Die charmante Ambivalenz des Deutschen

Historische Ermittlungen eines Nichtextremisten

Man dürfe den Stolz auf das Deutsche nicht den Rechtsextremen überlassen, hatte der Nichtextremist gehört und als überzeugend empfunden. Nur: Was alles ist „das Deutsche“, auf das er stolz sein darf?

Der Stolz der Deutschen? Die traurigen Reste der „Siegesallee“ von Berlin, jetzt als Dauerausstellung in der Zitadelle Spandau.

Die Sprache sei es, hatte Ludwig I., König von Bayern, festgelegt, als er den Anstoß gab zu dem Bau, zu dem es nun gilt, sich im kalten Frühlingswind über 479 Stufen heraufzuquälen. Das Deutsche, das ist vielleicht der Kyffhäuser, das ist Weimar und Heidelberg, Neuschwanstein und der Kölner Dom, und auch dieser Ort: Ein Tempel als geistige Weihestätte für die großen Denker und Helden, die dem Deutschen über Jahrhunderte ihr Gepräge gaben.

Die „Walhalla“ sollte Deutschland gehören, aber Bayern gibt sie nicht her

Der Tempel heißt „Walhalla“ und steht seit 1842 in Ostbayern hoch über der Donau, nahe bei der mittelalterlichen Großstadt Regensburg. Ein bisschen sieht er aus wie die berühmte Akropolis von Athen, nur gänzlich unversehrt. Der säulenumstandene Bau ist auch nur knapp zweihundert Jahre alt, noch dazu hat ihn vor nicht allzu langer Zeit die bayerische Staatsregierung gründlich renovieren lassen. Dem Freistaat gehört die Walhalla, was eine Erwähnung wert ist. Der stiftende König, trauernd über die das Deutsche trennenden Spaltungskriege Napoleons, hatte einst anderes verordnet. Der Tempel solle einem „deutschen Bund“ gehören, wenn er wieder erstünde. Das hätte sich seither mehrfach so eingestellt, zuletzt nach dem 3. Oktober 1990, aber die Bayern haben die Walhalla immer behalten wollen, und die Bundesregierung hat bis heute andere Sorgen.

Der Stolz der Deutschen? In der „Walhalla“ bei Regensburg blicken 132 Büsten auf den Betrachter herab.

Wenn der Nichtextremist in seiner körperlichen Begrenztheit die Treppe endlich hinter sich gebracht hat und schnaufend die mit rotem Marmor ausgekleidete große Halle betritt, dann wartet der ungebrochene Stolz des Deutschen auf ihn. 119 Männer und nur 13 Frauen, die sich in deutscher Sprache unsterblich gemacht haben durch herausragende Leistungen der Staatskunst, der Wissenschaft oder der Künste blicken stumm auf ihn herab. Von mittelalterlichen Königen und Kaisern, von Barbarossa bis zum alten Fritz, von Luther bis Konrad Adenauer, von Goethe und Schiller bis Sophie Scholl – sie alle sind hier als Marmorbüsten verewigt.

Währt wahrer Ruhm wirklich ewig?

Da schlurft er also entlang, der dem Deutschen zugewandte Nichtextremist, ein Durchschnittsmensch in Freizeitkleidung und praktischem Schuhwerk, schlendert entlang an dieser übermächtigen nationalen Ahnengalerie, duckt sich weg unter dem Druck der Geschichte, der Last von Verantwortung und Wissen, von Mut und Demut und Übermut, eingeschüchtert vom dröhnenden Schweigen dieser verewigten Matadoren des Deutschen.

Verewigt! Währt wahrer Ruhm wirklich ewig? Viele in den Büsten Abgebildete sind längst weitgehend vergessen, und ohne scheuen Blick auf den Museumsführer oder in das allwissende Netz entschlüsselt sich oft ihre historische Bedeutung nicht. Der Ruhm verblasst. Immerhin gab es in der Walhalla seit ihrer Eröffnung noch nie die Not, eine Büste wieder entfernen zu müssen. Als Adolf Hitler im Jahr 1937 dorthin kam, um das Marmor-Ebenbild des von ihm verehrten Komponisten Anton Bruckner zu enthüllen, mag er gewiss gehofft haben, einst selbst hier gemeißelt herabzublicken. Aber die bis heute gültige, kluge Regel, dass man mindestens zwanzig Jahre tot sein muss, um überhaupt in die Erwägung einer Aufnahme in den Ehrentempel gezogen zu werden, schützt vor vorschneller Ehrung, die man dann später peinlich korrigieren müsste.

Die Walhalla stand schon sechzig Jahre, als der deutsche Kaiser Wilhelm II. eine ähnliche Idee für Berlin hatte. Er verfügte im deutsch-nationalen Siegesrausch nach dem gewonnenen Frankreich-Krieg von 1870/71 den Bau einer „Siegesallee“ quer durch den Tiergarten. 32 Denkmalgruppen wurden dafür flugs gemeißelt und innerhalb von sechs Jahren entlang eines Prachtboulevards aufgestellt.

Schon bald wurde die Siegesallee als „Puppenallee“ verspottet

Aber die Welt ist ungerecht. Während die bayerische Walhalla alle Unbill der nachfolgenden Geschichte weitgehend unbeschadet überstand, war der von der Berliner Bevölkerung schon bald als „Puppenallee“ verspotteten Siegesallee nur eine kurze Lebensdauer gegönnt. Diese Figuren hatten es schwer: Sie standen inmitten des Tumults der deutschen Reichshauptstadt im Freien und nicht in der Provinz gut geschützt im Tempel oberhalb der Donau. Schon zwanzig Jahre nach ihrer Fertigstellung, während der unruhigen Wochen der deutschen Novemberrevolution 1918, wurden sie rüpelhaft beschädigt und beschmiert. Dann standen sie den Plänen der Nationalsozialisten im Weg, was aus heutiger Sicht eine Ehre ist. So wurden die Skulpturen der Siegesallee zu Verlierern der Geschichte, umgesetzt, im Krieg erneut beschädigt und schließlich auf Kommando der Alliierten ganz abgeräumt und zum größten Teil im Park vergraben.

Wahrer Ruhm währt ewig? Das Kopf des gefallenen Lenin-Denkmals von Friedrichshain (Zitadelle Spandau) …

Dreißig Jahre später, 1978, machten sich Denkmalfreunde daran, die alten Figuren auszugraben oder zusammenzusammeln, soweit sie noch auffindbar waren. Und so stehen heute Teile der Siegesallee wieder, wenn auch nicht mehr im Zentrum Berlins, sondern am äußersten Rand der Bundeshauptstadt. In die Zitadelle von Spandau, durch den ersten Hof und dann nach rechts in das „Proviantmagazin“, dort durch die Stahltür – und da sind sie dann, die deutschen Helden der Siegesallee, zusammengepfercht, längst nicht so prächtig, aber immerhin so gut geschützt wie die Büsten der Walhalla.

Die gefallenen Denkmäler warten im „Provinatmagazin“

„Enthüllt“ heißt diese Dauerausstellung, die gefallene Denkmäler aus Berlin zeigt. Zum größten Teil ist sie mit den traurigen Resten der Siegesallee gefüllt. Der kleinere Teil dieser Gegen-Walhalla, dieses Depots der peinlichen Erinnerungen der Deutschen, widmet sich den Jahren nach 1933: Der athletische „Zehnkämpfer“ des Hitler-Lieblings Arno Breker, den Adolf Hitler einst – ausweislich einer Widmung im Sockel – dem „Reichssportführer“ zum 50. Geburtstag schenkte. Nach dem Krieg fand sogar die britische Besatzungsmacht den bronzenen Jüngling schön genug, um ihn im Garten ihrer Kaserne aufzustellen. Oder ein riesiges schreitendes Pferd von Albert Speers „Germania“-Phantasien. Der abgeschlagene Kopf des Lenin-Denkmals aus Friedrichshain lagert dort, der Sockel eines Thälmann-Monuments mit selbstgerechtem Honecker-Zitat lädt zum Fremdschämen über sozialistische Eitelkeit ein. Es ist ein radikaler Gegensatz zwischen dem prachtvollen Heldentempel der Walhalla und dem spartanischen „Proviantdepot“ für gefallender Denkmäler am Rande von Berlin, der viel erzählt über den Stolz auf das Deutsche.

Kollwitz in der Walhalla, der Glasquader in der Zitadelle

… oder der ausgemusterte Glasquader aus der Neuen Wache in Berlin (Zitadelle Spandau).

Und da drängt sich doch tatsächlich auch noch der konservative Bundeskanzler Helmut Kohl ins Bild. Die Verbindungslinie von der Walhalla über die Spandauer Zitadelle zu Helmut Kohl führt vorbei an Säulen, die denen der Walhalla gleichen. Es sind die Säulen am Eingang der Neuen Wache unter den Linden von Berlin. Dort gedachte während der DDR-Zeit ein gläserner Quader mit einer ewigen Flamme in seiner Mitte der „Opfer des Faschismus und Militarismus“.

Was der Kanzler der Einheit an diesem Glasgebilde auszusetzen hatte, bleibt rätselhaft. An seiner Stelle steht nun jedenfalls in der Neuen Wache eine Pieta der sozialistisch orientierten Künstlerin Käthe Kollwitz. Sie zeigt die trauernde Mutter Kollwitz mit ihrem im Krieg gefallenen Sohn. Gedacht wird jetzt der „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Die Entscheidung für die Kollwitz-Skulptur wird Kohl zu geschrieben, künstlerisch wie historisch ist sie bis heute nicht unumstritten: Die ursprünglich kleine Miniatur wurde auf Überlebensmaße vergrößert. Und wird dieses Abbild einer Mutter, die um ihren toten, im Krieg umgekommenen Sohn trauert, der Vielfalt der Opfer des NS-Grauens gerecht?

Worauf der Nichtextremist stolz ist

Käthe Kollwitz – Büste von 2019, aufgestellt in der Walhalla.

Auch ein solcher Streit ist deutsch. Käthe Kollwitz starb 1945 wenige Tage vor Kriegsende. Nicht zwanzig, sondern 74 Jahre später, im Jahr 2019, wurde ihre Büste in der Walhalla aufgestellt und enthüllt. Bei aller möglicher Kritik an Helmut Kohl bleibt festzuhalten, dass er mutig genug war, diese ihm politisch absolut fernstehende Künstlerin mitten hinein in das Herz der deutschen Gedenkkultur zu holen. Und der verbannte, erloschene DDR-Glasquader von 1960 wartet in Spandau auf eine neue Verwendung.

So ist im Deutschen immer beides möglich: Großer Ruhm und schreckliche Schuld, stumme Verehrung und beredte Verachtung, rechter Kohl und linke Kollwitz. Es ist diese charmante Ambivalenz des Deutschen, auf die der Nichtextremist stolz ist.

 

Mehr Informationen und alle Services rund um einen Besuch der Walhalla finden Sie hier, der Dauerausstellung „Enthüllt“ in der Zitadelle Spandau hier.

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Alte Männer und ihre Koffer

Hinter der Maske verschwindet die Gier nach Ruhm: Manfred Zapatka als „Minetti“ am Residenztheater München (Regie Claus Peymann; Foto: Monica Rittershaus, bereitgestellt von Residenztheater München)

Über „Minetti“ im Theater und Gerhard Schröder im wirklichen Leben

Es wäre doch eine schöne Vorstellung, wenn ein alter Mensch seine Verdienste, die Nachweise der eigenen Unverzichtbarkeit, in einem Koffer mit sich herumtragen könnte. Was wäre in diesem Koffer drin? In Angela Merkels Koffer vielleicht die griechischen Ausgaben des Euro, von jeder Münze, die die Athener Zentralbank ausgegeben hatte, ein Exemplar. Oder eines der vielen gespendeten Kuscheltiere, wie sie im Sommer 2015 massenhaft am Münchner Hauptbahnhof bereitlagen. Die Geflüchteten aus Budapest kamen dort an und wir alle waren noch stolz auf unsere Menschlichkeit, statt sich ihrer wie heute zu schämen. Oder ein Modell der nie gebauten Magnetschwebebahn zwischen diesem Münchner Bahnhof und dem Flughafen im Koffer von Edmund Stoiber? Natürlich eine Gitarre im Koffer von Wolf Biermann!

In Minettis Koffer ist eine Maske. Geschaffen habe sie ein bekannter belgischer Künstler, sagt der alte Schauspieler. Wie sie aussieht, diese Maske, die „Minetti“ einst getragen haben will, um Shakespeares „Lear“ – natürlich unvergleichlich – auf die Bühne zu bringen, bleibt bis zuletzt verborgen. Die Maske ist in dem Theaterstück „Minetti“ von Thomas Bernhard, das derzeit im Münchner Residenztheater zu sehen ist, der Cliffhänger. Die Maske hält die Spannung aufrecht in diesem weitgehend als Monolog angelegten Bühnenstück. Eineinhalb Stunden bekommt in München der auch schon alternde Schauspieler Manfred Zapatka Zeit, unter der Regie des 80-jährigen Claus Peymann „Minetti“ zu spielen, den alten Mann, angelehnt am großen Schauspieler Bernhard Minetti. Vom Leben und von der Sucht nach Ruhm ein wenig sonderlich geworden ist dieser Bühnen-Minetti – und alle warten darauf, endlich sehen zu können, was in dem Koffer ist.

In „Außer Dienst“ schiebt Schröder keinen Koffer, sondern einen Golfwagen

Etwas kürzer, nur eine Stunde, dauert die überaus sehenswerte ARD-Dokumentation „Außer Dienst“ von Lucas Stratmann zum achtzigsten Geburtstag von Gerhard Schröder. Einen Koffer schiebt dort anfangs Schröder nicht vor sich her, sondern einen Golfwagen. Was wäre in seinem Koffer, wenn er einen hätte? Vielleicht eine sorgsam verpackte, tönerne Friedenstaube, weil er unser Land herausgehalten hat aus dem verbrecherischen Irak-Desaster des George W. Bush. Oder ein Bündel Geldscheine, symbolisch für das Wirtschaftswachstum, das die Reformen seiner unpopulären „Agenda 2010“ auf längere Sicht vielen Menschen in Deutschland Wohlstand verschafft hat. Auch wenn dieser zusammengespart war aus der gewachsenen Armut derer, die unter die Räder gerieten beim Abbau des Sozialstaates. Eine zusammengefaltete Traditionsfahne der SPD könnte drin sein, verstaubt und mottenzerfressen, weggepackt von seiner Partei, die sich bis heute nicht erholen konnte von Schröders toxischer Selbstherrlichkeit. Oder eine Maske, aber welche?

