Der alte Träumer trotzt dem Weltenbrand

Eindrücke nach einem Konzertabend mit Konstantin Wecker

„Dreamer“ nennen sie in Amerika jene – geschätzt etwa 1,9 Millionen – Menschen, die seit ihrer Geburt illegal in den USA leben. Sie träumen von einem gesicherten Aufenthaltsstatus, von Legalität und langfristiger Gewissheit über die eigene Zukunft.  Donald Trump wollte sie in seiner ersten Amtszeit allesamt ausweisen; gelungen ist ihm das nicht, und was nun für sie kommen wird, ist ungewiss.

Ein großer Poet, ein Musiker, ein Kämpfer: Konstantin Wecker. Aber gibt es die Welt noch, für die er kämpft? (Foto: Thomas Steinborn, bereitgestellt von wecker.de)

Auch in Deutschland leben sicher einige „Dreamer“ in diesem Sinne; aber, da es hier – anders als in den USA – eine allgemeine Meldepflicht gibt, dürften es nicht sehr viele sein. Deutsche Träumer sind üblicherweise nicht jung und auf der Suche nach einer gesicherten Existenz. Sie sind oft selbstzufriedene Inhaber einer rechtsstaatlich garantierten Gewissheit von Sicherheit und Wohlstand. Sie sind grauhaarig und faltengesichtig, sie verbergen ihre Handys in lederne Klapphüllen und wenn sie diese öffnen, dann machen sie verwackelte Fotos oder versuchen, mit zittrigen Wischbewegungen ihre südteuren Hightech-Hörgeräte zu bändigen.

Sie träumen nicht von einer Zukunft, sondern von ihrer Vergangenheit.

Die einen stemmen sich gegen Veränderungen, …

Die einen stemmen sich gegen alle Veränderungen der neuen Zeit, gegen die Vielfalt von Lebensentwürfen, gegen das vermeintlich Fremde in unserer Heimat, gegen das Ende der geliebten Verbrenner in Keller und Garage. Wenn sie mutig genug wären, würden sie sich gegen all dies auf irgendwelche Straßen kleben. Aber sie sind nicht mutig, sie sind feige und kreuzen ihren Zorn anonym auf dem Wahlzettel an. Sie vertrauen den falschen Versprechungen der Rattenfänger.

… die anderen trauen der Jugend nichts zu, …

Andere dieser Träumer eifern Aristoteles nach und sprechen der „Jugend von heute“ ab, dass diese den notwendigen Fleiß, die Ausdauer und Weitsicht besitzen würde, unsere Welt zu bewahren. Aber sie erwarten gleichzeitig, dass diese unfähige Generation mit ihren Steuern und Beiträgen verlässlich satte Renten finanziert und sich bereitwillig für eine allgemeine Dienstpflicht erwärmt.

… und die dritten wollen weiter kämpfen

Und die dritten schließlich, und um die soll es hier gehen, wollen den Kampf ihrer früheren Jahre fortsetzen. Sie wollen nicht aufgeben, da sie entsetzt erkennen, wohin ihr ungebremster Wohlstandsdrang geführt hat: überschwemmte Städte, brennende Wälder, Smogalarm, wiedererstarkter Rechtsradikalismus. Sie wollen es wieder gutmachen, das Rad der Schuld zurückdrehen. Sie wollen zeigen, dass sie gelernt haben. Nur: Was?

Zur letzten Gruppe zählt der Künstler Konstantin Wecker. 1947 in München geboren und aufgewachsen, hat ihn eine klassische West-Nachkriegsbiografie geprägt, mit Abstechern ins Gefängnis, in den Drogenentzug und in die Toskana. Wenn er zum Konzert ruft, dann sammelt ein alter Träumer seine Jünger um sich, und sie kommen in Scharen. Das Publikum ist homogen angegraut, kaum ein Gesicht unter dreißig, zwei Drittel über sechzig. Für sie liest ein alter Mann auf der Bühne seine Moderation vom Teleprompter ab, bewegt sich vorsichtig von links nach rechts und wieder zurück, mehr tastend als tanzend. Gelegentlich setzt er sich hin. Seine Lieder haben noch immer die alte Kraft, auch wenn die Stimme brüchiger ist als früher, oft gar kein Gesang, mehr ein Sprechen oder Rufen oder Flüstern.

