St. Antonius zu Padua, Markgröninger Str. 35, 70435 Stuttgart-Zuffenhausen
Mein Besuch am 7. Februar 2024
Üblicherweise wird man sich dieser Kirche zu Fuß nähern durch enge, vollgeparkte Gassen, die den Blick auf den neoromanischen Bau erst wenige Meter vor dem Ziel preisgeben. Es ist ein prosaisches Vorstadtbild, in dessen Mitte diese Kirche des St. Antonius von Padua steht. Als Arbeiterviertel geprägt, heute durch Migration und bunte Vielfalt bereichert, duckt sich das Gewirr aus unterschiedlichsten Häuschen und Häusern den Hang entlang. Stuttgart-Zuffenhausen ist längst kein christlich geprägter Stadtteil mehr, hier sind die Christen längst in eine Minderheitenposition gerutscht.
Der Heilige St. Antonius von Padua (1195? – 1231), nach dem diese Kirche benannt wurde, passt bestens in dieses Bild. Ihm werden zahlreiche schützende und helfende Funktionen zugeordnet. So steht er gläubigen Menschen zur Seite, wenn sie etwas verlegt oder verloren haben (daher wird er im Bayerischen liebevoll als „Schlampertoni“ bezeichnet). Er war und ist den Armen zugewandt, er hilft bei der Partnersuche, um nur wenige Kompetenzen herauszugreifen, die dem historischen Franziskaner-Bischof zugeschrieben werden. Der Legende nach hörten ihm , obwohl er doch so redebegabt war, die Stadtbewohner von Rimini nicht zu, und so richtete er seine Predigt ersatzweise an die Fische im Mittelmeer , die ihm folgsam ihr Ohr schenkten. Gustav Mahler vertonte dieses Motiv durchaus heiter in seiner Vertonung des Liederzyklus von Clemens Brentano „Des Knaben Wunderhorn“.
Heute steht der schlichte, akkurat aufgeräumte Kirchenbau im strohtrockenen Zuffenhausen und wirbt in einer weltlich geprägten Zeit um Menschen, die zuhören. Die Legende von der Predigt an die Fischer ist ja nicht zuletzt eine Metapher dafür, dass es nicht immer die Worte sind, die das Leben ausmachen. So schweigt diese Kirche schlicht und still. Am Werktag hatte ich Gelegenheit, sie ganz alleine zu erleben, das Frühjahrslicht fällt durch schmucklose Fenster, der geschmackvoll zurückhaltend renovierte Innenraum atmet fromme Klarheit. Die Einrichtung ist symmetrisch geordnet. Es ist ein Raum der Ruhe in einer Zeit und an einem Ort, in dem die viele glauben, keiner Ruhe zu bedürfen, sie sich mehr ersehnen zu müssen, als gönnen zu dürfen.
Der junge Mann sitzt ganz hinten, ganz oben auf dem gestuften Podium, äußerste linke Ecke, und er liest. Er liest, während die Orchestermusiker nach und nach die Bühne füllen, während Streicher die schwierigsten Stellen noch einmal üben, während die Bläser ihre Backen aufblasen, dem Ton nachhören, der da zur Probe herausquillt aus Holz oder Metall.
Er liest noch immer, ganz teilnahmslos, als sich der Saal füllt, als neugieriges Publikum der Musik entgegenstrebt. Er liest auch dann noch, während das Orchester beim Stimmen den richtigen gemeinsamen Ton sucht. Dieser junge Mann muss nichts stimmen. Er blickt kurz auf, als der Dirigent beifallumrauscht das Podium betritt. Dann liest er weiter.
Erwartungsvoll beruhigt sich der Saal, ein letztes Rascheln, schuldbewusst geduckt huscht der notorische Trödler, der das Klingeln überhört hat, herein. Zur Aufführung kommt die 5. Sinfonie von Gustav Mahler, ein monumentaler Klangrausch, fast eineinviertel Stunden lang.
Sie beginnt mit der Trompete, und diese kündet militärisches Unheil. Der Trauermarsch hebt an. Was für ein gebrochener Trauermarsch ist das! Keine Kompanie der Welt könnte danach voranschreiten, sie müsste verharren im Selbstzweifel. Immer weniger rhythmisch, immer dissonanter verirren sich die Töne. Hören wir das schmerzhafte Weltgeschehen unserer Zeit, hören wir Mariupol, Charkiw oder Cherson? Es sind ernste Zeiten.
