Trump, Merz und der Fosbury Flop

Fortschritt und Disruption: Was Politik vom Hochsprung lernen kann

Der amerikanische Hochspringer Dick Fosbury galt als talentierter Athlet, war eher ein Einzelgänger, trainingsfaul und verkopft. Er interessierte sich sehr für Physik und spürte bei jedem Sprung dem kurzen Moment des Gefühls von Schwerelosigkeit nach. Von seinen Trainern ließ er sich nur wenig sagen. Dann aber, am 20. Oktober 1968 in Mexiko führte er der ganzen Welt vor, was er im Hochsprung unter Fortschritt verstand – und gewann damit die Goldmedaille der Olympischen Spiele. Der Fosbury Flop war geboren, eine Disruption, eine radikale Veränderung der Sprungtechnik, nicht mehr mit dem Bauch oder den Beinen über die Latte, sondern flach liegend mit dem Rücken. Anfangs wurde gelacht, aber innerhalb weniger Monate setzte sich die neue Technik weltweit durch.

Im Liegen über die Latte fliegen: Mit einer disruptiven Veränderung hat 1968 Dick Fosbury mit seinem Olympiasieg den Hochsprung verändert. Es war eine radikale Disruption. Funktioniert das auch in der Politik? Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

So also kann Fortschritt funktionieren: Das Alte betrachten, nachdenken, es schrittweise verbessern – oder auch mit einem radikalen Eingriff, einer grundlegend neuen Vorgehensweise, die das Alte über Bord wirft. „Fortschrittskoalition“ hatte sich in ihren Anfangsstunden jene deutsche Regierung der „Ampel“-Parteien genannt. „Mehr Fortschritt wagen“, so war der Koalitionsvertrag überschrieben. Gemeinsam wolle man „die Dinge vorantreiben und damit auch ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein setzen: dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können“. Wer möchte, kann sich auf YouTube noch heute die Bilder von den ersten Tagen dieser Regierung ansehen: Ein Minister auf dem Fahrrad, die Ernennungsurkunde auf den Gepäckträger gespannt, eine Außenministerin, die mit dem Zug von Paris nach Brüssel fährt und ein Kanzler Scholz, der sich (im gleichen Film) Hoffnung auf kooperatives Zusammenwirken in den nächsten Jahren des gemeinsamen Regierens macht.

Fortschritt als Leitmotiv: Nicht alles anders, vieles besser

Das ist ja nun gründlich danebengegangen. Was ist misslungen? Es könnte sich lohnen, dem Fortschritt als Leitmotiv nachzuforschen, verspricht er doch immerhin eines: Es soll vorwärts gehen, der Zukunft zugewandt, das Bessere suchen, nicht das Vergangene wiederherstellen. Vor drei Jahren wollte die in Deutschland regierende „Ampel“ den Fortschritt stückchenweise erreichen, nicht „alles anders, sondern vieles besser machen“ (wie Altkanzler Schröder einmal nach der Ära Kohl sagte).

Solche Geduld ist offensichtlich aus der Mode geraten. Die Bilder aus den USA, die den frisch wieder im Amt befindlichen Donald Trump zeigen, wie er stapelweise „Executive Orders“ unterscheibt, haben auch hierzulande Eindruck hinterlassen. Endlich soll Schluss sein mit dem mühsamen Palaver, vorbeisein soll das langweilige Warten auf „echte“ Veränderungen. Stattdessen: Disruption. Trump macht es vor: Ein radikaler Eingriff, eine Unterschrift, eine Anweisung, zack – und die Sache ist geändert.

„Am ersten Tag meiner Amtszeit“, sagt nun also Friedrich Merz, „werde ich anweisen, dass an den Grenzen alle Versuche illegaler Einreisen ausnahmslos abgewiesen werden.“ Es soll sich also endlich etwas ändern, wenn der neue Kanzler im Amt ist, und zwar von einem Tag auf den anderen.

Eine Unterschrift und zack, die Sache ist geändert?

Allerdings ist zu erwarten, dass sich erstmal gar nichts ändert. Illegale Einreisen nach Deutschland sind schon jetzt verboten. Wer an der Grenze Asyl beantragt, reist nicht illegal ein, sondern nutzt europäisches und deutsches Recht. Gewiss kann man den Umgang damit verändern, vielleicht sogar mit Polizeigewalt das Überschreiten der Grenze verhindern. Abgesehen davon, was das bei Deutschlands Nachbarn auslöst – was genau soll geschehen, wenn der illegal Einreisende eine Wanderung ein paar hundert Meter nach links oder rechts des offiziellen Grenzübergangs macht? Zäune? Wasserwerfer? Schusswaffen?

Mit den so spektakulär unterschiebenen Orders des amerikanischen Präsidenten verhält es sich ähnlich. Zwischen der Unterschrift vor Fernsehkameras und der Umsetzung liegen lange Wege, rechtliche Hindernisse, Prozesse und föderale Widerstände. Es fühlt sich an wie eine Disruption, aber es ist keine wirkliche Veränderung, sondern eine effekthascherische Showeinlage.

Disruptionen gegen den Fortschritt

Dick Fosbury wollte den Fortschritt. Er erdachte den nach ihm benannten Flop, weil er höher springen wollte als die Konkurrenz mit ihrer althergebrachten Technik. Die Trumps und Musks – und in ihrem Gefolge die deutschen Konservativen, wollen nicht den Fortschritt. Ihre Disruptionen sollen uns dorthin zurückführen, wo wir herkommen: Wiedereinführung der Kernkraft (ohne Klärung der Frage des Atommülls), das neue Wahlrecht rückgängig machen (also wieder einen XXL-Bundestag zulassen), zurück zu Diesel und Benzin (also Abschied von den Klimazielen), das sogenannte „Heizungsgesetz“ aufheben (obwohl sogar die betroffenen Lobbyorganisationen dies kritisch sehen). Die Rechtsradikalen wollen gar die „Windmühlen der Schande“ absägen, die FDP mehr Milei (Kettensäge) und Musk (Hitlergruß) wagen. Sollen das die Veränderungen sein, die uns in die Zukunft führen?

Die konservative Seite der Politik argumentiert nicht mehr erhaltend und entwickelnd, wie es ihre Aufgabe im politischen Diskurs wäre, sondern radikalverändernd rückwärtsgewandt.  Und sie hat sich verliebt in die neue Ästhetik der Schein-Disruption: Nicht lange diskutieren, lieber schnelles Ändern – oder es wenigstens so aussehen lassen. Der Soziologe Armin Nassehi hat in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung dies als „Disruptive Kontinuität“ bezeichnet. Man müsse im politischen Wettbewerb heute mehr Kausalität zwischen Handlung und Wirkung vorspielen, als fachlich haltbar ist.

Der Fortschritt will erarbeitet sein, mühsam, Stück für Stück

Will heißen: Erfolgreich sind im Zeitalter der Sozialen Medien solche Politiker, die dem Volk erzählen: Nach der Wahl mache ich erstens, zweitens, drittens – und dann ist alles wieder so wie vorher: Keine Mordüberfälle mehr, die Arbeitsplätze alle sicher, die Wohnungen billig und die Bahn pünktlich. Und nach Amtsantritt machen sie erstens, zweitens, drittens, unterzeichnen wirkungslose Absichtserklärungen und Anweisungen von fraglichem rechtlichen Bestand – aber bestens sichtbar für die Kameras, millionenfach geteilt hinein in das zufriedene Wahlvolk. Nichts wird sich dadurch ändern: Der nächste Anschlag durch einen psychisch Kranken wird uns ereilen, die Konjunktur erholt sich nicht von heute auf morgen, die Miete bleibt gleich hoch, und der lästige Personenschaden auf den Gleisen sorgt noch immer für Verspätungen.

Und ein paar Jahre später dann das gleiche Spiel. Bis wir es gelernt haben, dass wir wohl die Geduld werden aufbringen müssen, uns den Fortschritt zu erarbeiten, mühsam, Stück für Stück. Dick Fosburys Sprung war eine Disruption – aber vorher hat er jahrelang dafür trainiert.

 

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Friedrich, der Zaubergeselle

Die Geschichte vom Zauberlehrling – und die bösen Besen von heute

Friedrich ist kein Zauberlehrling, er ist ein alter Zaubergeselle. Schon seit vielen Jahren. Nun will er die Meisterprüfung ablegen – endlich. Der alte Geselle hat viel mehr Erfahrung als jeder andere Lehrling im Berliner Zauberbetrieb, und gerade deshalb darf ihm nicht passieren, was man einem Lehrling vielleicht noch verzeihen könnte.

Der Zaubergeselle – bald ein Meister? Foto: CDU/Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

Die Geschichte vom Zauberlehrling ist eine wunderbare Parabel von Meisterschaft und Dilettantismus, vom Unterschied zwischen Schläue und Klugheit. Johann Wolfgang von Goethe hat sie im Jahr 1797 in einer Ballade erzählt: Ein Zaubermeister ist außer Haus gegangen, und sein Lehrling hat keine Lust, das Wasser, das er benötigt – wofür auch immer -, selbst vom Fluss zum Haus herauf zu schleppen. Also befielt er mit dem abgehorchten Zauberspruch des Meisters dem Besen, ihm das Wasser zu holen. Und die Sache funktioniert: Eimer um Eimer wuchtet der Besen heran, bald ist es mehr als genug – und da erst fällt dem Lehrling auf: Er kannte zwar das Wort, das den Besen in Bewegung setzt, nicht aber jenes, das ihn wieder davon abbringt.

Der Zauberlehrling hatte das Ende nicht bedacht

Die Wasser ergießen sich bereits über das ganze Haus, und in seiner Verzweiflung greift der Lehrling zur Axt, will den Besen zerschlagen und spaltet ihn in zwei Teile. Dieser brutale Eingriff aber macht alles nur noch schlimmer. Nun hat sich der Besen verdoppelt und zwei seiner Art schleppen immer noch mehr Wasser herbei. Dann endlich, in allerhöchster Not, erscheint der Meister. Wenige, aber richtige, Worte von ihm genügen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Der Lehrling bleibt bedröppelt zurück, die Grenzen seines Könnens waren ihm höchstpersönlich vorgeführt worden. Er war schlau gewesen – aber nicht klug. Sein größter Fehler: Er hatte das Ende nicht bedacht.