Nach den wilden Träumen seiner Zeit sucht er noch immer

Nach den wilden Träumen seiner Zeit aber sucht er noch immer. Er hat Abstürze und Wiederkehr erlebt, große Erfolge als Komponist, als singender Poet, als Schauspieler. Er hat sich im Leben durchgesetzt mit klugen Worten und schöner Musik, und ist doch immer ein Mann der Disharmonie geblieben, ein widerborstiger Anarchist, ein sperriger Antifaschist, ein mahnender Pazifist. Und sein Publikum dankt es ihm. Für die ergraute Schar ist er so, wie sie sich selbst gerne sehen: Geläutert, demütig, nicht gebrochen. Und schließlich stimmt doch noch immer, was schon vor fünfzig Jahren gestimmt hat: Die Reichen nehmen sich zu viel vom Kuchen, die Menschlichkeit fehlt allerorten, und nur der Frieden, nicht die Waffen, versprechen eine Zukunft.

Ein Populist des Guten

Es sind solche Sätze, die den alten Träumer zu einem Populisten des Guten machen, zu einem Propagandisten für einfache Wahrheiten. Hier verspricht einer die Rückkehr in eine Welt, die noch nicht aus den Fugen war, nicht multipolar und komplex wie heute, sondern wohlgeordnet: Die Armut im Süden. Der Feind im Osten hinter einer gut gesicherten Mauer. Und der Reichtum im Westen, gegen dessen offenkundige Ungerechtigkeiten man guten Gewissens, weitgehend gefahr- und folgenlos, demonstrieren durfte. Die Linke war es damals, die den Staat grundlegend kritisierte; heute ist es die radikale Rechte.

Als dann auch noch der eiserne Vorhang fiel, da war für die Generation der deutschen Träumer ein Zeitalter ohne Kriege schon zum Greifen nah. Es war eine Welt, in der kein europäischer Nachbar mit todbringender Gewalt die Freiheit des Westens bedrohte.  Es war noch nicht Avantgarde, auf Aktienkurse statt auf Tarifverträge zu starren. Es war nicht üblich, sich anonym und ungestraft im Netz zu beleidigen. Und noch niemand war auf die Idee gekommen, mit Hass und Lüge Milliarden zu verdienen.

Nun aber herrscht „Weltenbrand“

Wecker singt die deutschen Träumer zurück in diese Zeit. Nun aber herrscht „Weltenbrand“, ganz real, und nicht nur im gleichnamigen Lied, das Wecker kurz vor Schluss in den Saal schreit und haucht und in die Tasten seines Flügels schlägt: „Tauchst in die Fluten du ein, bis alles erlischt – würdest gern Brandung sein, endest als Gischt.“

Beifall brandet auf. Der große alte Träumer steht auf der Bühne, inmitten des genialen Musikerteams, das er um sich geschart hat und das seinen Liedern moderne musikalische Wucht verleiht. Gebeugt, beansprucht von diesem Abend, vielleicht glücklich, sicherlich widerspenstig wie immer, nimmt er die Huldigungen entgegen. Ein großer Poet steht da, ein genialer Musiker, auch ein Kämpfer mit vielen Narben aus seinem Streit für eine bessere, friedlichere, menschlichere Welt.

Man spürt, dass er es weiß: „Würdest gern Brandung sein, endest als Gischt“. Weil sie einfach nicht auf ihn hören will, die Welt von heute.

 

Erlebt habe ich Konstantin Wecker bei einem Konzert seiner Tour „Der Soundtrack meines Lebens“ in Stuttgart am 3. Dezember 2024. Weitere Konzerte mit diesem Programm gibt es am 8.12. in Wien und am 10.12.2024 in Frankfurt. Konstantin Wecker startet im Frühjahr 2025 eine Tour „Lieder meines Lebens“ in 49 Städten.