Demaskiert in seiner egozentrischen Begrenztheit ist der alte „Minetti“ längst, als er zum Ende des Theaterabends schließlich die Maske herausholt aus dem Koffer und aufsetzt. Große Ideen hat er verfolgt, die entscheidenden Fragen der Kunst malträtiert und wurde von ihnen gequält: Das Alte pflegen, oder das Neue wagen? Er beklagt sein Scheitern am konservativen Geist der Kulturbürokratie. Schon nach wenigen Minuten im Theater ist klar: Dieser alte Künstler hat den Höhepunkt seines Schaffens längst hinter sich, die Zeit ist an ihm vorübergezogen, der alte Mann hat fertig. Alle wissen es, alle merken es, nur er selbst nicht. Nun hofft er auf einen letzten Auftritt mit der sagenumwobenen Maske, die im Koffer wartet.

Welche Maske wäre in seinem Koffer? Gerhard Schröder im Herbst 2023 in Hannover. (Foto: Bernd Schwabe Hannover via Wikipedia)

„Armselige Gestalten“ nennt Schröder seine Genossen

„Armselige Gestalten“ seien das, sagt Gerhard Schröder in der ARD-Dokumentation über diejenigen, die ihn heute in Deutschland kritisieren. Man gehe ungerecht mit ihm um, aber das störe ihn nicht wirklich. Ganz generell erlebt man am Fernsehschirm eindrücklich, dass dieser Altkanzler nicht gerne zuhört. Er redet lieber: „Ich brauche für mein Lebenswerk nicht die Zustimmung der jetzigen SPD-Führung.“ Es ist eine ganz spezifische Form von schauspielerisch vorgeschobener, kokettierend dröhnender, eitler Un-Bescheidenheit, die der Altkanzler vorträgt.

Das Fernsehteam begleitet ihn auf einer „Geschäftsreise“ durch China. Wer die Reise bezahlt, interessiert ihn nicht, auch nicht, welche Motivationen seine Gastgeber leiten, ihn herumzureichen wie den Wanderpokal eines in die Jahre gekommenen Wettbewerbs. Kein Wort versteht er, wenn die chinesischen Claqueure ihm ein Dokument unterscheiben lassen, wenn ihm fahnenschwingende Kinder Blumen überreichen. Seine in China gesprochenen Worte sind für die Fragen des Jetzt von erschreckend platter Irrelevanz. Aber er kann es nicht lassen, mit sonorer Stimme ein weltpolitisches Gewicht zu simulieren, das er längst nicht mehr hat. „Wir machen doch hier kein Märchen!“, schnauzt er den Reporter Stratmann an, als dieser ihn nach der moralischen Seite seiner Kontakte zu Wladimir Putin befragt.

Nichts kann bestehen neben der Gier nach Ruhm

Nach eineinhalb Stunden weiß der Theaterbesucher längst, dass dieser „Minetti“ (anders als der Schauspieler Bernhard Minetti) gemessen an seinem Ego eine verheerende Lebensbilanz ziehen müsste, wenn es darauf ankäme. Er ahnt die nächste Demütigung, auf die er wartet, wenn jener Theaterleiter zum vereinbarten Treffen nicht einmal erscheint, das ihn auf einen letzten Auftritt als „Lear“ hoffen ließ. Aber die Gier nach Ruhm ist zu stark, nichts kann daneben bestehen. Vielleicht war dieser „Minetti“ ein liebender Familienvater und ein empathischer Mensch, voller Humor und geistreich im Gespräch mit allen, die mit ihm waren. Aber nichts davon wartet in seinem Koffer. Nur vergilbte Zeitungsausschnitte über seinen umstrittenen Theaterruhm. Und die Maske.

Als er die Maske schließlich herausholt, als er sie endlich aufsetzt, verschwindet die ganze eitle Selbstgerechtigkeit des alten Mannes hinter einer kunstvollen Fratze, einem wahren Kunstwerk, das sich viel stärker eingräbt in die Erinnerung des Zuschauers, als die ganze kleinliche Selbstverliebtheit desjenigen, der nicht loslassen konnte.

Gerhard Schröder weiß nichts von einem Koffer. Welche Maske wäre darin, wenn er sich doch trauen würde, ihn zu öffnen? Nicht die mit den Gesichtszügen seines Freundes Putin, das wäre zu billig, und würde auch dem Lebenswerk Schröders nicht gerecht. Es wäre vielleicht viel schlimmer: Gar keine Maske wäre drin, alles leer, nur ein paar Geldscheine.

„Minetti“ am Residenztheater München gibt es noch am 2. und 21. Mai 2024 zu sehen.

Die ARD-Dokumentation „Außer Dienst“ über Gerhard Schröder ist bis 2.4.2026 in der Mediathek abrufbar.

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Berta Levi und das Kino von Haigerloch

Eine wahre Geschichte in Deutschland

Es könnte ein Film sein über ein jüdisches Leben in Deutschland, erzählt wie so viele „nach einer wahren Geschichte“: Auf dem Land wächst eine junge Frau auf, eingebettet in einer großen Familie mit ihren Konflikten, Freuden und Leiden. Mit Nachbarn, mit denen sie ihre Religion teilt, wie es schon ihre Eltern getan haben und auch ihre Großeltern. Mit Gewohnheiten und Veränderungen, mit Abneigungen und Sehnsüchten, mit bangen Erwartungen und bitteren Enttäuschungen. Vielleicht hofft sie auf die Liebe ihres Lebens, aber sie bleibt ihr versagt. Also macht sie sich auf den Weg in die Großstadt, verdient ihren Lebensunterhalt dreißig Jahre lang mit Arbeit. Und dann, als sie schon alt ist, als ihr ganzes Leben schon fast hinter ihr liegt, dann …

Berta Levi – Kennkartendoppel von 1938/39, Foto: Stadtarchiv München

Ob Berta Levi wohl jemals in einem Kino gewesen ist? Gewiss nicht in Haigerloch, denn als Berta dort lebte, gab es noch keine Kinos. In der Synagoge war sie dagegen bestimmt häufig, in der schönen kleinen Synagoge ihres Heimatortes. Berta Levi wurde am 22. Februar 1863 in Haigerloch geboren. Das Städtchen liegt am Rand der Schwäbischen Alb auf hügeligem Grund, hat heute 10.000 Einwohner, Fachwerkhäuser und ein Schloss, das erwartungsgemäß malerisch über den Dächern des Ortes thront.

Der lange und der kurze Teil jüdischer Geschichte in Haigerloch

Nur jüdisches Leben findet sich dort nicht mehr. In Haigerloch bestand über mehrere hundert Jahre eine beachtliche jüdische Gemeinde, die einen eigenen Stadtteil besiedelte und verwaltete, das „Haag“. Der lange Teil der Geschichte der Juden in Haigerloch seit dem 14. Jahrhundert ist eine Erzählung über ihren geduldigen Kampf um eine Gleichstellung bürgerlicher und religiöser Rechte, immerhin unter vergleichsweise günstigen Bedingungen. Die Verfassung und nachfolgende Gesetze des württembergischen Hoheitsgebiets der Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen garantierte spätestens seit 1838 die Religionsfreiheit und weitgehende bürgerliche Rechte auch für Juden. Diese stellten etwa 15 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung des Städtchens.

Hundert Jahre später zerstörten auch in Haigerloch Nazi-Schläger die Synagoge und schlugen Fenster der jüdischen Wohnhäuser im Haag ein, nochmal vier Jahre später wurden diejenigen, die nicht geflohen waren, in den Tod deportiert. Das ist der kurze Teil ihrer Geschichte.

Als Berta Haigerloch verließ, war noch alles in Ordnung

Berta Levi wurde also in eine intakte jüdische Gemeinschaft hineingeboren; noch dazu in eine große Familie. Die Archive zählen 15 Geschwister, allerdings sind einige davon schon früh verstorben. Ihr Vater war Viehhändler. Die Synagoge von Haigerloch bildete zusammen mit dem Waschhaus, der Mikwa, den Mittelpunkt des jüdischen Gemeindelebens. Die Juden hatten einen eigenen Friedhof, nur wenige Schritte von der Synagoge entfernt. Den Friedhof gibt es noch, und wer heute durch das Haag spaziert, wo noch viele der Häuser stehen, die einmal im jüdischen Besitz waren, vermutet dort damals wie heute ein friedliches Dasein hinter den kleinen Fenstern und alten Mauern.

Mit 33 Jahren verließ Berta Levi diesen idyllischen Ort, als sie 1896 nach München zog. Eine Ehe ging Berta niemals ein, anders als ihre ältere Schwester Mathilde, die da bereits dort lebte, verheiratet mit dem Kaufmann Moritz Camnitzer. Möglicherweise war es diese Verbindung, die Berta (und zwei Jahre später auch ihren jüngeren Bruder Max) veranlassten, sich in München auf die Suche nach Arbeit zu machen. Als Hausangestellte stand sie dann fast dreißig Jahre im Dienst jüdischer Bankiers und Geschäftsleute in München. Ende 1925 war Schluss damit. Ihre Schwester Mathilde war gestorben und sie zog, inzwischen 62 Jahre alt, in den Haushalt ihres Schwagers.

Es gab Kinos in München, und auch genügend Synagogen

Ob sie in diesen Jahren einmal in einem Münchner Kino gewesen ist? Schon gut möglich. Die ersten Kinos wurden in München bald nach 1900 eröffnet. Berta Levi wird in den Haushalten ihrer Herrschaften sich um die Kinder, um die Küche, um die Wäsche und um die Gäste gekümmert haben. Aber sie wird auch freie Tage gehabt haben, vielleicht verliebt gewesen sein, Träume geträumt haben. Bestimmt war sie mal im Kino. War sie religiös praktizierend? Wir wissen es nicht. Wenn sie es war, so gab es genügend Synagogen in München. Vielleicht war sie dort.

Vermutlich ist sie in dieser Zeit auch besuchsweise zurückgekehrt nach Haigerloch. Die Reise aus dem prächtigen München in die schwäbische Provinz war mühsam, aber möglich. Dann wird sie dort an den Feierlichkeiten in der Synagoge teilgenommen haben, die erst 1930 nochmals neu renoviert worden war. Wenn es so war, dann hat sie mitgefeiert bei den großen Festen der Gemeinde, mit ihrer Familie, mit ihren Geschwistern, mit den Nachbarn und Freunden im Haag.

Hörte Berta das Klirren der Scheiben?

Knapp siebzig Jahre alt war Berta Levi, als 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, und die jubelnden braunen Horden durch Berlin und auch durch München zogen. Fünf Jahre später fackelte der Nazi-Mob nicht nur in München und an tausend anderen Orten in Deutschland die Synagogen ab, ermordete und schikanierte Juden und plünderte jüdische Geschäfte. Unwahrscheinlich, dass Berta da an ihrem Geburtsort Haigerloch weilte. Sie wird in München gewesen sein. Blickte sie, die alte Dame, damals aus ihrem Fenster, während unten der braune Schlägertrupp vorbeizog? Hörte sie das Klirren der Scheiben, das Schreien der Verängstigten und Bedrängten, schrie sie mit, oder schüttelte sie nur entsetzt den  Kopf? Und wann und wie wird sie davon erfahren haben, dass in dieser Nacht auch in ihrer Heimat-Synagoge in Haigerloch alles kurz und klein geschlagen worden war?

Vier Jahre später, im März 1942 siedelte Berta in ein jüdisches Altenheim in München um. Ob es freiwillig war, wissen wir nicht. War sie krank, bedurfte sie der Hilfe? Was hat sie, nun fast achtzig Jahre alt, noch wahrgenommen vom tödlichen Grauen um sie herum? Im Altenheim war es nur ein kurzer Aufenthalt, denn schon im Juni zwängte man sie in überfüllte Waggons und karrte sie gewaltsam mit Tausenden anderen in das Konzentrationslager Theresienstadt. Dort starb Berta Levi am 11.11.1942 an „Altersschwäche“.

In Haigerloch war das Grauen eingezogen

In Haigerloch war da das friedliche Leben längst vorbei, das Grauen eingezogen. Juden aus den umliegenden Städten wurden nach Haigerloch zwangsweise umgesiedelt und dann von dort in vier Bahntransporten in die Vernichtungslager deportiert. Der letzte Zug verließ Haigerloch am 19. August 1942, also noch zu Lebzeiten von Berta.

Danach lebten keine Juden mehr in Haigerloch. Die Deutschen suchten sich die wertvollsten Stücke aus dem zurückgeblieben Hausrat heraus, und bemühten sich, die leerstehenden Häuser im Haag zugesprochen zu erhalten. Die ausgeplünderte Synagoge erwarb die Stadt Haigerloch bereits 1940 unter repressiven Umständen zu einem Spottpreis. Sie versprach im Kaufvertrag, als Gegenleistung „nach erfolgter Auswanderung der jüdischen Einwohner den Juden-Friedhof in Schutz und Instandhaltung“ zu nehmen. Noch während die drangsalierte jüdische Bevölkerung im Haag lebte, begann die Stadt damit, die ehemalige Synagoge in eine Turnhalle umzubauen. Das Vorhaben konnte nicht zu Ende geführt werden, da kriegsbedingt die Materialien bald fehlten.

Die Kanne steht auf dem jüdischen Friedhof von Haigerloch für die Gräber der weitverzweigten Familie Levi.

Das Gebäude diente in den letzten Kriegsmonaten als Lagerhalle. Ab 1968 war die Synagoge ein Supermarkt, danach eine Lagerfläche für Textilien. Es dauerte bis 1999, mehr als sechzig Jahre nach ihrer Plünderung, bis die Stadt Haigerloch sich ihrer historischen Verantwortung für die Synagoge bewusst wurde. Unter tätiger Mithilfe eines aktiven Kreises örtlicher Unterstützer kaufte sie das Gebäude zurück. Heute wird die ehemalige Synagoge als Museum betrieben, das sehr eindrücklich die Spuren jüdischen Lebens in Haigerloch aufbereitet hat. Endet so diese wahre Geschichte?

Nein, so endet die Geschichte nicht

Nein, die Schlusspointe fehlt. Deshalb endet sie so: Der Krieg ist zu Ende, Berta Levi ermordet wie Millionen Juden. Die Israelitische Kultusgemeinde verlangt die Rückgabe der Synagoge, und nach einigem juristischem Hin und Her geschieht es auch so. Aber es gibt keine Juden mehr, die in Haigerloch eine Synagoge benötigen würden. So verkaufen die jüdischen Sachwalter neun Jahre nach dem Tod von Berta Levi das Gotteshaus ihrer Kindheit an einen Privatmann. Der richtet dort ein Kino ein und betreibt es zehn Jahre lang.

Zu unglaubwürdig? Nein. Erzählt nach einer wahren Geschichte in Deutschland.

