Die eingestürzte Welt des Händedrucks

Eine Geschwistergeschichte

Nun war es schon wieder ein warmer Sommer gewesen, und die Sonne flirrte auch heute vom wolkenlos blauen Himmel. Nur Schattenplätze stellten Schweißfreiheit in Aussicht. Und wer sich unter Menschen begab, so hatte es sich eingegraben in seinen Lebensüberzeugungen, der sollte möglichst nicht schwitzen; Umarmungen von Schweißleibern waren ihm eine besondere Herausforderung. Also stand er im dichten Schatten der Weide, deren Blätterdach sich üppig-girlandenhaft auf die stille Wasserfläche des kleinen Sees herabsenkte. Besser kühl bleiben, dachte er sich, obwohl gar kein Anlass für eine klebrige Umarmung in Sichtweite war.

„An körperlicher Nähe hatte er das Sitzen auf dem weichen Schoß seiner Mutter in Erinnerung, auch das Raufen mit seinen Brüdern, später das Händeschütteln der Erwachsenen, in das er sachte hineinwuchs.“  Foto: Lizenzfrei von HeungSoon auf Pixabay

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Daran, dass sich alle ständig umarmten, hatte er sich erst mühsam gewöhnen müssen. Aufgewachsen war er ohne Umarmungen. An körperlicher Nähe hatte er das Sitzen auf dem weichen Schoß seiner Mutter in Erinnerung, auch das Raufen mit seinen Brüdern, später das Händeschütteln der Erwachsenen, in das er sachte hineinwuchs. Wenn es sein musste, fasste man sich an, aber man umarmte sich nicht. Die feuchten Küsse seiner Tanten auf die Backe hatte er ekelverzerrt ertragen wie alle Kinder, und war dankbar gewesen, dass seine Eltern ihn nicht küssten.

Dann hatte er die Welt außerhalb seiner Familiengewohnheiten kennengelernt, und die Umarmung hatte sich in sein Leben geschlichen. Anfangs noch als besonderes Ereignis, fand er sich bald schon sinnenberauscht in den Armen seiner ersten schüchternen Frauenbekanntschaften wieder. Er sog den Duft ihrer Haare ein, spürte den sanften Druck begehrter Körperstellen, fühlte eine unerhörte, nie erlebte, ganz singulär empfundene Nähe, und verwechselte sie verwirrt mit Liebe. Enttäuscht schreckte er zurück, wenn ihm der Irrtum bewusst gemacht wurde. Eine Umarmung war neu für ihn, sie war intensiv, aber was bedeutete sie?

„Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“, hatte ein deutscher Bundesinnenminister noch im Jahr 2017 als Teil einer deutschen „Leitkultur“ vorgeschlagen. 2017! Da hatte die Umarmung für ihn längst den geschützten Raum des Intimen verlassen. Seine festgefügte Welt des Händedrucks als Regelfall war schon viel früher eingestürzt. Sommer um Sommer hatte sich die Umarmung immer fester an seine anwachsende Lebenserfahrung geklammert. Wie eine Epidemie, so schien es ihm, griff das Umarmen um sich. Eingerissen wurde die wohlvertraute Mauer zwischen Liebe und Bekanntschaft, die in seiner erwachsenen Welt anfangs noch sauber sortiert hatte, wen es zu umarmen gilt und wen nicht. Irritiert beobachtete er, wie seine halbwüchsigen Kinder bei jedem nichtig erscheinenden Anlass ihre Freundinnen und Freunde umarmten, und seine Frau wusste sowieso nichts von seiner Mauer. Fasziniert beobachtete er, wie Männer sich gegenseitig in den Arm nahmen, undenkbar in seiner Welt, und staunte über Frauen, die sich mit Umarmungen begrüßten, die das Ziel hatten, zur Schonung von Makeup und Frisur sich möglichst wenig zu berühren. Was für ein absurdes Ritual gespielter Nähe, dachte er sich.

Sogar seine Arbeitskolleginnen -kollegen, die er doch jahrelang mit geübtem Händedruck routiniert begrüßt hatte, begannen zu seinem Erstaunen damit, sich gegenseitig zu umarmen. Eifersüchtig schielte er auf die emotionale Nähe, die manche damit auszudrücken schienen, wo doch professionell ermittelte Distanz angebracht gewesen wäre. Er fühlte sich ausgeschlossen. Neid und Misstrauen wucherten in ihm, und deshalb überwand er sich schließlich in geeigneten Momenten. Er übte das Umarmen ein, wie andere eine Sprache oder ein Musikinstrument erlernen. Rechts oder links? Mit oder ohne Küsschen? Einmal oder zweimal?

Er lernte es also, zu umarmen, aber eine körperliche Muttersprache war es ihm nicht. Für sich selbst entschied er sich schließlich für die distanziert trockene Variante als Regelfall. Entschlossen wich er Küsschen-Überfällen aus, und verweigerte den Lippeneinsatz.

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War da schon der Herbst in den Blättern? Er prüfte die Farbe des satten Grüns über sich, ließ auch den Blick schweifen über den See, auf die im Wasser dahintreibende Entenfamilie, die dahinterliegenden Bäume, musterte das Laub: Alles noch lebendig und saftig grün. Der Herbst wird kommen, überlegte er, das prächtige Sterben der Blätter wird sich ereignen, wie immer, und der unerbittliche Wind wird es herunterzerren und nur kahles Geäst zurücklassen. Es wird sich Eis bilden auf dem See. Aber noch war es nicht so weit, noch war Sommer.

Er war schon tief in der zweiten Lebenshälfte, im goldenen Spätsommer des Lebens gewissermaßen, von der Arbeit befreit, aber auskömmlich wohlhabend, halbwegs gesund und voller Tatendrang. Aus Sicht seiner Kinder war er alt, aber doch der ewig jüngste von insgesamt vier Geschwistern: eine Schwester, die in diesem Jahr einen runden Geburtstag feierte, zwei Brüder.

Der kleine See war ein Urlaubsort. Ein Fest hatte seine Schwester gegeben, eine fröhliche Geburtstagssause mit launigen Ansprachen und musikalischen Einlagen, und sogar sein ältester Bruder, der seit Jahrzehnten in Südamerika lebte, deutlich über achtzig, hatte zu diesem Zweck die weite Reise in die gemeinsame Heimat auf sich genommen. Damit sich dieser Aufwand auch lohnt, hatten sich die vier Geschwister aus Anlass der seltenen Zusammenkunft zu einer gemeinsamen Woche am See verabredet.

Wer glücklich alt werden wolle, der müsse auf gelungene, menschliche Kontakte setzen. Das sei Ergebnis einer großen amerikanischen Langzeitstudie. Ein Interview dazu hatte er auf der Autofahrt an den See mit der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates gehört. „Der eine Faktor, der alles übertrumpft, der am stabilsten ist als Prädiktor dafür, dass man mit achtzig sagt: Ich habe ein gutes Leben gelebt, ein sinnvolles Leben,“ so hatte die kluge Frau die Studie wiedergegeben, „sind gute Beziehungen zu Geschwistern.“ Natürlich sei das auch nur ein Faktor, nicht der einzige, aber eben der stärkste. Wer ein gutes Verhältnis zu seinen Geschwistern habe, der könne mit guten Chancen darauf hoffen, lang und zufrieden zu leben. Geschwister würden verlässlich dem eigenen Leben einen Rahmen geben.

Seine Geschwister waren fast immer fort gewesen, ihm uneinholbar weit voraus im Leben. Sie führten alle ihre eigenen Leben, ungezählte Kilometer und noch viel mehr Erfahrungen entfernt voneinander. Jahre war es her, dass sie sich zu viert getroffen hatten, monatelang sahen und hörten sie zweitweise nichts voneinander.

Ein großes Hallo war es gewesen, als sie beim Fest aufeinandertrafen. Schon seit einiger Zeit hatte er sich angewöhnt, seine Geschwister nicht mehr wie einst mit Handschlag, sondern mittels einer Umarmung zu begrüßen. Wenn ich schon meine Arbeitskollegen umarme, hatte er sich gedacht, dann kann ich doch bei meinen Geschwistern nicht zur ausgestreckten Hand greifen. Ungefragt nötigte er ihnen also seither Umarmungen auf, auch wenn er regelmäßig das Gefühl hatte, dass sie ihm als linkisch-peinliche Momente herbeigezwungener Körpernähe misslangen. Ganz besonders empfand er es so, als er dem fernen Ältesten, dem es abstandsbedingt an Routine im neuen Begrüßungsritual fehlen musste, der auch gerade erst übernächtigt aus dem Flugzeug gestiegen war, die brüderliche Umarmung aufzwang. Und doch: Alles andere wäre ihm noch unpassender erschienen.

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„Da bist Du ja“, rief er jetzt aus seinem Weidenversteck heraus genau diesem ältesten Bruder entgegen. Er hatte ihn auf dem Rundweg um den See entdeckt. Vorsichtig schritt der alte Mann behutsam auf dem Kiesweg dahin, in seiner typischen Haltung: Die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Blick fest auf den Weg geheftet. Hatte er den Zuruf überhaupt gehört?

Es war eine vorhersehbare Zufallsbegegnung. Er hatte die Absicht gehabt, den See allein zu umrunden. Das war sein täglicher Spaziergang hier in der Spätsommerfrische, seine persönliche Rückzugszeit vom Familien-Intensivprogramm. Die letzte Woche war vor allem damit vergangen, dass sich die Geschwister tagelang Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt hatten, ihre Erinnerungen abgeglichen hatten, endlos, immer wieder und wieder sich ihrer selbst versichernd. Alte Fotos hatten sie durchsucht, alte Geschichten aufgewärmt, gelacht über Dinge, über die nur sie lachen konnten. Es war ihm eine warme Lust gewesen, sich in diesem Gefühl wohliger Gemeinsamkeit zu suhlen, aber es war auch ein sumpfiger Morast, und die Pampe ihrer verklärten Erinnerungen klumpte an ihnen fest wie das aufgeweichte Erdreich eines regengeplagten Festivalgeländes.

Heute, im flirrenden Licht der hochstehenden Spätsommersonne, hatte er den Weg noch bewusster als sonst abschreiten wollen, meditativ, still, ganz für sich allein. Der gemeinsame Urlaub der Geschwister war vorbei. Würde es noch einmal für alle ein Wiedersehen geben?

„Ah, wie geht´s?“, hörte er den Gruß seines Bruders, der seinen Blick nur wenige Sekunden vom Weg nach oben gehoben und ihn erkannt hatte, nachdem er aus seinem Weidenversteck herausgetreten war. Er reagierte mit belanglosem Gemurmel – „gut, gut, alles Ordnung“ -, begrüßte den Bruder mit einer sanften Berührung der gebeugten Schulter, ganz bewusst die Umarmung vermeidend, aber auch den anachronistischen Handschlag.

Dann passte er sich dem behutsamen Schritt des Älteren an. „Sag mal“, hob der Bruder unvermittelt zu einer Frage an, „erinnerst du Dich, dass wir mit unseren Eltern auch immer am Sonntag spazieren gegangen sind?“

Wie Schluckauf stieg Überdruss an „Erinnerst Du Dich noch“-Gesprächen in ihm auf, zu viele davon hatte er in den letzten Tagen geführt, zu jung fühlte er sich trotz seines fortgeschrittenen Alters für die Fokussierung auf das Erinnern an Vergangenes. Dann aber antwortete er artig zustimmend. Dabei stellte er entsetzt fest, dass er die gleiche Laufhaltung wie sein Bruder angenommen hatte: Blick auf den Weg, die Hände nach hinten, verschränkt auf dem Rücken. Es war die Gehhaltung ihres gemeinsamen Vaters gewesen. Erschrocken löste er die Hände hinter sich voneinander, ließ sie zunächst unentschlossen neben seinen Hüften schlackern, fühlte sich damit aber unwohl und räumte sie schließlich in seine Hosentaschen auf.

„Ich erinnere mich vor allem,“ hörte er jetzt seinen Bruder, „wie langweilig es war, wenn die Eltern dann Bekannte getroffen haben. Ewig haben die sich dann unterhalten über uninteressantes Zeug, und ich musste mir die Beine in den Bauch stehen.“

Nickend stimmte er dem Älteren zu, etwas unkonzentriert, ihm erschien diese Erinnerung belanglos, und seine Gedanken eilten ihm voraus zur kurz bevorstehenden Abschiedsszene. Wie würde die wohl verlaufen, überlegte er.

„Weißt Du eigentlich noch, wie man sich damals begrüßt und verabschiedet hat?“, fragte er.

Schritt für Schritt setzen sie ihren Gang fort, und er hatte schon den Eindruck, der ältere Bruder habe die Frage nicht gehört oder nicht verstanden. Aber dann, während er feststellte, dass seine ungehorsamen Hände sich schon wieder auf seinen Rücken geflüchtet hatten, hörte er ihn doch:

„Na, ganz normal. Mit Handschlag. Immer mit Handschlag. Und unser Vater ging ja nie ohne Hut aus dem Haus. Ich glaube, der hat ihn dann immer gelüftet, so wie sich das damals gehörte.“ Ein Lächeln huschte über das blasse Gesicht des Älteren.

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„Er hatte es gelernt, zu umarmen, aber eine Muttersprache war es ihm nicht geworden.“ Foto: Lizenzfrei von erge auf Pixabay

Der Abschied stand an. Eine ganze Woche waren sie zusammen gewesen. Wann hatte es das zuletzt gegeben? Vielleicht als Kinder, in den letzten gemeinsamen Urlauben mit den Eltern.  Ewig her, sicher mehr als fünfzig Jahre, überschlug er. Nun standen die Autos bereits gepackt vor der Tür des Urlaubsquartiers, die Angeheirateten warteten ungeduldig auf den Aufbruch. Nervös zögerte er den Moment noch heraus, prüfte, ob die Sonnenbrille im Auto bereitlag, stellte die Wasserflasche griffbereit in die dafür vorgesehene Ausbuchung. Hinter ihm hatte bereits seine Frau mit der Verabschiedung begonnen, keine weitere Verzögerung mehr duldend, den Schwager herzhaft umarmend, so wie es ihre Art war.

Dann war er an der Reihe. Noch einmal blickte er in das von einem schütteren grauen Bart umstandene Gesicht des ältesten Bruders, in die vertrauten Augen, in sein faltenumspieltes Lächeln. Eine warme Welle schwappte über ihn hinweg, überspülte ihn mit der Empfindung für das Unwiederbringliche, vielleicht sogar Unwiederholbare dieses Augenblicks. Dann breitete er seine Arme aus. Da bemerkte er, dass der Bruder ihm seine rechte Hand entgegenstreckte. Bereit zum Handschlag.

 

 

Der Vorschlag von Lothar de Maiziere, damals Bundesinnenminister, aus dem Jahr 2017 zu den Merkmalen einer deutschen „Leitkultur“ – „Wir geben uns die Hand“ – finden Sie hier.