Welches Buch liest wohl der junge Mann ganz hinten?
Nun, im zweiten Satz, schwingen sich Mahlers Töne auf zu einer erschütternden Welterzählung von Stolz und Trotz, von Kraft und Niedergang. Zu hören sind Widerstreit und Kampf. Fort sind die Zweifel des fragilen Trauermarsches, jetzt wird gefochten! Ein wogendes Hin und Her durchwalkt das Orchester, die Celli geben den Ton an, hetzen zusammen mit den Bläsern die Töne in den Kampf, in eine existenzielle Auseinandersetzung. Aller Klang mündet in dissonant chaotisches Getümmel. Schon tönen erste Fanfaren, schon scheint die positive Energie der Töne die Oberhand zu gewinnen. Wird das schon der Sieg? Nein, dafür ist es noch zu früh. Mahlers Töne erzählen den ultimativen Durchbruch noch nicht, sie bleiben stecken in der Weite der Steppen und Felder, in der trostlosen Ebene dieser Schlacht. Ermüdet vom Stellungskrieg verlaufen sich die musikalischen Kampfmotive in der Weite, schrecken zurück vor der Größe ihrer Aufgabe, die Töne versickern im Boden, die Takte enden im Nichts. Es ist noch nicht so weit.
Das Publikum hüstelt, das Orchester atmet durch.
Den jungen Mann links oben geht das alles nichts an. Er liest.
Wer hält das aus, immer nur Streit, Kampf, Militär, Krieg, Waffen? Niemand. Es braucht auch Momente des privaten Glücks. Im dritten Satz flüchten sich die Töne bei Gustav Mahler ins Private. Ein wirbelndes sorgloses Tanzgeschehen entfaltet sich für die vom Kriegsgetümmel wunden Ohren der Zuhörer, ein fröhlicher Ländler, ein wild wirbelnder Walzer tränken das nach Harmonie dürstende Gemüt. Es ist ein Moment der Meditation. Wehmütige Lieder durchziehen die stille Weite der Musik, ein einsames Horn bläst in den Wald hinein, bringt die Ruhe der Abenddämmerung zum Klingen.
Der junge Mann links oben liest weiter.
Gibt es noch mehr auf dieser Welt als die Wahl zwischen Getümmel oder Rückzug? Ja gewiss, die Liebe. Gustav Mahler hat den vierten Satz seiner 5. Sinfonie als zartschmelzende Liebeserklärung an seine Frau Alma geschrieben. Im Saal zirpen die Harfen, säuseln die Streicher. Es ist schwebende, liedhafte Musik, und sie klingt im Pianissimo aus. Die schöne Alma verstand damals die Botschaft, und das Paar heiratete 1902 in Wien. Alma war 23 Jahre alt und damit 19 Jahre jünger als ihr weltberühmter Mann. Sie war eine geachtete Musikerin und seit Jahren eine von prominenten Künstlern umworbene Erscheinung der Wiener Kulturgesellschaft, hochgebildet und talentiert. Ohne die Begegnung mit Gustav Maher wäre sie vielleicht selbst eine berühmte Komponistin geworden. Der Meister fürchtete ihr künstlerisches Talent so sehr, dass er sich vor der Eheschließung von Alma versichern ließ, dass sie als seine Frau mit dem Komponieren aufhören würde. Alma fügte sich in dieses Schicksal, der Ehe taten solche Vorgaben erwartungsgemäß nicht gut.
Wie mag es um die Liebe stehen für den jungen Mann oben links?
Jetzt blickt er auf und hört hinein in die letzten verhallenden Töne. Dann blättert er lautlos um. Fast eine Stunde ist nun schon vergangen.
Nochmal hebt der Dirigent den Taktstock. Die Trompeten rufen zurück in den Kampf, verhalten noch am Anfang, aber dann steigert sich das musikalische Geschehen zum tosenden Finale. Vorbei ist die Phase des Privaten, vorbei das zerbrechliche Glück der Liebe. Jetzt geht es wirklich um den Triumph, die tönenden Soldaten ziehen hinaus und erringen den Sieg. Ihr dissonantes Schlachtengetümmel tobt mehr als zwanzig Minuten, schwillt ab und wieder auf, rennt an gegen die Bollwerke, die es zu überwinden gilt.