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Zweibrückenstr. 8 in München – hier hat Bert Levi 20 Jahre lang gewohnt. (Foto von der Aktion „Rückkehr der Namen“

Berta Levi ist eine von 1000 jüdischen Persönlichkeiten, an die am 11. April 2024 im Rahmen der Aktion „Die Rückkehr der Namen“ des Bayerischen Rundfunks erinnert wurde. Ich hatte für Berta Levi im Rahmen dieser Aktion eine Patenschaft übernommen. Ihre Lebensdaten finden Sie hier, mehr Informationen zu der Aktion des BR in München hier

Durch Bert Levi bin ich auf das zerstörte jüdische Leben in Haigerloch aufmerksam geworden. Viele Informationen für diese „wahre Geschichte“ habe ich der Website des Gesprächskreises der ehemaligen Synagoge Haigerloch dem Buch „Erinnerungen an die Haigerlocher Juden – Ein Mosaik“ von Utz Jeggle (Hrsg.) entnommen. 

Die ehemalige Synagoge Haigerloch ist als Museum ganzjährig am Samstag und Sonntag, im Sommer auch am Donnerstag Nachmittag  geöffnet. Die Dauerausstellung ist eine eindrückliche Spurensammlung, zusammengestellt vom Stuttgarter Haus der Geschichte Baden-Württemberg. 

Die ehemalige Synagoge Haigerloch heute: Ein eindrucksvolles kleines Museum sichert die Spuren jüdischen Lebens an diesem Ort.

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„Ehre ist Zwang genug“ – Eine Tugend stürzt ab

Über den Verfall der Selbstachtung im politischen Diskurs

Gibt es noch so etwas wie Ehre im politischen Diskurs? Zählt es noch etwas in Zeiten von Fake News, Populismus, schnellen Schüssen, wenn jemand versucht, ehrenvoll zu sprechen und zu handeln?

„Ehr is dwang nog – Ehre ist Zwang genug.“ Dieser aus dem Mittelalter stammende Spruch ziert ein Kaufmannshaus in Münster. Die Historikerin und Schriftstellerin Ricarda Huch interpretierte 1927 den Satz so: „Der Freie, und das ist nach der damaligen Auffassung der Edle, erträgt keinen Zwang, aber er zwingt sich selbst.“

„Die Ehre ist, objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert“, sezierte klug schon vor rund zweihundert Jahren der Philosoph Arthur Schopenhauer. Wenn also sehr viele politische Zeitgenossen beispielsweise von Donald Trump oder Wladimir Putin glauben, dass auf ihr politisches Wort nicht wirklich Verlass sei, da sie ihre Aussagen schon allzu oft geändert haben, oder sie allzu schnell bereit sind, zulasten der Wahrheit zuzuspitzen, willentlich zu verletzen – dann wird solchen Menschen nach Schopenhauer nur eine sehr zurückhaltende „Meinung anderer“ von ihrem Wert begegnen – also eine geringe Ehre.

„Subjektiv“, so schrieb Schopenhauer jedoch weiter, „ist die Ehre unsere eigene Furcht vor dieser Meinung der anderen“. Wer den wenig Geehrten seine Wertlosigkeit also spüren lässt, der mag objektiv vielleicht Recht haben, aber trotzdem kränkt er möglicherweise die Ehre seines Gegenübers.

1895

In dem Roman „Effi Briest“ von Theodor Fontane geht es (auch) um eine Ehrverletzung. Der erfolgsverwöhnte Baron von Innstetten, Spitzenbeamter im Berliner Regierungsapparat kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts, heiratet Effi, eine viel zu junge Frau. Eine Tochter erblickt das Licht der Welt, aber der Baron vernachlässigt Frau und Familie zugunsten der Karriere. Mehr als sechs Jahre später entdeckt er durch einen unglücklichen Zufall, dass Effi sich in dieser Zeit auf ein außereheliches Techtelmechtel mit einem Offizier eingelassen hat. Effi wird in Schimpf und Schande verstoßen, das Kind dem „schuldlosen“ Vater (oder besser gesagt: einer von ihm beauftragten Amme) anvertraut.

Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende. Denn in der Moralvorstellung seiner Zeit hat nicht nur die treulose Ehefrau die Gefühle ihres Mannes verletzt, sondern vor allem der lotterhafte Nebenbuhler die Ehre des gehörnten Gatten. Der Baron sinnt nicht auf Rache, aber er hat auch das Gefühl, dass der Regelverstoß nicht hingenommen werden darf. Also denkt er einige Tage nach über die bedrückende Lage, und bittet dann seinen besten Freund Wüllersdorf zu sich: Er solle ihm als Adjutant dienen beim Duell mit dem Liebhaber. Es entspinnt sich im Roman an dieser Stelle ein Dialog, auf den noch einzugehen sein wird.

2024

Es gibt keinen Grund, über solche Duelle der Vergangenheit den Kopf zu schütteln, gehören doch bei vergleichbaren Lebensbrüchen Ehrenmorde, Kindstötungen und Femizide als feste Größe in die Kriminalstatistik von heute. Verletzte Ehre treibt Menschen (vor allem Männer) noch immer zu den aberwitzigsten, oft mörderischen Grausamkeiten. Und das, obwohl der Begriff der „Ehre“ spätestens seit seinem Missbrauch durch die Nationalsozialisten mindestens für die Deutschen nachhaltig beschädigt ist.

Gibt es noch so etwas wie Ehre in der Politik? Zählt es noch etwas in Zeiten von Fake News, Populismus, schnellen Schüssen, wenn jemand versucht, Wort zu halten, ehrlich zu sein, vielleicht auch ehrgeizig in der Sache – kurz: ehrenvoll zu sprechen und zu handeln?

Politisch denkende Menschen tragen alltäglich Duelle aus, soweit sie sich nicht nur in der eigenen „Blase“ bewegen: Sie streiten für oder gegen die Aufnahme von Geflüchteten, für oder gegen die Wärmepumpe, für oder gegen die Atomkraft. Die einen verstehen eher die Angst der Juden, die anderen vor allem das Leid der Palästinenser, manche fordern mehr Waffen für den Krieg, und andere mehr Einsatz für den Frieden.

Zum Pistolenkampf kommt es dabei nicht, aber die Worte können hin und her schießen wie Kugeln, können verletzen und Wunden reißen. Die grobe Missachtung von Tatsachen, wissentliches Lügen, billiges Nachhängen an absurden Verschwörungserzählungen sind keine „Meinung“. Pauschaliert-herabsetzendes Sprechen über Dritte („Viele Bürgergeld-Empfänger sind faul“, „Die meisten Ausländer sind kriminell“, „Blonde Frauen sind dumm“) verletzen nicht nur die Ehre derer, über die gesprochen wird, sondern auch das Ehrgefühl jedes Zuhörenden, wenn er einen ehrenvollen Kompass hat. Dabei ist es ganz egal, ob solche Grobheiten von politischer Prominenz verbreitet werden oder im persönlichen Gespräch. „Ehre ist Zwang genug“ – wenn das gelten würde, dürften solche Sätze nicht fallen.

1895

„Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglück ist hin“, konzediert bei Fontane der herbeigerufene Freund Wüllersdorf dem vor Jahren ehelich betrogenen Baron von Innstetten. „Aber wenn Sie den Liebhaber totschießen, ist Ihr Lebensglück sozusagen doppelt hin. Muss es also sein?“, fragt der Freund.

„Ja, es muss sein“, antwortet der Baron. Weder treibe ihn Rache um, noch Hass auf seine Frau oder ihren Liebhaber. Aber man sei eben nicht nur ein einzelner Mensch, sondern stehe für das „Ganze“, die Gesellschaft habe Regeln herausgebildet, an die man sich halten müsse. „Und dagegen zu verstoßen, geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst.“

2024

Das muss man aushalten, sagen deutsche Politiker häufig, wenn sie auf harte Kritik, auch auf ehrverletzende Pöbeleien angesprochen werden. Da dürfe man nicht wehleidig sein, das gehöre zum „Geschäft“. Dabei hat es die Ehre sogar ins Grundgesetz geschafft. Das umfassende Recht auf Meinungsfreiheit findet in Artikel 5 seine „Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Man muss also nicht dulden, beleidigt oder verleumdet zu werden.

Wer in seiner politischen Ehre, in der Redlichkeit seines Denkens und seiner Argumentation, im Willen um einen ehrenvollen Austausch missachtet und verletzt wird, der wird auch um das Zuhören, das Nachdenken, vielleicht sogar das überzeugte Einlenken, betrogen. Ratlos steht er dann vor den Trümmern seines Ehrgefühls. Soll er weiter argumentieren, noch einen Versuch machen, weitere Statistiken heranzerren, glaubwürdige Zeugen seiner Position benennen? Soll er weiter kämpfen für das „Ganze“, für die Werte, die doch diese Gesellschaft zusammenhalten sollten? Oder sollte er schweigen, um des lieben Friedens willen – und auf Kosten seiner Selbstachtung einlenken?

1895

„Die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst“, hatte Innstetten gesagt. Sein Freund Wüllersdorf gibt sich geschlagen. „Unser Ehrenkodex ist ein Götzendienst“, stellt er resigniert fest, „und wir müssen ihm uns unterwerfen, solange der Götze gilt.“ Also überbringt er schon am nächsten Tag dem unglücklichen Liebhaber die mörderische Aufforderung zum Duell und organisiert das Zusammentreffen. Der Baron schießt, trifft tödlich.

Dem Götzen wurde geopfert. Aber Innstetten bleibt sein Leben lang unglücklich ob des Todes, den er der Ehre halber verschuldet hat. „Nichts gefällt mir mehr,“ sagt er ein paar Jahre später im Roman zu Wüllersdorf, „mein Leben ist verpfuscht.“

2024

Absurd mutet uns heute die Logik des „Götzendienstes“ am Ehrenkodex der beiden Romanfiguren an. Wie gut, dass wir solche Rituale im Regelfall nicht mehr benötigen. Aber immerhin, sie hatten ein Ehrgefühl, und die Gesellschaft um sie herum erwartete ehrenhaftes Verhalten. Inzwischen ist es längst nicht mehr „Zwang genug“, auf die eigene Ehre zu achten, ganz im Gegenteil. Heute bekommt das böse Wort den schnellen Beifall, die vielen Klicks und Likes. Politischer Erfolg ist nun ohne Ehrgefühl möglich.

So fühlt es sich dann also an, wenn man sich selbst verachtet.

 

 

Der Roman „Effi Briest“ von Theodor Fontane (1819 – 1898) ist 1895 erschienen und wurde mehrfach verfilmt. Schauen Sie in Ihrer Büchersammlung nach, vielleicht finden Sie ihn dort. Es lohnt sich, ihn einmal wieder zur Hand zu nehmen. Wenn nicht, ist er kostenlos online verfügbar, z.B. hier. 

Ein für mich erhellender Text war die „Spurensuche“ zum Thema Ehre des Deutschlandfunks: Über einen schwierigen Begriff – Der Kampf mit der Ehre

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Hurra, die Ampel ist weg! – Ein Szenario

Hurra, die Ampel ist weg! Und wie geht es dann weiter?

Es begann damit, dass sich Mitte Februar 2024 die Generalsekretäre der mitregierenden FDP und der oppositionellen CDU weitgehend gleichlautend äußerten. Die FDP strebe eine gemeinsame Regierung mit der Union an, sagte ihr Generalsekretär, das sei besser für das Land als die derzeitige Rollenteilung, nach der die FDP ihren Regierungspartnern Grüne und SPD immer die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft erklären müsse. Die Union sei zur Übernahme der Verantwortung bereit, antwortete sein Kollege der CDU, sie habe das bessere Personal und die überzeugenderen Konzepte für die schwierigen Zeiten, in denen man derzeit feststecke und noch dazu schlecht regiert würde. Die bayerische CSU hatte sich ohnehin bereits seit längerem für Neuwahlen ausgesprochen.

„Lieber nicht regieren, als schlecht.“

FDP und Union ließen sich in ihren Überlegungen nicht davon beirren, dass sie nach allen Umfragen weit von einer gemeinsamen Mehrheit im Parlament entfernt wären. In Berlins Hinterzimmern breitete sich rasend ein Fieber aus. Die Union witterte die Chance zur schnellen Machtübernahme, zumal ihrem Vorsitzenden Merz bei einer vorgezogenen Bundestagswahl die Rolle des Kanzlerkandidaten kaum zu nehmen wäre. Auch die CSU hatte ein Interesse an baldigen Wahlen. In diesem Fall würde eine schon beschlossene Änderung des Wahlrechts (von der die CSU sich bedroht fühlte) nicht mehr rechtzeitig in Kraft treten. Eine dazu anhängige Klage beim Bundesverfassungsgericht würde nicht schnell genug entschieden werden.

In der FDP schließlich, gefangen in blanker Verzweiflung ob ihrer stabil unter fünf Prozent  liegenden Umfragewerte, wuchs die Überzeugung, mit einem zuspitzenden Wahlkampf könne man den eigenen Untergang eher abwenden als durch einen Verbleib in der ungeliebten „Ampel“. „Lieber nicht regieren, als schlecht regieren“, sagte ihr Vorsitzender.

Im Land herrschte zudem zweifellos allgemeiner Unmut über die „Ampel“. Es war schick, das Dreierbündnis unter Führung des wortkargen Kanzlers Scholz zu beschimpfen. Bauern blockierten Straßen und Plätze mit sperrigen Traktoren, Wirtschaftsverbände schrieben Brandbriefe, Gewerkschaften streikten allerorten. Die Stimmung war schlecht, und FDP und Union hofften, davon politisch zu profitieren.

Die FDP fand alsbald im Frühjahr 2024 einen Anlass – die sinkende Konjunkturprognose und den Streit darüber, wie ihr ohne neue Schulden zu begegnen wäre -, um aus der ungeliebten Ampel-Koalition auszusteigen.

Die FDP-Minister erklärten ihren Rücktritt

Die FDP-Minister erklärten also mit ernsten Mienen und düsterem Verweis auf die schwere Verantwortung für das Land ihren Rücktritt. Der amtierende Bundeskanzler Scholz stellte im Bundestag die Vertrauensfrage, verlor sie erwartungsgemäß, da die FDP-Abgeordneten gegen ihn stimmten. Der Bundespräsident löste entsprechend dem Grundgesetz den Bundestag auf. Im Juni 2024, zeitgleich zur Europawahl, sollte es Neuwahlen geben. Die Bevölkerung sagte im „Politbarometer“ zu 70%, dass sie das gut findet.

Nun war die Ampel erst einmal weg. SPD und Grüne regierten bis zur Wahl ohne Mehrheit geschäftsführend weiter, und das Volk staunte, dass es plötzlich zwischen den Regierenden und ihren Parteien kaum noch Streit zu vermelden gab. Beide Parteien profitierten davon in den Umfragen. Insgesamt aber überschattete der Wahlkampf die Tagespolitik: Der amtierende Kanzler versicherte dem Volk, dass nur unter seiner Führung in der aktuellen Welt voller Krisen mit Verlässlichkeit zu rechnen sei. Die Plakate zeigten den Kanzler mit nur drei Worten: „Maß und Mitte“. Und siehe da: Ein wachsender Teil der Bevölkerung begann ihm wieder zu vertrauen, obwohl sie ihn noch wenige Wochen zuvor mit minimalen Zustimmungswerten in Umfragen abgestraft hatten.