Die von Alena Buyx, der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, zitierte Studie ist die Grant-/Glueck-Studie der Universität Harvard. Über die Ergebnisse kann man sich u.a. in diesem Video, einem übersetzten Vortragsmitschnitt, informieren.   (Klick leitet weiter auf Youtube) 

Das Gespräch mit Alena Buyx aus der ZEIT-Podcast-Reihe „alles gesagt?“ dauert mehr als fünf Stunden. Wer sich nicht alles anhören möchte (was aber durchaus lohnend ist), findet die von mir zitierte Stelle genau 30 Minuten vor Schluss: https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-08/alena-buyx-ethikrat-interviewpodcast-alles-gesagt

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

Wo ist sie hin? – Ein Rätsel in Tierbildern

Während der Böller-Krawalle in der Silvesternacht war eine menschliche Empfindung auf der Flucht. Welche? 

 

Sie kann eine Löwin sein.

Sie kann ihre Kinder entschlossen behüten und verteidigen, damit sie selbst großartige Löwinnen und Löwen werden. Sie kann drohend fauchen und laut brüllen. Sie kann Respekt einflößen. Überwältigt davon sinkt dann manches Gegenüber zu Boden, sackt der Widerstand in Sekundenschnelle in sich zusammen, resigniert die Gegenwehr, sucht Rettung in der klugen Unterwerfung. Sie kann eine mächtige Löwin sein.

Sie kann so mächtig sein wie eine Löwin … (Foto: Rupal Vaidya from Ahmedabad, India – Her Highness, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8643131

 

Sie kann ein Schmetterling sein,

der mal hier, mal dort eine Blüte besucht und befruchtet, wie zufällig dahinflattert über die bunte Wiese. Und dort, wo der federleichte Flatterling sich nur sekundenlang niedergelassen hatte, dort wächst schon ein paar Wochen später wundergleich die köstliche Frucht. Sie kann ein luftiger Schmetterling sein.

Sie kann sein wie ein scheues Reh.

Lautlos leise, den wachen Blick, das gespitzte Ohr, die witternde Nase stets in der Luft, weiß sie um die Gefahr in dieser Welt. Braucht das Reh den lauten Knall, den Schuss, um davonzuspringen in die schützende Tiefe des Gebüschs? Nein, schon ein leises Knacken genügt, und da ist es fort. Sie kann fliehen wie ein scheues Reh.

Ihr kann es ergehen wie einem Wurm.

Ein ganzes Leben lang wühlt sie sich durch die dunkle Krume unseres inneren Untergrunds, immer weiter, ringelnd und schlängelnd vorbei an Hindernissen, den Wurzeln ausweichend, die Hohlräume nutzend. Hauptsache: geschützt, weil unsichtbar! Doch was passiert mit dem Wurm, wenn es schüttet, wenn das triefende Nass alles durchtränkt, wenn der Wurm zu ertrinken droht im Erdreich? Dann muss er hinaus und hinauf. Wehrlos nackt und ohne jeden Schutz liegt er auf dem Teer, billiges Futter für die Vögel, bald zermatscht unter den Schuhen der Achtlosen. Sie könnte auch ein Wurm sein.

Sie kann ein Pfau sein.

… und von so flüchtiger Schönheit wie ein Pfau.

Zum gewaltigen Rad schwingt er sich auf: Hinauf in die Luft mit dem absurd überlangen, zum Fliegen viel zu schweren Federkleid, das alle Verlockungen der Freiheit so bitter hemmt! Dann glitzert und schillert seine halbrunde Pracht im Sonnenlicht, und auch sie lockt mit ihrer bunten Schönheit in alle Richtungen. Doch schon bald ist es vorbei damit. Unter dem bösen Druck des Egoismus erlahmen ihre Muskeln. Dann sinkt ihre flüchtige Schönheit zusammen und wird wieder zur schweren, langen Schleppe, nutzlos und hinderlich. Traurig schleicht sie davon wie ein Pfau.

Sie kann ein Brauereipferd sein.

Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr zieht es die schweren Wagen mit den Fässern des fröhlichen Treibens, klaglos und treu. Wie das Kaltblut sorgt sie unaufgeregt für steten Nachschub, damit unser Durst gestillt wird nach noch mehr gesellschaftlichem Frohsinn, damit der Traum von der Schwerelosigkeit des Lebens lebendig bleibt. Das langsam stetig dahintrottende Pferd sehen wir kaum, es ist nicht Teil unserer Hoffnung auf ein gutes Miteinander. Aber es zieht die schwere Last, die sie erst ermöglicht. Sie könnte auch ein Brauereipferd sein.

Wo ist sie hin?

Davongestoben wie das scheue Reh war sie längst, als mancherorts das Dynamit des Frohsinns die Stille der Nacht zerriss. Sie war schon fort, weit fort, als erst noch das kleine, funkensprühende Zündrädchen am Feuerzeug kratzte. Der Lärm der Nacht zum Jahreswechsel hatte sich für sie angefühlt wie jener Sintflut-gleiche Regenguss für den Wurm. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten im Untergrund. Nackt und wehrlos war sie herausgekrochen, notgedrungen zur falschen Zeit, in diese Welt von Krach und Gewalt und Rücksichtslosigkeit. Da war sie gelegen, glitschig und verletzlich, wie neu geboren, und hatte mit ihrer puren Existenz die harten Herzen und dummen Köpfe gestört. Sie war zu unwichtig gewesen, um lästig zu sein. So war sie zertreten, gefressen, getötet worden.

Wo ist sie hin? Immerhin, es gab auch nach dieser Nacht einen Morgen. Verkatert rieb sich die Gesellschaft die Augen des kurzen Schlafes, als das Brauereipferd müden Schrittes an ihr vorbeistapfte. Wieder zog es die übliche schwere Last. Auch das brave Tier hatte schreckhaft gelitten unter der unerklärlichen Knallerei. Aber es hatte gewusst, dass auch dieser Torkel der lauten Töne und des blitzenden Lichts vorübergehen würde. So wie das Pferd kannte auch sie das hohle Glücksversprechen des trunkenen Jubels nur allzu gut, dass es vorübergehen wird und oft gar in Dummheit und Enttäuschung endet. Trotz allem, was geschehen war, würde sie es auch im neuen Jahr wieder dem geduldigen Pferd gleichtun, Tag ein, Tag aus, damit die Menschen sich vertragen können in Fröhlichkeit.

Wo ist sie hin?

Viel zu warm ist es, kein Schnee, kein Frost zu Beginn dieses neuen Jahres! Flattert da nicht schon ein früher Schmetterling durch die laue Neujahrsluft? Besucht er da nicht, bunt glänzend, federleicht schwebend, schon jetzt die Blüten der Unzeit, die herausleuchten aus dem fahlen Grün der Winterwiesen, die doch eigentlich vom Schnee bedeckt sein sollten? Schon haben die Menschen den Lärm des Gestern vergessen. Sie blicken auf den Schmetterling und hoffen wohlfeil auf die Früchte, die sie morgen ernten wollen.

Doch da, ta tü, ta ta! Ohrenbetäubend lärmt das Feuerwehrauto um die Ecke. Drängend kommt es angebraust, fordert Platz ein und Aufmerksamkeit, schlägt pfauengleich sein Rad der Wichtigkeit, lässt es leuchten und blinken und glitzern. Noch sind die Spuren der letzten Nacht zu sehen an diesem stolzen Gefährt. Noch schwärzt der Ruß der Explosionen die Flanke seines Signalfarben-Gefieders, noch sind die Splitter auf den Seitenscheiben nur abgeklebt, nicht erneuert. Denn am Morgen danach war noch keine Zeit für solche Eitelkeit.

Da ist sie ja!

Eine Löwin steuert den mächtigen Wagen, der noch in der Nacht zuvor so verletzlich gewesen war. Konzentriert, klug, zielstrebig sucht sie ihren Weg. Sie ist hier nicht zu ihrem Vergnügen unterwegs. Schon wieder muss sie Leben retten, einen Brand löschen, Menschen herausholen aus ihrer Angst. Die Löwin faucht und brüllt, und alle tummeln sich zur Seite, die Klugen und Einsichtigen sowieso, die Gleichgültigen nun auch, und jetzt, bei Licht, sogar die meisten Trunkenen und Verblendeten der Nacht. Es ist ihnen wieder eingefallen: Der entschlossene Sprung der Löwin, die zur Hilfe kommt, könnte auch ihnen selbst gelten.

Sie kann eben auch eine Löwin sein – die Empathie.

 

 

Der Begriff „Empathie“ beschreibt die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in einen anderen Menchen hineinzuversetzen. Ganz gewiss ist empathisches Verhalten so alt wie die Menschheit selbst, auch höher entwickelten Tieren wird Empathie nachgesagt.

Wortverlaufskurve ab 1946
Ein Begriff verändert unser Denken: Die Wortverlaufskurve von „Empathie“ seit 1945 in Deutschland. Quelle: DWDS-Wortverlaufskurve für „{‚Empathie‘,’Emphathie‘}“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/r/plot/?view=1&corpus=zeitungenxl&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=1&prune=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1946%3A2022&q1=%7B’Empathie’%2C’Emphathie’%7D>, abgerufen am 11.1.2023.

Der Begriff selbst ist aber modern; erstmals taucht er in der wissenschaftlichen Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Die Statistik des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS), zeigt, dass „Empathie“ im deutschen Sprachgebrauch bis in die Mitte der 1970er Jahre praktisch keine Rolle spielte. Dass es kein Zufall oder gar allgemeiner Standard des menschlichen Miteinanders ist, sich in einen anderen hineinzuversetzen, gehört erst seit rund fünfzig Jahren, dann aber mit großer Dynamik, zum gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland. Seither gilt Empathie als wichtiger Schlüssel für das Verständnis unseres Zusammenlebens.

Auch über die unmittelbare zwischenmenschliche Begegnung hinaus kann Empathie eine starke ordnende Kraft sein: Es ist un-empathisch, da es die Allgemeinheit schädigt, mit falschen Angaben Steuern zu sparen oder die Haushaltshilfe illegal zu beschäftigen. Wer Müll einfach am Straßenrand liegen lässt, zehrt von der sicheren Erwartung, dass sich schon ein anderer darum kümmern wird. Für diesen anderen aber gehört die Beseitigung willkürlich weggeworfener Gegenstände – anders vielleicht als das Leeren eines bereitgestellten Mülleimers – nicht zu seinen Kernaufgaben. Es ist also rücksichtslos, aber auch un-empathisch, so zu handeln.

Wer wachen Auges durch unsere Zeit geht, wer in der Welt der Ich-Bezogenheit wach flaniert, findet unermesslich viele Beispiel für wärmende Empathie im Umgang miteinander, Hilfsbereitschaft und Altruismus – aber eben leider auch für un-empathisches Verhalten, das sich ganz leicht, mit einem Gedanken mehr, einem zusätzlichen Handgriff vermeiden ließe.

Aber leider ist Empathielosigkeit „salonfähig geworden in unseren Tagen“, wie die Neurowissenschaftlerin Grit Hein von der Universität Würzburg in einem klugen Interview mit dem Deutschlandfunk sagte. Dann wird die mächtige Löwin zum schutzlosen Wurm.

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Ein echter – und drei falsche Könige

„Heilige Drei Könige (regionaler Feiertag)“ meldet der elektronische Kalender auf der Terminliste. Auch der gedruckte ordnet den 6. Januar den drei Königen zu. In jeder besseren Krippendarstellung tauchen die drei Könige auf, derer an diesem Tag gedacht werden soll. Dabei hat es sie niemals gegeben.

Es ist Zeit für einen echten König

Es ist also Zeit für einen echten König. Als 18-jähriger junger Mann hatte Rudolf eine beschwerliche Reise über das Meer auf sich genommen. Sechs Jahre lang war er  „Gast“ einer Lehrerfamilie in der württembergischen Kleinstadt Aalen gewesen, hatte Deutsch gelernt, deutsche Schulen besucht. Rudolf war ein wacher, intelligenter junger Mann. Als er im Auswärtigen Amt in Berlin hospitierte, lernte er zu verstehen, wie deutsches Regierungshandeln funktioniert. Schließlich kehrte er in seine Heimat zurück, und wurde tatsächlich König seines Volkes.

Rudolf Duala Manga Bell (rechts) und die Aalener Lehrerfamilie Oesterle. Foto: Roeger/Platino, bereitgestellt von MARKK Hamburg

Ein Märchen? Nein, die Wahrheit. Rudolf Duala Manga Bell war König des Volkes der Duala in Kamerun. Wir blicken zurück auf den Anfang des 20. Jahrhunderts, und Kamerun war eine deutsche Kolonie. Deutsche Soldaten hatten mit Waffengewalt Rudolfs Großvater einen „Schutzvertrag“ aufgezwungen, der den Duala angeblichen „Schutz“ vor nicht näher bezeichneten Feinden versprach. Vor allem aber sicherte der Vertrag deutsche Macht und die Durchsetzung deutscher Interessen. Was deutsche Kolonialisten in Afrika und anderen „Schutzgebieten“ errichteten, war für die Betroffenen eine einzige menschenverachtende Katastrophe aus brutaler Willkür, hemmungsloser Ausbeutung und drakonischer Entrechtung der einheimischen Bevölkerung.

Kein naiver Eingeborener

König Rudolf Duala Manga Bell war kein naiver Eingeborener. Er war auch kein Revolutionär, sondern ein treuer Anhänger des deutschen Kaisers. Und er kannte die deutsche Sprache und das deutsche Rechtssystem und vertraute darauf. Als die Duala entschädigungslos aus fruchtbaren Ländereien umgesiedelt werden sollten, forderte er ab 1910 in schriftlichen Eingaben gegenüber dem Reichstag ein Ende des rücksichtslosen Umgangs mit seinem Volk.  In Berlin nahmen ihn nur die oppositionellen Sozialdemokraten ernst; die Kolonialverwaltung dagegen erfand einen Hochverratsvorwurf. Manga Bell wurde der Prozess gemacht. Alle Regeln des Rechtsstaates wurden dabei missachtet, die Mitwirkung seiner deutschen Anwälte gezielt verhindert. Am Tag nach dem „Urteil“ wurde er am 8. August 1914 hingerichtet. Ein Justizmord.

Was gibt es an „Dreikönig“ zu feiern?

Wer an diesem Donnerstag, dem „Dreikönigstag“, sich noch einmal zufrieden im Bett herumdreht (weil in seinem Bundesland Feiertag ist), könnte sich an diese Geschichte erinnern. Immerhin geht es in ihr um einen König aus Afrika, der wirklich gelebt hat. „Gefeiert“ wird aber am 6. Januar die Legende von drei „Königen“, einer davon dunkelhäutig, die stellvertretend für ihre Kontinente (Afrika, Asien, Europa) das Jesuskind anbeten und beschenken – als Symbol der Unterwerfung der Welt unter das Christentum.

Die „heiligen Drei Könige“, die ein Christuskind anbeten, hat es nie gegeben. Ihre Unterwerfung ist eine christlich-koloniale Geste, die wir tilgen sollten.

Diese Geschichte ist nun wirklich ein Märchen, ein christlich-kolonialer Fake. Die Bibel kennt diese drei Könige nicht, sondern spricht von „Weisen“, die sich bei Jesus im Stall eingefunden haben sollen. Theologisch heißt der Feiertag schon lange „Epiphanias“, der Tag der „Erscheinung des Herrn“. Es gibt in den unterschiedlichen christlichen Religionsströmungen mehrere andere Herleitungen jenseits der „Könige“, was da am 6. Januar gefeiert wird.