Mehr Informationen über Wecker auf seiner Website. 

Das Lied „Weltenbrand“ gibt es auch als Video (Link führt zu Youtube) 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier. 

 

Eine Aura kann man nicht ausstellen

Über Musiker-Museen in Deutschland

Friedrich Silcher, dem Großmeister des deutschen Liedgutes der Romantik, war mehr als 100 Jahre ein Museum gewidmet – vor einem Jahr wurde es geschlossen. (Foto: Christoph Friedrich Dörr – Ausschnitt aus dem sog. „Hochzeitsbild“, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1423045

Wie klingt Deutschland? Ganz gewiss vielstimmig: laut und trotzig, wie auch leise und schüchtern. Deutsche Musik klingt gleichermaßen nach glasklarem Barock wie nach ruppigem Deutschrap, lärmt mit Rammstein, träumt von 99 Luftballons, fährt, fährt, fährt mit Kraftwerk auf der Autobahn, und singt sich atemlos.

Deutschland klingt auch nach Friedrich Silcher: „Alle Jahre wieder“ singen die Kinder bald wieder, und der eine oder andere Erwachsene wird mitbrummen. „Ännchen von Tharau“, oder das Lied der Loreley, und schließlich „Muss i denn, muss i denn …“ – alles deutsche Lieder, an deren Erhalt und Vertonung der schwäbische Komponist Friedrich Silcher (1789 bis 1860) entscheidend beteiligt war. Silcher war einmal ein ganz Großer seiner Zeit. Auf einer Ansichtskarte von 1900 wird er in einer Reihe genannt mit Schiller, Zeppelin, Kepler, Uhland und Mörike. Hunderte Straßen und Plätze, Schulen, Konzertsäle und andere Gebäude sind nach ihm benannt. Mehr als hundert Jahre lang wurde ihm in seinem Geburtsort, in Schnait unweit von Stuttgart, ein eigenes Museum gewidmet. Seit einem Jahr ist es geschlossen, und es wird auch nicht wieder eröffnet, sondern aufgelöst. Es ist das Ende eines „Musikermuseums“.

Wer sind Musiker? – Nicht die, denen Museen gewidmet sind

Schon der Begriff „Musikermuseum“ ist bestürzend irreführend. Letztlich gibt es fast so viele Musiker in Deutschland, wie es Menschen gibt, Abermillionen, mitten im Leben, nicht in einem Museum. Es gibt die Trompeterinnen in der Blaskapelle, die Posaunistinnen auf dem Kirchturm, die ungezählten Chorsängerinnen, die Kammermusikerinnen, die sich abends in ihren Wohnzimmern treffen. Es gibt die Akkordeonspielerinnen und die Flötistinnen – und es gibt diese alle auch noch in männlicher Form. Händeringend suchen laute Bands aller Altersgruppen nach gut isolierten Übungsräumen, zirpen leise Gitarren aus Kinderzimmern, grübeln Menschen über die nächste Note ihrer Komposition, üben sich Hobby-Rapper in den richtigen Rhythmus ihrer Worte hinein. Es klingt und spielt in Deutschland allerorten, und alle diese Musizierenden gemeinsam sind auf der Suche nach dem richtigen Ton, der richtigen Taste, dem gesuchten Ventil, der perfekten Lippenspannung.