Ein ruppiger Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild

Die Union konzipierte einen ruppigen, zuspitzenden Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild. Die Parteien der „Ampel“-Regierung seien allesamt unfähig und in ihrer Inkompetenz eine Gefahr für das Land. In den Umfragen konnten CDU und CSU mit dieser Strategie auch noch zwei Wochen vor der vorgezogenen Bundestagswahl ihren Abstand von etwa zehn Prozentpunkten vor der Partei des Kanzlers, der SPD, verteidigen. In den persönlichen Sympathiewerten bleib der Kanzlerkandidat Merz allerdings zurück, vor allem bei Frauen und jungen Menschen war er nicht besonders beliebt.

Die FDP kämpfte um ihr politisches Überleben. Sie erstritt sie sich mit einem klaren Bekenntnis gegen neue Schulden und für sinkende Steuern in den Umfragen einen halbwegs stabilen Umfrageplatz knapp oberhalb der fünf Prozent.

Die rechtsradikale AfD und die neu gegründete Partei von Sahra Wagenknecht überboten sich mit populistischen Einfältigkeiten und teilten sich ihre Wählerpotential von zusammen etwa 25 Prozent auf.

Das Ergebnis: Die Union siegte

Als schließlich der Wahltag kam, flimmerte das folgende Ergebnis über die hochsommerlich erhitzten Bildschirme:

Die CDU/CSU gewann die Wahl mit 26 Prozent. „Gegen uns kann keine Regierung gebildet werden“, jubelte Merz am Wahlabend. Aber am nächsten Morgen bereitete das Ergebnis allerdings allgemeines Kopfzerbrechen. Die Kanzlerpartei SPD hatte aufgeholt, bleib aber bei 22 Prozent stecken. Die Grünen konnten wenig mehr als ihre eigenen Stammwähler mobilisieren und landeten bei 13 Prozent. Die FDP jubelte: Sie erreichte mit 8 Prozent wieder den Bundestag. Außerdem zogen in das Parlament ein: Die AfD mit 16 und die Wagenknecht-Partei mit 6 Prozent. Alle anderen Parteien, darunter auch Die Linke und die Freien Wähler gingen leer aus. Die Linke gewann in Berlin ein einziges, und die FW in Bayern zwei Direktmandate.

Die Sommerpause im politischen Berlin fiel aus. Die Union konnte Merz nur in einer Dreierkoalition zum Kanzler machen. Eine Zusammenarbeit mit der AfD hatte sie ausgeschlossen, also musste sie zwei der drei anderen demokratischen Parteien zu Partnern erwählen. Für eine „links-grüne“ Mehrheit unter Führung der SPD fehlten die Mandate, zumal die SPD eine Zusammenarbeit mit Sahra Wagenknecht ablehnte.

„Soziale Politik im freien Staat“, hieß das Motto

Nach wochenlangen Sondierungen und internen Auseinandersetzungen innerhalb der Union und in der SPD entschieden sich CDU/CSU für eine Koalition mit SPD und FDP. „Soziale Politik im freien Staat“, stand über dem Koalitionsvertrag. Merz wurde im Oktober zum Bundeskanzler gewählt. Das 100-Tage-Programm sah vor: Keine neuen Schulden, keine höheren Steuern, umfassende Waffenhilfe für die Ukraine, dauerhafte Stärkung der Bundeswehr, ein zusätzliches Sondervermögen für den Wohnungsbau, Aufhebung des sog. „Heizungsgesetzes“.

Die politische Fachpresse in Berlin schlug die Hände über dem Kopf zusammen: Wie sollte das funktionieren? Und schon im November, bei der finalen Verhandlung für den Haushalt 2025, zeigten sich die gravierenden Risse innerhalb der neuen Koalition. Die FDP beharrte auf einem Einhalten der Schuldenbremse und schlug zur Finanzierung von Bundeswehr und Ukraine-Hilfe massive Kürzungen bei den Renten vor, was die SPD entschieden ablehnte. Wie geplant stieg zudem der CO2-Preis weiter an, verteuerte Benzin und Gas. Soziale Kompensationen dafür waren abgeschafft worden, genauso wie die Förderung von ökologisch orientierten Investitionen. Der Einbau von Wärmedämmung, Solaranlagen und Wärmepumpen stagnierte.

Heftiger Frost im Dezember, Bomben auf die Ukraine

Im Dezember gab es – gegen den Trend der letzten Jahre – heftigen Frost. Über Weihnachten zeigte das Thermometer zwei Wochen lang unter minus 10 Grad tagsüber. Die Gasspeicher leerten sich rapide, und ihre Auffüllung ließen die Gas- und anderen Energiepreise in die Höhe schießen. Die Inflation stieg wieder an. An dieser Entwicklung war die neue Regierung zwar schuldlos, trotzdem protestierten Autofahrer und Hausbesitzer heftig. LKW-Unternehmer schlossen sich an, auf wichtigen Autobahnen rollte im Januar tageweise nichts mehr.

Russland intensivierte zeitgleich seinen Bombenkrieg gegen die Ukraine. Heftiger Bombenhagel ging auf Kiew und die ukrainischen Großstädte im Westen des Landes nieder. Die katastrophalen Folgen lösten einen neuen Flüchtlingsstrom nach Deutschland aus. Vor allem Frauen und Kinder flohen vor den Zerstörungen in ihrer Heimat, und die deutschen Kommunen erklärten erneut, sie könnten die Unterbringung nicht mehr gewährleisten. Trotz dieser Ausnahmesituation beharrte die FDP auf der Schuldenbremse.

Die neue Regierung war noch nicht einmal ein halbes Jahr im Amt, als sie in ein noch nie dagewesenes Umfragetief rutschte. „Merz muss weg!“, skandierten die hupenden Lastwagenfahrer im Chor mit wütenden Rentnern. DGB und VdK mobilisierten in Großdemonstrationen. In den Umfragen profitierten von der rebellischen Stimmung die Radikal-Parteien AfD und BSW, sowie die Grünen in der Opposition. 70% der Bevölkerung stimmten der Aussage zu: „Mit dieser Regierung bin ich unzufrieden.“

Dann ein Interview im „Bericht aus Berlin“

Der Generalsekretär der SPD gab dem „Bericht aus Berlin“ im Februar 2025 ein Interview: Er wünsche sich eine Zusammenarbeit mit den Grünen, da müsse man nicht immer allen anderen die soziale Komponente der Marktwirtschaft erklären. Die Parteiführung der Grünen antwortete prompt: Man stehe zur Verfügung. Am besten auf dem Weg über baldige Neuwahlen.

 

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Der große alte Kater auf dem Baum

Eine politische Fabel

(1)

Als der große alte Kater auf schwankendem Geäst in der Baumkrone hockte, mühsamen Halt suchte am einzigen halbwegs stabilen Ast, ärgerte er sich sehr über sich selbst. Es dunkelte bereits sachte, und der Wind zerwühlte sein Fell unangenehm.

Bild von Amy auf Pixabay

 

Wie war er nur in diese Lage geraten? Er hatte doch den jungen Katzen schon ungezählte Male gepredigt, dass sie sich hüten sollten vor den Verlockungen der hohen Bäume. Das Hinaufklettern lohne sich nicht, die flinken Vögel seien ohnehin schneller weggeflogen, als so eine Katze dort oben sein könnte. Und so verlässlich die gebogenen Krallen beim Heraufsteigen helfen würden, so untauglich würden sie sich erweisen, wenn man wieder hinunterwill. Dann geben sie kaum Halt, mühsam müsse man sich rückwärts hinabarbeiten, ohne den sicheren Blick dorthin, wo es entlang geht. Es sei kein guter Platz für Katzen und Kater auf den Bäumen, hatte er doziert, und die Jungen hatten respektvoll genickt und geschnurrt und ihm geschworen, an seine Worte zu denken.

Nun aber saß er selbst auf diesem Baum, und seine große Erfahrung hatte ihm nichts genutzt, um die peinliche Lage zu vermeiden, in die er geraten war. Es war schrecklich.

(2)

Begonnen hatte alles bei der letzten Wahl zum Mächtigsten aller Tiere. Es gab sehr viele Tiere in diesem Land, und alle gemeinsam hatten sie einen Gegner: die Menschen. Die Menschen zerstörten systematisch alles, was die Tiere zum Leben brauchten. Die Menschen waren es, die das Gras und die Blumen vergifteten und damit den Mücken und Bienen und Wespen die Grundlage ihrer Existenz nahmen. Die Menschen warfen Plastikmüll in das Wasser, in dem die Fische schwammen. Sie fällten die Bäume, auf denen die Eichhörnchen und Fledermäuse wohnten und verpesteten die Luft, durch die die Vögel flogen. Manche Tiere hielten die Menschen sogar in schauderhaften Gefängnissen, schlachteten sie, und aßen sie auf.

Die Tiere waren sich also zwar grundsätzlich einig, dass sie alle ihre Kräfte auf den Kampf gegen den Menschen richten sollten – aber wie dieser Kampf zu führen sei, darüber stritten sie erbittert. Viel zu viele interessierten sich überhaupt nicht für die Geschicke der Gemeinschaft, sondern waren nur damit beschäftigt, wie sie etwas zu fressen finden. Die unpolitischen Rinder und Schweine zum Beispiel hatten noch immer nicht begriffen, welches Ende ihnen bevorstand. Andere, wie die flinken Rehe oder die stolzen Hirsche waren einfach nur dumm. Die eitlen Pudel und die schillernden Pfaue betrachteten von morgens bis abends nur sich selbst im Spiegel. Es gab verachtungswürdige Anpasser in der Tierwelt, wie die Mäuse und die Ratten, die glaubten, sie könnten sich den ganzen giftigen Unrat der Menschen auch noch zunutze machen.

Die Lage der Tiere war ernst, und der große alte Kater wusste das schon seit langem. Aber seit vielen Jahren hatte die Chefin der Katzen und Kater die Position als Mächtigste aller Tiere inne. Sie war mit ihrer ganzen Geduld und Ausdauer, mit Klugheit und Raffinesse tätig gewesen, hatte vermittelt zwischen den Füchsen und Gänsen, hatte die Katzen gemahnt, nicht mehr als nötig den Mäusen oder Vögeln nachzustellen, hatte sogar den größten Teil der Hunde, soweit sie nicht blaubraun waren, bei halbwegs erträglicher Laune gehalten.

Ihn, den großen alten Kater, hatte diese machtbewusste Katze allerdings weggebissen, verscheucht mit Fauchen und scharfen Krallen, und er hatte deshalb lange warten und ausharren und sich verstecken müssen, bis endlich die Chance bestand, selbst zur Wahl des Mächtigsten aller Tiere anzutreten.

Aber es kam anders. Als die kluge alte Katze ihr Amt abgab, drängte sich ein freundlicher Grinsekater als Chef der Katzen vor. Der Grinsekater grinste allerdings auch dann, wenn es nicht passte, und verstand zu spät, dass ihm das Ansehen und Wahlsieg kosten würde. Bei der großen Wahl aller Tiere hatten so die roten Ameisen, die grünen Vögel und die gelben Badeenten gemeinsam die Katzen von der Macht verdrängt. Sie hatten eine rote Ameise zum Mächtigsten aller Tiere gewählt und sofort zu regieren begonnen.

(3)

Der große alte Kater konnte es nicht fassen, dass es soweit gekommen war. Er war fest überzeugt davon, dass er nicht nur größer, sondern auch schneller und auch viel klüger war als alle diese roten, grünen und gelben Kleintiere zusammen. Deshalb verjagte er den freundlichen Grinsekater und wurde bald selbst Chef der Katzen und Kater. Im neuen Amt verspottete er die fleißigen roten Ameisen, und warf deren Chef vor, nicht wirklich ein Mächtigster aller Tiere zu sein, sondern nur und ohne Orientierung auf dem Boden der Tatsachen herumzukrabbeln. Er fauchte den flatternden grünen Vögeln nach und schlug mit seinen scharfen Krallen auf die gelben Badeenten ein, die ohnehin damit rangen, im Teich der Meinungen nicht ganz zu ertrinken. Sie alle sollten keine ruhige Minute haben, solange nicht er der Mächtigste aller Tiere sein würde.

Dabei wusste der große alte Kater, dass in der Tierwelt die blaubraunen Hunde besonders gefährlich und rücksichtslos waren. Die waren nicht dumm, sondern bösartig. Sobald sie andere Tiere auch nur sahen, kläfften sie ganz fürchterlich, verbreiteten Angst und Schrecken. Die blaubraunen Hunde waren intrigant und verlogen, erzählten zum Beispiel den Gänsen, dass allein die Enten daran schuld wären, wenn sie von den Füchsen angegriffen werden. Die blaubraunen Hunde waren ein echte Plage, sie wurden immer mehr, und sie bedrohten auch die Katzen. Der große alte Kater hatte daher alle Pfoten voll damit zu tun, seinen Katzen und Katern gut zuzureden, dass sie sich nicht fürchten sollten vor diesen Hunden, sondern sich ihrer eigenen Krallen, ihrer Schnelligkeit und ihrer Klugheit bewusst sein sollten.

Wenn der große alte Kater in ruhigen Momenten auf seinen Samtpfoten durch das Gras streifte, so dachte er sich, dass alle Tiere gemeinsam den Terror der blaubraunen Hunde irgendwie loswerden müssten, um sich ganz und gar gegen die Zerstörungswut der Menschen wehren zu können. Andererseits ärgerte er sich so sehr darüber, dass nicht er, sondern die lächerlichen Ameisen, die flatterigen Vögel und die albernen Badeenten den Staat der Tiere regierten, dass er sich weigerte, mit diesen bunten Kreaturen irgendetwas gemeinsam zu unternehmen. Und über diesen Ärger vergaß er auch immer wieder die blaubraunen Hunde.

(4)

Eines schönen Tages war der große alte Kater mal wieder auf einem seiner Rundgänge unterwegs. Er war noch immer ein guter Streuner, er konnte sich lautlos heranschleichen, wenn es sein musste, aber auch wild fauchen, wenn er sich bedroht fühlte. Die Sonne stand schon tief über dem Horizont und tauchte die Welt der Tiere in ein mildes Licht – als plötzlich eine ganze Horde der blaubraunen Hunde auf den großen alten Kater zugestürmt kam. Es war furchterregend; die Biester fletschten ihre Zähne, die Zungen hingen gierig heraus, sie bellten wie wild und machten einen Höllenkrach.

Was hätte er tun sollen? Der große alte Kater war allein unterwegs, er war ratlos, und die Hundehorde kam immer näher. In höchster Not fauchte er sie an, buckelte so hoch er konnte, zeigte den heranbrausenden Biestern sein giftigstes Funkeln und seine schärfsten Krallen, aber die ließen sich davon nicht beeindrucken.