Friedrich bringt vieles dafür mit, was ihn zum Meister gereichen könnte: Er hat Erfahrung und Anstand, er scheut keine Verantwortung, er ist mutig, redegewandt. Er begegnet Mitmenschen und auch Andersdenkenden meistens mit Respekt – vielleicht weniger in seinen manchmal scharfzüngig gewählten Worten, aber immerhin dann, wenn er ihnen unmittelbar gegenübersteht. Friedrich ist oft ein wenig steif und altmodisch, aber er ist rechtschaffen. Und er war glaubwürdig. Mit überzeugendem Tremolo hatte er selbst es verlangt: Niemals dürfe ihm oder sonst wem der Besen zu Hilfe kommen, niemals würde er es zulassen, dass der Besen darüber entscheiden könne, ob eine Sache obsiegt oder nicht.

Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen

Es sah also ganz danach aus, als habe er sich nun endlich die Würde für den Meistertitel erarbeitet. Dann aber kam jener Moment des unüberlegten und ungeduldigen Übermuts, in dem Friedrich den kurzfristigen Erfolg haben, ein fadenscheiniges Symbol von Handlungsstärke in die Welt setzen wollte. Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen von angeblich notwendiger Veränderung.

Dafür ließ Friedrich zu, dass der Besen ihm das Wasser reichte. Er tat, wie ihm geheißen, er spaltete sich gleich mehrfach auf und holte Stimmen herein. Während Friedrich noch zufrieden das Ergebnis seines durchscheinenden Werkes betrachtete, hörte der Besen nicht mehr auf ihn. Am Rednerpult des hohen Hauses verhöhnte der Besen seinen unüberlegten Kommandeur: Da säße der Geselle jetzt mit schlotternden Knien, spottete er, da wäre es doch besser, wenn er sich gleich der neuen Herrschaft der Besen anschließen würde, falls er dazu noch die Kraft habe.

Das Richtige mag er gewollt haben, aber was hat er verloren?

„Die ich rief, die Geister, werd´ ich nun nicht mehr los“, klagt bei Goethe der unbedachte Zauberlehrling. Auch Friedrich, der Zaubergeselle, klagt: Er habe doch mit dieser scheußlichen Besenschar nichts zu tun, die sich feixend in die Arme fielen, nachdem er ihre Hilfe zugelassen hatte. Man solle ihm doch bitte glauben, fleht er nun: Er habe nur das Richtige gewollt, da müsse doch jedes Mittel Recht sein?!

Das Richtige mag er gewollt haben, aber seinen wichtigsten Kredit hat er dabei verloren – die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen in sein Wort. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er die Wahrheit spricht“, reimt der Volksmund. Der Zaubergeselle ist eben kein Meister, er hat das Ende nicht bedacht.

Bald ist Meisterprüfung

So tanzen nun die Besen durch das weite Land und durch das hohe Haus. Wer wird sie nun wieder zurück kommandieren können in die Ecke? Die weise Meisterin ist fort. Sie ist schon im Ruhestand. Auf ihren Ruf aus der Ferne hören die Besen schon lange nicht mehr. Und der Zaubergeselle selbst will sich von der Meisterin ohnehin schon lange nichts mehr sagen lassen.

Bald ist Meisterprüfung. Besteht der Zaubergeselle?

 

Den vollständigen Text der Ballade „Der Zauberlehrling“ von J.W.Goethe finden Sie z.B bei Wikipedia. 

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Was wir brauchen, ist wehrhafter Anstand

Fünf unbequeme Vorschläge nach Trump-Triumph und Ampel-Aus

Ok, Amerika! Du hast einen verurteilten Straftäter, Vergewaltiger und Lügner erneut zu Deinem Präsidenten gewählt – nicht, weil Du es nicht wusstest, sondern weil er so ist, wie er ist. Du hast Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Ok, Deutschland! Mehr als jede/r zehnte Deiner Wählenden gibt einer rechtsradikalen Partei die Stimme – nicht, weil sie es nicht wüssten, sondern weil sie es wollen. Sie entscheiden sich gegen den Anstand, ganz bewusst.

Ok, Lindner! Du willst für Deutschland keine neuen Schulden machen. Nicht, weil Du nicht verstehen würdest, dass dies für unsere Wehrhaftigkeit unausweichlich ist – sondern weil Du weißt, dass es so ist, es aber nicht verantworten willst. Aus Angst vor den Illusionen Deiner Wähler/innen hast Du Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Es ist Zeit für einen Aufbruch

Es ist Zeit für einen Aufbruch. Politik und Gesellschaft brauchen eine neue Idee, einen breiten Konsens der Gutwilligen: Den wehrhaften Anstand. Anstand ist die Grundlage von allem, was uns wichtig ist:

Der Frieden, in dem wir seit siebzig Jahren leben, verdanken wir den Anständigen und ihrem Militär, mit dem sie die deutschen Nazi-Verbrecher vertrieben.

Die Freiheit, die halb Deutschland seither und ganz Deutschland seit 35 Jahren genieß, hat der Westen geschenkt bekommen. Der Osten hat sie ohne Gewalt erkämpft – ein wahrer Aufstand der Anständigen gegen die Stasi-Schergen.

Unseren Wohlstand haben sich die meisten von uns anständig erarbeitet, aber es gäbe ihn nicht ohne die Schuld, mit der unsere Vorfahren und wir Millionen anderer Menschen ausgebeutet und unsere natürlichen Lebensgrundlagen massiv geschädigt haben. Dies zu erkennen, zu benennen und zu ändern – das ist anständig.

 

Hier fünf unbequeme Vorschläge, wie wir zu wehrhaftem Anstand kommen:

Mehr Resilienz für die Anständigen

Wir Anständige sind im Recht, lasst Euch nicht verunsichern! Es ist unanständig, ein Nachbarland zu überfallen oder zu bedrohen. Es ist unanständig, den politischen Diskurs mit Gewalt, Lügen und Simplifizierungen zu durchtränken. Eine anständige Gesellschaft muss sich das nicht gefallen lassen. Sie braucht mehr Widerstandskraft nach innen und außen. Der Staat muss robuster auftreten, klar die Wahrheit benennen, mehr investieren in Sicherheit und Wehrhaftigkeit, aber auch in breite (politische) Bildung. Wir alle sollten aktiv eintreten für eine anstandsbasierte Kultur der Kommunikation.

Anstand erträgt keine Armut

Es ist nicht anständig, den eigenen Reichtum als unteilbar zu betrachten. Viel zu viele Menschen auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland, leiden reale Not, während andere gar nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Dieser Zustand ist unanständig und unerträglich. Ein legitimes Mittel dagegen ist staatlich gelenkte Umverteilung, beispielsweise durch Steuern. Früher waren Steuern eine unanständige Ausbeutung durch die Obrigkeit. Bis heute versuchen Ideologen, dieses Zerrbild auch auf das legitime Interesse des modernen Staates anzuwenden. Aber das ist falsch: In den Demokratien von heute ist Umverteilung ein notwendiges Instrument auf der Suche nach Gerechtigkeit. Wer sich ihm entzieht, wer es diskreditiert, handelt unanständig.

Anständige sind keine politischen Gegner

Wer den Anstand wahrt, ist kein Gegner. Die Anständigen im demokratischen Spektrum dürfen ihre Kräfte nicht im Streit mit den falschen Gegnern verschleißen.  Konservative sind nicht automatisch Populisten, so wie Grüne nicht immer Besserwisser sind. Anständige, gesprächsbereite Konservative sind keine Gefährder der Demokratie. Radikale und Populisten dagegen wollen Probleme zum eigenen Nutzen lieber vergrößern, anstatt mitzuhelfen, sie zu lösen. Das ist unanständig, und muss genau so bezeichnet und bekämpft werden.

Das Grundgesetz setzt politischen Anstand voraus

Es ist höchste Zeit, den Anstand wehrhaft zu machen. Gewalt, Lügen, radikale Vereinfachungen wider besseren Wissens und demokratieschädliche Tricksereien zielen auf die Grundlagen unseres demokratischen Zusammenlebens. Sie beabsichtigen, die Gesellschaft dumm zu machen und die demokratische Prozesse des Staates zu zersetzen. Jeder Blick in soziale Medien zeigt, wie tief dieses Gift bereits eingesickert ist. Wer da mitmacht, verstößt gegen die Idee des Anstandes, wie ihn das Grundgesetz für den politischen Raum voraussetzt. Auch hier ist wehrhafter Anstand gefordert – notfalls mit einem Verbotsverfahren.

Wer zu Unanständigkeit schweigt, macht sich mitschuldig

Jede und jeder kann zu wehrhaftem Anstand in einer Gesellschaft der demokratischen Resilienz beitragen, kann täglich gegen die Zersetzungskräfte der Billighändler der politischen Niedertracht eintreten – in der Arbeit, in der Familie, im Verein, in der Nachbarschaft. Wer schweigt, wenn der Anstand verletzt wird, macht sich mitschuldig.

 

Über Anstand hat der Autor Axel Hacke ein ganzes Buch geschrieben: „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ – das ich zur Lektüre sehr empfehle.

Die Idee für meinen Texteinstieg „Ok, Amerika!“ verdanke ich einem gleichnamigen Podcast von ZEITonline, mit dessen Hilfe ich viel besser verstanden habe, wie der Wahlkampf in den USA verlief und warum er das bekannte Ende nahm.

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Artikel Siebenunddreißig und Vierundachtzig

Über Populismus im Föderalismus – und zwei heimliche Stars des deutschen Grundgesetzes

Fabian Hinrichs als „Volksbürger“-Ministerpräsident. (Screenshot von der ARTE-Aufzeichnung)

Man solle doch regieren nach „gesundem Menschenverstand“, sagen Politikerinnen und Politiker – und auch viele Wählende – immer dann, wenn sie sich der Komplexität der Dinge verweigern möchten. Es sei doch ganz einfach, es müsse sich „was ändern im Land“, „die Mehrheit“, „das Volk“ habe in der Demokratie doch ein Anrecht darauf, dass ihr Wille geschehe.

