohliger Gemeinsamkeit zu suhlen, aber es war auch ein sumpfiger Morast, und die Pampe ihrer verklärten Erinnerungen klumpte an ihnen fest wie das aufgeweichte Erdreich eines regengeplagten Festivalgeländes.

Heute, im flirrenden Licht der hochstehenden Spätsommersonne, hatte er den Weg noch bewusster als sonst abschreiten wollen, meditativ, still, ganz für sich allein. Der gemeinsame Urlaub der Geschwister war vorbei. Würde es noch einmal für alle ein Wiedersehen geben?

„Ah, wie geht´s?“, hörte er den Gruß seines Bruders, der seinen Blick nur wenige Sekunden vom Weg nach oben gehoben und ihn erkannt hatte, nachdem er aus seinem Weidenversteck herausgetreten war. Er reagierte mit belanglosem Gemurmel – „gut, gut, alles Ordnung“ -, begrüßte den Bruder mit einer sanften Berührung der gebeugten Schulter, ganz bewusst die Umarmung vermeidend, aber auch den anachronistischen Handschlag.

Dann passte er sich dem behutsamen Schritt des Älteren an. „Sag mal“, hob der Bruder unvermittelt zu einer Frage an, „erinnerst du Dich, dass wir mit unseren Eltern auch immer am Sonntag spazieren gegangen sind?“

Wie Schluckauf stieg Überdruss an „Erinnerst Du Dich noch“-Gesprächen in ihm auf, zu viele davon hatte er in den letzten Tagen geführt, zu jung fühlte er sich trotz seines fortgeschrittenen Alters für die Fokussierung auf das Erinnern an Vergangenes. Dann aber antwortete er artig zustimmend. Dabei stellte er entsetzt fest, dass er die gleiche Laufhaltung wie sein Bruder angenommen hatte: Blick auf den Weg, die Hände nach hinten, verschränkt auf dem Rücken. Es war die Gehhaltung ihres gemeinsamen Vaters gewesen. Erschrocken löste er die Hände hinter sich voneinander, ließ sie zunächst unentschlossen neben seinen Hüften schlackern, fühlte sich damit aber unwohl und räumte sie schließlich in seine Hosentaschen auf.

„Ich erinnere mich vor allem,“ hörte er jetzt seinen Bruder, „wie langweilig es war, wenn die Eltern dann Bekannte getroffen haben. Ewig haben die sich dann unterhalten über uninteressantes Zeug, und ich musste mir die Beine in den Bauch stehen.“

Nickend stimmte er dem Älteren zu, etwas unkonzentriert, ihm erschien diese Erinnerung belanglos, und seine Gedanken eilten ihm voraus zur kurz bevorstehenden Abschiedsszene. Wie würde die wohl verlaufen, überlegte er.

„Weißt Du eigentlich noch, wie man sich damals begrüßt und verabschiedet hat?“, fragte er.

Schritt für Schritt setzen sie ihren Gang fort, und er hatte schon den Eindruck, der ältere Bruder habe die Frage nicht gehört oder nicht verstanden. Aber dann, während er feststellte, dass seine ungehorsamen Hände sich schon wieder auf seinen Rücken geflüchtet hatten, hörte er ihn doch:

„Na, ganz normal. Mit Handschlag. Immer mit Handschlag. Und unser Vater ging ja nie ohne Hut aus dem Haus. Ich glaube, der hat ihn dann immer gelüftet, so wie sich das damals gehörte.“ Ein Lächeln huschte über das blasse Gesicht des Älteren.

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„Er hatte es gelernt, zu umarmen, aber eine Muttersprache war es ihm nicht geworden.“ Foto: Lizenzfrei von erge auf Pixabay

Der Abschied stand an. Eine ganze Woche waren sie zusammen gewesen. Wann hatte es das zuletzt gegeben? Vielleicht als Kinder, in den letzten gemeinsamen Urlauben mit den Eltern.  Ewig her, sicher mehr als fünfzig Jahre, überschlug er. Nun standen die Autos bereits gepackt vor der Tür des Urlaubsquartiers, die Angeheirateten warteten ungeduldig auf den Aufbruch. Nervös zögerte er den Moment noch heraus, prüfte, ob die Sonnenbrille im Auto bereitlag, stellte die Wasserflasche griffbereit in die dafür vorgesehene Ausbuchung. Hinter ihm hatte bereits seine Frau mit der Verabschiedung begonnen, keine weitere Verzögerung mehr duldend, den Schwager herzhaft umarmend, so wie es ihre Art war.

Dann war er an der Reihe. Noch einmal blickte er in das von einem schütteren grauen Bart umstandene Gesicht des ältesten Bruders, in die vertrauten Augen, in sein faltenumspieltes Lächeln. Eine warme Welle schwappte über ihn hinweg, überspülte ihn mit der Empfindung für das Unwiederbringliche, vielleicht sogar Unwiederholbare dieses Augenblicks. Dann breitete er seine Arme aus. Da bemerkte er, dass der Bruder ihm seine rechte Hand entgegenstreckte. Bereit zum Handschlag.

 

 

Der Vorschlag von Lothar de Maiziere, damals Bundesinnenminister, aus dem Jahr 2017 zu den Merkmalen einer deutschen „Leitkultur“ – „Wir geben uns die Hand“ – finden Sie hier.

Die von Alena Buyx, der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, zitierte Studie ist die Grant-/Glueck-Studie der Universität Harvard. Über die Ergebnisse kann man sich u.a. in diesem Video, einem übersetzten Vortragsmitschnitt, informieren.   (Klick leitet weiter auf Youtube) 

Das Gespräch mit Alena Buyx aus der ZEIT-Podcast-Reihe „alles gesagt?“ dauert mehr als fünf Stunden. Wer sich nicht alles anhören möchte (was aber durchaus lohnend ist), findet die von mir zitierte Stelle genau 30 Minuten vor Schluss: https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-08/alena-buyx-ethikrat-interviewpodcast-alles-gesagt

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

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