Dann ist die Entscheidung zum Greifen nah, die Widerstände erlahmen, alles geht über in ein sich ordnendes Zusammentosen der streitbaren Töne, es naht der ersehnte Gleichklang des Triumphs. Die Zuhörer halten den Atem an, weil sie wissen, dass jetzt gleich der finstere Krieg vorbei sein wird, dessen Zeugen sie hier sind. Dem ganzen Mühsal wird Jubel folgen.
Der junge Mann steht auf
Es ist dieser Moment kurz vor Schluss, in dem der junge Mann links oben das Buch zur Seite legt und aufsteht. Er greift sich einen bereitliegenden metallenen Schlegel und wippt sich hinein in den Takt der Musik. Noch ist er still, während das ganze Orchester walkt und tobt, der Dirigent die Streicher in den anschwellenden Klang peitscht, die Bläser fordert, die Celli und Bässe in ihren dunklen, sägenden Rhythmus treibt.
Der reguläre Schlagwerker des Orchesters, der sich nun schon seit mehr als einer Stunde neben seinem lesenden Kollegen abgemüht hat, die Trommeln des Trauermarsche geschlagen hat, mit Becken und Holzklappern dem Wirbel des Tanzes gedient und für den Rhythmus des Kampfes gesorgt hatte, greift nun, im Moment der anschwellenden Ekstase, zum Triangel. Sanft schlägt er es an, ganz sachte nur, und doch entlockt er damit diesem metallenen Dreieck, dem Mauerblümchen unter den Orchesterinstrumenten, das nur einen einzigen Ton erzeugen kann, genau diesen: ein erstes, hell glänzendes „Pling“. Sogleich erstirbt der Engelston wieder, aber ein weiteres zartes Anschlagen lässt es wieder aufleben, und dann noch einmal und noch einmal.
Es ist das Triangel, das die Musik glänzen lässt, das ein Glitzern in den Saal zaubert. Aber für Gustav Mahler war es noch immer nicht genug. Deshalb saß der junge Mann, ganz außen, links oben, die ganze Zeit bereit. Nun, dreißig Sekunden vor dem Ende des großen Werkes, greift er ein, er schlägt ein zweites Triangel an, wieder und wieder, und so glitzern sie doppelt, glasklar rein, winzig klein und doch strahlend hörbar im weiten Rund des Saales. Die beiden Triangel jubeln heraus zwischen Trompeten und Pauken, strahlen zwischen den Streichern und Bläsern, sie begleiten den Jubel des alles verschlingenden Schlussakkordes ins Ziel.
Dann ist Stille.
Der Beifall rauscht auf. Und er gilt auch dem jungen Mann links oben. Ein Mensch mit Geduld und Demut, einer, der sich nicht wichtig nimmt, und deshalb wichtig ist.
Das beschriebene Hörerlebnis war mir im Rahmen einer moderierten Probe gegönnt, die ich Anfang September 2022 im Haus der Rundfunks Berlin miterleben konnte. Es spielte das Radio-Sinfonie-Orchester Berlin unter Leitung von Vladimir Jurowski, der auch erhellende Erklärungen zu dem Werk gab, die ich verwendet habe.
Wer sich Mahlers Fünfte anhören möchte, kann das zum Beispiel hier tun (Luzern Festival Orchester unter der Leitung von Claudio Abbado, Aufnahme von 2004): https://www.youtube.com/watch?v=vOvXhyldUko . Im Netz sind zahlreiche Mitschnitte frei verfügbar. Man darf auch vor-scrollen auf die letzten Sekunden, um die beiden Triangel zu hören – zu sehen sind sie jedenfalls in dieser Aufnahme nicht nicht.
Dem Triangel und dem Schicksal der Triangel-Spieler im Orchester hat Georg Kreisler ein unvergessliches Lied der Wehmut gewidmet, das man nicht versäumen sollte: https://www.youtube.com/watch?v=deDqQn_x3sU
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