Es sind diese Floskeln des Populismus, die Raum greifen im gesellschaftlichen Diskurs, und denen zu widersprechen schwerfällt. Wer sollte schon etwas haben gegen „Vernunft“, auch wenn jederfrau und -mann weiß, dass jedes seine eigene „Vernunft“ hat. Und heißt denn Demokratie nicht tatsächlich, dass die Macht vom Volk, und damit letztlich von dessen mehrheitlichem Willen ausgeht?

Föderalismus heißt oft: Bund beschließt, Land setzt um

Wohin das führen kann, ist ansatzweise im Freistaat Bayern zu besichtigen. Dort gibt es bekanntlich einen Ministerpräsidenten, der bei jeder Gelegenheit behauptet, die Bundesregierung würde sein Land benachteiligen. „Es dauert nicht lange“, schreibt zum Beispiel die Allgäuer Zeitung über Söder-Auftritte, „und schon ist die Rede vom Vorwurf, der Bund mache bewusst dem Freistaat das Leben schwer.“ Söder sage dann gerne: „Es soll bewusst der Norden bevorzugt und der Süden benachteiligt werden“, oder nennt es gar eine spürbare „Anti-Bayern-Stimmung“, die sich schon darin zeige, dass es keine Bundesminister aus Bayern gebe.

Nun sieht das Grundgesetz vor, dass in vielen Bereichen der föderalen Struktur in Deutschland der Bundestag unter jeweils gestaffelt strenger Mitwirkung der Länderkammer Gesetze erlässt, und diese in der Regel durch die Landesbehörden umzusetzen sind. Ein Beispiel: Man muss kein Freund der neuen Cannabis-Gesetzgebung sein (wie z.B. der Autor dieser Zeilen), man kann auch aus guten Gründen der Überzeugung sein, dass sie nicht den Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht und vielleicht sogar gegen den gesunden Menschenverstand verstößt – das Gesetz ist trotzdem gültig. Bei der nun folgenden Umsetzung durch Landesbehörden gibt es freilich einen Spielraum. „Wer mit Cannabis glücklich werden will, ist anderswo besser aufgehoben als in Bayern“, sagte Söder schon im Februar. Laut BR24 werde Bayern das Gesetz „extremst restriktiv“ anwenden. Später ergänzte der Ministerpräsident Söder: Der Freistaat soll „kein Kiffer-Paradies“ werden, was die Frage aufwirft, ob diese Gefahr je bestanden hätte. Alles das mag an der Grenze zwischen einer legitimen politischen Positionierung einer Landesregierung und ihrer Verpflichtung zur regelkonformen Umsetzung eines Bundesgesetzes liegen. Gegen den restriktiven bayerischen Kurs in dieser Sache regt sich inzwischen Widerstand, eine Klage dagegen wurde gerade angekündigt.

„Der Volksbürger“ regiert nach dem Prinzip „Freistaat first“

Was aber, wenn ein Land sich ganz und gar weigern würde, ein Bundesgesetz umzusetzen? Auf ARTE ist dies noch bis 2.10.2027 anschaulich, unterhaltsam und sehr lehrreich zu besichtigen. Gezeigt wird die Aufzeichnung eines Theaterereignisses, das Ende September im bekannten großen Saal der Bundespressekonferenz stattfand. Als „Politische Farce“ bezeichnet sich das zweistündige Stück, und der Titel lautet: „Der Volksbürger“. Gespielt vom famosen Fabian Hinrichs wird dort der jung-dynamische Ministerpräsident eines nicht näher bezeichneten „Freistaats“ gezeigt, der nach dem Prinzip „Freistaat first“ seine Landtagswahl mit absoluter Mehrheit gewinnt und sich dann tatsächlich daran macht, die bundesgesetzlich vorgegebenen Regelungen zum Ausländerrecht durch Nicht-Umsetzung ins Leere laufen zu lassen. Die betroffenen Menschen werden entweder obdachlos oder suchen sich ein anderes Bundesland zur Geltendmachung ihrer Rechte, wären also gewissermaßen „anderswo besser aufgehoben“ – um noch einmal Söder in anderem Zusammenhang zu zitieren.

Dabei ist dieser vom Schauspieler Hinrichs interpretierte, smarte Politik-Charakter kein unsympathischer Radikalinski, sondern ein charismatischer, sich seiner Außenwirkung allzu bewusster Populist, der das hässlich Konkrete im Vagen lässt, sein Volk glauben lässt, er hätte die Macht, vieles zu verwirklichen, was (früher) der Stammtisch und (heute) das Netz als „gesunden Menschenverstand“ palavert. Er müsse im Interesse seines Volkes dem „moralischen Gesetz“ folgen, nicht dem „Gesetz zwischen Aktendeckeln“.

Eitle Medien, Lokalpolitiker ohne Rückrad

Zu erleben ist auch allerhand nebenbei. Wie etwa die Medien zwar zunächst Freude daran haben, Aufmerksamkeit auf die rechtswidrige Praxis im „Freistaat“ zu lenken, mit der langfristigen Strategie des regierenden „Volksbürgers“ aber überfordert sind in ihrer Sucht nach der schnellen Schlagzeile. Oder: Wie der Politikbetrieb im Land sich blitzschnell nach den jeweils neuen, realen Machtverhältnissen ausrichtet wie die Nägel auf einen Magneten.

Allerdings: Der Rechtsstaat wehrt sich. Wie müsste die Bundesregierung in einem solchen Fall vorgehen (denn noch nie hat es diese Notwendigkeit wirklich gegeben)? Die Eskalation endet in einer Auseinandersetzung auf Messers Schneide, und wie sie ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Das zu Recht so viel gelobte deutsche Grundgesetz hat 146 Artikel, und es ist ein gutes Zeichen für den Zustand unserer Demokratie, dass der gesunde Menschenverstand der großen Mehrheit der Volksbürger in Deutschland die meisten davon nicht zu kennen braucht. Das gilt auch für die Artikel 37 und 84 GG.

Aber dass es sie gibt, das ist auch ein gutes Zeichen.

 

Den Film finden Sie auf  ARTE hier, aber auch in den Mediatheken von ZDF und 3sat.

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Kelly, „Kretsch“ und der Kampf um Kompromisse

Drei aktuelle Sichten auf die Partei „Die Grünen“

Petra Kelly und Winfried Kretschmann: Zwei Grüne. Gleich alt. Gleich leidenschaftlich. Gleich kämpferisch. Aber wofür? (Fotos: Bildersturm Filmproduktion / Archiv Grünes Gedächtnis, Heinrich-Böll-Stiftung; Staatsministerium Baden-Württemberg)

Petra Kelly und Winfried Kretschmann, grün-intern häufig „Kretsch“ genannt, wären fast gleich alt, würde Kelly noch leben. Geboren wurde Petra Kelly im November 1947, ein halbes Jahr später der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Was sie verbindet: Beide stammen aus Süddeutschland, beide haben Anteil gehabt an der Gründung der Partei der Grünen, und beide verbinden sich mit einem großen Kampf um das Richtige. Was ist aus ihren Zielen geworden?

Erste Sicht: „Akt Now!“

Der Kinosaal ist schütter besetzt, vielleicht zwanzig Grauköpfe verteilen sich auf die dreifache Zahl an Kinosesseln. Gezeigt wird „Act now“, der soeben angelaufene Film über die grüne Ikone Petra Kelly. Nachgezeichnet wird ihr Lebensweg, ihre ans Fanatische grenzende Leidenschaft, mit der sie zur weltweit bekannten Aktivistin für mehr Gerechtigkeit, für Frieden, Feminismus und den Schutz der Natur wurde. Vielleicht war sie auch eine der ersten, die den Zusammenhang zwischen diesen Themen erkannte. Sie spricht in größter Geschwindigkeit, um so viele Worte wie möglich in die Zeit zu pressen, die ihr zum Sprechen bleibt. Kelly jettet um die Welt, hier zu den entrechteten Indianern, dort zu den Aktivisten gegen die Kernkraft. Sie fordert Honecker zum Abrüsten auf und demonstriert zu Hause gegen die Stationierung von Atomwaffen.

Die tragischen Lebensdaten der Petra Kelly sind bekannt: Mit ihr entstanden die Grünen und zogen erstmals im Jahr 1983 in den Bundestag ein; Kellys Lachen, ihr Charisma, ihre Leidenschaft waren das wichtigste Gesicht der Grünen in dieser Zeit. Aber bald zerlegten sich Partei und Fraktion in rivalisierende Grüppchen, Petra Kelly wurde immer mehr als unberechenbarer Störfaktor in der von ihr selbst geschaffenen Bewegung empfunden, als sperrig, und der Streit führte dazu, dass die westdeutschen Grünen bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Jahr 1990 wieder aus dem Parlament flogen. Kelly, deprimiert und erschöpft, wurde schließlich – so der Stand der heutigen Erkenntnisse über die Vorgänge, die niemand bezeugen kann – von ihrem fast 25 Jahre älteren Lebensgefährten, dem zur Friedenbewegung gewechselten ehemaligen Bundeswehr-General Gerd Bastian, ermordet, der sich anschließend selbst richtete.

Der Film „Act now!“ zeichnet diese Geschichte nach, betrachtet aber vor allem Petra Kelly aus der heutigen Perspektive. Kelly als Vorbild für Aktivisten von heute, für Fridays for Future, für den Widerstand in Lützerath. Was kann man von ihr lernen: Kelly lacht, Kelly hat eine unverwechselbare, lebendige Ausstrahlung, sie ist ikonenhaft im Aussehen, sofort wieder-erkennbar und faszinierend gewinnend in ihrer rasenden, getriebenen Leidenschaft. Kelly gibt nie Ruhe, kümmert sich um alles, setzt sich für politische Gefangene ein, nimmt jedes Schicksal persönlich, egal welches und wo auf der Welt, kennt keine Prioritäten und auch keine Kompromisse. Eine Koalition mit anderen Parteien, sagt sie, die komme für sie nicht in Frage – da müsste sie ja Abstriche machen von dem, was sie für unverzichtbar, für nicht verhandelbar halte; Abstriche von dem, wofür sie doch streite mit aller Macht. Nein, sie könne in keine Koalition eintreten.

So war das am Anfang bei den Grünen.

