Verhüllter Triumph (30. September 2021)

 

Was ist große Kunst? Die Mona Lisa, vielleicht das berühmteste Kunstwerk der Welt, ist nicht sehr groß. Nur 53 auf 77 Zentimeter misst das Gemälde mit dem rätselhaften Lächeln der heiteren Florentiner Schönheit. Viele Menschen, die sich oft stundenlang angestellt haben, nur um das Gemälde im Original zu sehen, sind überrascht, dass es so klein ist. Die Mona Lisa hängt im Pariser Louvre, nur wenige hundert Meter entfernt vom Triumphbogen. Um 1500 gemalt, ein Lächeln von genialer und rätselhafter Tiefe, zeitlos schön. Ein kleines Bild, aber große Kunst!

Flugzeuge haben ihn schon durchflogen

Der Arc de Triomphe ist groß. Fast fünfzig Meter ragt er in den Himmel, und fast genauso breit umspannen seine mächtigen Pfeiler einen neun Meter breiten Bogen. Als prächtiger Solitär überragt er die Straßen von Paris, die sich um ihn herum verknüpfen in dem vielleicht schönsten Kreisverkehr der Welt. Nach antikem Vorbild vom selbsternannten Kaiser Napoleon initiiert, aber erst lange nach seinem Tod fertiggestellt, wurde er größer als alle seine Vorbilder und Nachahmer. Sogar mit Flugzeugen hat man den Bogen bereits durchflogen. Siegestrunken hindurchmarschieren kann man schon seit dem Ende des 1. Weltkrieges nicht mehr, denn dort ist das Grab eines unbekannten Soldaten platziert – ein prominenter Gedenkort für alle Grauen der Kriege.

Man könnte mit der Metro hinfahren, aber schöner ist, sich dem Bogen des Krieges zu Fuß zu nähern, die lange Achse der Champs-Élysées entlang, mit lustvollen Abstechern hinein in das berauschende Grün der Tuilerien, hindurch durch die stillen Gärten entlang der lauten Straße, mit Rast in den Cafés der Avenue. Es geht sanft aufwärts, und stets hat man den Bogen im Blick, wenn auch meist nur zu Hälfte. Um ihn in ganzer Größe näherkommen zu sehen, muss man eine der knappen Rotphasen der Ampeln abwarten, die mit Zauberhand das mörderische Gedränge und Gehupe des Verkehrs aufhalten. In der Mitte des Boulevards kann man endlich einen Blick erhaschen auf den Triumphbogen in seiner ganzen Breite.

Ein ungeschliffen-matter Diamant

Tausende Menschen hasten oder schlendern oder fahren täglich auf diesem Weg unter den Bäumen entlang. Auch für den #Kulturflaneur ist es nicht das erste Mal. Doch in diesen Tagen ist vieles anders. Der Bogen ist verändert, das Ziel dieser Straße, das Riesenbauwerk der Siege und Kriege, es glänzt silberbläulich daher, funkelt im Sonnenlicht wie ein ungeschliffen-matter Diamant, und ist doch unverkennbar geblieben in seinen Konturen. Weithin sichtbar: Große Kunst.

Über fünfzig Jahre hat das Künstler-Ehepaar Christo und Jeanne Claude daran gearbeitet, dieses Kunstwerk zu schaffen. Es galt, einen ganzen Staat zu überzeugen. Der Triumphbogen ist ein nationales Symbol, mehr noch: Ein Mahnmal für Frankreichs Größe und Demut zugleich. Auch ein Vergleich mit dem Berliner Reichstagsgebäude hinkt: Zum Zeitpunkt seiner Verhüllung im Jahr 1995 durch das inzwischen in Amerika lebende Künstlerpaar war der Bau eher Symbol der fragwürdigen deutschen Geschichte. Erst heute, nach seiner klugen Neuerfindung durch Norman Foster, und seit dort der demokratisch gewählte deutsche Bundestag residiert, streitet und entscheidet, hat er vielleicht die Chance, einmal ein nationales Symbol für unseren Stolz auf Demokratie zu werden.

