Uralt, und niemals fertig (#35)

Hoher Dom St. Martin, Markt 10, 55116 Mainz

Mein Besuch am 13. Juli 2022

Es gibt Kirchen, die beeindrucken mit ihrer schieren Größe, mit der Weite der Hallen, mit der himmelwärts strebenden Höhe ihre Säulen, die ein Dach tragen, das sich, dem Himmel gleich, unerreichbar über dem Besucher wölbt. Groß in diesem Sinne ist der Dom von Mainz auch, ein gewaltiges, verschachteltes Raumprogramm aus Lang- und Querhäusern, Seitenkapellen, Krypten, Nebengebäuden und einem Kreuzgang.

Geschichtsunterricht in Stein – das verspricht ein Besuch des Mainzer Doms. Man kann die Kirche aber auch als Symbol dafür erleben, dass sich Veränderung lohnt, wenn man standhalten möchte über ein Jahrtausend.

Aber groß ist diese Kirche vor allem durch seine buchstäblich ins Unbekannte zurückreichende Baugeschichte; erste Ansätze für ein Gotteshaus an dieser Stelle werden für das Jahr 400 n. Chr. vermutet; die „engere“ Baugeschichte dieser Kirche reicht mindestens bis vor das Jahr 1000 zurück. Seither ist dieses Gotteshaus in ungezählten Schritten verändert, umgebaut, erweitert worden, seine Ausstattung wurde dem jeweiligen Zeitgeschmack angepasst und wieder entfernt, der Bau war Opfer von Bränden, absinkendem Rheinwasser, Bomben. Wer den Dom von Mainz besucht, begibt sich in einen steinernen Geschichtsunterricht und kann dort Stunden verbringen, und wird doch immer wieder vor allem eines entdecken:

Dass wir alle Teil ständiger Veränderung sind, dass diese Kirche, so wie unsere ganze Welt,  niemals „fertig“ war oder sein wird, dass es immer weiter gehen kann, solange wir die Kraft aufbringen, das zu achten, was wir übernehmen, und es besser an diejenigen zu übergeben, die nach uns kommen.

So sollte es jedenfalls sein, ging mir durch den Kopf beim kühlen, dunklen Rundgang durch das Riesengebäude, beim Staunen über Jahrhunderte alte Altäre und Gräber, während darüber der Einbau einer hochmodernen, mehrteiligen, elektronisch gesteuerten Orgel vonstatten geht. Aber natürlich gibt es auch dazu keine Gewissheit; viele Kulturen sind einfach untergegangen, wurden dem Erdboden gleich gemacht.

Der Dom hier hat Stand gehalten über mehr als tausend Jahre. Die zwischen eigenem Versagen, historischer Schuld und grassierendem Materialismus zerbröselnden Kirchen  (jetzt die Institutionen, nicht die Gebäude) brauchen solche Symbole dringend, genauso wie eine Gesellschaft, die Gefahr läuft, vor den Herausforderungen von Klimakatastrophe, Wohlstandsgefährdung und kollabierender Welt- und Werteordnung zu kapitulieren.

Ihnen allen sagt dieser Dom: Veränderung lohnt sich, und der Lohn ist Beständigkeit im Vergänglichen.

 

Über den Dom St. Martin in Mainz gibt es ganze Bücher. Eine gute Zusammenfassung der Baugeschichte fand ich hier: https://bistummainz.de/dom-mainz/bauwerk/architektur/

Nach dem Besuch des Mainzer Domes habe ich einen Spaziergang bis St. Stephan gemacht, eine Kirche, die mich mit der Pracht ihrer Kirchenfenster (z.T. von Marc Chagall) tief beeindruckt hat: https://vogtpost.de/sankt-stephan-mainz/30/07/2022/; weitere persönliche Eindrücke von Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier. 

 

Ein Farbeindruck von magischer Fülle (#34)

St. Stephan, Kleine Weißgasse 12, 55116 Mainz

Mein Besuch am 13. Juli 2022

Es war ein strahlender, heißer Sommertag, an dem  ich durch Mainz vom „Kaiserdom“ hinauf zu St. Stephan ging, und als ich dann die Kirche betrat, waren es die Fenster, nur das blaue Licht der Fenster, die mich empfingen. Blau sei eine „kalte Farbe“ heißt es ja immer; ich konnte mit dieser Kategorie noch niemals viel anfangen. Bei 35 Grad draußen jedenfalls war jede Form von Kühle willkommen, und die vollständig in blau getauchte Kirche kam gerade recht.

St. Stephan in Mainz: Detail aus einem der Chagall-Fenster

Ein Zeichen der jüdischen Versöhnung mit Deutschland wollte der aus einer orthodox-jüdischen Familie stammende Künstler Marc Chagall (1887 – 1985) setzen, in dem er sich in seinen späten Jahren bereiterklärte, für St. Stephan in Mainz Kirchenfenster zu gestalten. Es blieb die einzige Kirche in Deutschland, die eine solche versöhnende Auszeichnung erhielt, überhaupt das einzige Bauwerk unter Beteiligung Chagalls auf deutschem Boden. Nach dem Holocaust hatte sich der Künstler von Deutschland abgewandt. Dem Mainzer Pfarrer Klaus Mayer, selbst Sohn eines jüdischen Kaufmanns und der Vernichtung durch die Nationalsozialisten nur knapp entkommen, war es zur allgemeinen Überraschung gelungen, den berühmten Künstler doch noch  für sein Gotteshaus zu gewinnen. Chagall zeichnete die Entwürfe für neun Fenster in Mainz. Die letzten davon wurden im März 1985 eingebaut, kurz nach seinem Tod. Damit ein gläsernes Gesamtkunstwerk entstehen konnte, fehlten allerdings noch mehr als 200 Quadratmeter Glasfläche. Diese füllte Chagalls Freund und Leiter der Glaswerkstätte in Reims, Charles Marq, wo auch schon die Chagall-Fenster entstanden waren. Die letzten Fenster von Marq wurden im Jahr 2000 eingebaut.

Eine Kirche in blau: St. Stephan ist ein gläsernes Gesamtkunstwerk, ein magisches Lichtspektakel.

Entstanden ist ein überwältigender Lichteindruck, der die restliche Kirche überstrahlt. Mit einigen Tagen Abstand habe ich kaum noch eine andere Erinnerung an diese Kirche als das Licht, das blaue Licht, ein Farbeindruck von magischer Fülle. Wie mag sich diese Kirche am Abend anfühlen, oder wenn es draußen regnet? Ich werde wiederkommen müssen.

 

Gut zusammengefasste Informationen zu St. Stephan finden Sie auf der Webseite der Kirchengemeinde: https://bistummainz.de/pfarrei/mainz-st-stephan/chagall-fenster/kirche/

… und über das wechselhafte Leben des Künstlers Marc Chagall u.a. bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Marc_Chagall

Mehr Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier, auch über den Dom St. Martin in Mainz.