Trotzdem hält sich die Legende der „drei Könige“ auch im 21. Jahrhundert hartnäckig in deutschen Kalendern und im allgemeinen Sprachgebrauch. Die FDP nennt seit Jahrzehnten ihr Stuttgarter Politikspektakel zum Jahresauftakt „Dreikönigstreffen“, Wintersportler springen oder rodeln unter dem Namen der drei Könige durch die weiße Pracht.

Immerhin: „Sternsinger“ verzichten auf Blackfacing

Und was ist mit den netten und engagierten Kindern, die in diesen Tagen von Haus zu Haus ziehen und Spenden für Projekte in Entwicklungsländern sammeln? Ganz sicher verfolgen die „Sternsinger“ mit ihrer Symbolik längst beste Zwecke, die hier nicht angezweifelt werden. Aber auch sie treten dabei eine Legende breit, von der es gilt, sich zu verabschieden. „In ihren prächtigen Gewändern greifen die Sternsinger einen alten Brauch auf“, schrieb dazu das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ in einer Pressemitteilung zum letztjährigen „Dreikönigssingen“. Das katholische „Kindermissionswerk“ ist bundesweit der offizielle Veranstalter der Spendensammlung. Wenigstens rät es inzwischen ausdrücklich davon ab, eines der Kinder schwarz zu schminken, auch weil das Blackfacing der geschichtlich ohnehin falschen Darstellung auch noch einen primitiv rassistischen Hut aufsetzt.

Warum nicht auch einen Feiertag umbenennen?

Wir benennen Straßen um, die rassistische Begriffe beinhalten. Wir denken über Standbilder und Gedenktafeln nach, die an kolonial engagierte Feldherren erinnern. Gleiches sollte für die „drei Könige“ gelten. Ihre Legende wurde als Sinnbild für die angebliche Überlegenheit des Christentums über den Rest der Welt erdacht. Dieser Feiertag sollte umbenannt werden. Er hat einen besseren Namen verdient, und es gibt genügend religiöse Quellen, die dazu herangezogen werden könnten. „Heilige Drei Könige“ ist in einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft auch „nur“ als kalendarischer Alltagsbegriff inakzeptabel.  Wir sollten ihn tilgen, auch weil wir es dem echten König Rudolf Duala Manga Bell schuldig sind.

 

 

 

Duala Manga Bell lebte zwischen 1891 und 1896 in Aalen in Baden-Württemberg. Er besuchte dort die Schule und wurde in der Stadtkirche getauft. Auf der Website der Stadt Aalen wird nun berichtet: „Im Juli 2022 beschloss der Gemeinderat Aalen, den Platz an der ehemaligen Ritterschule inmitten der Aalener Altstadt nach dem Duala-König Rudolf Duala Manga Bell zu benennen. Die feierliche Einweihung des Platzes erfolgt nach der städtebaulichen Neugestaltung des Platzes – voraussichtlich im Jahr 2023.“

Der aktuelle König der Duala in Kamerun, Jean-Yves Eboumbou Douala Bell, war bei der Einweihung des Duala-Manga-Bell-Platzes am 7. Oktober 2022 in Ulm anwesend. Foto: Stadtarchiv Ulm

Etwas weiter ist da schon die Stadt Ulm, wo Manga Bell 1897 das Abitur ablegte. Sie hat im Oktober 2022 bereits einen Platz nach Duala Manga Bell benannt und dazu prominenten Besuch bekommen (siehe SWR-Beitrag): https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/ulm/rudolf-duala-manga-bell-platz-wird-eingeweiht-100.html

Der Lebensgeschichte von Rudolf Duala Manga Bell, dem König der Duala, ist eine Ausstellung im Museum am Rothenbaum Kulturen und Künste der Welt (MARKK) in Hamburg gewidmet: https://markk-hamburg.de/ausstellungen/hey-hamburg/ (noch bis 2. Juli 2023)

Über das Schicksal von Rudolf Manga Bell ist in der ZEIT ein ausgezeichneter Artikel am 25. August 2021 erschienen. Er ist auch online verfügbar, allerdings hinter einer Bezahlschranke, die sich gegen einen Euro durch ein Probeabo überlinden lässt: https://www.zeit.de/2021/35/rudolf-manga-bell-duala-volk-kamerun-kolonialismus-justizmord?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

Zur Herleitung und Deutung der Legende und des Feiertags „Heilige Drei Könige“ siehe auch Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Heilige_Drei_K%C3%B6nige

 

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Der Klang der neuen Zeit – Zwei Konzertbesuche

München, Herbst 1992

Das Konzert galt schon im Vorfeld als so legendär, dass jeder Platz ausverkauft war. Auch die schmalen harten Chorbänke hinter dem Orchester würden gefüllt sein bis auf den letzten Platz. Manche Kartenbesitzer begriffen ihr Glück erst, als sie am Eingang des „Gasteig“, des im Herbst 1992 noch als frisch empfundenen, weiten, luftigen Konzertsaals in München, ein Spalier von Suchenden und Rufenden durchdringen mussten: „Haben Sie noch eine Karte?“, war da vielstimmig zu hören, „Hundert Mark – oder mehr? Sagen Sie einfach, was ich zahlen soll!“

Ameisenhafte Emsigkeit herrschte im gestuften Foyer, besorgtes Suchen nach dem richtigen Eingang, schnell das Sektglas geleert, ein letzter Blick durch die hoch aufgefalteten Fenster über das Kopfsteinpflaster der Großstadtstraße, hinaus auf die im Regennass glänzenden Gleise der Straßenbahn, auf die rot aufleuchtenden Lichter der sich den Hang hinabbremsenden Autos. Dann der Welt den Rücken gekehrt, denn im Saal saß das Orchester bereits erwartungsvoll und gestimmt. Noch bedurfte es keines Hinweises auf das Ausschalten von Handys.

„Jugend an die Macht!“

Dann, als das Licht abdunkelte, als sich das allseitige Räuspern und Husten ängstlich legte, wohl wissend um die diesbezügliche Empfindlichkeit des Solisten, der schon Konzerte abgebrochen hatte wegen solcher Störungen, – als sich endlich die seitliche Tür öffnete, da traten die greisen Matadoren auf die hölzerne Bühne. Zwei Herren, der eine stolz aufrecht mit pechschwarzem Haar, der andere grau und gebeugt, kamen gemessenen Schrittes daher: Arturo Benedetti-Michelangeli, der legendäre Pianist, 72 Jahre alt und erst vor wenigen Jahren von einem auf offener Bühne erlittenen Herzinfarkt genesen, und Sergiu Celibidache, der Dirigent, 80 Jahre alt.

„Jugend an die Macht!“, flüsterte der nebensitzende Konzertbesucher, als er die ganze Wucht der Jahre erfasste, all der Töne und Noten, der abertausenden Stunden des Zweifelns und Übens, die sich hier auf das Podium tasteten. Aber auch dieser Lästerer war ergriffen von einem Auftritt, der an der Ewigkeit klopfen könnte, der ein geronnener Augenblick der Verbeugung werden wird vor den Lebensleistungen zweier Künstler, die seit Jahrzehnten, ihr ganzes wildes, wechselhaftes Leben lang, den richtigen Ton gesucht hatten, dabei Niederlagen erleiden mussten und Triumpfe feiern konnten. Sie hatten den Äther ungezählter Konzerthallen eingeschüchtert und abertausende Zuhörer zum ehrfurchtsvollen Schweigen gebracht.

Die unerbittliche Suche nach Perfektion

Dann setzte sich der heikle Pianist, der zu jedem Konzert mit zwei eigenen Flügeln anreiste. Er war komplett in schwarz gekleidet, akkurat sortierte er die zwei Schöße seines Fracks hinter die Klavierbank. Benedetti-Michelangeli galt als ausnehmend schwierig. Auf der Suche nach dem perfekten Ton war er unerbittlich sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber.

Celibidache erklomm seinen Hochstuhl. Auch er trug einen Frack und ein weißes, rüschenbesetztes Hemd. Er wollte und konnte einen ganzen Konzertabend nicht mehr über-stehen. Auch der Münchner Chefdirigent stand für die unerbittliche Suche nach der Perfektion. Er war für den Weltruhm der Münchner Philharmoniker ein künstlerischer Hauptgewinn, aber auch ein wirtschaftliches Desaster. Um die von ihm angestrebte Interpretationstiefe der Musik zu erzielen, verlangte er doppelt so viele Proben als andere Dirigenten. So entstand über die Jahre ein langsamer, zwischen Trägheit und Zärtlichkeit schwankender Ton. Hundertfach geduldig und wachsam eingeübt, ausgefeilt in allen seinen Klängen und Zwischentönen, entstand ein Klangbild, wie es kaum ein anderes Orchester bieten konnte im auch schon vor 30 Jahren als internationales Business betriebenen Klassik-Zirkus. Konzerte mit Celibidache waren Einladungen zu tiefempfundenen Musikerlebnissen, nicht wiederholbar, keiner Konserve zugänglich, und genau so wollte es der Maestro. Er weigerte sich, mit seinem Orchester Schallplattenaufnahmen zu machen. Was es heute an Celibidache-Aufnahmen zu kaufen und zu hören gibt, sind tolerierte Live-Mitschnitte aus seiner sehr frühen Berliner Zeit (als junger Wilder unter den Dirigenten, als Karajan-Antipode) und den sehr späten Jahren in München. Hier war er jetzt ein unumstrittener Herrscher.

Ein Herrscher, ein Solist

Benedetti-Michelangeli war bereit. Steif aufrecht thronte der Altmeister vor seinem Instrument, die Arme im rechten Winkel über der Tastatur. Schumanns a-Moll-Klavierkonzert beginnt mit einem heftigen Aufschlag des Orchesters, kurz und kräftig – und dann übernimmt das Klavier, und Benedetti phantasierte über die Tasten, wendig und versunken, ganz in sich gekehrt. Kein Blick ins Orchester, ein sachtes Wiegen des Oberkörpers war nur dann zu vernehmen, wenn er selbst spielte. Ein wahrer Solist.

Der von Schumann erdachte Dialog über drei Sätze zwischen Klavier und Orchester perlte in getragen-demütiger Wucht dahin, auf das lyrische Fragen des Klaviers, folgten die oft entschlossen aufbrausenden Antworten des Orchesters. Nach kaum 25 Minuten war das Ereignis vorbei. Der Schussakkord verklang, der Beifall rauschte auf, das Publikum jubelte, immer wieder, es gab letzte Zugaben und angedeutete steife Verbeugungen der alten Herren.

Zwei strenge Altmeister waren auf der Suche nach Perfektion gewesen. Ob sie sie gefunden hatten, war ihr Geheimnis geblieben.

 

  • Sergiu Celibidache gab sein letztes Konzert mit den Münchner Philharmonikern im Juni 1996 und verstarb im August des gleichen Jahres im Alter von 84 Jahren. Mehr über Dirigenten und sein Musikverständnis in dem wunderbaren Film „Sergiu Celibidache- Feuerkopf und Philosoph“: https://www.youtube.com/watch?v=1JkkVqK3FAE
  • Arturo Beneditti-Michelangeli starb im Juni 1995 im Alter von 75 Jahren. Das Konzert im Herbst 1992 im „Gasteig“ mit dem Schubert-Klavierkonzert war der letzte gemeinsame Auftritt in München mit Celibidache. In der Dokumentation „Ein unfassbarer Pianist“, die auch einen gemeinsamen Auftritt mit Celibidache im Juni 1992 (mit einen Klavierkonzert von Ravel) zeigt,  kann man sich noch heute ein Bild davon machen, was die perfektionistische Faszination dieses Künstlers anrichtete – im Positiven, wie im Negativen: https://www.youtube.com/watch?v=YErVzX_cLok

Igor Levit und die Münchner Philharmoniker.

München, Herbst 2022

Eine Wiedergeburt? Nein, reiner Zufall. Es gab keinen Plan. Der Saal ist auch nicht mehr derselbe, selbst wenn er sich „Gasteig HP 8“ nennt. Es ist der Ersatz-Konzertsaal, zwei Kilometer entlang der Isar entfernt vom sanierungsbedürftigen Original. Die Münchner und die strengen Ohren der Konzertkritik sind vom Provisorium „Isarphilharmonie“ begeistert: Beste Akustik, angenehme, moderne Atmosphäre.

Immerhin: das gleiche Orchester, zumindest dem Namen nach. Die Münchner Philharmoniker dürften inzwischen fast vollständig neu besetzt sein – Generationenwechsel. Und: Die gleiche Musik: Schuberts einziges Klavierkonzert in a-moll.

Auch im Provisorium herrscht wieder Bienenkorb-Atmosphäre. „Suche Karte!“ steht auf dem Schild, das ein verzweifelt Hoffender in die Luft hält, umschwirrt von Vorfreudigen. Lange Schlangen an den Garderoben. Dann ergießt sich das Kulturvolk in den schwarz ausgekleideten Saal, nimmt Besitz von ihm bis zum letzten Platz. Geducktes Huschen, während schon das Orchester die Bühne erobert, die Instrumente stimmt. Ein letztes Handy klingelt und mahnt alle anderen. Das Licht dimmt herab.

Eine junge Frau, ein junger Mann

Die Bühne betreten: Eine junge Frau und ein junger Mann. Die junge Frau ist fast lässig gekleidet im schwarzen 7/8-langen Hosenanzug, die Haare zum kurzen Pferdeschwanz gebunden. Der junge Mann hat lichtes schwarzes Haar, Vollbart und ein schüchternes Lächeln, das sein Markenzeichen ist. Über der schwarzen Hose und dem schwarzen T-Shirt lässt er seine bordeauxrote Jacke lässig offen.

Intensiv sucht Igor Levit den Blickkontakt in das Orchester, tauscht einen Händedruck mit der Konzertmeisterin. Dann, mit geballter Faust, teilt er seine konzentrierte Anspannung mit dem ganzen Saal und setzt sich an die Tasten. Er wechselt einen Blick mit der litauischen Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die fast verschwindet hinter dem hochgestellten Deckel des vor ihr aufgebauten Flügels. Dann wieder der kurze, entschlossene Auftakt, eigentlich nur ein kraftvoller Ton des Orchesters, und schon tanzen Levits Finger über die Tasten. Die Musik entfaltet sich in den Saal, rauscht hinein in die stillen Reihen der Zuhörer, steigt hoch entlang der schwarzen Holzpaneele, die dem Saal die viel gelobte Akustik bescheren, erreicht die obersten Reihen, verklingt im Nichts der Zeit.

Levit badet in der Musik, und ist auch ein politischer Künstler

Levit badet sichtbar, fühlbar mit seinem ganzem Körper in der Musik, die da entsteht, er entringt dem Klavier seine Töne oft tiefgebeugt in einer für ihn typischen, geduckten Haltung, weniger um Perfektion bemüht als um einen unverwechselbaren Ausdruck. Wenn das Orchester spielt, wippt er am Klavier mit dem ganzen Körper, blickt fasziniert hinüber zu den Streichern, zu den Bläsern. Er ist in diesem Moment ein Teil von ihnen, nicht der gefeierte Solist. Levit wirkt nicht wie ein Star, obwohl er es ist. Es entsteht im Teamwork ein Moment der Demut vor der Musik.