„Es kann doch wohl nicht sein“, spottete eine Tochter über ihren musikinteressierten Vater, „dass es immer noch Komponisten-Museen gibt, die Du noch nicht besucht hast!“. Doch, das kann sein. Es gibt so viele Musikermuseen in Deutschland, dass sie sogar eine gemeinsame Internetplattform betreiben und eine Landkarte herausgeben. Was dort auffällt: Die meisten große Namen der Musik versammeln sich in einem breiten Streifen durch die Mitte Deutschlands. Das musikalische Band reicht von Bonn im Westen bis nach Dresden im Osten, mit einer Nord-Süd-Breite von vielleicht hundert Kilometern. In Deutschlands Mitte wirkten Johann Sebastian Bach und seine Söhne, Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Robert und Clara Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel, Richard Wagner, Franz Liszt, Carl Maria von Weber und viele weitere. Sie alle werden mit Musikermuseen gewürdigt. Weit nördlich lockt in Hamburg das Komponistenquartier mit Museen für weitere prominente Namen (Georg Philipp Telemann, Johannes Brahms, Gustav Mahler), weit südlich wurde in Augsburg Wolfgang Amadeus Mozart geboren, und noch weiter südlich lebte Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen.

Silcher stand einmal in einer Reihe mit Schiller und Mörike

Im deutschen Südwesten sticht nur ein Name hervor, und er verschwindet gerade von dieser Landkarte. Der Komponist und Musikpädagoge Friedrich Silcher machte sich unsterblich, weil er im Geist der Romantik mehr als 300 Werke des deutschen Liedgutes vertonte. Silcher schrieb nicht nur die überbrachten Texte und Melodien auf, er setzte sie auch in mehrstimmige Kompositionen um und fügte ihnen eigene musikalische Ideen hinzu. Ein Lied zu singen, das war in Silchers Zeit Teil von freiheitsstrebender Identität, Ausdruck des Traums einer klassenlosen Gesellschaft. Und doch konnte das vom Württembergischen Chorverband getragene, private Silcher-Museum nicht erhalten werden. Seine Bestände werden jetzt verteilt – an das Literaturarchiv in Marbach, an das Stadtmuseum in Tübingen (wo Silcher hauptsächlich wirkte) und an andere Stellen. Was zur Frage führt: Kann man Musik ausstellen?

Der Arbeitsraum des Gewandhaus-Direktors Felix Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig.

Wer nur einige der vielen deutschen Musikermuseen besucht, lernt unterschiedlichste Ansätze kennen, sich der Musik physisch zu nähern: Das Robert-Schumann-Geburtshaus in Zwickau gewährt Zutritt zu den Originalräumen von Schumanns Kindheit und füllt sie mit vielen Dokumenten und Lesestoff aus. Im Mendelssohn-Museum von Leipzig gewinnt der Besuchende Eindrücke über die Lebensumstände des Gewandhausdirektors, kann einzelne Gegenstände aus seinem Besitz bestaunen und in einem Raum dank Hightech selbst erleben, wie es sich anfühlt, ein Orchester zu dirigieren.

Für das Werk mancher Musiker reicht ein Museum nicht aus

Manche Komponisten haben solche Wucht in ihren Werken, dass ein einziges Museum gar nicht ausreicht. Johann Sebastian Bach kann man sich am Geburtsort Eisenach nähern, aber auch in Gedenkstätten in Wechmar (Heimat der Bach-Familie), Arnstadt (erste Organistenstelle) und in einem mächtigen Museumsneubau an seiner wichtigsten Wirkungsstätte in Leipzig. Dort drückt man auf Knöpfe, toucht auf Bildschirme und bleibt doch ratlos zurück darüber, wie der Thomaskantor neben seiner ganzen schier unerschöpflichen, bis heute gültigen Schaffenskraft auch noch eine schwindelerregende Verpflichtungsdichte (z.B. bei der Beaufsichtigung seiner Chorschüler) bewältigen konnte. Richard Wagner machte Urlaub in Graupa, unweit von Dresden. Der dortigen Entstehung seiner Oper „Lohengrin“ ist heute ein schickes modernes Museum gewidmet, neben dem berühmten Haus Wahnfried in Bayreuth und einer privaten Wagner-Sammlung in Eisenach.