Der Arc de Triomphe ist für die Franzosen schon heute vollkommen unumstritten ein Ort des Nationalstolzes. Hier wurden Sieger geehrt, hier marschiert jährlich die Militärparade vorbei, hier färben Flugzeuge den Himmel in Blau-weiß-rot. Hier wurde auch Victor Hugo aufgebahrt, hier feierten Millionen Franzosen ihre Fußball-Weltmeistertitel, hier endet jedes Jahr die Tour de France. Der Triumphbogen steht für die Nation, und deshalb versammelten sich hier auch die Gelbwesten zum Protest, fügten ihm Schäden zu; aber sie aktivierten in der Protestbewegung auch Kräfte, die das Grab des unbekannten Soldaten schützten gegen die Randale anderer. Gelbwesten bildeten unter dem Bogen einen Schutzwall gegen andere Gelbwesten.

Nichts mehr zu sehen von den Namen und Orten der Siege

Marianne als Kriegsgöttin (fotografiert im Museum)

Da steht er nun, silberblau glänzend, verhüllt. Nichts mehr zu sehen von den mehr als 600 Namen französischer Generäle, von den Orten der 150 gewonnenen Schlachten, von den heroischen Darstellungen des Soldatenschicksals. Nichts mehr zu sehen von den Reliefs. Vom schreiend-fordernden Gesichtsausdruck der wie eine Kriegsgöttin inszenierten Marianne, die den unbekleideten jungen Mann mit Wucht in das Soldatendasein treibt. Alles verdeckt. Nur die Flamme am Grab des unbekannten Soldaten, die brennt auch unter der silbernen Stoffkuppel weiter, mittendrin in diesem Trubel von Menschen, die sich auf der verkehrsumtosten Insel versammelt haben, den Kopf im Nacken, um die schiere Größe dieses Werkes zu erfassen, Abstand gewinnend, den Silberstoff und die roten Seile betastend. Große Kunst, ganz nah.

Was es braucht, damit große Kunst Wirklichkeit wird

Unter dem Silberbogen ist der richtige Platz, um über Größe und Kunst nachzudenken. Über die enorme Kreativität und den unfassbaren Mut, die Kunstschaffende jeden Tag aufbringen, um unsere Welt reicher zu machen. Über die Beharrlichkeit und Überzeugungskraft, die es braucht, damit aus einer kühnen Idee Wirklichkeit wird. Über den Mut einer Gesellschaft und ihrer Verantwortlichen, all das zu ermöglichen. In diesem Fall bedeutete das immerhin, vorübergehend unsichtbar zu machen, was für ihre Nation steht, und es damit noch fester zu verankern in der Welt. In anderen Fällen sind es andere Bedingungen – Geld, Räume, Toleranz -, die Kunst ermöglichen. Über die Professionalität und Behutsamkeit, die gefragt ist, damit dabei nichts zu Schaden kommt: nicht der nationale Stolz, nicht das Bauwerk, nicht die Umwelt, nicht seine Besucher. Und auch nicht die künstlerische Idee selbst, die nicht untergehen darf im Sog zur kommerziellen Vermarktung. Ja, dies hier ist ein Event, aber auch ein Triumph des Geistes, der Kultur, der Kunst in großer Vollendung: prächtig, strahlend, für sich selbst sprechend, kostenlos für alle.

Und dann wendet man sich ab, umrundet noch einmal dieses silberne Spektakel und biegt schließlich ein in eine der vielen einladenden Straßen, zurück ins urbane Getümmel, hinunter zur Seine. Der verhüllte Bogen bleibt zurück. Nur noch wenige Tage, dann wird er wieder so aussehen wie zuvor, die Siege lesbar, die Kriege sichtbar. Aber die Verhüllung wird bleiben in unseren Köpfen, bricht den Blick auf das Eindeutige für immer. Große Kunst.

 

 

Die eindrucksvolle Geschichte des Pariser Triumphbogens ist aufgearbeitet in einer sehr informativen Dokumentation von Arte: https://www.arte.tv/de/videos/096305-000-A/der-pariser-triumphbogen/