Da erinnerte sich der große alte Kater an die verlockende Höhe des Baumes der einfachen Wahrheiten. Er verehrte und bewunderte diesen Baum schon seit Längerem: So ein schöner starker Stamm, so eine prächtige Höhe! Von seiner Krone, gut geschützt vom rauschenden Blätterwald, sicher geborgen im starken Geäst – das versprach Rettung vor der gierigen blaubraunen Meute. Im allerletzten Moment flüchtete er sich dorthin, sprang auf dem Stamm hinauf, krallte sich fest in der borkigen Rinde der Zustimmung, die seinen Krallen wunderbaren Halt gab, vergaß alle Warnungen, die er selbst so oft gepredigt hatte, und stieg hoch und immer höher, während unten die blaubraunen Hunde bellten und kläfften, ihre Zähne in die Rinde schlugen, ihren Geifer ins Gras tropfen ließen – aber nicht an ihn herankamen.

(5)

Das war knapp gewesen. Doch nun saß er auf dem Baum, ganz oben, erstmal in Sicherheit. Das Geäst war nicht so stabil, wie er erwartet hatte, der Sichtschutz der Blätter weniger dicht als gewünscht. Und vor allem: Wie sollte er von dort wieder herunterkommen?

Da hörte er ein leises Krabbeln und Kribbeln, ein Zirpen und Zischeln, ein Trippeln und Trappeln. Es war zunächst mehr ein Rauschen als ein definierbares Geräusch. Der alte Kater stellte seine Ohren auf und bald lauschte er aus dem ganzen Durcheinander sogar einzelne Töne heraus. Nun war auch schüchternes Piepen zu vernehmen, mutiges Quaken, fröhliches Brummen. Ungläubig blickte der alte Kater aus seinem Versteck nach unten: Hunderttausende Ameisen wanderten dort, auch Zikaden und Grillen, schüchterne Mäuse, ein paar vorlaute Ratten, lärmende Laubfrösche, auch die eine oder andere Katze schlich mit, sogar ein paar ungelenke Badeenten waren dabei – sie alle zogen unter ihm vorbei. Ein nicht enden wollender Strom von Tieren aller Art zog dahin, und sie alle zirpten und brummten und quakten und miauten nur den einen Satz: „Weg mit den blaubraunen Hunden!!“

Das ganze Land der Tiere war hier unterwegs, endlos zogen die Kolonnen unter ihm entlang, pfeifend und singend flatterten die Vögel mit, brummend und keuchend, bunt und vielfältig, aber einig und ohne Streit ging es voran im großen Marsch der Tiere. Da saß er nun, der alte Kater, oben auf dem Baum, und wusste nicht, wie er von dort wieder herunterkommen sollte. Aber am schlimmsten war: Offenbar vermisste ihn niemand.

 

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Immersive Art – and Politics?

Die moderne Lust am Mittendrin-Erlebnis

Hereinspaziert! Das ultimative Erlebnis wartet. Es ist fast wie früher auf dem Jahrmarkt: „Eine Frau ohne Beine! Öffentliche Hinrichtung ohne Blut!“ Schaudernd und zögerlich stand man davor: Soll man diesen Verlockungen folgen? Selbst dabei sein, mittendrin, nicht nur davor?

Immersive Art verspricht das intensive Kulturerlebnis. Im Kirchengewölbe (hier der Stuttgarter Kirche am Feuersee) ist virtuell die Schöpfungsgeschichte zu erleben. Wie wäre es mit Immersive Politics? (Auf dem rechten Foto ein Blick auf die Großdemonstration für Demokratie in Hamburg am 20.1.2024)

 

Die Attraktionen von heute warten nicht auf das nächste Volksfest, sondern lauern in den würfelförmigen Zweckbauten der Moderne am Rande unserer Städte. „Aufwändige Installationen und Projektionen erzeugen in Verbindung mit Musik rauschende Farbwelten und lassen die Gemälde auf noch nie zuvor gesehenen Weisen lebendig und spürbar werden“, wird in Aussicht  gestellt, und: „Erleben Sie selbst, wie sich für Sie Illusion in Realität verwandelt!“ Illusion in Realität? Das ist viel versprochen, das muss man doch erleben.

Vorgebuchte Timeslots für schmucklose Hallen

Mit solchen Lockrufen wirbt beispielsweise „Monets Garten“ für ein immersives Kulturerlebnis rund um den französischen Ausnahmekünstler. Die bunten Welten der virtuellen Kunst boomen und verführen mit interaktivem Spektakel zum Besuch der großen Namen mit den berühmten Bildern.  Menschen, die sonst vielleicht niemals ein Museum betreten hätten, strömen für das immersive Erlebnis zu vorgebuchten Timeslots in schmucklose Hallen, und zahlen dafür satte Eintrittsgebühren.

Mit Vincent van Gogh kann man sich so übergießen lassen, geradezu virtuell ertrinken in seinen Sonnenblumen, oder auch in das endlose Gold von Gustav Klimt abtauchen. Leonardo da Vinci, Claude Monet, Rene Magritte, Frida Kahlo, Salvador Dalí – sie alle wurden schon immersiv aufbereitet. Das Erlebnis beschränkt sich dabei nicht auf die digitale Vervielfältigung des Einmaligen, nicht auf die Vergrößerung des großartig Kleinen ins Vielfache. Es geht um ein sinnliches Gesamterlebnis. Bei „Monets Garten“ kann man über eine mit Plastikblumen ausgeschmückte und synthetischem Fliederduft bestäubte Brücke gehen, also höchst körperlich selbst hineinsteigen in das berühmte Bild mit den Seerosen. Frida Kahlo darf man per VR-Brille durch einen Traumflug folgen, und bei Vincent van Gogh wird dazu eingeladen, sich virtuell in das berühmte Schlafzimmer von Arles hineinzubeamen.

Selfie-tauglich in die Überwältigung starten

Das immersive Erlebnis verspricht ein Eintauchen (engl. Immersion) in die Bild- und Farbwelt eines Künstlers, und das ganz mühelos und ohne dass auch nur ein einziges originales Bild vor Ort wäre. Replikationen ersetzen die millionenschweren Gemälde, ergänzt um eine einleitende Erlebniswelt mit ein paar Informationen zum besseren Verständnis. Gut ausgeleuchtet, Smartphone-Selfie-tauglich wird der Kunstfreund so auf die sinnliche Überwältigung vorbereitet. Die wartet in der großen Halle, über und über bespielt mit Projektoren. Die künstlerische Farbwelt überflutet den Besucher, der dort selbst zur nebensächlichen Projektionsfläche wird, denn eigentlich perlt die Bilderwelt über die Wände und auch auf den Boden. Von sanften Klängen umspielt darf man sich in die bereitliegenden Sitzsäcke fallen lassen, und dann gibt es Seerosen ohne Ende, überall, so schön und nah, wie man sie nie erleben könnte, wenn man ins Museum ginge. Dort würde kein Sitzsack warten und wäre auch keine Musik zu hören. Man dürfte sich unter dem strengen Blick des Aufsichtspersonals dem oftmals als überraschend kleinformatig empfundenen Original allenfalls auf einen halben Meter nähern.

Seerosen ohne Ende … bei „Monets Garten“ sitzt man inmitten eines virtuellen Seerosenteichs. Das Konzept der Überwältigung funktioniert, Menschen erleben Kunst, die vielleicht niemals ein Museum aufsuchen würden.

Da mögen nun die altklugen Kunstkenner die Nase rümpfen über so viel flachen Kommerz und so wenig echte Aura, über die billige Vervielfältigung des Einmaligen, auch über die eitle Sucht, sich ständig selbst digital verewigen zu wollen in der Welt der Großen. Aber das Prinzip Wachsfigurenkabinett funktioniert auch mit Malerei: Wer das Original nicht haben kann, fotografiert sich eben mit der gut gemachten Kopie.

In kirchlichen Gewölben wachsen Pflanzen

Mittendrin, nicht nur davor. Bei solchem Erfolg wollen nicht einmal die Hüter der biblischen Schöpfungsgeschichte beiseite stehen. Unter dem Titel „Genesis“ verteilen sich derzeit die virtuellen Wassermassen strohtrocken über die Kirchenbänke, erlebt der zahlende Besucher die Geburt der Sterne und das erste Licht des Lebens, wachsen in kirchlichen Gewölben dank moderner Projektion gewaltige bunte Pflanzen und versinken dann in der Evolution. „Die audiovisuelle Reise nimmt das Publikum mit in die Erschaffung von Sonne, Mond und Sternen, der Tierwelt und den Menschen“, verspricht der Veranstalter. Und auch hier sind die Kirchenbänke gefüllt bis auf den letzten Platz, die effektvoll ausgeleuchteten Gotteshäuser so voll wie selten sonst im regulären Religionsbetrieb.

Mittendrin im Pulk ist die Kraft zu spüren

Mittendrin, nicht nur davor. Hereinspaziert in die Demokratie!, könnte doch da auch ein politisch bewusster Jahrmarktsgaukler rufen. Wie ist denn schließlich heute Politik zu erleben? Öde ist der flüchtige Blick auf den Bildschirm, das Lauschen nebenbei aufs Radio, das langweilige Scrollen durch die Nachrichten auf dem Smartphone. Das Geschehen um das Gemeinwohl kann so nicht mit sinnlicher Pracht erlebt werden. Wer den Blick stets nur auf die kleinen Bilder heftet, die uns das nimmermüde Netz zuspielt, verpasst das große Bild – das immersive Abenteuer der Demokratie.

Also raus zum lebendigen Politikerlebnis! Hinauszugehen auf den Platz, der Einladung zur Demonstration oder zur Kundgebung zu folgen, sich zu nähern der Gruppe Gleichgesinnter, zu erleben, wie sie wächst und größer wird, wie sie schließlich eine Macht bildet, jedenfalls an diesem Platz und zu diesem Augenblick – das ist die ultimative Erfahrung von immersive politics. Mittendrin im Pulk ist die einende Kraft zu erahnen, die den Einzelnen mit dem wildfremden Nachbarn in der Masse verbindet, ist zu spüren, dass es möglich ist, sich gemeinsam bemerkbar zu machen.

Gewiss, dieses immersive Erlebnis geht vorüber, verglüht wie van Goghs virtuelle Sonnenblumen oder Monets versickerter Seerosenteich in der ausgeleuchteten Eventlocation. Aber immerhin: Einmal wenigstens war man mittendrin, nicht nur davor; einmal ist man der Einladung zum Mitmachen gefolgt. Warum nicht öfter? Es ist ganz kostenlos und ein echtes Erlebnis.

 

Immersive Kunsterlebnisse gibt es derzeit in vielen Städten in Deutschland. Hier eine Auswahl: Frida Kahlo kann man so noch bis 7. April in Berlin erleben, Claude Monet derzeit in München, Hannover, Dresden, Freiburg und Frankfurt und Vincent van Gogh ab 16. Februar in Erfurt.

Die biblische Schöpfungsgeschichte „Genesis I und II“ gibt es derzeit in München zu sehen, und ab 15. Februar auch in Hamburg.

Politische Demonstrationen zur Verteidigung der Demokratie gibt es an vielen Orten. Eine aktuelle Übersicht veröffentlicht z.B. regelmäßig der Deutsche Gewerkschaftsbund.

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Fünfzig Jahre nach Ho Chi Minh

Mit dem Rad durch Vietnam und Kambodscha – ein politisch geprägter Reisebericht

Von Hubert Seiter

Das alte Saigon heißt jetzt Ho Chi Minh-City – aber von den Schrecken des Vietnam-Krieges ist im Alltag kaum etwas zu spüren. Überall begegnen dem Touristen überaus freundliche Menschen. (Foto: Seiter)


 

 

Hubert Seiter war von 1996 bis 2016 Geschäftsführer der Rentenversicherung Baden-Württemberg. Ehrenamtlich engagierte er sich in zahlreichen Institutionen, unter anderem im Krebsverband Baden-Württemberg, in zahlreichen Patienten- und Behindertenorganisationen und als alternierender Vorsitzender im Verwaltungsrat des Medizinischen Dienstes (MD) Baden-Württemberg. Seiter ist passionierter Radfahrer und lebt in Bietigheim-Bissingen. (Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg)


„Ho Ho  – Ho Chi Minh!“ –  dieser rund fünfzig Jahre alte Schlachtruf weckte meine Erinnerungen bei einer Radreise im Spätherbst 2023 nach Vietnam und Kambodscha. Als „Bub vom Land“ habe ich damals die weltweiten Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner zunächst nur aufmerksam verfolgt. Erst zum Schluss habe ich mich getraut mitzudemonstrieren, aber bitte möglichst unauffällig. Als junger „Beamtenanwärter für den gehobenen, nichttechnischen württembergischen Verwaltungsdienst“ wusste oder ahnte ich, dass solche Aktivitäten den allermeisten Chefs – Landräten oder Bürgermeistern (damals fast nur Männer) – gar nicht gefallen würden.

Das alles ging mir auf dem viel zu langen Flug nach Saigon durch den Kopf, pardon: nach Ho-Chi-Minh-City – wie die 9-Milionen-Metropole seit 1976 zu Ehren des 1969 verstorbenen Revolutionärs und Präsidenten von Vietnam heute offiziell heißt. Drei Wochen lagen vor mir, in denen ich überwiegend auf dem Rad durch Südvietnam, durch das riesige Mekongdelta, und schließlich im benachbarten Kambodscha die Hauptstadt Phnom Penh und die unzähligen Tempel in Angkor Wat entdecken würde. Ich wollte mehr, und auch etwas darüber erfahren: Wie haben die Menschen in diesen Ländern den grausamen Vietnamkrieg gegen die Amerikaner und die nicht minder barbarische Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha verarbeitet – knapp fünfzig Jahre nach Kriegsende im Jahr 1975?

Das frühere Saigon lächelt

Das frühere Saigon lächelt, als ob nichts gewesen wäre. Man sieht fast nur junge, überwiegend sehr freundliche Menschen auf den Straßen. Das Durchschnittsalter der knapp 100 Millionen Einwohner Vietnams liegt gerade mal bei 32 Jahren – in Deutschland beträgt der Vergleichswert 45 Jahre. Die wenigsten Menschen haben daher unmittelbar mit- und überlebt, wie die USA in einer beispiellosen Material- und Menschenschlacht in Vietnam einen „Stellvertreterkrieg gegen den Weltkommunismus“ (so der Marco-Polo-Reiseführer „Vietnam“) geführt hat. Viele Millionen Tonnen Bomben, chemischen Kampfmitteln („Agent Orange“), einfach alles, was modernste Waffenarsenale damals hergaben, wurde eingesetzt.