Zweite Sicht: Noch immer ist nicht „alles gesagt“

Kein Vergleich zum Kelly-Film: Der Saal ist ausverkauft. Mehr als 1000 Menschen haben sich zusammengefunden, vor allem sehr junge. Der Altersschnitt des Publikums liegt geschätzt höchstens bei dreißig, und sie alle haben Eintritt bezahlt. Ein Podcast wird aufgenommen, der erst endet, wenn nach Meinung des Gastes „alles gesagt“ ist. Der Gast ist Winfried Kretschmann. Security sichert das Podium ab und kontrolliert die Taschen am Eingang. Dann erzählt der „erste grüne Regierungschef der Welt“ (so die veranstaltende ZEIT), der heute 76-jährige Kretschmann davon, wie er zu den Grünen kam. Das Sektierertum hatte er während seines Studiums in maoistischen K-Gruppen zur Genüge kennengelernt, sich dem gnadenlosen Fanatismus ausgesetzt gesehen, der dort herrschte. Davon, so Kretschmann, sei er nach dieser Erfahrung für alle Zeit geheilt gewesen. Als er dann 1979 bei den Grünen begann, als Gründungsmitglied des Südwest-Landesverbandes, da war ihm klar: Gegen die Ausbreitung solchen weltverbessernden Fanatismus werde er sich zur Wehr setzen. Der Weg dorthin war lang, sagt Kretschmann, und er war ein Kampf, „ein mehr als zehnjähriger Kampf“.

In jeder Hinsicht ist dieser alte Mann ein krasses Gegenstück zur jungen Frau des Grünen-Anfangs: Ein kampferprobter Held des Realistischen sitzt da auf der Bühne, spricht leise und langsam, wägt seine Worte und dehnt seine Sätze, das Gesicht gefurcht und gezeichnet von den ungezählten Kompromissen, die er hat eingehen müssen in seinem politischen Leben. Man vertrete niemals die Wahrheit, mahnt er die Moderatoren des Abends, man werbe immer nur für die eigene Sicht der Dinge. Wäre es anders, wäre die eigene Sicht die Wahrheit, dann würden ja die anderen lügen.

Sicher gäbe es Lügen in der Politik, in letzter Zeit mehr denn je, und das müsse man auch so benennen und bekämpfen. Aber die eigene Sicht bleibe immer nur ein Werben, niemals der Anspruch auf die Wahrheit.

So ist das heute bei den Grünen.

Dritte Sicht: „Kopf hinhalten“ oder Kämpfen?

Die jungen Erben der wilden Petra Kelly haben zufällig am gleichen Tag, da das Auditorium nach fünf Stunden dem alten Mann der Grünen stehend applaudierten, ihren Austritt aus der Partei erklärt. Der Vorstand der Grünen Jugend will eine „neue, linke Jugendorganisation gründen“. „Wir glauben,“ schreiben die jungen Nicht-mehr-Grünen, in bester Kelly-Leidenschaft, „dass eine grundsätzlich andere Gesellschaft möglich wird, wenn wir es schaffen, einen Zusammenschluss all derer zu bewirken, für die ein ‚Weiter so‘ keine Option ist.“  Und weiter: „Ob Lützerath, das 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr, die Asylrechtsverschärfungen oder die Sparpolitik: Wir sind nicht länger bereit, unseren Kopf für eine Politik hinzuhalten, die wir falsch finden.“

„Den Kopf hinhalten“ für Kompromisse? Da sind welche unterwegs, die in Kretschmanns Sinn die alleinige Wahrheit für sich beanspruchen. Die sich nicht mehr abfinden wollen mit Differenzierungen. Auf diesem Feld der gefahrlosen Besserwisserei werden sie nicht alleine sein, da tummeln sich bereits einige – allen voran die Wagenknechte, die mit dem Versprechen von Kompromisslosigkeit („Krieg oder Frieden“ – „Maulkorb oder Meinung“) gerade erst in drei ostdeutschen Bundesländern so viele Stimmen eingefangen haben, dass sie nun zu Kompromissen gezwungen sein werden. Ob sie wohl dann der Fluch der Beliebigkeit heimsuchen wird, die Last des Konkreten, der Verantwortung des mühseligen Handelns an der Macht statt des bequemen Forderns im Publikum – der Kampf also, der dem alten Kretschmann die tiefen Furchen ins Gesicht gezeichnet hat?

Petra Kelly musste – und konnte – sich dieser Herausforderung niemals stellen. Wäre sie nicht tot – vermutlich ermordet worden – welchen Weg hätte sie dann wohl genommen? Winfried Kretschmann jedenfalls kämpft noch immer. Schlechte Umfragen? Aufgeben ist für ihn keine Option. Aber zuhören, überzeugen, nachdenken.

Und kämpfen – für das Mögliche, sagt er, nicht für die Wahrheit.

 

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„Act Now!“ läuft derzeit in Programmkinos. Eine Liste der Orte, an denen der Film gezeigt wird, finden Sie hier. 

Der Podcast „alles gesagt“ mit Winfried Kretschmann wurde am 25. September 2024 vor Publikum in Stuttgart aufgenommen und ist kostenlos online abrufbar. 

Der Aufruf der „Grünen Jugend“ findet sich auf der Website zeitfuerwasneues2024.de

 

 

 

Das Hakenkreuz auf der Wartburg

Ein Plädoyer für tätige Hoffnung nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen

Der erste Versuch

Zweimal haben sie es versucht, und beide Male haben sie gelogen. Fake News gehörten schon damals zum Alltagswerkzeug der Faschisten. Sie streuten das Gerücht, der Unterbau des Kreuzes auf der Burgturm müsse überprüft werden, das Kreuz drohe herabzustürzen, da Fäulnis die Tragfähigkeit des hölzernen Fundaments angegriffen habe. Die Burgverwaltung protestierte, aber es nutzte ihr wenig: In einer Nacht- und Nebel-Aktion  wurde das Kreuz abmontiert und durch ein Hakenkreuz ersetzt.

Auf dem höchsten Punkt der Wartburg prangt ein goldenes Kreuz – als Symbol für Freiheitssinn und geistige Größe. Es gab Zeiten, in denen es ersetzt wurde. (Foto: Jürgen lizenzfrei auf Pixabay)

 

Dieser Vorgang ereignete sich tatsächlich, und zwar am 10. und 11. April 1938 auf dem Bergfried der Wartburg nahe der thüringischen Stadt Eisenach. Die Wartburg war schon damals weltberühmt, vor allem, weil sie Martin Luther zehn Monate lang als Versteck diente, er also Asyl genoss in Thüringen, und damit vermutlich seinem Tod entging. Nebenbei übersetzte er in dieser Zeit die Bibel auf Deutsch.

Jede gute Lüge hat einen realen Hintergrund

Das Kreuz wurde dem Turm im Jahr 1859 aufgesetzt – als weithin sichtbares Zeichen für die zuvor abgeschlossene Rekonstruktion der Burgruine zur Prachtburg. Heute ist sie  das weltbekannte Wahrzeichen für zwei zentrale deutsche Ideen: Die der Reformation und die eines geeinten Deutschlands, wie es von den Studenten auf der Wartburg im Jahr schon 1817 gefordert worden war.

Drei Tage lang strahlte das Nazi-Symbol auf der Wartburg, dann wurde es auf Weisung aus Berlin wieder abgebaut. (Foto: Leffler, gefunden auf DDR-postkartenmuseum.de)

Jede gute Lüge hat einen realen Hintergrund, was sie vielleicht glaubwürdiger, aber nicht wahr macht. Die thüringischen Nationalsozialisten machten sich bei ihrer Hakenkreuz-Aktion zu Nutze, dass tatsächlich zwanzig Jahre zuvor das Kreuz vorübergehend eingelagert worden war, um sein vermoderndes Holzpodest zu erneuern. 1938 aber ging es in Wahrheit nicht um das Podest, sondern um das Kreuz. Der Austausch gelang, und drei Tage lang belästigte das beleuchtete Nazi-Symbol Tag und Nacht die Umgebung. Die Vollendung dieser Verschandelung feierte ein Marsch von Hitlerjugendlichen durch Eisenach, aber in der Bevölkerung formierte sich Widerstand gegen das Hakenkreuz, vor allem auch die evangelische Kirche protestierte.

Dann kam die Anordnung aus Berlin, dass das Hakenkreuz zu entfernen sei. Hitlers Regierung wollte nach dem gerade vollzogenen „Anschluss“ Österreichs keinen außenpolitischen Ärger wegen des Thüringer Kreuzes. Die Verbreitung von Fotos und Presseartikeln über das falsche Kreuz wurde verboten. Noch am nächsten Tag verschwand es vom Turm, und am 14. Mai 1938 war der alte Zustand wieder hergestellt. So endete der erste Versuch.

Was die Geschichte des Kreuzes lehrt

In unseren Tagen leuchtet das vergoldete, christliche Kreuz auf der Wartburg, fünf Meter hoch, tief hinein in den Thüringer Wald, und für alle, die seine Botschaft verstehen möchten, auch weit darüber hinaus als imposantes Zeichen von Freiheitssinn und geistiger Größe. Nicht ohne Wirkung, denn zwei Drittel der Wählenden in Thüringen und Sachsen haben am vergangenen Sonntag den Fake News unserer Zeit widerstanden – und nicht blau-braun gewählt. Der Kleingeist des anderen Drittels, auf billige Lügen zu hören und einfache Unwahrheiten zu glauben,  ist bestürzend genug. Aber die Geschichte des wiedererstandenen Kreuzes auf der Wartburg lehrt: Was auch immer Menschen durch Lügen an Verbrechen und Verheerungen anrichten, wie lang und schwer auch immer die Zeit ihrer dummen Kraftmeierei ist –  danach gewinnt die Wahrheit.

Denn erstens sind diejenigen, die bereit sind, die Komplexität unserer Welt zu verstehen und unsere Werte im Umgang damit zu verteidigen noch immer in der großen Mehrheit – und zum anderen wird das Geschrei der politischen Billighändler zwar schmerzhaften Schaden anrichten – aber kein einziges Problem lösen. Mehr Lehrende für bessere Bildung, mehr Pflegende für ein würdiges Alter, mehr Polizei für ein besseres Sicherheitsgefühl – sie alle fallen nicht vom Himmel. Der Mangel an Fachkräften wird nicht geringer, sondern größer, wenn deutsche wie nicht-deutsche Menschen die verödenden Gebiete meiden, in denen sich dumpfe Ressentiments sammeln. Folgen dieser fehlenden Attraktivität sind das traurige Sterben der Infrastruktur, die geschlossenen Läden in den überalterten Kleinstädten und Dörfern, der fehlende Bus, der Mangel an Hausärztinnen, die Schließung von kleinen Krankenhäusern. Alles das können Herr Höcke und Frau Wagenknecht zwar beklagen, aber sie lügen, wenn sie behaupten, dass sie es mit ihren Vorschlägen aufhalten könnten.

