Die Geschichte der unglücklichen Effi beginnt wie jede Geschichte im Leben mit ihren Eltern. Eine streng-protestantisch gradlinige Mutter, durchaus liebevoll, aber auch voller klarer Prinzipien. Immer weiß sie ganz genau, worum es geht, hat Effi fromm und wohlbehütet aufgezogen, und sie ist sich auch ganz gewiss, dass eine gute Heirat das Ziel für Effi sein muss; eine Heirat, die standesgemäß nach oben weist, jedenfalls nicht nach unten. Effis liberal-konservativer Vater, stolzer, kleiner Landadel, hat Effi aus freundlich-väterlicher Distanz auch immer sehr geliebt, aber Erziehung und Lebensplanung der Tochter doch weitgehend seiner Frau überlassen. Und so heiratet Effi, noch ein Kind, den ersten Mann, der ein Auge auf das schöne Mädchen geworfen hatte, viel zu alt, viel zu steif, kein Mann für eine Siebzehnjährige. Effi wird Mutter, lebt unglücklich, verliebt sich zum ersten Mal im Leben wirklich … nun, das geht nicht gut aus.
Nachdem das Schicksal zugeschlagen hat und nichts mehr zu retten ist für Effi, fragt Mutter Luise ihren Mann das, was sich alle Eltern fragen, wenn die Entwicklung ihrer Kinder nicht so verläuft, wie gewünscht. „Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen?“ – sprich: besser erziehen? Der altersmilde Vater Briest antwortet mit einem Satz, der zum Standard für das Ausweichen und Herumlavieren in der deutschen Sprache geworden ist: „Ach, Luise, lass – das ist ein zu weites Feld …“.
Längst hat es jeder kundige Leser erkannt und sich an seinen Deutschunterricht erinnert: Es geht um Effi Briest, die bekannteste Romanfigur von Theodor Fontane. Fontane lebte in Berlin, als er im Jahr 1894 Effi zum literarischen Leben erweckte. Bis heute ist das Buch eine Mahnung, welches Unglück über Frauen kommen kann, wenn sie ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen, und zwar definitiv auch dann, wenn sie es „gut meinen“. Denn alle in diesem Roman meinen es „gut“ mit Effi. Aber ihre Freiheit haben sie nicht im Sinn.
Es gibt immer viele Wahrheiten
Zur Zeit der Veröffentlichung dieses großen deutschen Gesellschaftsromans war die freie und weite Fläche des späteren Flughafens Berlin-Tempelhof noch Militärgelände, geeignet für preußische Schießübungen und erste fliegerische Experimente. Fontane hatte sicher nicht dieses weite Feld im Sinn, als er dem alten Vater Briest die berühmten Worte in den Mund legte. Er meinte es sinnbildlich: Es ist eben oft unklar, was richtig und was falsch ist. Es gibt viele Wahrheiten, und alle haben ihre Berechtigung. Wer also will festlegen, was gewesen wäre, wenn …?
Was wäre gewesen, wenn …?
Was wäre denn gewesen, wenn die Nationalsozialisten nicht für ihren Berliner Zentralflughafen diesen gigantischen Betonbau, mit 1,2 Kilometern noch immer eines der längsten Gebäude Europas, errichtet hätten; ein Bau, der jeden, der an ihm entlangschreitet, klein und unbedeutend macht im Angesicht seiner schieren Größe? Wenn der letzte NS-Kommandant des Tempelhofer Flughafens 1945 nicht lieber sein Leben selbst beendet hätte, statt die von den totalen Kriegern bereits angeordnete Sprengung der Riesengebäudes zu vollziehen? Wenn die sowjetischen Truppen, die das von Bombenkratern übersäte Areal dann eroberten, Flughafen Tempelhof nicht absprachegemäß an die nachrückenden Amerikaner übergeben hätten? Wenn die West-Alliierten nach der Blockade Berlins 1948/49 nicht mit Hilfe dieses Flughafens die Luftbrücke zur Versorgung der eingeschlossenen Stadt sichergestellt hätten, was jedenfalls die damaligen Westberliner als nichts anderes erlebt haben als die Gewährleistung ihrer eingeschlossenen Freiheit?
Dann kam die deutsche Wiedervereinigung, und Berlin hatte plötzlich drei Flughäfen. Tempelhof wurde 2008 als Flughafen geschlossen, schöner Bau hin oder her. Was wäre passiert, wenn die Berliner Bürger danach in einer Volksabstimmung anders entschieden hätten, als sie es taten – nämlich nicht, dass dieses Riesenareal frei bleibt, weitgehend so, wie es ist? Weltweit exotisch war und ist die Idee ja nun wirklich, einen geschlossenen Flughafen, fast so groß wie 50 Fußballfelder, für alle zu öffnen zum Rumlaufen und Radeln, zum Skaten und Surfen, aber nicht für Flugzeuge. Was wäre, wenn das anders gewesen wäre?