Über den Pianisten Igor Levit ist alles geschrieben und berichtet worden, es gibt sogar einen aktuellen Film über ihn und sein Wirken und Leiden während der Corona-Krise („No Fear“). Levit ist im Kulturbetrieb eine auch deshalb auffallende Erscheinung, weil er neben seinem Klavierspiel auf höchstem Niveau sich auch und dezidiert als politischer Künstler versteht. Er ist Mitglied der Grünen und war bis vor kurzem hochaktiv auf Twitter, das er zuletzt aber verließ. Im Film kann man ihn dabei beobachten, wie er unter freiem winterlichem Himmel Klavier spielt – als Ereignis der Solidarität mit den Klima-Aktivisten zum Erhalt des Dannenröder Forstes für den Bau einer Autobahn. Er kritisiert Antisemitismus und Rassismus. Er hat dafür viel Hass eingesteckt, aber auch große Solidarität erfahren. Er macht Podcasts und wirbt manchmal während eines Konzertes für seine politischen Ansichten. Man muss nicht jede davon teilen, aber man kann anerkennen: Igor Levit ist ein Künstler, der das tut, was eine Gesellschaft von guten Bürgern erwartet. Er nutzt seine Popularität, seine Öffentlichkeit, um für seine Meinung, für die Werte seines Landes, in dem er aufgewachsen ist, das ihm als gebürtigem Russen seine Heimat gegeben hat, einzutreten.

Die Dirigentin bleibt im Hintergrund. Ihre Stunde schlägt nach der Pause

Mirga Gražinytė-Tyla bleibt bei Levits Auftritt völlig im Hintergrund, nicht nur bildlich hinter dem Flügel, sondern auch beim Beifall, nachdem auch in diesem Konzert wieder die Schlussakkorde verhallt sind. Levit und Gražinytė-Tyla umarmen sich, längst rauscht und tobt der Beifall des Publikums. Aber während er die „Bravo“-Rufe schon hört, die vor allem ihm gelten, verneigt er sich vor dem Orchester. Erst dann wendet er sich herum. Als er aus dem Bühnenhintergrund zurückkehrt in das Bad der Begeisterung, bleibt er allein.

Die Dirigentin überlässt ihm die Bühne. Ihre Stunde schlagt nach der Pause. Dann wird sie den vielstimmigen Klangkörper des Orchesters zähmen und beherrschen. Kein Maestro, sondern eine junge, schmale Frau, klug und inspiriert, wird mit Energie und Fleiß den mehr als achtzig erfahrenen Frauen und Männern im Orchester, allesamt Vollprofis in ihrem Fach, die meisten älter als die Dirigentin, ihre eigene musikalische Idee abringen.

Es ist die gleiche Musik. Und doch …

Es ist die gleiche Musik wie vor dreißig Jahren, dargeboten auf höchstem Niveau, damals wie heute. Und doch ist es auch der Wandel der Zeit, den die Zuhörenden erleben. Wenn sie wollen, können sie diesen nicht nur hören, sondern auch sehen und spüren. Als das Konzert der Altmeister Celibidache und Benedetti-Michelangeli im Gasteig ausklang, war Mirga Gražinytė-Tyla sechs Jahre und Igor Levit fünf Jahre alt. Die Jugend hat übernommen, und sie verändert den Klang der Zeit.

 

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Der Barde und die Baby-Boomer

Ein Essay über den Liedermacher Reinhard Mey, die Freiheit und die Verantwortung

Es gab nichts zu verantworten für die Schüler in der Kleinstadt, aber die Institution nannte sich trotzdem „Schülermitverantwortung“. Für den Schulrektor waren sie eine potenzielle Störung des Schulalltags, für die Lehrer aufschneiderische Wichtigtuer, für die meisten Schüler entweder selbstverliebt oder machtlos oder beides. Dennoch: einmal im Monat, nach dem Unterricht, früher Nachmittag, fand die gemeinsame Sitzung der von ihren gymnasialen Klassen gewählten Schülersprecher statt. Ort: Klassenraum 3.32, dritter Stock, Linoleum, zotiges Gekritzel auf den Schulbänken. Der abgegriffene Holzzirkel drohte von der Wand, die Tafel war verschmiert.  Man atmete den Muff des letzten Unterrichts, befühlte die fremden getrockneten Kaugummis unter Bänken und Stühlen. Irgendjemand hatte Jasmin-Tee gekocht, der neueste Schrei unter den Gymnasiasten, und bröckeligen Kandiszucker besorgt. Gesucht waren Ideen, was mit der Mitverantwortung anzustellen sei. Was könnte man den Schülern bieten?

70er Jahre: Mond betreten, Jasmin-Tee mit Kandiszucker

Es war die Zeit, als der Mond gerade eben vom Menschen betreten und, wie erwartet, als staubig und unwirtlich vorgefunden worden war. Die olympischen Spiele in München standen noch bevor. Beginn der siebziger Jahre in Deutschland, das Ende des kriegerischen Jahrhunderts dämmerte schon am fernen Horizont. Die Generation der „Baby-Boomer“ (die man damals noch nicht so nannte) sorgte für überquellende Klassenzimmer, seit im Land der Kriegsverursacher Frieden und Wohlstand eingezogen war.

Dazu immer Musik! Wenn es nicht die Beatles oder Stones waren, wenn es deutsch sein sollte, dann Peter Alexander, Roy Black oder Tony Marshall. „Mein Freund, der Baum“, die frühe Öko-Hymne der 1969 tödlich verunglückten Sängerin Alexandra war textlich schon herausragend anspruchsvoll gewesen, sonst aber waren deutsche Lieder rosarot und seicht.

Die erste verwöhnte Generation

„Was bin ich?“ fragte sich ganz Fernsehdeutschland vor dem Bildschirm, aber eine Antwort gab es dort nicht. Nur viele neue Fragen taten sich auf, wenn die einstigen Trümmerfrauen, die bescheiden wohlstandsstolzen Vertriebenen und die noch immer traumatisierten Kriegsheimkehrer auf ihre Kinder blickten: langhaarige, barttragende, dauergewellte Schlaghosenträger/innen. Auch diese Generation war sich einig in der Abgrenzung zu ihren Eltern, die nur schaufeln und schaffen und wegschauen wollten. Aber die ersten Kinder des Wirtschaftswunders waren auch schon verwöhnt vom Wohlstand, in dem sie satt und sehnsüchtig dem nächsten elternfinanzierten Italienurlaub entgegenträumen konnten.

Der Liedermacher und seine Generation: Reinhard Mey füllt jetzt große Hallen, in Stuttgart waren es mehr als 5000 Zuhörer/innen.

Der Frieden schien gesichert im Schatten der Waffen

Zurück lag der Aufruhr des Sommer 1968, als in den Großstädten Auflehnung gegen die Lähmschicht des Stillstandes und der stillen Verleugnung sich den Weg bahnte. Wütende Studierende hatten die Ruhe in den deutschen Wohnzimmern gestört, Pflastersteine waren geflogen gegen damals noch lächerlich schwach geschützte Polizisten. Schaufenster splitterten. Und die zerfetzten Bild-Zeitungen lagen im Schlamm der Straßen, durchweicht vom Nass der Wasserwerfer, mit deren Hilfe der verzweifelte Staat dem rebellischen Treiben seiner Jugend hatte Einhalt gebieten wollen. Vorbei war die Kuba-Krise und die Niederschlagung des Prager Frühlings, das System der atomaren Abschreckung war im Gleichgewicht, stabiler Frieden schien gesichert im Schatten der tödlichen Waffen.

Die Krawalle in München, Berlin oder Frankfurt hatten die Schüler-Mitverantwortlichen, genauso wie die Mondlandung, nur in verschneiten, wackeligen Schwarz-Weiß-Bildern auf der gewölbten Oberfläche des heimischen Fernsehers erlebt. Für die Provinz-Gymnasiasten in Raum 2.32 war alles das wichtig gewesen, aber auch sehr weit weg.

Dann holte einer ein mobiles Tonband hervor, fummelte das Kabel in die Steckdose, drückte ein paar Tasten. Mitschnitt aus dem Radio, vor ein paar Tagen, sagte er.

„Ich wollte wie Orpheus singen …“

„Ich wollte ….“, sang eine schüchterne Männerstimme, „… wie Orpheus singen“, tastete sich das Lied, begleitet nur vom Zupfen einer Gitarre, zwischen das Rauschen und Knacken im schwächlichen Lautsprecher. „Ich wollte wie Orpheus singen, dem es einst gelang, Felsen selbst zum Weinen zu bringen – durch seinen Gesang…“

„Reinhard Mey!“, riefen gleich mehrere Schülermitverantwortliche. Und dann war die Idee schnell geeint: Macht der nicht eine Tournee? Ganz sicher wird er nicht in unsere Kleinstadt kommen, aber vielleicht in den größeren Ort in der Nähe, könnten wir nicht eine Fahrt dorthin organisieren?

Dieser Mann war damals 29 Jahre alt und sang bisher ungehörte deutsche Lieder. Reinhard Mey tourte mit seiner Gitarre durch die Hinterzimmer und kleineren Säle des Landes. 1967 hatte er seinen ersten Plattenvertrag ergattert, verglich sich mit Orpheus, spottete über deutsche Krimis, in denen „immer der Gärtner“ der Mörder sei und erlebte 1972 seinen ersten Popularitätsdurchbruch mit der Ballade „Gute Nacht, Freunde“.

Politisch, aber nicht rebellisch

Es waren die Texte seiner Lieder, die dem Lebensgefühl junger Menschen in den Siebziger-Jahren Ausdruck verliehen. Reinhard Mey (und andere, wie Hannes Wader oder etwas später Konstantin Wecker) trafen den Nerv einer Jugend, die politisch sein wollte, aber nicht mehr so rebellisch wie ihre älteren Geschwister. Es waren 15-, 17-, 19-Jährige, denen es dank ihrer fleißigen Eltern gut genug ging, dass sie es sich nun leisten konnten, das Zuhören zu lernen.

120 Mark kostete die Miete für den Bus, der die Schüler des Kleinstadt-Gymnasiums zur Halle in der Regionalmetropole brachte. Zwanzig Teilnehmer hatten sich bei der Schülermitverantwortung für die Fahrt angemeldet. Als es so weit war, trat der junge Barde vor den beigefarbenen Vorhang. Der Saal war vollbesetzt mit vielleicht dreihundert jungen Menschen, die hören wollten, was damals neu und ungewohnt war: Deutsche Texte, sanft, nachdenklich machend, diskursiv, auch öfters spöttisch. Es war ein Ton, der die dumpfe Selbstgerechtigkeit der Nachkriegsjahre genauso hinter sich ließ wie den gewaltgeprägten Krawall der 68er-Bewegung.

Still war es damals im kleinen Saal, …

Ganz still war es damals im stickigen Saal, kein rhythmisches Klatschen, keine Feuerzeuge, nur das Zuhören junger Menschen und dann Beifall und Hoffnung auf eine Zugabe, vielleicht noch eine Zugabe. Damals waren die Lieder von Reinhard Mey Teil der Veränderung, die bevorstand. Sie waren in ihrer Einfachheit – nur eine Gitarre und ein Mann, der singt – eine Vision für eine neue deutsche Nachdenklichkeit. Sie kündeten früh von jener Achtsamkeit, die wir uns heute mühsam abringen. Sie nahmen auch den Spott vorweg, der nun Comedy heißt.

… heute warten 5000. Graue Locken bestimmen das Bild

Zeitsprung! Stuttgart, Porsche-Arena, Oktober 2022. Fünfzig Jahre sind vergangen, der Sänger ist an Jahren gealtert wie auch sein Publikum. Graue Locken bestimmen das Bild, wackelig und tastend auf Geländersuche staksen die Klassenkameraden der einstigen Schülervertreter über die steilen Stufen der Riesenarena in ihre Sitzreihen.

Beifallumrauscht, gleichermaßen vorfreudig wie vorsichtig, nimmt der fast achtzigjährige Reinhard Mey die Stufen hinauf zur Bühne, auf der seine Gitarre schon wartet. Still wird es auch jetzt noch im dunklen Saal, wenn der Barde die Gitarre zupft. Jetzt sind es mehr als 5000 Menschen, die einem alten, weißen Mann zuhören, der ihnen noch immer etwas zu sagen hat. Es ist eine demutsvolle, sehr persönliche Rückschau, zu der er einlädt, ein sanfter, dankbarer Blick auf ein Leben voll Liebe und Wein, auf Momente von Glück und tiefer Trauer, auf die eigenen Kinder, die nahen Mitmenschen, auch auf die Annäherung an den Tod.

Politisch hält sich der Liedermacher auf der Bühne zurück

Ein Mann, seine Stimme, eine Gitarre. Im Dezember wird Reinhard Mey 80 Jahre alt. Er trifft noch immer den Ton seiner Generation. Aber welcher Ton ist das?

Politisch hält sich der Liedermacher auf der Bühne zurück. Das war nicht immer so. Immer wieder hat sich Reinhard Mey in seinen Liedern dezidiert politisch und pazifistisch positioniert.  „Nein, meine Söhne geb ich nicht …“ textete er 1986 im gleichnamigen Lied, „… sie werden nicht in Reih und Glied marschieren, nicht durchhalten, kämpfen bis zuletzt.“ Lieber werde er „mit ihnen in die Fremde ziehen, in Armut und wie Diebe in der Nacht.“ Im April 2022, im ersten großen Schock über den Krieg in Europa, hatte sich Reinhard Mey als Erstunterzeichner dem umstrittenen „Offenen Brief“ angeschlossen, in dem zahlreiche Künstler und Intellektuelle zur Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine aufriefen.

Im Konzert sagt oder singt er kein Wort dazu. Aber dann, fast zum Schluss, schon als Zugabe, stimmt Mey seinen größten Erfolg an. Es ist die stille Hymne auf den Traum einer grenzenlosen Freiheit, die man wohl nur über den Wolken, nicht bei uns auf der Erde finden könne. „Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben dahinter verborgen. Und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.“

Der betörende Mehrklang der Wohlstandsfreiheit

Noch immer trifft der Liedermacher den Ton seiner Generation. Es ist der ungemein verlockende, in seiner Schönheit so betörende Mehrklang aus Sehnsucht und Tatenlosigkeit, der dieses Lied für viele Menschen berührend macht. Es ist ein Statement für eine Wohlstandsfreiheit, die nicht erkämpft oder aktiv verteidigt werden muss.

Leider ist die Welt von heute nicht so. Die Baby-Bommer werden nicht umhinkommen, noch einmal neu zu lernen, Verantwortung zu übernehmen.

 

 

Reinhard Mey ist noch bis 15. Oktober 2022 auf Tournee. Ich habe das Konzert am 18. Oktober 2022 in Stuttgart erlebt.

Die angesprochenen Lieder habe ich jeweils direkt im Text verlinkt, jeweils zu Youtube. Wenn Sie draufklicken, stimmen Sie der Weiterleitung zu. Es lohnt sich, zuzuhören!

Mich persönlich hat auch eine Neuversion des pazifistischen Liedes „Meine Söhne geb ich nicht“, eine Gemeinschaftsproduktion von Reinhard Mey und mehreren weiteren Künstlern sehr angesprochen. Die Künstler werben damit für https://friedensdorf.de/

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Rucksack und Rücksicht – Ein Reise-Essay

Hinaus in die Welt!