Nicht das Museum macht den Musiker unsterblich

Das Museum schließt, die Musik bleibt – wenn die Musiker es möchten: Das frühere Silcher-Museum in seinem Geburtshaus in Schnait bei Stuttgart. (Foto. Thomoesch, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28057926

Macht also ein Museum den Musiker unsterblich? Gewiss nicht. „Die Aura ist nichts, das ohne Kenntnis leuchtet,“ berichtet Elisabeth Hardtke, die Kustodin des aufgelösten Silcher-Museums in einem eindrücklichen Film, der über Silcher informiert und das Ende des Museums erklärt und dokumentiert. Wenn die Zeiten sich wandeln, bleiben die Besucher aus, und dann fehlt auch das Geld zur Modernisierung der notwendigen museumspädagogischen Ansätze.

Und so hat manches angestaubte Musikermuseum auch etwas Tröstliches: Das Museum mag eines Tages sterben, aber die Musik lebt fort, und klingt millionenfach durch Deutschland – weniger wegen des Komponisten, mehr wegen der vielen Musiker und ihrer Zuhörer. Alle Jahre wieder …

 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

Im Text finden Sie die Links zur Internetdomain musikermuseen.de und zum sehr sehenswerten Film  über das Leben von Friedrich Silcher – und das Ende des Silcher-Museums in Schnait. 

 

Die Tonleiter des Glücks – Kultur und Provinz (29. Juli 2021)

Die junge Frau sitzt im Regionalzug. Der Schaffner pfeift, und der Zug setzt sich in Bewegung. Sie blickt aus dem Fenster und beginnt zu summen. Im Zug herrscht Unsicherheit. Was ist denn das für ein Verhalten? Kinder kichern, Erwachsene drehen sich um. Aber die Melodie steckt an und überwindet die anonyme Stille der zufälligen Fahrgemeinschaft. „Wir machen Musik“, nehmen die ersten das Summen auf – „da geht Euch der Hut hoch, da geht Euch der Bart ab!“ Bald gesellen sich immer mehr mutige Singende dazu. „Do – re – mi – -fa – so …“, der ganze Zug füllt sich mit der geträllerten Tonleiter. Als die singende Reisegesellschaft ankommt und aussteigt, gesellen sich Blechbläser dazu, die Rolltreppe im Bahnhof rollt plötzlich wie im Rhythmus des Ohrwurms, noch mehr Menschen schließen sich an, umstellen ein plötzlich auftauchendes Schlagzeug. Junges Volk nimmt Videos auf und verschickt Fotos, Bürovolk schwingt die Aktentaschen und Shopping-Aktive singen mit, es wird getanzt im Takt des Liedchens. Schließlich marschiert ein ganzer Spielmannszug herbei und trötet ohrenbetäubend das Lied von der Musik. Ein ganzer Bahnhof voller Klänge! Dann ist es vorbei – und die zufällig zusammengewürfelte Menge spürt das Glück des gemeinsam erlebten Moments, das Lächeln, das Aufatmen des Gelingens. Es wird geklatscht, und dann zerstreut sich die Musikgemeinde so unvermittelt, wie sie sich gefunden hatte.

Der Flashmob wurde 62000-mal geklickt

Was hier erlebt wurde, war jener Wimpernschlag, in dem wir den Ball im Tor liegen sehen; diese Sekunde, in der wir erkennen, dass ein sehnlich erwarteter Mensch aus dem Zug steigt. Oder eben jener Augenblick, in dem eine gemeinsam erlebte musikalische Anstrengung im Schlusston ausklingt und wir wissen, dass dieses eine Glück von Musik unwiederbringlich vorbei ist. Wir gehen wieder den Weg unseres Alltags, aber wir sind für eine wertvolle, schwebende Lebenssekunde verändert, beglückt, bereichert. Und wir wissen: Es könnte wieder so sein, wieder ein Tor fallen, wieder ein Mensch kommen, wieder Musik entstehen.

Man kann sich diese Szene in einem kurzen Film auf Youtube ansehen. Ganz so zufällig, wie es wirkt und klingt, entstand der Flashmob natürlich nicht. Es gehört viel Organisation und Mut dazu, so ein Ereignis zu ermöglichen und festzuhalten. Mehr als 62.000-mal wurde das das Filmchen schon angeklickt, Menschen haben vielleicht gelächelt, mitgesummt, und sind dann wieder zu ihrem Alltagsleben zurückgekehrt.