Kein Plädoyer für Passivität, sondern für tätige Hoffnung

Die Klimakatastrophe wird sich nicht abschwächen, weil sie geleugnet wird. Die Hitzewellen werden heißer werden und die Überschwemmungen höher. Den Atommüll wollen auch die Thüringer nicht in ihrem Wald vergraben, und in Sachsen kein neues Atomkraftwerk bauen.

Wenn es schließlich weit genug ist, dann wird die Wahrheit gewinnen. Dies ist kein Plädoyer für Passivität, sondern eines für tätige Hoffnung. Sie beginnt mit der Wahrnehmung der Wahrheit, die uns umgibt. Sie bedeutet aktives Eintreten gegen die Lüge, gegen die Gewalt, die bedenkenlose Verachtung in Sprache und Tat.  Sie gründet sich auf die Werte für das menschliche Zusammenlebens, für die auch das Kreuz der Wartburg steht. In seinem Schatten muss sich niemand schämen, dafür einzutreten, Menschen in Not zu helfen, egal, woher sie kommen.

Der zweite Versuch

Es ist diese wuchtige Botschaft, wegen der die Nazis das Kreuz auf der Wartburg unbedingt zerstören wollten. Den zweiten Versuch unternahmen sie ein halbes Jahr vor Kriegsende im November 1944. Wieder musste eine Propagandalüge herhalten: englische Jagdbomber hätten das Kreuz beim Tiefflug zerstört. In Wahrheit war es mit Schneidbrennern zerteilt und demoliert worden. Zum geplanten, erneuten Ersatz durch ein Hakenkreuz kam es nicht mehr. Amerikanische Truppen besetzten Thüringen, und ein Eisenacher Kunstschlosser schweißte die Trümmer zu einem neuen Kreuz zusammen, das (etwas verspätet zum 400. Todestag von Martin Luther am 18. Februar) im November 1946 wieder auf dem Turm der Wartburg stand.

Da war Thüringen bereits von russischen Soldaten besetzt, aber weder sie, noch die atheistisch orientierte DDR tastete das Kreuz jemals wieder an. Mehrfach erhielt es seither eine neue Goldschicht, und so strahlt es bis heute, und erzählt von der Hoffnung auf die Macht der Wahrheit.

 

 

Die Geschichte vom Hakenkreuz auf der Wartburg habe ich auf Wikipedia und bei domradio.de gefunden.

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Der junge Mann auf dem Blechdach

Warum es keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten geben darf

„Du sollst nicht töten“ – Das fünfte christliche Gebot vermittelt eine einfache Botschaft. Ist noch Platz dafür in einer verrohenden Gesellschaft? Foto: Bruno, lizenzfrei via Pixaby

Der junge Mann liegt auf dem Blechdach und ist tot. Um ihn herum ist die ganze Welt in Aufruhr, denn der junge Mann hat kurz zuvor einen Schuss abgefeuert, der das Ohr des ehemaligen Präsidenten der USA traf. Vermutlich hatte Thomas Matthew Crooks die Absicht, Donald Trump mit einem Kopfschuss zu töten. Nur sehr glückliche Umstände haben das verhindert, eine spontane Kopfdrehung seines Opfers, vielleicht eine Unkonzentriertheit, das Unvermögen oder eine Ablenkung des Schützen. Ein Besucher von Trumps Wahlkampfveranstaltung hatte nicht solches Glück; er wurde tödlich getroffen, da er in der Schussbahn saß.

Wem gilt das Bedauern? Ganz gewiss diesem Besucher, der Trump zujubeln wollte und das nicht überlebt hat. Auch Trump, denn auch er, trotz allem Hass und aller Spaltung, für die er verantwortlich ist, muss nicht hinnehmen, ermordet zu werden. Aber gilt das Bedauern auch dem Schützen?

Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage

Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage. Sie zeigt sich nicht nur in dem tödlichen Bestreben des Attentäters, dem Leben von Donald Trump gewaltsam ein Ende zu setzen, warum auch immer. Sie zeigt sich auch in dem Fehlen von Innehalten, im Ausbleiben von öffentlich wahrnehmbarem Bedauern über den Tod des jungen Mannes auf dem Blechdach. „Der Attentäter wurde durch Scharfschützen getötet“, meldeten die Agenturen lapidar. Sein Tod wird wie selbstverständlich hingenommen.

Osama Bin Laden hatte tausende Menschen auf dem Gewissen. Sie verbrannten, wurden erschlagen und verschüttet in den Ruinen der zusammenstürzenden Türme von New York am 11. September 2001. Hat er den Tod „verdient“? Als amerikanische Spezialeinheiten ihn zehn Jahre später aufspürten, machten sie kurzen Prozess mit ihm – besser: gar keinen Prozess. Sie töteten ihn. Seine Leiche warfen sie ins Meer, damit kein Grab übrigbleiben möge von dem Massenmörder.

Aus dem Nahost-Konflikt kennen wir die Pushmeldungen über gezielte Tötungen, und wir schauen kaum noch auf. Israel wehrt sich gegen seine Todfeinde, tötet regelmäßig diesen oder jenen Kämpfer, Kommandeur, General. Sie sind die Verantwortlichen dafür, dass Juden um ihr Leben fürchten müssen, auch jetzt wieder, sogar in ihrem eigenen Staat, zuletzt beim brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023. Diese Menschen haben selbst getötet und hatten vermutlich kein Bedauern mit ihren Opfern. Dürfen wir sie deshalb auch einfach töten? Festnahme, Prozess, Rechtsstaatsverfahren? Offensichtlich keine Optionen im Anblick des allseitigen Hasses.

Die Attentäter auf Kennedy und Reagan wurden noch verhaftet

Die gesellschaftlichen Veränderungen zeigen sich auch in der rigiden Hinnahme solcher final-tödlicher Gewalt als erste, nicht mehr als letzte Option. Die Attentäter auf  John F. Kennedy und Ronald Reagan wurde noch festgenommen, die Mörder von John Lennon und Martin Luther King ebenfalls und blieben Jahrzehnte im Gefängnis. Und auch jener psychisch kranke Mann, der am 12. Oktober 1990 auf Wolfgang Schäuble geschossen hatte und ihm damit ein Weiterleben im Rollstuhl aufzwang, wurde überwältigt und in einer psychiatrischen Klinik behandelt.

Wahrscheinlich kann es keine Welt geben ohne das Töten von Menschen durch Menschen. Was aber möglich scheint, ist eine Welt, in der dieses Töten von Zaudern, Skrupeln und Bedauern begleitet wird. Eine Welt, in der das Töten – auch eines offenkundig Schuldigen – nicht als selbstverständlich hingenommen wird. Es könnte eine Welt sein voller Bedauern über das Versagen, über die traurige Unmöglichkeit, das Leben dieses Menschen nicht geschont zu haben.

„Du sollst nicht töten“ – Die Botschaft ist einfach

Wer will einem Soldaten verübeln, dass er sein angreifendes Gegenüber tötet, wenn er sich doch gewiss sein muss, dass dieser ihm andernfalls das Leben nehmen wird? Und ähnliches dürfte auch für den Mann mit Gewehr auf dem Blechdach gelten, der auf Trump anlegt. Was anderes soll der Scharfschütze des Secret Service mit ihm machen – außer den „finalen Rettungsschuss“ zu setzen? Vielleicht so zielen, dass der Schütze am Leben bleibt, aber unfähig wird, weitere Schüsse abzugeben? Welches Risiko bedeutet das für den Präsidenten, wenn es misslingt?

„Du sollst nicht töten“, das fünfte christliche Gebot, hat eine einfache klare Botschaft: Das Töten ist verboten, es ist eine Ultima Ratio, kein Spaß, nichts, an das wir uns gewöhnen dürfen. Es ist niemals „gerecht“, zu töten.

Verrohung als Denk- und Geschäftsmodell

Nichts am Töten ist leichtfertig zu erledigen, das weiß jeder Vernünftige. Das industrielle Töten der Tiere, die vom Lebewesen zur Nahrung werden sollen, wird an Orte ausgelagert, die niemand sieht und Menschen überlassen, die kaum jemand kennt. So kauft sich eine Gesellschaft frei von der Verrohung, die mit dem Töten einhergeht. Noch schlimmer: Die Verrohung ist zum Denk- und Geschäftsmodell geworden. Gesellschaftliche Spaltung, kommerziell ausgebeuteter Hass, dümmlich bis krankhaft ausgeübte Rechthaberei, virale Verschwörungsblasen, Egoshooter-Spiele und (vor allem in den USA) Waffenverfügbarkeit haben das Verbot des Tötens längst relativiert.

Es gilt, der gedankenlosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten Einhalt zu gebieten: „Spiele“, die auf dem lustvollen Töten basieren, sind kein Spaß. Filme, die das Töten zur Unterhaltung degradieren, muss man nicht ansehen. Postings, die unverhohlene Freude über den Tod Andersdenkender ausdrücken, gehören gelöscht. Und Nachrichten, die das Töten als selbstverständlichen Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit darstellen, sind mangelhaft.

Denn jeder fremde Tod bringt immer auch den eigenen näher. Vergesst das nicht.

 

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Fußball hat nix mit Politik zu tun

Ein Kneipengespräch

„Vergiss die Politik!“ Der Fußballfan hat wohl schon ein paar Bierchen intus und das Deutschland-Shirt von der vorletzten WM zeigt deutliche Flecken aus vorangegangener Begeisterung. Aber macht nichts, denn in der Kneipe ist das Licht schummrig, die Luft schwer und alle gucken auf den Bildschirm. Österreich gegen die Türkei.