Weite ist ein Glück
Ein weites Feld! Müßig, darüber nachzudenken. Denn es kam so, wie es jetzt ist, und deshalb kann der Flaneur einen halben Tag hindurchschreiten durch diese einladende, verlockende, weite Ödnis, einmal die kilometerlange und fünfzig Meter breite Hauptlandebahn entlang. Weite ist ein Glück, das der Glückliche spüren kann am breiten Nordseestrand bei Ebbe. Oder beim Blick aus dem Flugzeugfenster über den Wolken, wo die Freiheit – so der berühmte Liedtext eines anderen Berliners – wohl grenzenlos ist. Oder auf diesem Feld, wo jeder, der oder die es möchte, die in der Weite geronnene Freiheit mitten in der Stadt spüren kann.
Es ist die Freiheit der Feldlerchen, deren Gezwitscher in der Mitte dieses weiten Feldes das ewige Lied des Windes übertönt. Es ist die Freiheit der Füchse, der Schmetterlinge und Käfer und allen anderen Getiers, das sich den weiten Raum mitten in der Stadt erobert hat. Es ist die Freiheit der Rennradler und Inliner, die jetzt auf dem Asphalt für Flugzeuge ungestört eine Runde nach der anderen drehen können. Die Freiheit des Gitarrenspielers, der auf einer Bank ein Konzert für sich selbst gibt. Die Freiheit der Jongleure, die nur für sich erproben, ob ein Kegel fällt. Die Freiheit der Skater, die spüren, dass ihre Räder sie nach überall hintragen können. Die Freiheit der Sonnenanbeter, der Quatschrunden, der Griller, der Drachenfreunde, der Urban-Gardeners, der Hippies. Es ist die Freiheit für jeden, niemandem in die Quere zu kommen, immer ausweichen zu können, weil die Weite es erlaubt. Es ist die Freiheit der Weite, die still macht und doch auch mutig genug, laut zu schreien.
Bäume an der Landebahn?
Wer diese Freiheit im steten Windhauch auf dem Tempelhofer Feld spürt, wird es vielleicht doch Vater Briest gleichtun und sich in „beständige Zweideutigkeiten“ flüchten, in immer relativierende Unbestimmtheit. Es ist eben ein weites Feld. Ja sicher, auch die Freiheit auf dem Tempelhofer Feld hat ihre Regeln, aber wer sollte sie hier kontrollieren oder durchsetzen? Ganz gewiss hätte man da auch ein paar tausend Wohnungen am Rand bauen können, wenn doch die Wohnungsnot so groß ist in Berlin? Und könnte man nicht wenigstens in der Mitte dieses Riesenfeldes einen Getränkekiosk, eine Toilette schaffen? Bräuchte man nicht mehr Bänke? Wären ein paar Bäume in dieser schattenlosen Wüste nicht eine Wohltat? Aber auf welchem Flughafen stehen schon Bäume an der Landebahn? Könnte man alles machen, aber immer spricht auch etwas dagegen. Dieses Feld haben die Berliner sich selbst übereignet, und damit ihrer Freiheit ein eindrücklicheres Denkmal gesetzt als manches andere in dieser an Denkmälern wahrlich nicht armen Stadt.
Ach, es ist ein weites Feld …
Wikipedia über das Tempelhofer Feld und seine Geschichte: https://de.wikipedia.org/wiki/Tempelhofer_Feld
Wikipedia über den Roman Effi Briest: https://de.wikipedia.org/wiki/Effi_Briest
Die Idee, den Romantext „Ein weites Feld“ mit dem Tempelhofer Feld zu verbinden, verdanke ich der Ankündigung einer inzwischen nicht mehr verfügbaren Ausstellung im ehem. Flughafen Tempelhof über seine Geschichte. Vielen Dank dafür!
Theodor Fontane
Überlaß es der Zeit.
Erscheint dir etwas unerhört,
Bist du tiefsten Herzens empört,
Bäume nicht auf, versuchs nicht mit Streit,
Berühr es nicht, überlaß es der Zeit.
Am ersten Tage wirst du feige dich schelten,
Am zweiten läßt du dein Schweigen schon gelten,
Am dritten hast du’s überwunden;
Alles ist wichtig nur auf Stunden,
Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,
Zeit ist Balsam und Friedensstifter.
Halte dich still, halte dich stumm,
nur nicht forschen warum? warum?
Nur nicht bittre Fragen tauschen,
Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen-
Wie’s dich auch aufzuhorchen treibt,
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt.
(Theodor Fontane)