Geschätzt 3,5 Millionen Menschen – Soldaten und Zivilisten – wurden getötet, unzählige Menschen verletzt und vertrieben. Es gibt Gedenkstätten, welche die Erinnerung an die Gräueltaten und an den stolzen Sieg wachhalten, z.B. in Cu Chi. Nachzuerleben ist dort, wie die „sehr schmächtigen Vietnamesen“ unter der Erde ein Tunnelsystem, auch mit Schutzräumen und Krankenhäusern, gegraben haben, das für die „beleibten Feinde“ unzugänglich war. Auch ein Museum mit allerlei Kriegsgerätschaften gibt es. Im Alltag dominierend ist die Erinnerung an diese Zeit jedoch nicht. Auf den mit tausenden Mopeds überfüllten Straßen habe ich keinerlei Hass gespürt. Man hat offensichtlich selbst mit Amerika seinen Frieden gefunden – spätestens seit dem Besuch von Bill Clinton im Jahr 2000, berichtet unser kundiger Reiseführer.

Gibt es eine „Verzeihenskultur“?

Kann das stimmen? Mir ist es zu einfach und ich nehme mir deshalb vor, mich zu Hause intensiver mit Konfuzius, Buddha und dem Daoismus zu befassen. Vielleicht finde ich Erklärungen für „eine Friedens- und Verzeihenskultur“, Werte, die beim Aggressor Putin, aber auch bei vielen „Zündlern“ in der NATO derzeit leider überhaupt keine Konjunktur haben.

Der Mekong mündet im zweitgrößten Delta der Welt (nach dem Amazonasdelta) in das Südchinesische Meer. Diese Landschaft auf dem Rad zu entdecken ist überwältigend. Fischfang, große Reisfelder, Handwerksbetriebe, viele Fähren (statt Brücken) und zunehmend -hoffentlich – auch ein bald wieder wachsender Fremdenverkehr, ermöglichen vielen Menschen ein bescheidenes Auskommen. Wir übernachteten überwiegend in sog. Homestays und ließen uns von vietnamesischer Hausmannskost verwöhnen. In allen Variationen gab es Fisch, Fleisch, vielfältiges Gemüse, Reis und tolle Früchte zum Nachtisch. Besondere Gewürze machten den (großen) Unterschied zum „Vietnamesen um die Ecke“ in Deutschland.

Auf kleinen Pfaden fuhren wir von Dorf zu Dorf.  Unser Guide hat es geschafft, uns fünf Tage lang durch das Delta zu lotsen, ohne dass wir einem Touristen begegnet wären, immer und überall begleitet von nur freundlichen Menschen, die uns „Hello“ zujubelten.

Mitten in Phnom Penh: Eine Begegnung auf Deutsch

Mit dem Tuk-Tuk durch Phnom Penh gefahren werden – und dabei kann man viel darüber erfahren, wie es war, als Arbeitskraft in der früheren DDR gelebt zu haben. (Foto: Seiter)

Dann weiter nach Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas. Die Busfahrt aus dem märchenhaften Mekongdelta und ein langwieriger Grenzübergang – trotz einiger Dollar Bestechungsgeld – waren eine angemessene Einstimmung. Im Reiseführer steht: „Die 600 Jahre alte Hauptstadt (ca. 2 Mio. Einwohner) ist auf einer rasanten Zeitreise ins 21 Jh. und dem bäuerlichen Rest des Landes um Lichtjahre voraus“ (Marco Polo „Kambodscha“). Nicht ganz so viele Mopeds gibt es dort wie in Saigon, dafür aber sehr viele Tuk-Tuks – motorisierte Rikschas. Unglaublich, was auf diesen „Dreirädern“ alles transportiert werden kann! Wir fanden ein Tuk-Tuk mit einem hervorragend Deutsch sprechenden Fahrer. Bis zur Wende war er „auf Arbeit“ bei Zeiss in Jena. Er hatte viel zu erzählen, auch aus seinen Lehr- und Arbeitsjahren in der DDR. „Gönnt euch einen Abend in dem Dachkaffee eines Hochhauses“, empfahl er uns. Wir folgten dieser Empfehlung und genossen einen wunderschönen Sonnenuntergang über den Dächern von Phnom Penh… bei Cocktails zu einem Preis, den sich unser „deutscher“ Tuk-Tuk-Fahrer trotz üppigem Trinkgeld wohl kaum leisten kann.

Segen und Fluch des Tourismus

Bleibt zu hoffen, dass Kambodscha im Aufschwung doch noch erspart bleibt, was sich – leider – anzudeuten scheint: Sextourismus und/oder Raubtierkapitalismus. Je ein Edelkarosse „Maybach mit Chauffeur“ in Saigon und in Phnom Penh werteten wir dafür als nicht unbedingt gute Zeichen.

Nicht mehr zu entscheiden hat man das in Angkor mit seinen unzähligen Tempel- und Klosterruinen im Dschungel. Dort gibt es bereits im benachbarten Siem Reap eine Partyszene. Nicht auszudenken, wenn jetzt – nach Corona – wieder der Massentourismus aus China einsetzt. Die Kehrseite: Über 300 Hotels (2022), und doch sind viele Gaststätten in Siem Reap immer noch geschlossen, viele Reiseführer arbeitslos. Stattdessen verkaufen Kinder im Vergnügungsviertel kleine Souvenirs und tragen so zum kümmerlichen Lebensunterhalt ihrer Familien bei.

Da einfach nur mildtätig kaufen nicht mein Ding ist, versuchte ich mit einigen – meist – VerkäuferInnen ins Gespräch zu kommen. Ein besonders neugieriges und wissbegieriges kleines Mädchen hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ich bat sie gestenreich, sich zu uns zu setzten. Auf einer Papierserviette löste sie kleine Rechenaufgaben und vergaß dabei einige Minuten völlig ihren „Job“. Die Serviette – und einen Dollar für einen kleinen Anhänger – packte sie in ihr Täschchen. Wir trafen sie auf dem Heimweg nochmals. Freudestrahlend – und ich glaube auch etwas stolz – zeigte sie uns die Serviette aus ihrem Täschchen.  Ich nahm mir vor, zu Hause nach Projekten zu suchen, die Kindern in Kambodscha – immer noch eines der ärmsten Länder weltweit – Schule und damit Zukunft ermöglichen.

Zwei Tage unterwegs, nur einen Bruchteil gesehen

Einen Teil der riesigen Tempelanlagen in Angkor zu entdecken – verteilt auf eine Fläche so groß wie Berlin! – gelingt am besten auf dem Rad. Auf dem Mountainbike, abseits der Massen, geführt von einem kundigen Guide war es ein unbeschreibliches Erlebnis, im Dschungel nicht nur die gängigen Tempel zu finden. Zwei Tage waren wir unterwegs und haben doch nur einen Bruchteil der sehenswerten Ruinen gesehen. Einfach unvorstellbar, was die Hochkultur der Khmer vor eintausend Jahren hier geschaffen hat. Diese Schätze der Vergangenheit zu schützen und zu erhalten, ist eine Herkulesaufgabe – nicht nur für das arme Kambodscha, sondern für die ganze Welt!

Mit dem Fahrrad durch den Dschungel, und dabei die geheimnisvolle Tempelwelt des Angkor Wat entdecken – ein unvergleichliches Erlebnis. (Foto: Seiter)

Auch dafür ist der nagelneue, hochmoderne Flughafen von Siem Reap Segen und Fluch zugleich. Millionen von Touristen werden in den nächsten Jahren erwartet. Sie bringen die dringend notwendigen Devisen in die Region und nach Kambodscha, aber die Touristen sind auch eine Gefahr für die unverfälschte Freundlichkeit dieser liebenswerten Menschen und den Erhalt der unschätzbaren Kunstwerke vor Ort.

Auf dem Rückflug: Träumen ist erlaubt

So war für mich während des 13-stündigen Fluges zurück von einer nachhaltig- beeindruckenden Reise durch Vietnam und Kambodscha das Träumen angesagt: Bemühen wir uns alle um viel mehr und behutsame Wertschätzung. Reagieren wir wütend auf unmenschliche und unsagbar teure Kriege auf der Welt. Fordern wir Versöhnung statt Revanchismus! Christen, Juden, Buddhisten, Muslime, Atheisten – einfach alle sind gleichermaßen verpflichtet!

 

Dieser Text ist ein Gastbeitrag auf vogtpost.de und gibt ausschließlich die persönliche Meinung von Hubert Seiter wieder.

Wer der Empfehlung von Hubert Seiter folgen und Projekte für Kinder in Kambodscha unterstützen möchte, kann dies an zahlreichen Stellen tun. Hier eine Auswahl: UNICEF-Projekte für Kambodscha, SOS-Kinderdorf in Kambodscha, oder das Projekt „Raise and support the Poor“, das dem Autor persönlich bekannt ist.

 

Mit dem Vietnam-Krieg und wie er in den USA und Deutschland wirkte, setzt sich auch der Text „Vom Frieden träumen, im Krieg aufwachen“ auseinander, veröffentlicht anlässlich eines Musical-Besuchs von „Hair“ in Saarbrücken im Frühjahr 2023.

 

Job ist Job – Weihnachten in Deutschland

Eine Erzählung

(1)

Ahmed friert. Seit zwei Stunden steht er jetzt bereits in der Dunkelheit, um vier Uhr früh hatte seine Schicht begonnen. Kein einziges Auto, kein LKW, einfach gar nichts, hatte seither Interesse an seiner Wachtätigkeit gezeigt. Dunkelheit, Stille, Kälte – das war alles gewesen, was dieser Morgen bisher für ihn bereitgehalten hatte. „Mach Dir einen gemütlichen Tag“, hatte der Chef gesagt. Lächerlich, meint Ahmed. Das, was die Deutschen mit „gemütlich“ meinen, ist hier nicht herzustellen. Wahrscheinlich ist „gemütlich“ auch sowas aus ihrer Leitkultur. Hat er gehört im Radio, dass es jetzt eine Leitkultur geben soll in Deutschland. Ahmed ist stolz auf seine Deutschkenntnisse nach acht Jahren in diesem dunklen, kalten Land. „Gemütlich“ hatte er gelernt, und auch „Leitkultur“, das hatte er neulich aber extra nachschlagen müssen.

Foto: Stefan Schweihofer lizenzfrei auf Pixabay

Hier auf der Baustelle ist es jedenfalls kalt und schmutzig, nicht gemütlich. Er blickt auf das Handy. Zwei Grad zeigt es an, sechs Uhr, sieben Minuten. Als Wettersymbol langweilt eine kleine graue Wolke.  Ahmed blickt nach oben, aber es ist noch alles dunkel. Keine Sterne, keine Dämmerung. Noch einmal geht Ahmed seinen nächtlichen Rundgang, vorbei am dunklen Bauteil A, der schon fast fertig ist, dann hinüber zu den Gerüsten von B und C. Harter Matsch am Boden, Schalungsbretter, Kabeltrommeln, Baumaterial. Wieder zurück, vorbei am Container der Bauaufsicht, auch stockdunkel. Danach die graue Kiste der Baustellen-Video-Überwachung. „Hier wache ich“, behauptet die Aufschrift neben der Kamera.

Nein, denkt sich Ahmed, hier wache ich.

Ein LKW näherte sich. Die erste Baustellenanlieferung. Ahmed schiebt das Gatter zur Seite, das die Baustellenzufahrt eher symbolisch versperrt, hebt die Hand zum Gruß für — ah, für Sergio. Nie gesehen, den Sergio, denkt sich Ahmed, aber das Schild hinter der Windschutzscheibe macht ja klar, mit wem er es zu tun hat. Die Schrift flackert im bunten Licht eines blinkenden Mini-Weihnachtsbaums, den sich Sergio ins Fahrerhaus gebastelt hat. Wuchtig und blubbernd rollt der Sattelschlepper auf Ahmed zu. Sergio lehnt sich aus dem Seitenfenster. „Wohin …?“, fragt er, wedelt mit einem weißen Blatt Papier, blickt drauf – „C …? Bauteil C?“

Ahmed weist ihm den Weg: Rechts, dann geradeaus, um das erste Haus herum und dort in den Hof zwischen die eingerüsteten Häuser. Das tonnenschwere Gefährt setzt sich in Bewegung, das irrlichternde Weihnachtsbäumchen spiegelt sich in den dunklen Scheiben von Bauteil A. Sergio dankt mit einem lässigen Wink. Auch Ahmed hebt die Hand. Zwischen den Leuten auf dem Bau herrscht freundliche, männliche Klarheit. Ahmed liebt diese Nüchternheit im Umgang miteinander. Er tritt zur Seite, das schwere Gefährt muss ausholen, um in die Kurve zu kommen.

Ahmed schiebt den Zaun zurück in den Eingang. Sein Auftrag ist, hier unter Kontrolle zu halten, wer rein- und rausfährt. Bei Wind und Wetter, Schnee und Regen. Job ist Job, denkt er. Es ist Freitag, noch eine Woche, dann feiern die Deutschen ihr Weihnachten. Das sind Feiertage, keine Arbeit, darauf freut sich Ahmed. Mit den Weihnachtsbäumen überall, dem ganzen Lichtergeglitzer, dem Rummel und der Aufregung, den eiskalten Jahrmärkten, die sie da veranstalten, kann er nichts anfangen. Ihre Leitkultur eben. Schon ok, aber nicht seine Welt. Manche seiner Freunde machen da sogar mit, obwohl sie Muslime sind und Allah doch kein Weihnachten kennt. Ahmed lehnt das ab. Seiner Familie hat er strikt untersagt, sich diesem christliche Wahnsinn irgendwie anzuschließen. Traurig geguckt haben die Kinder, das hatte er schon bemerkt, aber sie hatten nicht zu widersprechen gewagt.

Weihnachten, das ist das Fest der Deutschen, und Ahmed ist kein Deutscher. Ob er jemals zurückkehren wird nach Syrien? Keine Ahnung, jetzt jedenfalls lebt er hier und bewacht ihre Baustellen, aber wirklich dazu gehört er nicht. Das haben die Deutschen ihm oft genug klargemacht, auf den Behörden, in den Kneipen, beim Fußball. Sie nehmen ihn hin, sie „dulden“ ihn und seine Familie, und sie nutzen seine Arbeitskraft, seine Muskeln, für ihre Sicherheit. Auch Selda, seine Frau, brauchen die Deutschen, denn sie lassen sie ihre Behördenräume putzen. Was sollte er sich also um Weihnachten scheren? Die Deutschen kümmern sich ja auch nicht um das Fastenbrechen, wenn der Ramadan zu Ende ist.

Ein schwarzer SUV nähert sich, die Lichthupe flackert auf. Der Chef. Ahmed räumt das Gatter zur Seite, und Pablo rollt über die ruinierte Asphaltschicht auf das Gelände, schlägt scharf rechts ein und kommt direkt neben ihm zu stehen. Pablo ist ein guter Chef, Ahmed hat an ihm nichts auszusetzen. Er ist klar und meistens freundlich. Spanier, vermutet Ahmed, jedenfalls kein Deutscher. Aber EU-Bürger, und das macht einen großen Unterschied. So an die fünfzig Leute kommandiert er herum, teilt sie dort ein, wo die Deutschen sich ihre Sicherheit erkaufen wollen.