Es ist Sommerzeit, die Sonne scheint, mehr als es uns und der Natur guttut. Urlaub steht an, die „wertvollsten Wochen des Jahres“, wie eine Werbung einmal versprach. Viele sind unterwegs, und es ist ihre wohlverdiente Freiheit.

Hinaus in die Welt! – Ein großer Rucksack lässt über das Thema Rücksicht beim Reisen nachdenken.

Diese Reise startet in einem ICE: Dicht gedrängt sitzen die Fahrgäste der 2. Klasse. Kein freier Platz, genervte Stimmung, stickige Atmosphäre trotz Klimaanlage. Der vollbesetzte Zug rollt in den Bahnhof ein, einige wenige Passagiere steigen aus, viel mehr steigen ein. Die Neuankömmlinge quetschen sich im Gang aneinander vorbei, es herrscht erhöhte Unruhe. „Au!“ schreit eine Dame auf, kurz dimmt die Lautstärke im anrollenden Waggon herunter, alle schauen sich um, wenige haben etwas gesehen. Die Dame ist Opfer einer Drehbewegung geworden. Sie hat einen Schlag in die Schläfe erlitten.

Voll strahlender Freude eines sommerlichen Aufbruchs, …

Ein junger Mann mit schwarzem Bart im schmalen Gesicht und langen, zu einem lockeren Zopf zusammengebundenen Haaren, schaut sich um nach einem freien Platz, den es nicht gibt. Auch seine Begleiterin blickt wachsam in die Welt, neugierig, freundlich. Das junge Paar im Zug strahlt die ganze Freude aus, die einem sommerlichen Aufbruch innewohnen kann. Noch ein paar Stationen im ICE, nach Frankfurt-Flughafen, dort hinein in das Koloss für weltweite Mobilität, ein paar Stunden des Wartens und Schlangestehens, dann hinein in den Flieger, der sich mit aufheulenden Triebwerken von der Schwerkraft des Bodens lösen wird, nach Amerika, nach Australien, nach Afrika, wohin auch immer – hinaus in die Welt!

… die Welt im Blick, aber nicht den eigenen Rücken.

Jetzt aber haben beide schwere Backpacker-Rucksäcke auf dem Rücken. Sie haben die Welt im Blick, aber eine Wahrnehmung für den Radius, den ihre Rucksäcke raumgreifend erfordern, haben sie nicht. Vielleicht haben sie noch nicht einmal bemerkt, dass der Schmerzenslaut im nervösen Getümmel etwas mit ihnen zu tun hatte. Wenn doch, hätten sie sich bestimmt entschuldigt. Aber sie haben eben keinen Blick nach hinten – keine Rücksicht. Also reibt sich die Dame den Hinterkopf.

Es ist eine privilegierte Form von Freiheit, zum Vergnügen zu reisen

Es setzt voraus, dass man selbst in Freiheit lebt und es sich leisten kann. Milliarden Menschen können nicht aus Spaß unterwegs sein, weil der Staat es ihnen verbietet, oder weil sie zu arm sind, oder alt und krank. Millionen Menschen werden vom Schicksal zu einer „Reise“ gezwungen, weil sie fliehen müssen vor Hunger, Verfolgung, Vernichtung, aber sie kämen niemals auf die Idee, es so zu nennen. Andere können es sich mangels Bildung, oder weil ihnen ein angemessener Zugang zu Information fehlt, noch nicht einmal vorstellen, irgendwohin aufzubrechen. Der Reisbauer in Bangladesch oder der Tagelöhner in Indien kämpft täglich um seine Existenz und denkt nicht ans Reisen. Allenfalls fährt er manchmal im überfüllten Bus zu seiner Familie aufs Land.

Hinaus in die Welt! Der Motor röhrt potent, das Band der Straße flirrt frei und einladend in der Sonnenglut, das Gaspedal gedrückt, die nostalgische Tachonadel erreicht die 200. Vielleicht sind es die Eltern dieses jungen Mannes im ICE mit dem großen Rucksack, die jetzt gerade die Straße unter ihrem Porsche spüren. Draußen strahlt die Sonne, es herrscht Traumwetter, also das Cabrio-Verdeck zurückgefahren, frische Briese um die Nase.

30 Liter Super für eine Spritztour?

Sicher, man könnte zum Abendessen auch beim Italiener um die Ecke einkehren, aber bei diesem Wetter kann man doch auch zum See hundert Kilometer fahren, den Rausch der Geschwindigkeit einsaugen, den Fahrtwind in den Haaren spüren, das Plätschern des Sees hören, den vorbeiziehenden Fähren zugucken. Und dann, nach dem Essen beim Edel-Italiener am Seeufer, geht es zurück nach Hause in der anbrechenden lauwarmen Sommernacht. Dreißig Liter Super verbraucht für die abendliche Spritztour, in die Luft gepustet, das Klima geschädigt. Es war ihre Freiheit.

Dann kommen die Porsche-Eltern heim, zurück in ihre elegante Maisonette-Wohnung, trinken noch ein Glas Wein auf dem Balkon, den Blick auf die nachtglitzernde Stadt. Bald ruhen sie im komfortablen Boxspring-Bett und es ist Nacht, tiefe Nacht, und es sollte Stille sein.

Mit dem Moped um den Globus?

Ist es aber nicht. Unter dem offenstehenden Fenster, das die wohltuend kühle, sternendurchfunkelte Luft hereinströmen lässt, entfaltet sich blubbernd-heulender Krach. Den Lärm hat nicht jemand zu verantworten, der zu dieser frühen Stunde zur Arbeit eilen will. Es ist auch keine Sirene, weil irgendwer in der Not der Hilfe bedürfte. Nein, zu hören ist das Aufheulen eines Mopeds, einmal, wieder, nochmal. Zwei junge Männer stehen um das Gefährt herum, unterhalten sich zu dieser Unzeit lautstark über seine Leistung und Vorzüge, und zum Beweis von Potenz, ihrer eigenen und der des klapprigen Zweirades, lassen sie den Motor aufheulen. Wieder, jetzt wieder. Vielleicht will einer von ihnen morgen früh noch aufbrechen, hinaus in die Welt, mit dem Moped um den Globus- oder wenigstens ans Mittelmeer?

Es wäre seine Freiheit. Aber es gibt keine Freiheit, nachts zur Unzeit und ohne Not zu lärmen, denn es herrscht die gesetzlich bestimmte Nachtruhe. Wo bleibt also die Rücksicht?

Rücksicht begrenzt die Freiheit nicht

Rücksicht begrenzt die Freiheit nicht, sie ermöglicht sie sogar erst, denn ohne Rücksicht finden wir uns in einem kalten Land bösartiger Egoisten wieder. „Rücksicht bedeutet, die Freiheitsräume des anderen zu respektieren“, schreibt der frühere Benediktinermönch Anselm Bilgri. Rücksichtslosigkeit ist ein Krebsgeschwür, an der die Freiheit sterben kann. Sie bildet Metastasen, denn wer Rücksichtslosigkeit erlebt, versteht weniger, warum er selbst rücksichtsvoll sein sollte. Umgekehrt wirkt Rücksicht wie eine Impfung gegen die Kälte im Miteinander: Wer viel Rücksicht ausübt, wirkt ansteckend auf andere. Rücksicht ist eine Haltung, man kann sie durchgängig einnehmen, von früh bis Abend, in der Familie und Ehe, unter Nachbarn, beim Einsteigen in die S-Bahn, beim Verhalten im Restaurant, immer und überall. Rücksicht kostet nichts. Rücksicht macht glücklich.

Vielleicht brauchen wir im Sommer noch ein wenig mehr Rücksicht

Fast scheint es so, als bräuchten wir im Sommer, wir alle unterwegs sind und uns dabei ständig über den Weg laufen, da die Fenster offenstehen und uns mehr verbinden als trennen, noch eine Portion Rücksicht mehr, damit wir frei sein können. Denn es ist die Rücksicht der Stillen, die den Lärmenden ihre Freiheit erst ermöglicht, da wir sonst in einer unerträglich lauten Welt leben würden.

Gute Reise! Aber bitte mit Rücksicht.

Es ist die Rücksicht der Reisenden, ihre sommerliche Reisefreiheit so auszuleben, dass der Schaden für die anderen begrenzt bleibt. Vielleicht geht es ohne Flugzeug? Vielleicht reicht Tempo 100? Vielleicht lässt sich der Co2-Schaden wenigstens kompensieren? Denn auch der Reisende im Auto und Flugzeug profitiert von der Rücksicht der Alten und Kranken und Sesshaften, der Rad- und Bahnfahrer, die mit ihren Steuern helfen, dass eine Autobahn gebaut wurde und das Flugbenzin subventioniert wird.

Also gute Reise! Hinaus in die Welt! Aber bitte mit Rücksicht.

 

Den klugen Text von Anselm Bilgri über die Rücksicht finden Sie hier: https://anselm-bilgri.de/ruecksicht-eine-forderung-zuerst-an-sich-selbst/

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Aber wir haben den Daimler

Die fünf Tage von Richard Wagner in Stuttgart

Über die besondere Magie der Begegnung von Richard Wagner und der Stadt Stuttgart im Jahr 1864 hätte man sich natürlich schon viel früher informieren können. Sie ist offen nachlesbar in den Biografien über den Komponisten, und echte Wagnerianer kennen sie längst.

Trotzdem sei sie hier noch einmal kurz erzählt: Fünf Tage hat sich der schwierige Charakter in Stuttgart aufgehalten, vom 29. April bis 3. Mai, und er befand sich in einer katastrophalen Situation. Zwar hatten seine Werke durchaus Aufmerksamkeit in ganz Europa gefunden, und auch eine umstrittene Bekanntheit hatte sich Wagner bereits erarbeitet. Aber wo auch immer der stürmische Mensch in Erscheinung trat, gab es Ärger. Sachsen hatte er fluchtartig verlassen müssen, da ihm aufrührerische Aktivitäten vorgeworfen wurden. In Wien hatte er Schulden gemacht, die er nicht ausgleichen konnte, auch nicht mit Hilfe von Gönner(inn)en. Auch Wien musste er also auf schnellstem Wege hinter sich lassen, die Gläubiger im Nacken.

Wagner in Stuttgart: Ein Missionar in eigener Sache, sperrig, von künstlerischem Schöpfergeist besessen redet er auf das schwäbische Volk ein. (Szene aus dem Stadtspaziergang der Oper Stuttgart zur Ankunft Wagners in Stuttgart, Darsteller: Peer Oscar Musinowski, Schauspiel Stuttgart)

Verarmt, unerreichbar verliebt, obdachlos

Verliebt hatte er sich auch noch, ungeschickterweise in die Ehefrau Cosima seines Freundes und wesentlichsten Förderers, Hans von Bülow, wobei für Wagner keine relevante Rolle spielte, dass er bereits seit 28 Jahren, wenn auch aus seiner Sicht unglücklich, verheiratet war. Wagner lebte auf der Flucht vor seiner eigenen Vergangenheit, auch vor den Folgen seines ungestümen, oft rücksichtslosen Charakters. Zu seiner Frau Minna in Dresden konnte er aus politischen Gründen nicht zurück und wollte es auch emotional nicht.

Er war ein Obdachloser, verkaufte Teile seines Hausstandes und bei Konzertauftritten und Reisen erhaltene Gastgeschenke, um wenigstens die Hotelrechnungen bezahlen zu können. Seine Förderer zogen sich vor dem wilden, ungebändigten Geist dieses Mannes zurück und signalisierten wachsenden Widerwillen, ihn bei sich aufzunehmen.

„Ich bin am Ende!“

In dieser Lage kam Richard Wagner am 29. April 1864 nach Stuttgart. Logis nahm Wagner – ohne dafür zahlen zu können – im damaligen Hotel „Marquardt“ neben dem alten Bahnhof. Am Neckar hatte er noch einen Freund, den Kapellmeister der württembergischen Hofkapelle, Karl-Anton Eckert. Der versprach ihm nicht nur Kost, er wollte auch den Kontakt zum Intendanten des Hoftheaters herstellen. Seinen Freund Wendelin Weißheimer, der ihn in Stuttgart aufsuchte, und mit dem er die „Meistersinger“ fertigstellen wollte, begrüßte er mit den Worten: „Ich bin am Ende!“ Und der befreundeten Schriftstellerin Eliza Wille schrieb er aus Stuttgart an den Zürichsee: „Freundin, Sie kennen den Umfang meiner Leiden nicht, nicht die Tiefe des Elends, das vor mir liegt.“

Ein Festspielhaus im Kurpark?

Wagner hoffte in höchster Not, in Stuttgart Aufführungschancen zu erhalten, vielleicht einen Vorschuss, der ihn über die nächsten Wochen retten könnte. Welche Wendung hätte das Stuttgarter Kulturleben nehmen können, wenn es zu einem Engagement Wagners am Neckar gekommen wäre? Vielleicht stünde dann jetzt das Festspielhaus nicht auf dem Hügel in Bayreuth, sondern im Kurpark von Bad Cannstatt?

Erfolgreiche Abwerbung: In diesem Gebäude am Stuttgarter Schlossplatz fand das Gespräch zwischen Richard Wagner und dem Emissär von Ludwig II. statt, das den Komponisten vor dem Ruin rettete. jetzt ist es das „Hotel Utopia“ der Oper Stuttgart.

Aber es kam anders. Ohne dass Wagner etwas davon ahnte, reiste ihm bereits seit zwei Wochen auf seinen wilden Fahrten durch halb Europa ein Mann hinterher. Er hatte einen prominenten Auftraggeber. Der bayerische König Ludwig II., gerade erst auf den Thron gelangt, ein „Jüngling von bedenklicher Schwermut und Menschenscheu, schön, dunkeläugig und homophil“ (so Martin Gregor-Dellin in seiner Biografie über Richard Wagner) hatte als 15jähriger den „Lohengrin“ gesehen und war seither besessen davon, Richard Wagner kennenzulernen und zu fördern. Nun, als König, hatte er auch Macht und Mittel dafür. Er ließ nach Wagner fahnden.

In Stuttgart spürte der bayerische Abgesandte Franz von Pfistermeister das unmittelbar vor dem Ruin stehende Genie auf und informierte den Staunenden über die Anbetung durch den jungen König. Er habe den Auftrag, Wagner sofort nach München zu bringen und dem König persönlich vorzustellen.

Ein gemachter Mann – von einem Tag auf den anderen

Und so kam es. Noch am selben Tag, dem 3. Mai, nachmittags um fünf bestieg Wagner zusammen mit Pfistermeister den Zug von Stuttgart nach München, überwand die Alb, überquerte die Donau, dampfte an Augsburg vorbei und eilte schließlich in die Münchner Residenz. Wagner war von diesem Tage an ein gemachter Mann, er hatte keine materiellen Sorgen mehr, denn für sein Auskommen sorgte der junge König. Beide bezahlten dafür einen Preis, massive Ablehnung und persönliche Demütigungen kosteten dem kranken König schließlich das Leben und Wagner musste aus München nach Bayreuth flüchten.