„Fußball hat nix mit Politik zu tun,“ sagt der Fußballfan. Der Demokratiefan hält dagegen: Warum sind Ungarn, Italien, Serbien, Georgien so früh ausgeschieden? (Foto: lizenzfrei von Pixabay, KI-generiert)

„Vergiss die Politik“, sagt der Fußballfan nochmal, wischt sich die Finger am Deutschland-Shirt ab und schwenkt das leere Bierglas. Ums Treseneck herum sitzen die beiden fremden Freunde, treffen sich hier zum ersten Mal, und spielen mit ihren Bierdeckeln. „Denk nur an den ganzen Quatsch mit Binde in Katar und irgendwelchen Arbeitssklaven und so, das war alles Politik,“ setzt der Fußballfan wieder an. Mit Schwung stellt er das leere Glas auf die Theke zurück. „Und was war dann: Schlecht gespielt haben sie.“

Sein Gegenüber ist ein Demokratiefan und wackelt mit dem Kopf hin und her. Dann zupft er sich das graue Poloshirt zurecht. Es ist warm und dampfig in der Kneipe. Draußen regnet es.

„Vergiss die Politik im Fußball“, kommt da nochmal vom Fußballfan, während er der Wirtin hinter dem Tresen winkt. Ein fragender Blick zu seinem Nachbarn, ein entschlossenes Nicken, dann werden zwei Finger gehoben in ihre Richtung.

„Irgendwie ist doch immer alles politisch“, sagt der Demokratiefan. „Gerade in Katar. Dass man da einfach in einer üblen Diktatur spielt und so tut, als gäbe es das nicht: die unterdrückten Frauen und das Verbot für Schwule und das alles. Der ganze Aufwand mit gekühlten Stadien, die jetzt leer stehen. Da kann man doch nicht weggucken. Wenn das nicht Politik ist!“

„Schon. Aber hat nix mit dem Spiel zu tun. Beim Fußball kommt es auf Fitness an, auf Kondition, und auf die gute Technik, dass sie schnell rennen können, eine Taktik haben und auf den Trainer. Das hat doch nix mit Politik zu tun.“

„Frei im Kopf müssen sie auch sein, die Spieler.“

„Ja schon, frei im Kopf ist immer gut. Ideen müssen sie haben, mal was Neues zu machen, nicht den Ball immer nur hin und her zu schieben.“

Zwei neue Biere kommen …

Die Wirtin stellt zwei Bier auf den Tresen. Saftige Schaumkronen liegen auf dem lockenden Goldgelb. Sie stoßen an.

„So muss ein Bier sein“, sagt der Fußballfan und wischt sich den Schaum von der Lippe. „Hat auch nix mit Politik zu tun.“

„Auch Bier ist politisch, vor allem der Preis“, sagt der Demokratiefan. „Es sind schon Revolutionen wegen des Bierpreises ausgebrochen.“ Er trinkt. „Aber lassen wir das. Wer ist schon alles rausgeflogen bei der Europameisterschaft?“

„Ha! Die Italiener!“ Der Fußballfan grinst.

„Siehste, die Italiener. Nicht frei im Kopf, weil sie eine postfaschistische Regierung haben.“

Der Fußballfan nimmt einen tiefen Schluck und glotzt ins Leere. „Was für ´ne Regierung?“

„Postfaschistisch. Super-autoritär. Die Meloni mag ja ganz freundlich gucken. Aber sie will die Pressefreiheit abschaffen und sich fette Macht auf immer sichern. Fast so wie der Orban.“

„Orban ist Ungarn, oder? – Auch rausgeflogen.“

„Eben: Der nächste Autokrat, der seinen Fußballern keinen Gefallen damit tut, dass sie nicht frei sind im Kopf. Ich sage: Wenn die Regierung keine Freiheit zulässt, spielen die Fußballer schlecht.“

„Jetzt Moment mal“, rafft sich der Fußballfan auf, strafft das verschwitzte Deutschland-Trikot und hebt den Zeigefinder. „Willst du mich hier in so eine Politikscheiße reinquatschen? So nach dem Prinzip, wer schlecht regiert wird, verliert im Fußball?“

„Na ja, kann man doch mal überlegen. Wer hier schon alles rausgeflogen ist, pass auf…“

„Nee, nee,“ protestiert der Fußballfan und winkt ab, „Politik hat mit Fußball nix zu tun.“

„Jetzt hör´s Dir doch wenigstens mal an. Also: Ungarn raus, Orban ist ein Diktator. Italien raus, frühere Faschisten regieren. Serbien raus, Vucic ist ein übler Putin-Freund und zündelt im Balkan.  Slowakei raus, auch so ein spalterischer Populist hat da das Sagen, Fico heißt er. Will der Ukraine keine Waffen liefern. Georgien raus, da machen sie gerade ein Gesetz zur Unterdrückung aller kritischen Meinungen.“ Der Demokratiefan nimmt einen tiefen Schluck aus dem Glas. „Also, so ist es, und jetzt kommst Du.“

Der Fußballfan schüttelt den Kopf. „Das ist doch alles Blödsinn. Die Spieler da von diesen Ländern, die haben doch mit ihrer Regierung gar nichts zu tun, die spielen doch alle bei uns oder in Italien, Frankreich oder in England!“

„Das mag schon sein,“ entgegnet der Demokratiefan, „aber im Kopf sind sie doch in ihren Ländern zu Hause – oder etwa nicht? Muss ja auch so sein. Verlangen wir doch auch von unseren Migranten, wenn sie für Deutschland spielen. Von Tar oder von Musiala oder von Rüdiger, die sollen sich doch auch im Kopf voll und ganz mit Deutschland identifizieren. Gündogan hat türkische Eltern. Trotzdem singt er die deutsche Hymne, wenn’s los geht, und das ist doch auch richtig so.“

„Ja schon, aber das ist doch was anderes.“

„Warum?“

„Weil … weil … ach, keine Ahnung. Aber überhaupt, wenn das stimmen würde, was Du da redest, dann müssten die Deutschen ja auch schlecht spielen, weil wir doch auch ganz mies regiert werden von der Ampel. Tun sie aber nicht.“

„Andersrum stimmts! Die spielen gut, weil sie den Kopf frei haben, weil wir gar nicht so schlecht regiert werden. Verstanden?“

Der Fußballfan ist nicht überzeugt. „Die spielen besser als zuletzt, sagst Du, weil der Scholz so gut regiert? Das glaubst Du doch selber nicht.“

„Na, ja, das vielleicht nicht. Jedenfalls gibt’s hier aber nichts, was die Freiheit im Kopf begrenzt. Außer eigener Blödheit. Und das ist in Ungarn und Serbien und Georgien echt anders, da kannst Du ratzfatz ins Gefängnis wandern, wenn Du was Falsches sagst. Und wenn wir nicht aufpassen, ist das bald auch in Italien so. Und deshalb verlieren die alle.“

„Krass – das glaubst Du echt?“

„Ja sicher“, antwortet der Demokratiefan. „Unfreiheit im Land führt zu Unfreiheit im Kopf. Und das führt zu schlechtem Fußball. Klarer Zusammenhang.“

Die Türken spendieren eine Runde Raki …

Lautes Jubeln und Gegröle im Lokal. Das Spiel ist aus. Autohupen auf der Straße. Eine Gruppe feiernder Türken stürmt herein.

„Da hast Du Deinen Blödsinn!“ schreit der Fußballfan im Getümmel und prostet den türkischen Fans zu. Der Tresen wird umringt von Jubelnden, während eine rote Halbmond-Fahne die beiden Biergläser ins Wanken bringt. „Die Türken feiern!“, brüllt der Fußballfan, „und das ist doch nun wirklich keine gute Regierung dort. Korrupt, alles wird immer teurer, und als Frau willste da auch nicht leben, ewig daheim und mit Kopftuch und so.“ Einen tiefen Schluck nimmt der Fußballfan aus dem Glas, richtet sich neu auf, verschafft sich Platz zwischen den Feiernden um ihn herum, und ruft: „Das ist der Gegenbeweis!“

Die feiernden Türken verstehen zwar nichts die vom Gespräch, geben aber eine Lokalrunde Raki aus. Einige zeigen den sogenannten „Wolfsgruß“, ein Symbol für radikalen türkischen Nationalismus. Der Demokratiefan schüttelt den Kopf. „Gar kein Gegenbeweis,“ sagt er. „Die Türken haben die Österreicher rausgeworfen, weil beide nicht frei sind im Kopf. Siehst Du an dieser komischen Nationalismus-Geste.“ Das Rakiglas wird auf den Tresen gestellt. „Die Österreicher sind gerade drauf und dran, eine Super-Rechtspartei zum nächsten Wahlsieger zu machen. In diesem Spiel haben eben zwei Mannschaften gegeneinander gespielt, die beide nicht den Kopf frei hatten. Einer musste ja gewinnen.“

„He, jetzt hab´ ich Dich!“, schreit der Fußballfan und kippt den Schnaps in sich hinein. „Das mit der Wahl gilt auch für Frankreich! Da haste Dir jetzt selbst widersprochen. Die Franzosen werden die rechtsradikale Le Pen auch wählen, und trotzdem haben sie gewonnen!“

Der Demokratiefan greift zum Rakiglas, überlegt und schiebt es dann voll zurück. „Ja schon … aber wie! Erst in der allerletzten Minute hat´s gereicht. Das war vor allem Glück. Und außerdem haben sich die französischen Spieler ganz öffentlich gegen den drohenden Rechtsruck in Frankreich ausgesprochen. Das ist wie Doping für Freiheit, das hilft auch für die Freiheit im Kopf.“

Die türkischen Fans ziehen wieder ab, der nächsten Kneipe entgegen.

Nochmal zwei frische Biere …

Die Wirtin blickt zu ihnen hinüber, zwei Finger gehen hoch.