„Morgen!“, ruft Pablo beim Aussteigen, „ganz schön ungemütliches Wetter!“ Pablo hat nur einen Pulli über seinem Hemd, hat sich so aus dem geheizten Sitz gewuchtet, kein Wunder, findet Ahmed, dass er es kalt findet. Ahmed hebt die Hand, die in einem Handschuh steckt. Der wattierte Anorak raschelt.

„Alles klar?“, fragt Pablo, erwartet aber offenbar keine Antwort, denn er redet sofort weiter. „Du stehst doch jetzt schon seit – “, Pablo stockt und überlegt – „seit wie vielen? Tagen? Hier draußen?“

„Die ganze Woche. Heute der fünfte Tag,“ antwortet Ahmed, „immer die Frühschicht ab vier. Job ist Job.“

„Ich habe zwei gute Nachrichten für Dich“, strahlt Pablo gutgelaunt und grinst Ahmed an, holt sich eine Zigarette aus der Tasche, steckt sie in den Mund, zündet sie aber nicht an. Rauchen ist verboten auf der Baustelle, fällt ihm wohl gerade ein. Ahmed blickt ihn an. Es dämmert.

„Wenn Du willst, kannst Du ab Montag eine Innenschicht machen. Security im Theater, jeden Abend ab 18 Uhr, bis Schluss ist. Lässiger Job, warm und gemütlich.“

Schon wieder gemütlich, denkt sich Ahmed.

„Warst jetzt lange genug hier draußen in der Kälte“, gibt sich Pablo gönnerhaft. „Innendienst heißt aber auch: Musst Dich benehmen, keine Baustelle. Lauter noble Leute im Theater. Bekommst Du das hin?“

„Wenn Du meinst.“ Was soll diese Frage, ärgert sich Ahmed. Wenn Du mir den Job gibst, bist du ja wohl der Meinung, dass ich mich benehmen kann. Warum auch nicht? „Und die zweite Nachricht?“

„Hast du Lust an Weihnachten zu arbeiten? Ihr feiert doch sowieso nicht? Es gibt Zuschlag.“

Ahmed kann jeden zusätzlichen Euro gebrauchen. Er nickt.

Pablo rupft die kalte Zigarette wieder von seinen Lippen und steckte sie in seine Jackentasche. „Da sind mir zwei Leute ausgefallen, Flüchtlingsunterkunft im Norden. Nachtschicht ab 22 Uhr. Bist Du dabei?“

„Klar, mache ich“, sagt Ahmed.

 

(2)

„Ah, Sie sind der Mann von der Security!“

Ein schlaksiger blonder Hüne, so spindeldürr, dass der Anzug an ihm herunterhängt wie eine Fahne ohne Wind, empfängt Ahmed am Montag im leeren Foyer des Theaters. Ahmed war schon ein paar Mal im Kino, aber noch nie in einem Theater. Der Dünne streckt ihm die Hand entgegen. „Herzlich willkommen!“, sagt er, „am besten zeige ich Ihnen hier schon mal alles.“

Ahmed hat sich für den Inneneinsatz im Theater seine Innen-Dienstkleidung angezogen. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, Dienstjacke mit dem Logo der Firma. Im Foyer ist es bullig warm, Ahmed schwitzt, während er dem Schlaksigen mit seinen langen Schritten über die schallschluckende Teppichbodenwüste des weiträumigen Theaterfoyers folgt.

„Also, hier sind die Zugänge, da gehen unsere Besucher dann rein. Dort die Notausgänge. Da die Garderoben und Toiletten, da entsteht immer ganz schönes Gedränge. Dort ist die Bar, die umlagern dann unsere Besucher in der Pause. Schön hier, nicht wahr?“

Der Theatermann blickt ihn an, und Ahmed nickt unbestimmt.

„Aber damit und auch mit dem ganzen Saaleinlass haben Sie nichts zu tun, das machen alles meine Leute.“

„Und was habe ich zu tun?“, fragt Ahmed.

„Ihrem Vorgesetzten haben wir das ja schon erklärt. Wie haben hier diese Woche ein jüdisches Orchester zu Gast, und es ist nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, dass es in diesem Zusammenhang zu Protestaktionen kommt.“

Ahmed legt sich im Kopf die Worte zurecht: Nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen? Es dauert einige Sekunden, bis er verstanden hat: nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, ah ja, könnte also sein.

Der Mann vom Theater schaut ihn an, mustert ihn, schaut ihm beim Verstehen zu. Er ist mindestens einen Kopf größer als Ahmed, allerdings sichtbar frei von jeglicher Muskulatur.

„Wegen Gaza und so, Sie wissen schon.“

Während er das Wort „Gaza“ aussprach, hatte er den Blickkontakt gelöst und über ihn hinweg geblickt, fällt Ahmed jetzt auf, als richte der Mann vom Theater seine Worte nicht an ihn, sondern an irgendwen, der hinter ihm stand.  Gaza. Natürlich weiß Ahmed. Im arabischen Sender gibt es kaum ein anderes Thema. Grausige Bilder: rauchende Trümmer, blutende Körper auf dem nackten Boden, angeblich in einem Krankenhaus. Explodierende Bomben. Verzweifelte Frauen. Verdreckte Kinder. Soldaten. Ahmed kannte das alles aus seiner Heimat. In Syrien hatten Muslime gegen Muslime gewütet, denkt sich Ahmed, in Gaza wüten Juden gegen Muslime. Seit Jahren schon, immer das gleiche. Hoffnungslos.

Ich mag keine Juden, denkt sich Ahmed.

„Sie müssen also bitte einen Blick auf das Geschehen haben,“ redet der Dünne jetzt wieder, „Sie müssen unterbinden, dass Angriffe im Foyer stattfinden oder Unbefugte auf die Bühne springen, herumschreien oder so.“

Ahmed nickt, fühlt sich aber unwohl. Juden auf der Bühne, denkt er sich, das hatte mir Pablo nicht gesagt. Aber Job ist Job.

„In solchen Fällen üben Sie bitte unser Hausrecht aus,“ hört Ahmed den Mann vom Theater, „dann sorgen Sie bitte für Ordnung, begleiten solche Personen heraus. Vor und nach der Vorstellung behalten Sie das Foyer im Auge, während der Vorstellung haben Sie einen Platz im Saal.“

Der Dünne blickt zu Ahmed herab. „Notfalls müssen wir die Polizei rufen. Die weiß Bescheid und ist in drei Minuten hier.“ Ahmed will nichts zu tun haben mit der Polizei. Er ist nur geduldet.

„Aber wenn nichts passiert, was wir natürlich hoffen, dann haben Sie auch nichts zu tun“, sagt der Dünne.

 

Hier passiert gar nichts, das ist ja hier absolutes Nichtstun, grübelt Ahmed, während er mit langen Schritten durch das Theaterfoyer wandert, immer hin und her von einem Ende zum anderen. Sich benehmen. Nicht auffallen. Job ist Job. Ahmed blickt aufs Handy. Noch eine halbe Stunde bis Vorstellungsbeginn, und ihm ist jetzt schon langweilig. In den dicken Sesselgruppen versinken wohlgekleidete Menschen. Alles Deutsche. Meist alt. Manche balancierten ein Sektglas in der Hand, andere blättern in den Heften, die überall herumliegen. Gedämpftes Geplauder. Ihre Leitkultur, denkt Ahmed. Gemüüütlich. Leitkultur, Leit … Kultur, Leitkultuuur“, murmelt Ahmed vor sich hin. Wenn er sonst nichts zu tun hat, übt er deutsche Worte. „Gemüüütlich, üüü, gemüüütlich, …“

Dann ertönt ein sanfter dreitöniger Glockenschlag – ding, dang, dong -, und die in einer dunkelblauen Uniform gekleideten Damen an den Türen öffnen die Zugänge. Sehr diszipliniert strömen die deutschen Grauköpfe dem dunklen Saal entgegen.

Wofür bin ich hier? Hier passiert doch rein gar nichts, denkt sich Ahmed.

„Ich zeige Ihnen Ihren Platz!“, hört er da die Stimme des Langen vom Theater hinter sich. Ahmed spürt einen kurzen Griff an den Oberarm, und ohne Nachzudenken spannt er seinen trainierten Bizeps an. Der Lange lässt sofort los. Ahmed folgt ihm zur vordersten Tür, ignoriert das Lächeln der blauuniformierten Einlassdame und bekommt einen Randplatz in der dritten Reihe zugewiesen. „Und das Handy bitte ausmachen!“, raunt der Dünne ihm noch zu.

Das Theater ist höchstens halb voll, stellt Ahmed fest. Viele Deutsche sind das wohl nicht, die den Juden zuhören wollen. Ahmed behält das Geschehen im Blick und nimmt sich vor, auch während der Vorstellung mehr in den Saal zu blicken als zur Bühne. Wenn hier einer stören will, dann sitzt er ja wohl jetzt hier irgendwo in diesen Reihen, denkt sich Ahmed. Die Juden auf der Bühne mag er ohne hin nicht. Aber Job ist Job.

Die Blaufrauen schließen lautlos die Türen. Ersterbendes Gemurmel. Das Licht dimmt herab und Ahmed setzt sich.

 

(3)

„Das glaubst Du nicht, was die Juden da im Theater spielen“, sagt Ahmed am nächsten Morgen zu Selda. „Das ist kein Theater. Das ist eigentlich Musik, aber die ist ganz schrecklich. Katzengejaule. Ich habe mich zu Tode gelangweilt. Dazwischen tritt eine Frau auf, die redet mittenrein in die Musik, ruft und schreit irgendwas von Tod und Vernichtung und Schuld, keine Ahnung was das bedeuten soll.“

Selda füllt die Brotzeitboxen für die Kinder. „Gab´s denn Stress?“, fragt sie.

„Nein, überhaupt nicht. Gar nichts. Total langweilig. Alles alte Leute. Das gehörte wohl so, das mit dem Dazwischenreden in die scheußliche Musik. Totenstill war es am Ende, weil die Frau da auf der Bühne was erzählt hat von Gewalt. Stell Dir vor, die hat erzählt, dass es in Deutschland mal Leute gegeben hat, die haben die Kinder ihrer Nachbarn ermordet, einfach so, grundlos, und dann sind sie nach Hause gegangen und haben mit ihren eigenen Kindern zusammengehockt und ihr Weihnachten gefeiert. Als wäre nichts gewesen.“

Ahmed schüttelt den Kopf. „Und wenn ich es richtig verstanden habe, dann hat die Frau den Leuten im Theater vorgeworfen, dass diese Kinder jetzt groß sind, also Erwachsene, und die sollen jetzt deshalb irgendwie ein schlechtes Gewissen haben oder so.“

„Verstehe ich nicht“, sagt Selda.

„Ich auch nicht. Was da auf der Bühne los war, das fand ich jedenfalls total langweilig. Diese Musiker, angeblich Juden, sehen aber ganz normal aus, und dann die böse Frau mit ihren Geschichten. Muss ich mir diese Woche noch viermal anhören. Aber Job ist Job. War auf der Baustelle einfacher.“

Selda schließt die Brotzeitboxen und ruft ihre Kinder.

 

(4)

Ahmed friert wieder. Totenstille auf der Straße. Die Deutschen feiern Weihnachten heute Abend, niemand unterwegs. Sollen sie feiern.

„Kannst Du die Schicht auch allein machen?“, hatte Pablo ihn am Handy gefragt. „Janni hat sich krankgemeldet, und ich bekomme so schnell keinen Ersatz, nicht heute an Weihnachten.“

Klar konnte er die Schicht auch allein machen. Ist halt langweilig. Und gefährlicher, wenn wirklich etwas passiert. Aber was hätte er schon antworten sollen? „Ok“, hatte er gesagt.

„Dafür hole ich Dich morgen früh ab, wenn ich die Ablösung bringe,“ hatte Pablo angeboten. Ahmed hatte durch das Telefon gehört, wie Pablo an seiner Zigarette zog, er konnte den Rauch geradezu riechen, wenn sein Chef ausatmete und die Wolke ins Handy pustete.

„Übrigens,“ hatte er dann ergänzt, „die im Theater waren sehr zufrieden mit Dir. Kannst Dich offenbar benehmen. Vielleicht brauchen sie uns öfter. Wird ja immer mehr gestritten in Deutschland.“

Jetzt also die Unterkunft für Geflüchtete bewachen. Als er ankam aus Syrien, gab´s keine Container. In einer großen Messehalle musste er hausen, stickig und laut war es, aber Ahmed war glücklich, er war im Paradies. Tausendmal besser als die Bomben von Aleppo, tausendmal besser als die Angst, die Erschöpfung in den nassen Nächten auf der endlosen Wanderung durch den Balkan.

Trotzdem arme Kerle, denkt Ahmed, die hier darauf warten, ob sie geduldet werden. In ihrer Leitkultuuuuur. Gar nicht gemüüütlich. Er blickt aufs Handy: Minus zwei Grad, Schneeregen. Sekunden später sickert das Nass der ersten Flocken durch seine Haare auf die Kopfhaut. Job ist Job, bringt Extrageld, da muss ich durch. Er zieht seine Kapuze über und macht sich auf die Runde. Drei Minuten benötigt er dafür, die eingezäunte Containersiedlung zu umrunden. Jede Stunde sollte er es viermal machen, alle fünfzehn Minuten.

Der Schnee schmilzt sofort, wenn er auf den Boden fällt. Seit Tagen reden die Deutschen davon, ob es „weiße Weihnachten“ geben könnte. Auch sowas von ihrer Leitkultur. Ihm ist das egal, für Ahmed gibt es nur nasses oder trockenes, kaltes oder warmes Wetter. Jetzt war nasses, kaltes Wetter, und das ist die schlechteste Kombination, wenn man draußen herumstehen muss. Ahmed blickt zu den Containern hinüber. Überall Licht, zu hören ist aber nichts. Gut so, denkt sich Ahmed. Security bei Flüchtlingsunterkünften ist nicht beliebt. Immer wieder streiten die Leute untereinander, oder es kommen Deutsche, die Ärger machen wollen. Heute hoffentlich nicht, denkt Ahmed. Die Deutschen sind beschäftigt mit ihrem Weihnachten.

Da entdeckt Ahmed eine offene Containertür, das Fester daneben ist dunkel. Er tritt heran, klopft, ruft, leuchtet mit seiner Stablampe herein: Ein Stockbett, ein Tisch, zwei Stühle. Ein Schrank mit offenstehenden Türen. Alles leer. Nicht belegt. Offenbar hat jemand vergessen, den Container abzuschließen. Ahmed zieht die Tür zu und setzt seine Runde fort.

Foto: Nile lizenzfrei auf Pixabay

 

Zwei Stunden später hat es aufgehört zu schneien. Jetzt ist der Himmel klar, einige helle Sterne funkeln herab, aber viele von ihnen sind nicht zu sehen, weil eine Straßenlampe den Eingang zur Containersiedlung hell ausleuchtet, ein greller Lichtkegel. Ahmet tritt in das Licht, als er von seiner zehnten Runde zurückkehrt.