„Grünliche Dämmerung“ über den Hügeln des Kessels …

An Hügeln hätte es nicht gemangelt, aber hätte Stuttgart ein Wagner-Festspielhaus geschmückt? Wäre die protestantische Stadt bereit gewesen für die Kunst des romantisch-barocken Wagner? Der Kulturflaneur darf skeptisch sein. Die Oper Stuttgart nähert sich dieser Frage mit dem durchaus anspruchsvollen Film über die Stuttgarter Tage von Richard Wagner. Es ist eine sehr schwäbische Antwort. Der Film trägt den Titel „Grünliche Dämmerung“, und lässt schon allein damit allen politischen Spekulationen Raum. Er dauert etwa eine halbe Stunde, erfordert Humor und Aufmerksamkeit, und am Ende geht man hinaus und denkt sich: Vielleicht ist es besser, dass er nach München weitergezogen ist. Wir haben den Daimler und die Mineralbäder.

 

Inspiriert zu diesem Text hat mich das Frühjahrsfestival der Oper Stuttgart mit dem Titel „Hotel Utopia – Richard Wagners fünf Tage am Neckar zwischen Ruin und Rettung“, insbesondere auch der geistreiche und sehr sinnliche Stadtspaziergang zu Wagners Ankunft in Stuttgart (vom 18. Mai 2022). Das Programm des Frühjahrsfestivals dauert noch bis 22. Mai: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/hotel-utopia/

Zum Film „Grünliche Dämmerung“ gibt es derzeit auf Youtube nur den Trailer:  https://www.youtube.com/watch?v=hfcKtGDNezM Über das weitere Schicksal des Films außerhalb des Frühjahrsfestivals wurde noch nicht entschieden.

Die biografischen Daten verdanke ich unter anderem der exzellenten Biografie von Martin Gregor-Dellin über Richard Wagner: https://www.piper.de/buecher/richard-wagner-isbn-978-3-492-30187-9

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Was von Wagner bleibt ….

 

Ein Justizmord, die Nazis und der Papst

Zur Geschichte des „Tag der Arbeit“ am 1. Mai

Vielleicht war es im Mai. Wir schreiben das Jahr 1872, genau vor 150 Jahren. Vielleicht erlebte damals ein junger Mann noch ein letztes Mal in Deutschland einen Sonnentag auf dem Höhepunkt des Frühlings, einen Tag voll blühenden Flieders, ein Tag der blumenübersäten Wiesen.

Kein Mörder, sondern ein Justizopfer: August Spies aus Deutschland. Foto: Chicago Historical Society, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=755968

Dann verließ der junge Mann Deutschland. Er bestieg ein Schiff, bezog darin ein Massenlager, vermutlich tief unten im stickigen Bauch des Ozeanriesen. Seine Reise war eine Flucht vor der Armut und sie brachte ihn nach New York.

Der junge Mann war der im Hessischen geborene Försterssohn August Spies. Er war erst 17 Jahre alt, als sein Vater starb. Spies´ Familie geriet deshalb in tiefe Not. Sozialsysteme, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. August war das älteste Kind und arbeitsfähig, also musste er gehen. Mutter und Geschwister blieben zunächst in Deutschland zurück; später holte er sie nach.

Ein Streik veränderte die Weltsicht von August Spies

Spies schlug sich durch in der neuen Welt. Er begann in New York eine Lehre als Möbeltischler, zog um nach Chicago und begann sich für die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu interessieren. Dann erlebte er als 22-jähriger etwas, das sein weiteres Denken und Handeln grundlegend prägen sollte. Würde man es in unser deutsches Heute übertragen, dann muss man sich diese Ereignisse aus dem Jahr 1877 in den USA etwa so vorstellen:

Den Mitarbeitenden der Deutschen Bahn, den Schaffnern und Lokführerinnen, den Stellwerkern und Rangierkräften, den Werkstattmitarbeitern und dem Reinigungspersonal – einfach allen – wird zum dritten Mal innerhalb eines Jahres mitgeteilt, dass ihre Gehälter gekürzt werden. Die wirtschaftliche Lage sei schlecht, heißt es zur Begründung, außerdem habe ein Krieg das Land ruiniert. Daraufhin treten die empörten Angestellten der Bahn an verschiedenen Orten in den Streik. Immer mehr Eisenbahnerinnen und Eisenbahner schließen sich landesweit an. Kaum noch ein Zug wird gewartet, die Gleise werden blockiert, keine Fahrkarten mehr verkauft, die Loks bleiben stehen. Der Vorstand der Bahn ruft den Staat zur Hilfe – und der schickt die Bereitschaftspolizei. Mit Knüppel und Schusswaffen kämpft der Staat die Arbeitnehmer nieder, diese reagieren mit Vandalismus: Gebäude werden niedergebrannt und Lokomotiven zerstört. Nach mehr als zwei Monaten Verwüstung und Gewalt gewinnt der Staat die Oberhand. Im ganzen Land hat der Kampf der Streikenden gegen die Polizeigewalt mehr als 100 Tote gefordert.

Der Große Eisenbahnstreik von 1877, die sozialen Ungerechtigkeiten, die ihn ausgelöst haben, und die Gewalt, mit der er beendet wurde, erschütterten die USA. August Spies machten die Ereignisse um die staatliche Niederschlagung des Streiks gegen die zunächst unbewaffneten Streikenden so wütend, dass er sich einer paramilitärischen Arbeiterorganisation anschloss. Später gründete er eine Arbeiterzeitung und wurde ihr Herausgeber und Chefredakteur.

Eine Bombe, ein Justizmord

Neun Jahre später, am 1. Mai 1886, stand August Spies in Chicago auf dem Haymarket und hielt eine flammende Rede. Er brandmarkte die Ungerechtigkeit der Arbeitsordnung. Er verlangte bessere Löhne und einen gesetzlichen Acht-Stunden-Arbeitstag für die Werktätigen. Wieder eskalierte die Situation durch Gewalteinsatz der staatlichen Milizen. Es folgten über mehrere Tage Großdemonstrationen, denen der Staat jeweils mit brutaler Gewalt begegnete. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen wurden am 3. Mai sechs streikende Arbeiter erschossen, etliche weitere verletzt. Am 4. Mai explodierte auf dem Haymarket eine Bombe, deren Herkunft bis heute ungeklärt ist.

Das dadurch verursache Chaos nahm die Polizei zum Anlass, die Streikanführer zu verhaften. Acht Männer, darunter August Spies, wurden für die Bombe verantwortlich gemacht, als „Mörder“ angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. August Spies starb im Herbst 1887 durch Erhängen. Sechs Jahre später rehabilitierte der Gouverneur von Illinois die Getöteten: Ein Zusammenhang ihrer gewerkschaftlichen Agitation mit der Bombe sei nicht nachweisbar.

Wofür werben eigentlich die Plakate seit Mitte April?

Diese Geschichte könnte im Kopf haben, wer sich an diesem Sonntag – geeignetes Wetter vorausgesetzt – im Biergarten ein kühles Bierchen bestellt. Auf dem Weg dorthin hat sich vielleicht sogar der eine oder andere gefragt, wofür die Plakate eigentlich werben, die der Deutsche Gewerkschaftsbund jedes Jahr ziemlich lieblos ab Mitte April an die Laternenmasten klemmt.

Wofür wird hier geworben? Aktuelles Plakat des DGB zur Maikundgebung vor den Werkstoren von BOSCH in Stuttgart-Feuerbach.

Der radikal-anarchistische Arbeiterführer August Spies, das deutschstämmige Opfer eines amerikanischen Justizmordes, zählt zu den Urvätern des 1. Mai als Feiertag. Die internationale Arbeiterbewegung erhob in Andenken an ihn und an den Kampf der Streikenden auf dem Chicagoer Haymarket erstmals den 1. Mai 1890 zum internationalen Kampftag der Werktätigen. Die damals Mächtigen beeindruckte das kaum. Erst mehr als 40 Jahre später waren es in Deutschland ausgerechnet die Nationalsozialisten, die diesen Schritt vollzogen und den 1. Mai zum arbeitsfreien „Tag der nationalen Arbeit“ erklärten. Ein Paradebeispiel für ideologische Aneignung: Am 1. Mai 1933 erlebten die deutschen Berufstätigen erstmals den Feiertag zu ihren Gunsten, aber am Tag darauf, am 2. Mai 1933, stürmten Nazi-Schergen die Häuser der deutschen Gewerkschaften, betrieben ihre nationalsozialistische „Gleichschaltung“ und verhafteten ihre Anführer.

Der 1. Mai: Eine ideologische Projektionsfläche

Nach dem Krieg erbte die junge Bundesrepublik Deutschland den weltlichen Mai-Feiertag. Oft strahlendes Frühsommerwetter, keine Maloche, und noch dazu kein Kirchenbesuch – der 1. Mai war der Lieblingsfeiertag der aufkommenden deutschen Freizeitgesellschaft. Immerhin, wer sich in den 60er und 70er Jahren gesellschaftlich engagierte, empfand es noch als edle Werktätigen-Pflicht, auf die gewerkschaftliche Maikundgebung zu gehen. Ein Großereignis war das, Zigtausende auf den Marktplätzen, die Radiosender übertrugen die Maikundgebungen aus verschiedenen Städten ihres Sendegebietes live in einer Konferenzschaltung wie am Samstagnachmittag die Bundesliga.

Abends dann, in der „Tagesschau“, da waren die Bilder aus Ostberlin und aus Moskau oder Peking zu sehen. Endlose Paraden defilierten vor den Tribünen, furchteinflößende Waffen rollten vorbei, fröhliche Erzieherinnen schwenkten gemeinsam mit den von ihnen beaufsichtigten Kindern im sozialistisch gradlinigen Gleichschritt die roten Fähnchen. In der kommunistischen Welt wurde der „Tag der Arbeit“ zu Schwerstarbeit für Paraden-Organisatoren und Ordensspangen-Festnäherinnen. Auf den Tribünen saßen alte Männer, die von der Situation der Werktätigen keine Ahnung hatten, sich aber als Vertreter der siegreichen Arbeiterklasse fühlten.

Neue Aufgaben für „Josef den Arbeiter“ aus der Weihnachtskrippe

In diesem ideologischen Getümmel rund um den „Tag der Arbeit“ wollte im Jahre 1955 ein anderer alter Mann nicht beiseite stehen. Der fast 80-jährige Papst Pius XII. erhob einen prominenten Zimmermann in den Status der „Arbeiters“ und machte damit den 1. Mai zu einem katholischen Gedenktag. Die Ehrung der Arbeit sollte nicht den atheistischen Systemen des Ostblocks allein überlassen bleiben. „Josef der Arbeiter“ heißt seither jener gütige, uneheliche Vater von Jesus, uns allen besser bekannt als der Mann neben dem Kindlein in der Weihnachtskrippe.

Prost! – Ein Hoch auf alle, die am 1. Mai arbeiten

August Spies hat sich das alles am 1. Mai 1886 bestimmt nicht so gedacht. Erreicht hat er einiges: Der 8-Stunden-Tag ist heute in den reichen Teilen der Welt die Regel. Und der arbeitsfreie Feiertag 1. Mai gilt in vielen Ländern für alle, die das Glück haben, den dafür passenden Beruf gewählt zu haben. Denn arbeitsfreier Feiertag für viele heißt besonders viel Arbeit für wenige, die auf unsere Sicherheit, unsere Gesundheit, unsere Mobilität achten – oder uns das Bier an den Biergartentisch schleppen.

Also lasst uns das Glas heben: Ein frisch gezapftes Maibock auf August Spies – und auf alle, die am 1. Mai arbeiten!

 

Zur Geschichte des 1. Mai siehe auch auf der Website des DGB: https://www.dgb.de/themen/++co++d199d80c-1291-11df-40df-00093d10fae2

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„Sie dürfen!“ – Ein Wort hat Konjunktur

Eine sprach-politische Betrachtung über das Wort „Dürfen“ in einer freien Gesellschaft

„Das wird man doch noch sagen dürfen“, schnauzt der Querdenker in die bereitstehenden Mikrofone der angeblichen „Lügenpresse“ – und unterstellt mit seiner Formulierung, dass es ihm irgendjemand verboten hätte, seine schräge Sicht der Dinge zu formulieren.

„Ich darf doch wohl anderer Meinung sein als Du“, ist der ultimative Schlusspunkt mancher innerfamiliären Auseinandersetzung, als ob die Freiheit der Meinung in Frage gestellt worden wäre – und nicht die Stichhaltigkeit des Arguments.

„Sie dürfen schon mal Ihre Karte reinstecken“, sagt die Supermarkt-Kassiererin zum solventen Kunden, der seinen Einkauf bezahlen will.

„Sie dürfen sich erstmal ins Wartezimmer setzen, es dauert noch einen Moment“, erteilt die Assistenz in der Hausarztpraxis dem schmerzgeplagten Patienten die hoheitliche Erlaubnis zum Hinsetzen.

Das Dürfen hat Konjunktur

Die „Dürfen“-Kurve in der deutschen Sprache seit 1946: Ein Wort hat Konjunktur. Seit 2016 geht die Wortverwendung besonders steil nach oben. Quelle: DWDS-Wortverlaufskurve, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, abgerufen am 20.4.2022.
Der historische Höhepunkt für das „Dürfen“ in der deutschen Sprache lag in der Zeit des Nationalsozialismus. (Datenbasis unterschiedlich zur Statistik ab 1946) Quelle: DWDS-Wortverlaufskurve für „dürfen“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, abgerufen am 20.4.2022.

Das Dürfen hat Konjunktur. Das ist nicht nur ein Gefühl, sondern sogar messbar. Die Wortverlaufskurve des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS) zeigt steil nach oben, wenn es um das Dürfen geht. Die vermeintliche Erlaubniserteilung wird im Deutschen heute so viel verwendet wie seit der Zeit des Nationalsozialismus nicht mehr. Der statistische Wert von heute übertrifft sogar den damalige Dürfen-Terror. Das steht als sprach-politische Botschaft donnernd im Raum, auch wenn die unterschiedliche Datenbasis der Zeiträume einen solchen Vergleich aus wissenschaftlicher Sicht ausdrücklich nicht erlaubt.

Die Wörter-Statistik kommt erwartbar komplex zustande – kurz zusammengefasst sieht sie so aus: Ausgewertet werden zigtausende schriftliche Dokumente aus Belletristik, Zeitgeschehen, Zeitungen und Zeitschriften, und – seit es sie gibt – auch elektronische Medien. Das Dürfen hatte seinen Beliebtheitshöhepunkt in der deutschen Sprache zwischen 1930 und 1939 – und jetzt wieder. Vor allem seit 2016 steigt die Verwendungskurve für das Wort „Dürfen“ wieder steil nach oben.

„Mein schönes Fräulein, darf ich´s wagen?“

„Er darf hereinkommen“, sagte in vergangenen Zeiten der Despot zum Bittsteller, den er noch nicht mal für würdig erachtete, ihn direkt anzusprechen. Der Fürst saß und der Bittsteller durfte in der Regel stehen, was immerhin eine Parallelität zur Situation an der Supermarktkasse sein dürfte.

„Mein schönes Fräulein, darf ich´s wagen,“, lässt Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) seinen Faust das Fräulein fragen, „meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“, in einer geradezu herzzerreißend verliebten Mischung aus direkter und indirekter Ansprache. Hier ist klar: Der höfliche Herr ist ein gut erzogener Bittsteller, das junge Fräulein erlaubt ihm, ihr den stützenden Arm zum Spaziergang zu reichen. Die Erlaubnis zum Dürfen wird nicht ungefragt erteilt.