„Und was sagste zur Ukraine?“, fragt der Fußballfan. „Wenn die nicht eine gute Regierung haben, wer denn dann? Halten ihren Staat irgendwie am Laufen, sogar die Bahn fährt da pünktlich, was wir hier nicht hinbekommen, und nebenbei müssen sie ihr Land verteidigen.“ Zwei frische Biere werden auf den Tresen gestellt. „Und dann fliegen sie in der ersten Runde schon raus, als Gruppenletzter.“

„Das war bitter. Stimmt,“ räumt der Demokratiefan ein. „Aber die hatten eben den Kopf auch nicht frei, wer will es ihnen verübeln in ihrer Situation? Außerdem hatten sie besonderes Turnierpech. Die waren Vierter in ihrer Gruppe mit vier Punkten. Das war mehr als die Slowenen hatten, die Gruppendritte wurden und weiterkamen. Voll ungerecht.“

„Hat eben doch nichts mit Politik zu tun. Ist alles nur Fußball.“

Die Tür geht auf, eine Gruppe Österreicher trottet herein. Lautstark bestellen sie Bier. Die Enttäuschung über das Ausscheiden gegen die Türkei klingt bereits ab.

„Sag mal?“, fragt der Demokratiefan.

„Ja was?“

„Macht schon Spaß, so eine EM in Deutschland, oder?“

„Logisch! Es regnet zwar dauernd, aber trotzdem ist überall beste Stimmung. Alle freuen sich, siehste ja gerade, sogar ich kann mich mit den Türken freuen, und mit den Österreichern traurig sein.“

Sie beide prosten den Österreichern zu, die hinter ihnen stehen und gerade ihre Biergläser bekommen haben. „Seid´s arg traurig?“, fragt der Fußballfan. Die Österreicher trinken.

„Hat vielleicht auch was mit der Demokratie zu tun,“ sagt der Demokratiefan. „Gute Stimmung gibt’s nur in Freiheit, nicht in einer Diktatur.“

„Du nervst. Ich freu´ mich jetzt aufs Viertelfinale,“ sagt der Fußballfan und nimmt einen Österreicher in den Arm. „Leider ohne Euch. Aber tolle Spitzenmannschaften kommen da jetzt: Spanien, Portugal, Frankreich, Niederlande, England, Schweiz. Und Deutschland! Das werden super spannende Spiele!“

„Alles lupenreine Demokratien“, sagt der Demokratiefan.

„Da hätten wir auch reingehört“, ruft ein Österreicher. „So demokratisch wie die Niederländer sind wir noch lange.“ Der Demokratiefan lacht.

Fünf Biere hatten die Schotten ausgegeben …

„Jetzt hört doch mal auf mit dem Politikzeug!“, ruft der Fußballfan. „Und überhaupt, was ist mit den Schotten und Deiner Theorie? Die haben besonders gute Stimmung gemacht, unglaublich, fünf Bier haben sie mir ausgegeben, hier an diesem Tresen, und eine Demokratie sind sie auch, oder? Trotzdem rausgeflogen.“

„Ja, stimmt alles, aber leider haben sie einfach zu schlecht Fußball gespielt,“ sagt der Demokratiefan.

„Siehste,“ triumphieren da der Fußballfan und die Österreicher. „Ist eben Fußball. Hat nix mit Politik zu tun.“

 

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

Eine Liste aller Krawalle und „Revolutionen“, die vom Bierpreis ausgelöst wurden, findet sich auf Wikipedia.

Wer mehr über die Hintergründe des „Wolfsgruß“ erfahren möchte, findet eine gute Zusammenfassung hier. 

 

 

 

 

 

Kleiner Ausflug ins Konservative

Sieben Miniaturen, erlebt auf einer Reise durch Polen

Grabsteine als Zeitzeugen der polnisch-deutschen Geschichte: Eine Szene im Schatten der Kirchenruine von Milkow.

Krakow, früher Nachmittag

Die Maisonne wärmt die Straßen der alten Residenzstadt, vom Berg leuchtet die stolze Burg der polnischen Könige. Das Leben beginnt zu pulsieren im jüdischen Viertel, die Bars warten auf verfrühte Nachmittagsgäste, eine Gruppe orthodoxer Juden läuft  herum, ihre Locken wippen, während sie Reisekoffer in das Taxi wuchten, das die enge Gasse versperrt. Dort Synagogen, im Stadtzentrum Kirchen. Touristen bestimmen das Bild, viele Europäer in kurzen Hosen und bunten Hemden. In der ganzen Stadt ist fast ausschließlich weiße Haut zu sehen, ein paar Gäste mit asiatisch anmutenden Gesichtszüge. Dann, am Rand der Innenstadt, lockt in einem der alten Häuser das Wort „Döner“. Ein weißer Mann blickt aus dem Fenster. Menschen mit südeuropäischer oder arabischer Prägung gibt es nicht im Straßenbild. Da sage nochmal jemand, Politik habe keine Folgen.

Wroclaw, gegen Mittag

Die Straßenbahn rollt heran. Der Kauf einer Fahrkarte war kein Problem, der Automat versteht auch deutsch oder englisch, ein Tastendruck genügt. Die Kreditkarte akzeptiert er mit einem befriedigten Piepsen, und schon spuckt die Maschine das Kärtchen aus. Es ist warm auf dem schmalen Bahnsteig, und der Gast spürt, wie ihm die Tropfen auf die Stirn treten. Die Bahn ist voll, und in ihrem Inneren ist es noch wärmer. Klack!, macht der Entwerter, und der Gast richtet sich auf eine ruckelige Fahrt im Stehen ein. Schon Sekunden später springt ein junger Mann auf.

Es wird zum stabilen Eindruck bei dieser und weiteren Gelegenheiten: Hier ist wenig woke, und öffentlich noch weniger queer. Selten ein Kuss auf der Straße, das Private ist privat, und in der Sauna bleibt die Badehose an. Lastenräder fehlen im Stadtbild genauso wie Väter, die Kinderwägen schieben. Aber Höflichkeit zählt noch etwas in Polen. Man bietet Älteren den Platz an, Männer lassen Frauen den Vortritt, die Tür wird aufgehalten.

 

Opole, früher Samstagabend

Die Kirchenglocken hatten durch das offene Hotelfenster hindurch geläutet, als wollten sie die Stabilität ihrer Aufhängung prüfen. Dann war Stille gewesen. Beim Spaziergang eine halbe Stunde später durch die Kleinstadt war der fromme Lärm längst vergessen. Warum nicht einmal hineinsehen in die schöne Kirche am Weg? Schnell ist klar: Hineinsehen bedeutet: den laufenden Gottesdienst besuchen. Das war nicht der Plan. Es wäre auch kaum Platz. Die Kirche ist bestens besucht, auch viele junge Menschen sitzen in den Bänken und blicken in ihr Gesangbuch. Es ist nicht Weihnachten und auch nicht Ostern. Es ist ein normaler Samstagabend in Polen.

 

Jelena Gora, später Nachmittag

Ein winziges Café hatte gelockt, und das frisch gemahlene und gebrühte Koffeingebräu war unter schattigen Arkaden ein glücklicher Genuss gewesen, der kleine Kuchen dazu auch. Nun aber würde der Gast eine Toilette benötigen. Die Barista im Rentenalter bedauert, keine eigene Gelegenheit anbieten zu können und gestikuliert deutlich in Richtung Rathaus gegenüber. Richtig, da steht ja: Tourist Information. Aber die Information hat seit 15.30 Uhr geschlossen, nun ist es schon fünf Minuten später, und die Not wird größer. Schließlich Hoffnung: ein anderer Eingang des Rathauses ist noch offen. Schon auf dem Weg zur ersehnten Lokalität stürmt ein Wachmann herbei, verweist grimmig auf seine Uhr und schüttelt entschlossen den Kopf. Ordnung muss sein, Gnade keine Pflicht.

Wie gut: Nebenan, das große Steak- und Burger-Lokal ist schon geöffnet. Beim ersten schüchternen „Sorry, could I …?“ lächelt die Bedienung am Eingang ein entschlossenes „Of course!“ und weist den erleichternden Weg.

 

Milkow (Podgorzyn), am Vormittag

Gerade erst losgefahren, schon ein erster Halt, ungeplant. Fasziniert hat der Blick durch die Windschutzscheibe. Ein grauer Turm steht da, mit löchriger Haube, rabenumflattert, und das Kirchengebäude daneben ist eine Ruine. Sattes, hohes Grün bahnt sich den Weg durch die gähnend leeren Fensterhöhlen und wiegt sich im Wind, wo das Dach fehlt. Ein Bauzaun versperrt jeden Weg dorthin. Immerhin, drumherum lädt ein großer Friedhof ein. Hunderte Grablaternen, bunte Plastikblumen auf den Gräbern mit polnischen Namen.

Eine Erläuterungstafel bleibt unverständlich, da nur polnisch. Aber ein Blick ins allwissende Netz hilft: Die evangelische Pfarrkirche des einstmals deutschen Dorfes wurde im Krieg durch Bombeneinschlag zerstört. Nach Kriegsende war die evangelische Bevölkerung geflohen oder vertrieben worden. Die neuen Bewohner waren katholisch, und es gab keinen Bedarf mehr an einer evangelischen Kirche. Warum also wieder aufbauen? Der Friedhof wurde weiter betrieben. Die alten deutschen Grabsteine liegen als steinerne Zeitdokumente zusammengewürfelt im Schatten der Ruine. Dieses Erlebnis schärft den Blick auf der weiteren Fahrt: An vielen anderen Stellen wurden die alten Friedhöfe schlicht rückstandslos eingeebnet.

 

Wroclaw, am Vormittag

Die runde Halle steht in jedem Reiseführer, wird beworben als besondere Sehenswürdigkeit. Unesco-Welterbe! Bei ihrem Bau im Jahr 1927 war die „Jahrhunderthalle“ die größte freitragende Halle Deutschlands, eine Ikone des frühen Stahlbeton. Aber die Dame am Ticketschalter schaut nur widerwillig vom Handy auf. Nein, erklärt sie auf Englisch, eine Besichtigung sei jetzt nicht möglich. Es sei eine Gruppe in der Halle, und daher die Kapazität für die Besichtigung erschöpft. Wie lange das dauere? Könne sie nicht sagen. Ob man schon mal ein Ticket kaufen könne? Nein, besser nicht, vielleicht überlege man es sich ja doch noch anders.

Zwanzig Minuten später ein erneuter Vorstoß. Ob die Gruppe jetzt draußen sei? Wieder ein zögerndes Aufblicken vom privaten Display. Nein, das wisse sie nicht. Da kommen zwei Besucher aus der Halle. Hoffnungsvoller Verweis: Wenn die beiden da jetzt draußen sind, könnten wir doch rein? Richtig, freut sich die Dame, legt das Handy aus der Hand und verkauft zwei Tickets. In der riesigen Halle sind zur Besichtigung zwei Logen freigegeben. Sie haben mindestens hundert Plätze. Besetzt sind etwa zwanzig.