„Da, da, da ist jemand!“, hört Ahmed die Stimme einer Frau, von irgendwoher im Dunkel um ihn herum. Ahmed blickt sich um, sieht nichts, tastet in einem Reflex nach seinem Elektroschocker. Es ist mitten in der Nacht, was war das für eine Stimme?

„Da, schau doch!“, hört Ahmed. Aus dem völligen Dunkel tritt eine schwangere Frau in den Lichtkegel.

„Hallo“, ruft Ahmed, „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

Jetzt wird auch ein Mann sichtbar, der hinter der Frau hertappt, schwarze Haare, ein Bart, lange Locken, ein kleines tellerförmiges Hütchen auf dem Kopf. Er hat ein Handy in der Hand, das Display leuchtet.

„Sei vorsichtig“, sagt der Mann. „Wir sind hier nicht erwünscht, denk immer dran.“

Ahmed geht auf das seltsame Paar zu. „Was wollen Sie hier?“

Die beiden weichen zurück. „Wir sind auf Herbergssuche. Wir brauchen einen Platz für die Nacht,“ stammelt die Frau. „Und bald wird mein Kind kommen. Wir können nicht mehr weiterlaufen.“

„Dieser Mann wird uns töten,“ sagt der Mann.

„Nein“, ruft Ahmed. „Ich töte niemanden. Ich bin von der Security. Ich sorge für Sicherheit. Das ist mein Job hier in Deutschland.“

Zögernd nähern sich die beiden wieder. Die Schwangere weint. „Ich kann nicht mehr,“ jammert sie, „immer auf der Flucht. Es geht nicht mehr.“ Sie lehnt sich an ihren Mann und reibt sich die Augen. Der Fremde nestelt an seinen seltsamen Locken herum und hält Ahmed sein Handy unter die Nase. „refugee accomodation“ steht dort. Der blaue Punkt daneben blinkt. Ziel erreicht.

Schweigend stehen sie sich gegenüber, ein paar Sekunden vielleicht. Dann umfasst der Gelockte mit dem Hütchen die Schultern seiner Frau, und wendet sie herum. „Komm, wir gehen weiter“, sagt er.

„Für eine Nacht,“ ruft Ahmed dem rätselhaften Pärchen hinterher und winkt. „Ist ja schließlich Weihnachten.“ Er geht voraus, öffnet die Tür zu dem leeren Container und weist die beiden mit einer Kopfdrehung hinein.

 

(5)

Sechs Uhr, Feiertag. Es ist noch stockdunkel, und dazu klirrend kalt. Ahmed steigt in den SUV, während sich die beiden Kollegen, die ihn ablösen, auf ihre erste Runde machen. Pablo hatte sie mitgebracht und angeboten, Ahmed zur Bahn zu bringen.

„Gab´s was Besonderes?“, fragt Pablo.

Die Straßen sind leer. Dünne Nebelschwaden wabern in der Dunkelheit. Beim Vorbeifahren erfasst ein Bewegungsmelder den SUV und löst eine bunte Lichterkette aus, die sich plötzlich blinkend um ein Supermarktschild schlingt. „Merry Christmas“, blinkt es.

„Nein,“ sagt Ahmed. „nichts Besonderes. Job ist Job.“

 

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Der Abschnitt über die Theateraufführung war inspiriert von einem Erlebnis, das ich im Schauspiel Stuttgart hatte: Konzert und Lesung „Kofflers Schicksal“ mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich und der Schauspielerin Jelena Kuljic von den Münchner Kammerspielen (am 3. Dezember 2023). Weitere Konzerte dieser Art finden u.a. am 24. Januar 2024 in Deggendorf, am 1. März in Dresden und am 14. April in Düsseldorf statt, siehe Konzertkalender.

„Der Paradiesbaum“ – meine Weihnachtsgeschichte vom letzten Jahr finden Sie hier. 

 

 

 

 

Ideale Fehlbesetzung für das große Glück

Wolf Biermann erzählt vom ewigen Kampf für die Freiheit

Natürlich steht am Anfang die Gitarre. Noch bevor Wolf Biermann irgendetwas gesagt hat in einer Podcast-Aufnahme, die erst enden soll, wenn der Gast der Meinung ist, dass „alles gesagt“ sei, greift er zur Gitarre. Er sing eines seiner Lieder, und stellt dann die Gitarre zur Seite, seufzend fast. „Hier geht es ja nicht im Lieder“, sagt er, „heute soll geredet werden.“ Wie ein stiller Gast wird die Gitarre auf dem kleinen Podium verbleiben, geduldig wartend, bis sie mehr als sieben Stunden später wieder erklingen wird. Dazwischen wurde geredet.

Geredet über Deutschland. „Ist Biermann moderierbar?“, hatte sich Co-Moderator Jochen Wegner, Chefredakteur von „Zeit online“ bei einem Kollegen mit Erfahrung im Umgang mit dem 86-jährigen erkundigt, und als lapidare Auskunft ein „Nein“ erhalten. Diebische Freude hat der kleine Wolf daran, jede Regie durcheinanderzubringen, sich jeder Anweisung zu widersetzen. Eine Schar von Biermann-Fans hatte sich dafür im Rahmen des Hamburger Harbour Literatur-Festivals in einem ausverkauften Tonstudio durchaus kuschelig zusammengefunden.

Gezeichnet von vielen Stunden schwerer Last eines Gesprächs über deutsche Geschichte: Wolf Biermann im Gespräch mit Christoph Amend, Editorial Director ZEITmagazin, bei der Podcast-Aufnahme „alles gesagt“ in Hamburg

Biermann moderiert sich selbst

Biermann führt hier das wortwuchtige Kommando, moderiert sich nahezu selbst in diesem mäandernden Gesprächsmarathon. Ein Leben wird da ausgebreitet, das Leben einer deutschen Ikone der Gegenwart. Wie konnte dieser kleine Mann mit dem markanten, heruntergezogenen Schnauzbart dazu werden?

Im Laufe der Gesprächsstunden mangelt es nicht an Selbstbeschreibungen des putzmunteren Gastes, der von seinen Gastgebern als „größter Drachentöter der deutschen Nachkriegsgeschichte“ begrüßt wurde. Immer wieder tadelt er sich selbst als „Idiot“, schlägt sich gegen die eigene Stirn dabei, spart aber mit solcher Bewertung auch nicht gegenüber seinen Mitmenschen. Vor allem sei er ein Glückskind, eine „ideale Fehlbesetzung“, wundert er sich in eigener Sache. Wer ihm folgt über alle diese Stunden, geduldig den Redeschwall aushält, mit ihm seine häufigen Denkpausen durchschweigt, unterwirft sich seiner geschulten Dominanz, die prallvoll ist von einem deutschen Leben.

Eine Biografie, die verstummen lässt

Zuhören ist also angesagt. Aber diese Biografie lässt ohnehin jeden verstummen, der sie nicht durchlebt hat. Gesäugt an der Brust wurde er, während seine Mutter in den Gestapo-Verhörräumen mit klugen Lügen das Schicksal des Vaters zum Guten zu wenden versuchte. Erfolglos, denn der Vater war zu stolz, sich retten zu lassen. Wolf Biermann, der aus einer Hamburger Kommunisten-Familie stammt, war drei Monate alt, als sein Vater von den Nazis (bereits zum zweiten Mal) verhaftet wurde und nicht mehr freikam, bis sie ihn 1943 in Auschwitz ermordeten. Als Jude, wozu sich der Vater ausdrücklich gegenüber den SS-Schergen bekannt hatte, obwohl er als Kommunist ja eigentlich gar keinen Gott kennen wollte.

Als 17-jähriger siedelte der kleine Wolf Biermann im Jahr 1953 auf Veranlassung der Kommunistischen Partei in die gerade erstandene DDR über, ohne seine Mutter, aber mit ihrem Einverständnis. Schon wieder so ein Glücksfall, meint der Sohn heute, da die Mutter sich niemals dem diktatorischen Duktus der DDR-Bonzen untergeordnet hätte: „Die wäre in Bautzen gelandet“.

Aber so blieb die Mutter im Westen, und der Sohn legte sich im Osten mit den Bonzen an. Unbeugsam verfolgte er seinen künstlerischen Weg, der ihn schon bald isolierte in der berühmten Wohnung in der Chausseestraße, wo seine ersten illegalen Plattenaufnahmen entstanden. Nach und nach geriet Wolf Biermann in die Heldenrolle „dieses deutschen Theaterstücks, das wir aufführen“, wie er sagt.  Wer hätte erwarten können, dass dieser in einer kommunistischen Arbeiterfamilie aufgewachsene Hamburger „Jung“, einmal so gefährlich für den Arbeiter- und Bauernstaat werden könnte, dass dieser ihn 1976 in den verhassten Westen entließ, nur um ihm dann eine Rückkehr zu verweigern?

Loswerden wollten sie ihn, aber das Gegenteil haben sie erreicht

Loswerden wollten sie ihn, den Unbequemen, aber das Gegenteil haben sie erreicht. Er wurde zum Kronzeugen für viele, die dreizehn Jahre später mit dem damals noch so mächtigen, unbelasteten Ruf „Wir sind das Volk“ massenhaft den Kollaps des Systems herbeidemonstrierten. 5000 Menschen kamen am 1. Dezember 1989 zu seinem ersten Konzert nach dem Mauerfall nach Leipzig. Sein Auftritt war damals so bedeutend, dass beide deutschen Fernsehanstalten, Ost wie West, ihn live übertrugen.

Nochmal 25 Jahre später saß der Drachentöter im Bundestag, nicht gewählt, sondern eingeladen, mit Gitarre natürlich, und zupfte sein Lied von der „Ermutigung“. Zuvor aber ließ er es sich nicht nehmen, auch nicht vom launigen Hausherren Norbert Lammert, bei dieser Gelegenheit die unmittelbar vor ihm versammelten Linken-Politiker als „Drachenbrut“ zu beschimpfen. Der Präsident ließ ihn damals gewähren, was ihm Kritik einbrachte, aber beide zu Freunden machte. Vor einiger Zeit, erzählt Biermann, sei er dann von Lammert, der inzwischen Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ist, in die CDU-Parteizentrale eingeladen worden. Dorthin sei er seinem Freund zuliebe natürlich gerne gekommen. Neben Lammert habe dann da aber auch der Friedrich Merz gesessen, und da habe er zu dem gesagt: Na, wenn Sie mich eingeladen hätten, dann hätte ich natürlich abgesagt.

Unbeugsam, rebellisch, selbstgewiss: Es bedarf viel Disziplin, Wolf Biermanns Erzählungen über mehr als sieben Stunden zu folgen. Wer es tut, blickt staunend und sprachlos auf eine deutsche Biografie der Sonderklasse.

Ein Rebell ist er also geblieben, der Kommunistensohn, unbeugsam jetzt als straffer Antikommunist.  Die Mischung aus Schalk und Haltung lässt im Laufe der Gesprächsstunden in Hamburg die Luft immer nebeliger werden vor lauter gelebtem Leben, sanfter Wut und sprachlicher Fantasie. Biermann schreibt Lieder und Gedichte, die oft nicht gefällig sind, anstrengend, aber auch klug, voller Kraft und Wortwitz, der nichts zu tun hat mit dem billigen, berechneten Humor von Komödianten. Ein ganz einmaliges Amalgam schafft er, ist er selbst, eine Mischung aus Stolz und Trotz, aus Reflexion und Scharfsinn, aus kontrollierter Angst und unbändiger Lebenslust.

Und nun? Biermann ist 86 Jahre alt, kein „verdorbener Greis“ (wie er 1989 die Nomenklatura der versinkenden DDR gegeißelt hatte), sondern ein Institution der deutsche Geschichte. Ruhig könnte er sein, sich in Hamburg-Altona zurückziehen. Oft genug Recht behalten, könnte er sich denken, der schon immer vor Putin gewarnt hatte, der die DDR von innen kritisierte, als dazu noch ein Maß von Mut gehörte, das sich die von einem Rechtsstaat verwöhnten Kritiker deutscher Wirklichkeiten von heute gar nicht mehr vorstellen können.

Resignieren ist keine Option, sagt der alte Kämpfer

Aber der proletarische Kämpfer in ihm lebt noch immer. Wie er auf das heutige Deutschland blicke, auf den Rechtsruck im Osten,  wie man das alles aushalten soll mit AfD, mit Populismus, mit dem von Putin angezettelten Krieg?

Lange muss er nachdenken. Mucksmäuschenstill ist es im Tonstudio, keiner zuckt, keiner räuspert, bis Biermann sich eine Antwort zurechtgelegt hat: Der Krieg in der Ukraine, sagt er dann, und auch die Hinwendung vieler Menschen nach rechts, das seien doch letztlich auch nichts anderes als Teile des großen Freiheitskrieges, den die Menschheit führen muss, schon seit Jahrhunderten. Schon immer eigentlich, setzt er hinzu. Zu resignieren sei keine Option, sagt er,  nirgends, die Freiheit gibt’s nur im Kampf, nicht umsonst.

„Was wird mit meinem Vaterland?“

Schließlich der Griff zur Gitarre. „Was wird mit meinem Vaterland?“, singt er, und bricht doch wieder ab. Es gibt noch etwas loszuwerden, über die DDR, über die Feigheit, über die Stasi und die Uneinlösbarkeit ihrer Vertraulichkeitsversprechen. Dann setzt er neu an und bringt das Lied zu Ende. Es geht um Putin und seine Todesfurcht „vor eine Frau, die Freiheit heißt“.

Damit ist nach seiner Meinung alles gesagt, und nach sieben Stunden und vierzig Minuten trotten erschöpft die verbliebenen Zuhörer hinaus in den Hamburger Nieselregen, hinaus in die „fetten finst´ren Zeiten“, wie der in einer jüdisch-kommunistischen Familie aufgewachsene „Drachentöter“ in seinem Schlusslied noch reimte. Finstere, fette Zeiten – es ist der Abend von Freitag, dem 6. Oktober 2023, und am nächsten Morgen ermorden Hamas-Terroristen in Israel mehr als 1200 wehrlose Menschen.

 

Den ZEIT-Podcast mit Wolf Biermann in voller Länge finden Sie kostenlos unter diesem Link: https://www.zeit.de/politik/2023-11/wolf-biermann-interviewpodcast-alles-gesagt

Von dem in meinen Text angesprochene Konzert in Leipzig gibt es einen Mitschnitt auf Youtube, wie auch von Biermanns Auftritt im Deutschen Bundestag zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.  (Klick führt jeweils zu Youtube).

Noch bis 2. Juni 2024 widmet auch das Deutsche Historische Museum in Berlin Wolf Biermann eine Ausstellung: https://www.dhm.de/ausstellungen/wolf-biermann-ein-lyriker-und-liedermacher-in-deutschland/

Weitere Texte als #Kuturflaneur finden Sie hier.