Die junge Frau sitzt im Regionalzug. Der Schaffner pfeift, und der Zug setzt sich in Bewegung. Sie blickt aus dem Fenster und beginnt zu summen. Im Zug herrscht Unsicherheit. Was ist denn das für ein Verhalten? Kinder kichern, Erwachsene drehen sich um. Aber die Melodie steckt an und überwindet die anonyme Stille der zufälligen Fahrgemeinschaft. „Wir machen Musik“, nehmen die ersten das Summen auf – „da geht Euch der Hut hoch, da geht Euch der Bart ab!“ Bald gesellen sich immer mehr mutige Singende dazu. „Do – re – mi – -fa – so …“, der ganze Zug füllt sich mit der geträllerten Tonleiter. Als die singende Reisegesellschaft ankommt und aussteigt, gesellen sich Blechbläser dazu, die Rolltreppe im Bahnhof rollt plötzlich wie im Rhythmus des Ohrwurms, noch mehr Menschen schließen sich an, umstellen ein plötzlich auftauchendes Schlagzeug. Junges Volk nimmt Videos auf und verschickt Fotos, Bürovolk schwingt die Aktentaschen und Shopping-Aktive singen mit, es wird getanzt im Takt des Liedchens. Schließlich marschiert ein ganzer Spielmannszug herbei und trötet ohrenbetäubend das Lied von der Musik. Ein ganzer Bahnhof voller Klänge! Dann ist es vorbei – und die zufällig zusammengewürfelte Menge spürt das Glück des gemeinsam erlebten Moments, das Lächeln, das Aufatmen des Gelingens. Es wird geklatscht, und dann zerstreut sich die Musikgemeinde so unvermittelt, wie sie sich gefunden hatte.
Der Flashmob wurde 62000-mal geklickt
Was hier erlebt wurde, war jener Wimpernschlag, in dem wir den Ball im Tor liegen sehen; diese Sekunde, in der wir erkennen, dass ein sehnlich erwarteter Mensch aus dem Zug steigt. Oder eben jener Augenblick, in dem eine gemeinsam erlebte musikalische Anstrengung im Schlusston ausklingt und wir wissen, dass dieses eine Glück von Musik unwiederbringlich vorbei ist. Wir gehen wieder den Weg unseres Alltags, aber wir sind für eine wertvolle, schwebende Lebenssekunde verändert, beglückt, bereichert. Und wir wissen: Es könnte wieder so sein, wieder ein Tor fallen, wieder ein Mensch kommen, wieder Musik entstehen.
Man kann sich diese Szene in einem kurzen Film auf Youtube ansehen. Ganz so zufällig, wie es wirkt und klingt, entstand der Flashmob natürlich nicht. Es gehört viel Organisation und Mut dazu, so ein Ereignis zu ermöglichen und festzuhalten. Mehr als 62.000-mal wurde das das Filmchen schon angeklickt, Menschen haben vielleicht gelächelt, mitgesummt, und sind dann wieder zu ihrem Alltagsleben zurückgekehrt.
Das Glück der Musik ist täglich milliardenfach mitzuerleben auf dieser Welt, im Internet, im Konzertsaal, auf Festivals, in der Oper, in jedem Wohnzimmer. Warum also diese Zeilen über dieses eine Video?
Wie entsteht kulturelle Attraktivität im ländlichen Raum?
Der Anstoß für den Flashmob am Stuttgarter Hautbahnhof kam aus tiefster Provinz, wurde hineingetragen in das Zentrum einer Großstadt, die sich selbst als Kulturmetropole versteht, die Straßenmusiker und Bandkultur ihr Eigen nennt, stolz ist auf mehrere Orchester und eine zwar renovierungsbedürftige, aber geliebte und künstlerisch anerkannte Oper. Es fehlt nicht an Musik in Stuttgart. „Do-re-mi-fa-so …“ – die Idee zu einem Flashmob am Hauptbahnhof kam trotzdem von außen, nämlich aus dem äußersten Osten Baden-Württembergs, von der Kapfenburg. Das mittelalterliche Schlossgemäuer oberhalb des Ortes Lauchheim im Ostalbkreis hat schon Kreuzritter, Bauernkriege und Plünderungen erlebt, war nationalsozialistisches Schulungszentrum, beherbergte Vertriebene und amerikanische Soldaten. Seit zwanzig Jahren ist die Kapfenburg nun Musikschul-Akademie und Kulturzentrum, und hält in der Provinz, fernab von München, Stuttgart oder Nürnberg, die Kultur hoch. Die Burg ist Gastgeber für Musikerinnen und Musiker aller Art und aus aller Welt, kümmert sich um deren Gesundheit und sorgt für attraktive Konzerte.
Wie kulturelle Attraktivität entsteht im ländlichen Raum, das ist hier zu besichtigen. Sie entsteht nicht durch ständiges Jammern und Wehklagen, und auch nicht dadurch, sich mit eitlem Mittelmaß zufrieden zu geben. Sie entsteht, wenn engagierte Menschen ein Netzwerk knüpfen, mit größter Disziplin einen Betrieb am Laufen halten, dessen Professionalität es mit jedem großstädtischen Kulturbetrieb aufnehmen kann. Sie entsteht, wenn deshalb attraktive Künstler den Weg in die abgelegene Kapfenburg finden. Kultur auf dem Land kann wachsen, wenn politisch Verantwortliche den Mut haben, musikalische Experimente wie ein Konzert für hupende Autos oder den Guinness-Eintrag der Burg als größtes Saiteninstrument der Welt zu unterstützen, und alle Verantwortlichen dabei doch immer nach künstlerischer Ernsthaftigkeit suchen.
Hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt
Wer durch die Innenhöfe hinaufsteigt auf die Kapfenburg, spürt genau das: Aus allen Räumen kommen Klänge der heiteren Ernsthaftigkeit, – do-re-mi-fa-so … – hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt, gelacht und verzweifelt. Hier wurde ein vom Verfall bedrohtes Schloss nicht nur für ein Festival einmal im Jahr aufgehübscht, sondern wurde etabliert als begehrtes Ziel von Musikfreunden, Laienmusikern, Musikschülern und ihren Unterrichtenden das ganze Jahr über. Ein ständiger Flashmob! Wer einmal dort war, nimmt diese Klangwolken des musikalischen Glücks für immer mit – … la-se-do. Sie lassen uns davon träumen, auf einer Tonleiter in den Zug des Alltags zu steigen, und mit allen anderen ganz einfach Musik zu machen.
Der Film zum Flashmob am Stuttgarter Hauptbahnhof auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=vtpRUfEge3U
Die Website der Musikakademie Schloss Kapfenburg: https://www.schloss-kapfenburg.de/