Nach dieser Ordnung wäre es richtig, wenn der Kunde im Supermarkt fragt: „Darf ich schon loslegen mit der Karte?“ und die freundliche Kassenkraft antwortet: „Ja, Sie dürfen!“ Ach, da hört man doch schon das geschundene Discounter-Personal im Chor dem Autor zurufen: „Sie dürfen sich mit Ihren Spitzfindigkeiten gerne mal einen Tag an diese Kasse setzen!“ – was auch wieder im Wortsinn korrekt wäre, denn die Erlaubnis dazu wäre zweifellos vorab entsprechend von denjenigen zu erteilen, die da immer sitzen.

„Dürfen“ steht für Erlaubnis, Bitte, Aufforderung, Befürchtung

Ein Blick in das bereits zitierte Wörterbuch lehrt, dass die Bedeutungsvielfalt des Dürfens deutlich über die klassische Erlaubnis hinausgeht. Es darf auch als ethisch intendierter Imperativ gemeint sein: „Du darfst keine Tiere quälen!“ Auch der Ausdruck einer Bitte ist erlaubt – allerdings eher in verneinender Form: „Das darfst du bitte dem Vater nicht sagen …“, eine Befürchtung darf formuliert werden „Der VfB darf auf keinen Fall absteigen!“, oder in Verbindung mit dem Konjunktiv eine Wahrscheinlichkeit: „Morgen dürfte es regnen“. Die Varianten des Dürfens sind vielfältig, und so verneigen wir uns vor all jenen Menschen, die nicht von der Kindeswiege an in unserer wunderbaren Sprache aufwachsen konnten und die vielfältig unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten des Dürfens als Erwachsene bei vollem Bewusstsein erlernen müssen.

In den 70er-Jahren war „Dürfen“ nicht in Mode

Der statistische Tiefpunkt bei der Wortverwendung des Dürfens lag übrigens im Jahr 1977. Das war eine Zeit, in der die Studenten-Revolutionäre von 1968 den Marsch durch die Institutionen erfolgreich begonnen hatten. Eine sozialliberale Regierung bestimmte über Deutschlands Schicksal und musste sich mit dem Schrecken des RAF-Terrorismus herumschlagen. Die Überwindung des „Muffs unter den Talaren“ war im Gange. Es ging um Emanzipation und gegen die Atomkraft, drei Jahre später wurde in Westdeutschland die grüne Partei gegründet. Es war eine Zeit, in der mehr über das Wollen und das Können diskutiert wurde. Etwas zu „dürfen“, das war nicht up to date.

Seither klettert die Nutzungskurve des Dürfens wieder dauerhaft nach oben. „Wir haben sogar an einer Bundestagssitzung teilnehmen dürfen“, sagt der Oberstufenschüler nach der Berlinreise seiner Schulklasse, wobei sich die Frage stellt, ob er das in einer öffentlichen Sitzung nicht immer hätten tun können, wenn er es denn gewollt hätte. Oder er hätte die TV-Übertragung anschalten dürfen.

Sensibilität für unsere Werte ist gefragt

Alles nur sprachliche Petitessen? Nein, Ausdruck einer Geisteshaltung. Das „Dürfen“ setzt in allen geschilderten, alltäglichen Zusammenhängen voraus, dass es einer Erlaubnis dafür bedürfen würde. Das ist nur in den wenigsten Fällen so gegeben. In einem freiheitlichen Staat darf jeder alles sagen oder tun, auch jeden noch so großen Unsinn, wenn er nicht nach den Gesetzen unseres Landes anderen schadet, sie beleidigt oder offensichtlich lügt. Die empörte Betonung „Das darf man doch wohl noch sagen!“ ist deshalb eine Herabsetzung hoher Werte unserer individuellen Freiheit, weil sie unterstellt, da sei etwas nicht erlaubt.

Sensibilität für diese unsere Werte, die übrigens gerade in der Ukraine mit Menschenleben gegen einen Angriff verteidigt werden, ist auch im Alltag nicht fehl am Platz. Der Kunde „darf“ nicht an der Kasse zahlen, sondern er muss. Der Patient „darf“ sich nicht ins Wartezimmer setzen, sondern er soll es, weil Frau Doktor noch zu tun hat, was ja völlig in Ordnung ist. Und das Herumstehen im Gang verträgt sich nicht mit dem Datenschutz. Es ist also keine höfliche Erlaubnis, sondern eine sinnvolle Aufforderung, gedeckt durch das Hausrecht.

Und diesen Text, den dürfen die geschätzten Leserinnen und Leser nicht lesen oder hören, weil der Autor es erlaubt, sondern weil sie es wollen.

„… aber dürfen hab´ ich mich nicht getraut!“

Was ist das für eine Gesellschaft, in der die Grenzen zwischen Wollen, Müssen, Können und Dürfen immer weiter verschwimmen, sich verrühren zu einem schlierigen Einheitsbrei? „Mögen hätt‘ ich schon wollen, aber dürfen hab´ ich mich nicht getraut“, formulierte der Münchner Künstler Karl Valentin (1882-1948) sehr treffend.

Also bitte, hier ein Appell an alle selbstbewussten Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft: Flatten the „Dürfen“-Curve! Wer etwas mag, kann es wollen und muss es nicht dürfen.

 

Die zitierte Wortstatistik zu „Dürfen“ finden Sie hier: https://www.dwds.de/wb/d%C3%BCrfen#:~:text=Mehr-,d%C3%BCrfen%20Vb.,haben‚.

Um Karl Valentin geht es auch in meinem Text zum Valentinstag. 

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Ankunft im Westen – Zwei Fluchtgeschichten

Kateryna

Eine Mutter, zwei Kinder. Die Gesichter so müde. Suchend sieht sich Kateryna um, aber sie sieht nur in andere müde Gesichter. Ein fremder Rollkoffer fährt ihr über die Füße, langsam schält sich aus dem Durcheinander eine Richtung heraus, in die der Strom der Heimatlosen sich bewegt.

Ankunft im Westen. Gesehen am Bahnhof Berlin-Südkreuz.

„Ich muss mal“, quengelt die kleine Daria. „Da hättest Du doch noch im Zug gehen können“, fährt sie Kateryna an, bereut aber sogleich ihren rüden Ton, den Ton ihrer eigenen Verzweiflung und Übermüdung, als sie sieht, wie sich die Gesichtszüge des Kindes verzerren. „Wird gleich möglich sein“, sagt sie jetzt sanfter, und wuchtet sich die Reisetasche über die Schulter. Sie rutscht gleich wieder herunter. Zu schwer die Tasche, zu glatt der Stoff des Anoraks. „Kannst Du den Koffer ziehen?“, fragt Kateryna ihren Sohn. Vlady nickt stumm.

Und so schließen sich die drei der allgemeinen Bewegung an, die auf dem Bahnsteig an ihnen vorbeiströmt. Nach vorne geht es, dorthin gehen sie nun, wohin alle gehen. Da vorne, da wird wohl eine Zukunft sein für sie in diesem fremden Land.

Hertha

Eine Frau mit zwei Kindern, fünf und zwei Jahre alt. Die Kleider beansprucht, schmutzig, angerissen. Einen Leiterwagen mit ihren Habseligkeiten zogen sie hinter sich her, ein Berg von Säcken, ein zerschlissener Koffer, ein kleiner Puppenwagen verkehrtherum, die Räder nach oben, draufgetürmt.

Wenigstens war gutes Wetter, sonniger Frühsommer, ein paar harmlose Wolken. Die zweijährige Sophie saß obenauf auf dem hölzernen Gefährt, ihre Beine baumelten nach vorne. Der Rücken lehnte am umgestülpten Verdeck des Puppenwagens, in dem das Kind über weite Strecken der mühseligen Reise selbst gehockt hatte. Dass die ganze wackelige Ladung nicht nach hinten rutschte, herunterfiel und den kleinen Tross aufhalten konnte, war einem Seil zu verdanken, mit dem Hertha ihren ganzen Besitz am Gestell des Leiterwagens festgezurrt hatte. Gefunden hatte sie das Seil am vorletzten Bahnhof, unten, am Gleis war es gelegen, ein Schatz. Vielleicht kein Hauptgewinn, aber doch mehr als ein Trostpreis.

Ein Zug hatte sie ausgespuckt, eine lange Reihe verbeulter Güterwagen und eine schnaufende Lokomotive. Vielleicht brauchte das schwarze Ungeheuer Wasser oder Kohle oder der Lokführer musste pinkeln. Angehalten hatte der keuchende Lindwurm an einem Bahnsteig, der von Schlaglöchern übersäht war.

„Schnell raus hier!“, hatte Hertha bereits gerufen, als sie bemerkt hatte, dass der Zug langsamer wurde.

Kateryna

Die Fahne klebt verkehrt herum. Kateryna starrt dem großen Stück Stoff entgegen, das auf die kahle Betonwand geheftet ist. Kleine Zettel mit der blau-gelben Flagge ihrer Heimat hatten sie wie Hunderte andere in diese Halle gelotst. Und nun war da ein großes Stoffbanner gespannt, aber es hing falsch. Gelb oben, blau unten.

„Kann ich jetzt?“, stammelt ihre Tochter gerade so laut, dass sie es in dem Stimmengewirr der Halle verstand. Kateryna blickt um sich. Der Raum ist voller Menschen, Koffer, Säcke, Taschen. Fast nur Frauen und Kinder; wie sollte es auch anders sein. Die Männer sollen kämpfen, Yegor muss kämpfen, denkt Kateryna. Unter der falsch herum angeklebten Flagge entdeckt sie Tische, darauf Getränkeflaschen, auch irgendwelche Plastiktüten, vielleicht mit Essen? Kisten und Kartons stapeln sich dort. Junge Menschen sind bei den Tischen geschäftig zugange, manche haben sich die Flagge ihrer Heimat umgehängt, andere tragen grelle Warnwesten. Kateryna liest auf einer davon: „I speek englisch“.

„Mama!“, nörgelte Daria jetzt schon drängender ihre Not an sie hin, „ich muss jetzt!“ Da endlich entdeckt Kateryna das Toilettensymbol. „Warte hier, und pass auf unsere Sachen auf“, ruft sie Vlady zu. Wieder nickt der Junge stumm. Wo sind seine Worte hin?, denkt Kateryna, warum nur ist er so stumm? Vor den Frauentoiletten wartet eine lange Schlange, bei den Männern steht kein Mensch. Kateryna packt ihre Tochter und verschwindet in der Herrentoilette.

Hertha

Nur raus hier! – der drängende Gedanke hatte Besitz von Herthas Kopf ergriffen. Es war ein spontaner Entschluss gewesen. Nur raus hier, ich halte es nicht mehr aus. Egal wo, besser als hier in diesem Waggon wird es überall sein. Die Güterwägen, in den früher vielleicht Vieh, vielleicht auch Menschen transportiert worden waren, starrten vor Dreck, in den Ecken Exkremente, es stank nach Urin und Erbrochenem.

„Schnell raus hier“, rief sie ihren Kindern nochmals zu, die träge auf einem Kleidersack hockten, narkotisiert von den Qualen der letzten Wochen, von den langen Fußmärschen, den ewigen Ermahnungen, still zu sein, still zu sitzen, nicht zu stören, nicht zu streiten. Ungläubig starrte sie der fünfjährige Werner an, aber da war sie schon dabei, ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen, den Sack auf den Leiterwagen zu stopfen, den Puppenwagen oben drauf; das Seil, das Seil!

Ein Mann half ihr; am frühen Morgen war er hineingeklettert in den Wagen irgendwo auf der freien Strecke bei langsamer Fahrt. Er trug eine zerschlissene Militäruniform ohne Abzeichen. Jetzt wollte er ihr helfen, aber sein Arm zitterte, das Seil entglitt ihm, fiel auf den Kopf einer schlafenden Alten, die, ihren Wanderrucksack im Arm, am Boden lag. Hertha fing das Seil auf und fummelte es um das Seitengeländer des Leiterwagens, zog es dann straff, gerade als der Zug mit lautem Pfeifen und einem heftigen Ruck zu Stehen kam. Die ganze Besatzung des Güterwagens wurde durcheinandergewirbelt, der Uniformierte verlor das Gleichgewicht, stolperte und fiel seitlich auf die kleine Sophie, ihre Tochter Sophie, die laut aufheulte.

„Nichts passiert“, sagte Hertha, und doch schoss ihr durch den Kopf, was diese Zeit ihren Kindern antat. Sie spürte die Wut auf das alles, die Wut auf den Krieg, der sie vertrieben hatte aus ihrem Zuhause, die Wut auf diese armseligen, verlorenen, heruntergerissenen Gestalten in diesem Zug, die doch ihre Leidensgenossen waren. Hertha war wütend auf alles und jeden, und sie wusste, dass ihr diese Wut schon oft über ihre ganze Erschöpfung und Verzweiflung hinweggeholfen hatte. Sie liebte ihre Wut. Aber sie schwieg sie jetzt in sich hinein, packte den sperrigen Wagen an seiner Deichsel und zerrte ihn in Richtung Ausgang. Ächzend bewegte sich die Schiebetür des Güterwaggons auf die notwendige Breite, und mit einem befreienden Sprung wechselte Hertha auf den Bahnsteig. Der Leiterwagen wurde ihr entgegengehoben, der Uniformierte reichte ihr ihren Sohn, danach ihre Tochter.

„Alles Gute“, rief Hertha in die erschöpfte Runde hinein. „Euch auch“, antwortete der Uniformierte.

Kateryna

Seit vier Tagen war Kateryna mit Vlady und Daria jetzt unterwegs. Yegor hatte sie zum Bahnhof ihrer Stadt gefahren, als noch Züge fuhren. Es waren Stunden der Verzweiflung und Hoffnung zugleich: endlich ein Plan, raus aus dem stickigen Bunker – aber weg von ihrem Mann. Was würde aus ihm werden im Krieg? Kateryna hatte beim Abschied keine Kraft für solche Überlegungen gehabt. Im ganzen Chaos am Bahnhof hatte sie den erstbesten Waggon irgendeines Zuges bestiegen, Hauptsache Richtung Westen. Das war leicht zu erkennen; in die Züge nach Osten wollte keiner einsteigen. Kateryna kennt niemanden im Westen, nicht im eigenen Land und nicht in den Ländern, die dann folgen. Egal, Richtung Westen, raus aus dem ganzen Desaster hier, den Bomben entfliehen, weg vom Luftalarm, die Kinder retten.

Im Geschiebe und Geschubse des Bahnsteigs hatte Yegor noch beide Kinder auf den Arm genommen, die kleine Daria mit ihren zwei Jahren, und auch den großen Vlady. Nächstes Jahr wäre er in die Schule gekommen, hatte sich Kateryna gedacht, während sie das Nötigste zusammengerafft hatte für die Flucht. Im Zug erkämpfte sie sich Sitzplätze in einem Abteil. Dann hatte Yegor ihr den Koffer und die Taschen und den kleinen Kinderkoffer von Daria hochgereicht; durch das Fenster, denn auf den Gängen gab es kaum ein Durchkommen. Den Kindern selbst aber war es mit panischer Energie doch gelungen, sich zwischen erwachsenen Beinen, unter Rucksäcken hindurch einen Weg zu ihrer Mutter zu bahnen, heulend kamen die beiden bei ihr an, Vlady mit einer Schramme im Gesicht.