 

Karpacz, um die Mittagsstunde

Das ehemalige Bergdorf ist ein Touristenhotspot mit einer alten Holzkirche als herausragende Attraktion. Die Szenerie gleicht der Annäherung an Schloss Neuschwanstein. Vorbei an Hotels und Restaurants nähert sich das Auto, schon frühzeitig lotsen geschäftstüchtige Helfer auf gebührenpflichtige Parkplätze. Der Anstieg von dort zur Stabkirche Wang ist steil, aber kurz und kurzweilig. Rechts und links des Weges glotzt tausendäugig quietschbunter China-Plüsch von Touristenständen, locken überteuerte Porzellanverkäufe und alberner Erinnerungskitsch, warten Grillwürste und einsturzgefährdete Softeispyramiden.

Dann endlich die Kirche, vor mindestens 800 Jahren in Norwegen aus Holz erbaut, vor knapp 200 Jahren von dort nach Berlin transportiert, dann schließlich im Jahr 1844 an dieser Stelle auf halbem Weg aus dem Tal zum Gipfel der Schneekoppe wieder zusammengesetzt. Gedacht als meditativer Einkehrpunkt für Wanderer. Nun treibt ein festgefügter Ablauf im Viertelstundentakt die Touristen busladungsweise in das Kirchlein. Wie eine brave Schulklasse hören wir die Erklärung vom Band und sehen der Aufseherin zu, die mit einem langen Stock und humorlosem Blick auf das Erläuterte zeigt. Es fühlt sich an wie in einem alten Pauker-Film aus den 60er Jahren. Aber schon bald ist Schule aus.

 

Mein Text „Germania, Europa und der Stier“ nimmt ebenfalls Bezug auf meine Reiseeindrücke durch Polen.

 

Germania, Europa und der grasende Stier

Eine West-Ost-Reise anlässlich der Europawahl

Germania hätte sich ja durchaus entführen lassen wollen, wie einst die antike Europa, aber der Stier war nicht interessiert. Die Idee von offenen Grenzen lag noch in weiter Ferne, als Germania plante, in die Stadt ihrer Geburt und Kindheit zurückzukehren. Sie wollte noch einmal die Orte sehen, von denen sie geflohen war, damals in panischer Angst, das böse Grollen der Front schon im Ohr, nichts wie fort, so ihr einziger Gedanke, zwei Kinder bei sich, nichts wie fort, bevor alles in Schutt und Asche fiel.

Der Stier entführt Europa – Darstellung der antiken Sage von ca. 480 v. Chr. (Bild: Berliner Maler, gemeinfrei via Wikimedia)

Nun wollte sie es noch einmal sehen: das Haus ihrer Kindheit, den Schrebergarten der Eltern, die Schule, die erste gemeinsame Wohnung mit ihrem Mann. Aber die Behörden der neuen Eigentümer ihrer Heimat missbilligten die Bezeichnung ihres Geburtsortes, der inzwischen nicht mehr so hieß, wie damals, als Germania dort das Licht der Welt erblickte. Sie verweigerten ihr das Visum solange, bis sie sich beugte und mit grollenden Gefühlen endlich „Wroclaw“ in den Antrag schieb, obwohl sie doch in Breslau geboren war.

Nach dem VW-Käfer drehten sich die Menschen um

Es war also kein Stier, den sie nutzte, und es war auch nicht Europa, sondern Germania, der  schließlich ein kurzer Besuch in ihrer alten Heimat gestattet wurde. Mit einem orangefarbenen VW-Käfer der letzten Generation rollte sie nach Polen, und der Anblick des West-Autos im realen Sozialismus war so ungewöhnlich, dass die Menschen sich nach ihm umdrehten. Ein Stier hätte nicht mehr Aufsehen erregt. So fuhr Germania damals durch die vertrauten Landschaften, durch die ergrauten Dörfer, hinein in die noch immer geschundenen Städte mit den Bombenlücken und Einschusslöchern, durch die holprigen Straßen ihrer Kindheit, die jetzt Namen trugen, die sie nicht aussprechen konnte. Und sie flüsterte nur, um sich nicht in der verhassten Sprache der Vertriebenen zu verraten als das, was sie war: Eine Geflüchtete aus dem Tätervolk.

Germania besah sich stumm die Veränderungen in ihrer verlorenen Heimat, hörte die fremde Sprache, blickte in die fremden Gesichter. Sie ängstigte sich hin wie her durch mühselige und furchteinflößende Grenzkontrollen, und kehrte schließlich erleichtert zurück, dorthin im Westen, wo sie nun zu Hause war. Unfallfrei, unbeschadet, wieder in Freiheit atmete sie auf, und packte fortan Pakete für die schlechter Gestellten jenseits der Grenzen, die damals die Welt teilten und vollständig unverrückbar schienen.

Der Stier blieb nicht untätig

Niemals hätte es Germania für möglich gehalten, aber der Stier blieb nicht untätig. Er erwachte unerwartet. Gleich einer göttlichen Eingebung stellte er sich in den Dienst der staunenden, von Kriegserfahrung geschüttelten Europa. Mit ihr auf dem Rücken trampelte er die Grenzen nieder, zerschlug die Schlagbäume, zerrte die einst Streitenden in ein komplexes Geflecht von Absprachen und Verträgen. „Europäische Union“ wurde das fragile Konstrukt genannt.

Nicht drei, wie die antike, sondern 27 Kinder zeugte diese moderne Europa, und sie alle ringen bis heute jeden Tag um das große Glück der Freiheit. Nur deshalb können nun, ganz ohne Grenzkontrollen, ihre Töchter und Söhne jene Reise wiederholen, die fünfzig Jahre früher Germania allein unternahm.

Nichts ist vergleichbar zu damals

Vom dem, was sie dabei erleben, ist nichts vergleichbar zu damals: Verheilt sind die meisten Wunden des Krieges, glitzernde Glasbauten sprießen zwischen den schmuck renovierten Fassaden der Städte, durch die nun entspannt Touristen schlendern. Überall leuchtet das Symbol der EU, die goldenen Sterne auf blauem Grund, weil Europa finanziert hat, was nun in neuem Glanz strahlt: die alten Schlösser und Bürgerhäuser, die Theater, die Straßen und Plätze. Viele Milliarden sind geflossen von West nach Ost, um diese Angleichung der Lebensverhältnisse zu ermöglichen, und vieles davon ist gelungen. Niemand achtet mehr auf West-Autos, und niemand schaut auf, wenn deutsch gesprochen wird.

Milliarden flossen von West nach Ost. Erst die Idee der europäischen Einigung auch mit Osteuropa ermöglichte eine Annäherung der Lebensverhältnisse.

Niemals mehr sollten Grenzen mit Gewalt verschoben werden – das hatte Europa vom Stier herab verkündet, hatte es zur wesentlichen Gründungsidee des vereinten Kontinents gemacht. Germania war einst noch das Misstrauen entgegengeschlagen – die Angst der Polen und Tschechen, dass Deutsche zurückverlangen könnten, was die Geschichte nach dem Krieg ihnen genommen hatte.

Nie mehr Grenzen verschieben – darauf vertrauen nun die Menschen in Schlesien, im Land der Sudeten oder in Böhmen. Europa hat es ihnen vom göttlichen Stier herab versprochen. Also gibt es dort nichts mehr zu verlangen, sondern nur noch zu staunen: Mit welchem Fleiß und welcher Ausdauer die Menschen ihre neue Heimat in Besitz genommen haben, in vielen Fällen selbst Vertriebene, wie die von dort Verjagten. Wie viele Namen neu erfunden, übersetzt, Straßenschilder ausgetauscht werden mussten. Wie viele Häuser zu renovieren, neu zu bauen, wie viele Löcher zu verputzen, wie viele Felder zu bestellen gewesen waren. Wie mühsam es gewesen sein musste, sich einzurichten in dieser fremden neuen Welt. Und wie gut es gelungen ist.

Das friedliche Bild trügt

Nun grast der Stier auf dem grünen Feld unterhalb der Schneekoppe. Große Hotelbauten wachsen den Hang entlang, Fünf-Sterne-Wellness im Riesengebirge wird versprochen, frisch asphaltiert glänzt die Straße, die dorthin führen soll. Aber das friedliche Bild trügt, denn keine sechshundert Kilometer weit fort schlagen die Raketen ein. Schon wieder möchte ein Gewalttäter in Europa Grenzen verschieben. Und die alte Angst ist zurück.

In der antiken Sage symbolisierte der Stier, der die Europa entführt, den liebestollen Göttervater Zeus. Der Allmächtige aber hat sich überanstrengt. Die Einigung des Kontinents in der Europäischen Union war ein wahrhaft göttlicher Schöpfungsakt. Nun grast er nur noch. Europa kann kein zweites Mal auf ihn zählen, sondern muss selbst wehrhaft werden. Die Rechtsstaatlichkeit, die niedergerissenen Grenzen, die einheitlichen Handytarife, die in weiten Teilen gemeinsame Währung, das freie Leben – alles das gilt es jetzt zu schützen. „Unser Europa ist sterblich, und wir müssen uns der Herausforderung stellen“, formulierten kürzlich gemeinsam der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident.

Nichts dabei wird schnell erledigt sein. Und nichts dafür ist genug. Aber auch nicht alles ist schwierig. Einfach ist, einen Stift zur Hand zu nehmen, einen Strich zu machen und dann noch einen, so dass sie ein Kreuz ergeben. Auf einem Wahlzettel am 9. Juni 2024.

Im Glanz der europäischen Idee – als hätte es nie einen Krieg gegeben, strahlen die renovierten Fassaden am großen Marktplatz von Wroclaw (früher: Breslau).

 

Einige Impressionen der Reise durch Polen habe ich in „Kleiner Ausflug ins Konservative – sieben Miniaturen von einer Reise durch Polen“ zusammengefasst

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

Informationen über die antike Sage vom Stier und der angeblichen Entführung der Europa finden Sie hier.