Das Glück der Musik ist täglich milliardenfach mitzuerleben auf dieser Welt, im Internet, im Konzertsaal, auf Festivals, in der Oper, in jedem Wohnzimmer. Warum also diese Zeilen über dieses eine Video?

Wie entsteht kulturelle Attraktivität im ländlichen Raum?

Schloss Kapfenburg bei Lauchheim, Ostalbkreis (Copyright Ralf Baumgarten, zur Verfügung gestellt durch die Stiftung Schloss Kapfenburg)

Der Anstoß für den Flashmob am Stuttgarter Hautbahnhof kam aus tiefster Provinz, wurde hineingetragen in das Zentrum einer Großstadt, die sich selbst als Kulturmetropole versteht, die Straßenmusiker und Bandkultur ihr Eigen nennt, stolz ist auf mehrere Orchester und eine zwar renovierungsbedürftige, aber geliebte und künstlerisch anerkannte Oper. Es fehlt nicht an Musik in Stuttgart. „Do-re-mi-fa-so …“ – die Idee zu einem Flashmob am Hauptbahnhof kam trotzdem von außen, nämlich aus dem äußersten Osten Baden-Württembergs, von der Kapfenburg. Das mittelalterliche Schlossgemäuer oberhalb des Ortes Lauchheim im Ostalbkreis hat schon Kreuzritter, Bauernkriege und Plünderungen erlebt, war nationalsozialistisches Schulungszentrum, beherbergte Vertriebene und amerikanische Soldaten. Seit zwanzig Jahren ist die Kapfenburg nun Musikschul-Akademie und Kulturzentrum, und hält in der Provinz, fernab von München, Stuttgart oder Nürnberg, die Kultur hoch. Die Burg ist Gastgeber für Musikerinnen und Musiker aller Art und aus aller Welt, kümmert sich um deren Gesundheit und sorgt für attraktive Konzerte.

Wie kulturelle Attraktivität entsteht im ländlichen Raum, das ist hier zu besichtigen. Sie entsteht nicht durch ständiges Jammern und Wehklagen, und auch nicht dadurch, sich mit eitlem Mittelmaß zufrieden zu geben. Sie entsteht, wenn engagierte Menschen ein Netzwerk knüpfen, mit größter Disziplin einen Betrieb am Laufen halten, dessen Professionalität es mit jedem großstädtischen Kulturbetrieb aufnehmen kann. Sie entsteht, wenn deshalb attraktive Künstler den Weg in die abgelegene Kapfenburg finden. Kultur auf dem Land kann wachsen, wenn politisch Verantwortliche den Mut haben, musikalische Experimente wie ein Konzert für hupende Autos oder den Guinness-Eintrag der Burg als größtes Saiteninstrument der Welt zu unterstützen, und alle Verantwortlichen dabei doch immer nach künstlerischer Ernsthaftigkeit suchen.

Hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt

Wer durch die Innenhöfe hinaufsteigt auf die Kapfenburg, spürt genau das: Aus allen Räumen kommen Klänge der heiteren Ernsthaftigkeit, – do-re-mi-fa-so … – hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt, gelacht und verzweifelt. Hier wurde ein vom Verfall bedrohtes Schloss nicht nur für ein Festival einmal im Jahr aufgehübscht, sondern wurde etabliert als begehrtes Ziel von Musikfreunden, Laienmusikern, Musikschülern und ihren Unterrichtenden das ganze Jahr über. Ein ständiger Flashmob! Wer einmal dort war, nimmt diese Klangwolken des musikalischen Glücks für immer mit – … la-se-do. Sie lassen uns davon träumen, auf einer Tonleiter in den Zug des Alltags zu steigen, und mit allen anderen ganz einfach Musik zu machen.

 

Der Film zum Flashmob am Stuttgarter Hauptbahnhof auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=vtpRUfEge3U

Die Website der Musikakademie Schloss Kapfenburg: https://www.schloss-kapfenburg.de/