Für Kateryna hatte es keine Chance mehr gegeben, ihren Mann zum Abschied zu umarmen, kein Kuss, nur ein letzter Blick aus dem Fenster, und den teilte sie sich mit ihren Kindern. Der Zug fuhr noch gar nicht an, immer mehr Menschen drängten hinein. Kateryna hatte weinen müssen in diesem Moment, aber niemand hatte es bemerkt oder auch nur darauf geachtet. Nur ihre Kinder hatten sie angestarrt. Dann Sirenengeheul. Als Kateryna wieder aus dem Fenster sah, war ihr Yegor im Gewühl nicht mehr zu entdecken gewesen.

Hertha

Hertha atmete tief durch, als sie auf dem Bahnsteig die frische Sommerluft in sich aufnahm. „Wo sind wir jetzt?“ fragte Werner. Hertha erschrak fast, so lange hatte sie die Stimme ihres Sohnes nicht mehr bewusst wahrgenommen. Wenn es Nacht gewesen war in den langen letzten Wochen, und sie nicht schlafen konnte in den Heuschobern oder im fraglichen Schutz der Holunderbüsche, wenn sie wach gelegen und Wache gehalten hatte, und auf das gleichmäßige Atmen ihrer beiden schlafenden Kinder gelauscht hatte, dieses leise und doch so feste Zeichen des Lebens, das sie so sehr liebte und sie so sehr beruhigte, dass sie darüber trotz ihrer ganzen Angst schließlich doch einnicken konnte, dann war Hertha oft schon in den Sinn gekommen, wie still dieses Kind geworden war. Wie still war ihr Sohn, obwohl er doch einmal so viel geredet hatte, ihr auf die Nerven gegangen war mit seiner dauernden Fragerei.

Jetzt überflutete Hertha ein Schwall unverhofften Glücks: endlich frische Luft, die Sonne schien, und ihr Werner fragte wieder, sprach endlich wieder! „Ich weiß es nicht. Ich kenne diesen Ort auch nicht“, antwortete Hertha. „Aber wir werden hier glücklich sein, das verspreche ich Dir.“ Werner zerrte mit ihr gemeinsam das rumpelnde Gefährt voran, hinweg über holpriges Pflaster, der unbekannten Stadt entgegen. Hertha wendete sich um und sah, dass Sophie auf ihrem Hochsitz eingenickt war, sich im Schlaf bedrohlich zur Seite neigte. Zeit für eine Rast.

Aus ihrem Rucksack zog Hertha ein Stück trockenes Brot und einen Apfel, den sie am Tag zuvor am Wegesrand gefunden hatte. Schon war Sophie wieder wach. „Habt Ihr Hunger?“, fragte sie ihre Kinder, und ärgerte sich im nächsten Moment über die Frage. Natürlich hatten sie Hunger. Die Kinder antworteten nicht. Also teilte sie das Brot auf. Den Apfel schnitt sie mit ihrem Taschenmesser in drei gleiche Teile.

Kateryna

Nach dem chaotischen Aufbruch waren Tage gefolgt, die Kateryna wie in einer Trance erlebt hatte. Endlose Bahnfahrten, wieder aussteigen, Schlange stehen, Pässe vorzeigen, um jede versiffte Toilette kämpfen, Essen fassen an provisorischen Zelten, dann wieder woanders einsteigen, immer das ganze Hab und Gut mitgeschleppt. Nächte in Eisenbahnabteilen, immer in den gleichen Kleidern, keine Dusche, dann eine Nacht im Schlafsaal eines großen Bahnhofs. Schließlich wieder Grenzkontrollen, dann mit einem Bus weiter, endlich im Westen, im Ausland, sicher vor den Bomben.

Kateryna hört noch immer alle paar Minuten die Sirenen heulen, zuckt noch immer zusammen, aber sie weiß, dass es hier keinen Luftalarm gibt. Ich kann das, sagt sich Kateryna die ganze Zeit, ich kann das. Vlady und Daria waren in der Anspannung verstummt, Kateryna hört ihre Stille und sieht die ganze eigene verzweifelte Ausdruckslosigkeit in ihren Gesichtern. Sie kann gar nicht hinsehen zu ihren Kindern, ohne dass sie weinen muss.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, hört sie jetzt hinter sich eine Stimme in ihrer Heimatsprache. Kateryna fährt herum und blickt einer jungen Frau ins Gesicht, ein freundliches Gesicht, gepflegte Wimpern, etwas Lippenstift. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, wiederholt die Frau ihre Frage.

„Die Fahne hängt falsch herum“, hört sie Vlady sagen. Sie hatte ganz vergessen, wie seine Stimme klingt. Die Freundliche lacht. „Ok, Danke, wir ändern das.“

Hertha

Es war später Nachmittag, als Hertha mit ihren Kindern die Stadt erreichte. Durch ein Stadttor rollten Sie hindurch, vorbei an verblasstem Fachwerk und bröckelndem Stuck. Auf ihrem Weg aus dem Osten hatte sie zerbombte Städte gesehen, Brandruinen, leere Fensterhöhlen. Hier wirkte alles unbeschädigt, wenn auch ärmlich.

Ankunft im Westen – gesehen im neu eröffneten Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin

„War hier kein Krieg?“, fragte Werner und blickte seine Mutter an.  „Doch, aber keine Bomben“, antwortete Hertha, „offenbar keine Bomben“. Sie spürte wieder das Aufsteigen ihrer Wut. Es war eine Wut auf dieses Schicksal, das ihr ihren ganzen Stolz, ihre ganze Selbstachtung genommen hatte und sie alle drei verwandelt hatte in diese ganze traurige, heruntergekommene, elende Gemeinschaft. Müde und verschwitzt nach der endlosen Bahnfahrt, dem langen Fußmarsch vom Bahnhof in das Städtchen sah sie sich selbst wie in einem Spiegel und hasste sich dafür.

Schließlich erreichten sie den Marktplatz der Kleinstadt, eine stolze Kirche, ein graues Rathaus, ein paar Bürgerhäuser, Mittelalter, unbeschädigt. „Keine Sprechzeit mehr“, rief ihr schon von der Freitreppe des Rathauses eine junge Frau zu, die gerade dabei war, das Gebäude zu verlassen. „Morgen wieder ab acht!“, sagte sie und eilte davon durch die Gassen der fremden Stadt.

„Aber …“ setzte Hertha an, ihr hinterherzurufen, ließ es aber dann, da sie sah, dass die Frau nicht reagierte. Wieder spürte sie ihre Wut. „Du bleibst bei Sophie“, sagte sie scharf zu Werner, und stieg die Stufen hinauf. Die Türe war verschlossen. Hertha klingelte, und es erschien ein blau uniformierter Amtmann mit eingefallenen Wangen. Der Mann musste mindestens siebzig Jahre alt sein und schaute sie mit großen, wässrigen Augen an. Dann erfasste sein Blick den Leiterwagen mit den Kindern.

„Verstehe schon“, sagte er, ohne dass Hertha auch nur ein Wort gesagt hätte. „Morgen wieder. Jetzt ist keiner mehr da“, nuschelte er mit einem milden Tonfall, der so gar nicht passen wollte zur abweisenden Botschaft.

Aber Hertha wollte nicht aufgeben. „Ja und wo sollen wir dann heute Nacht schlafen?“, fuhr sie den Alten an, der bereits wieder dabei war, hinter der schweren Türe zu verschwinden.

„Hier nicht,“ antwortete er, „Ihr müsst halt die Leut´ fragen.“

Kateryna

Spürt sich so der Frieden an? Kateryna wundert sich, als sie in die U-Bahn steigt. Die Menschen dort waren vollkommen entspannt und desinteressiert, tippten auf ihren Handys herum oder nestelten an ihren Gesichtsmasken. Kateryna hatte jetzt auch eine, sie war ihr gegeben worden, zusammen mit Wasserflaschen und eingepackten Broten, herausgereicht aus den Kisten, die unter der verdrehten Flagge gestanden hatten. Jetzt, hier in der U-Bahn wird Kateryna bewusst, dass niemand die kleine Gruppe auch nur zur Kenntnis nimmt. Hier ist es ganz normal, dass man mit Koffern, Taschen und zwei Kindern durch die Stadt fährt. Nicht der Rede, keines Aufblickens wert. So war es bei uns auch, denkt sich Kateryna, vor nur wenigen Tagen.

„Ich will mich setzen“, sagt Vlady und zerrt Mutter und Schwester auf eine der blau gepolsterten Sitzbänke. Kateryna hatte einen Zettel mit der Wegbeschreibung mitbekommen von der freundlichen jungen Frau, einer Jurastudentin aus ihrer Heimat, die im Westen studiert. Sie hatte ihr alles aufgeschrieben: sieben Stationen in der U-Bahn, dann auf der rechten Seite in die zweite Straße. Hausnummer 47, bei Hägele klingeln.

Wieder hört Kateryna den Luftalarm in ihrem Kopf, und wieder drängt sie den Gedanken zur Seite. Jetzt nicht, jetzt ist ein Moment des Friedens, der Ruhe hier in dieser Bahn, die fährt, und nicht als Luftschutzkeller herhalten muss. Kataryna schaut auf ihr Handy: keine neue Nachricht von Yegor. Gestern Abend hatte sie von ihm gehört, dass er sich der Bürgerwehr angeschlossen hat. Luftalarm heult durch Katarynas Kopf. Sie schüttelt ihn, sie will diese ständigen Geräusche herausschütteln aus ihrem Gehirn. Am besten hilft ihr dabei ein Blick auf ihre Kinder: Daria hatte in der Bahnhofshalle ein rosa Stoffschwein geschenkt bekommen, das sie fest an sich drückt. Vlady blättert in einem Comicbuch, dessen Text er allerdings nicht lesen kann.

Kateryna zählt die Haltestellen mit, fünfte – sechste – siebte, dann packt sie die Reisetasche und den Rollkoffer. Die Kinder schrecken auf. Als sie die Bahn verlassen, stolpert Daria über ihren eigenen Kinderkoffer; das plüschige Stoffschwein fällt zu Boden. Ein junger Mann, der einsteigen will, rettet die Situation.

Der beschriebene Weg ist kurz. Kateryna vergleicht die Klingelschilder in der ungewohnten Schrift mit dem, was auf ihrem Zettel steht: Hägele, richtig. Sie drückt den stählernen Klingelknopf und hört kurz danach das Surren des Türöffners. Vlady ist schneller als sie und drückt die Tür auf. Daria gähnt.

Hertha

Und so zog Hertha von Haus zu Haus. Die meisten Türen öffneten sich nicht, nicht auf ihr Klopfen und nicht auf das Ziehen einer Klingel. Sie meinte Blicke zu spüren, die sie und ihre Kinder durch angegraute Gardinen musterten. Brave Bürger, das hier alles, dachte sich Hertha und kämpfte ihre Wut nieder. Manchmal öffnete sich eine Tür, ein Schwall Essensgerüche quoll heraus, fettiges, billiges Essen, aber immerhin, heiß – aber dann nur ein Kopfschütteln, ein „Nein, bei uns nicht“. Hertha überlegte, ob sie versuchen sollte, ihre müden, obdachlosen Kinder mit der Legende von der Herbergssuche aus der Weihnachtsgeschichte bei Stimmung zu halten. Aber dann meldete sich wieder ihre Wut. Das hier ist keine Weihnachtsgeschichte, verbat sie sich jede Rührseligkeit, während sie mit ihren verstummten, müden, dreckigen, hungrigen Kindern im Schlepptau und ihrem rumpelnden Leiterwagen das nächste rechtschaffene Fachwerkhaus ansteuerte. Einen Stall würde ich auch nehmen, wütete Hertha in sich hinein, wenn sie hier nichts Besseres für mich haben.

Und nicht einmal einen Josef habe ich dabei, mein Josef ist irgendwo, vielleicht tot, vielleicht noch am Leben.

Es dämmerte schon, als sie die Klingel zog. Ein Scheppern im Hausinneren war zu vernehmen. Die Frau, die ihr öffnete war so alt wie sie selbst, trug eine bespritzte Schürze und hatte ein Kopftuch umgebunden. Sie hörte sich Herthas Geschichte immerhin an: Flüchtling aus dem Osten, keine Bleibe, wenigstens für eine Nacht, bis sie im Rathaus vorsprechen könne?

„Kommen sie rein“, sagte die fremde Frau. „Mögen die Kinder eine Milch?“

Kateryna

Auf dem Tisch steht eine dampfende Schüssel Nudeln. Ein großes Zimmer hatten die Hägeles freigeräumt für Kateryna, Vlady und Daria. Saubere Betten hatten gewartet, Spielzeug bereitgelegen. „Sie können hier erstmal bleiben“, versteht Kateryna das Englisch des Mann, der ihre Wassergläser füllt. Ein ältliches Faltengesicht hat er, mit schütterem grauem Haar und einem kurz gestutzten Bart. Die Namen ihrer Gastgeber hatte sie noch nicht richtig verstanden.

Nun ist seine Frau aus der Küche zu hören. „Unsere Kinder leben alle woanders“, übersetzt sich Kateryna den Sinn ihrer Worte, „wir haben genügend Platz.“ Frau Hägele ist klein und sehr schlank, eine in Würde und Wohlstand gealterte Dame, ihre grauen Haare hat sie zu einem Dutt über dem Kopf zusammengebunden. Kateryna schnappt einzelne Worte aus dem flüssigen Englisch zwischen dem Klappern und Scheppern aus der Küche auf, und enträtselt sie: „Schreckliches – Schicksal – Flucht – ich auch – als Kind“. Dann kommt ihre Gastgeberin mit der Soßenschüssel zum Esstisch. Kateryna spürt die hungrigen Blicke ihrer Kinder neben sich, die ganze Zeit schon hatten sie die dampfenden Nudeln angestarrt.

Als die Teller gefüllt sind, die Kinder mit dem Essen beschäftigt, fühlt Kateryna alle Ermattung, alle Mühsal, alle Hoffnungslosigkeit der letzten Tage. Sie ist müde, so müde, dass sie kaum etwas essen kann, und immer wieder drängen Bilder und Geräusche in ihren Kopf, die hier nicht hingehören. Das Sirenengeheul, der muffige Geruch aus dem Bunker, immer wieder das panische Gedränge am Bahnhof, der letzte Blick auf ihren Yegor. Wann wird sie ihn wiedersehen?

Sie schüttelt die Geräusche weg und schreckt dabei aus ihren Gedanken. „Ihr könnt mich Sophie nennen“, hatte die fremde Frau eben auf Englisch zu ihren verständnislos dreinschauenden Kindern gesagt und dabei mit beiden Händen auf sich selbst gezeigt: „Sophie!, Ich Sophie!“. Jetzt schaut sie Kateryna an: „Mögen die Kinder eine Milch?“

 

Es ist ein guter Zeitpunkt, sich jetzt mit den Hintergründen von Flucht und Vertreibung in Europa zu beschäftigen. Mich hat dabei auch der Besuch des Dokumentationszentrums dazu in Berlin inspiriert: https://www.flucht-vertreibung-versoehnung.de/de/home

 

In zwei weiteren Essays beschäftige ich mich als #Politikflaneur mit Erinnerungen und Erlebnissen rund um den Krieg in der Ukraine:

Waffen und Gewissen – Eine Selbstkritik

Der Krieg ist da – Eine politische Erzählung