Friedrich, der Zaubergeselle

Die Geschichte vom Zauberlehrling – und die bösen Besen von heute

Friedrich ist kein Zauberlehrling, er ist ein alter Zaubergeselle. Schon seit vielen Jahren. Nun will er die Meisterprüfung ablegen – endlich. Der alte Geselle hat viel mehr Erfahrung als jeder andere Lehrling im Berliner Zauberbetrieb, und gerade deshalb darf ihm nicht passieren, was man einem Lehrling vielleicht noch verzeihen könnte.

Der Zaubergeselle – bald ein Meister? Foto: CDU/Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

Die Geschichte vom Zauberlehrling ist eine wunderbare Parabel von Meisterschaft und Dilettantismus, vom Unterschied zwischen Schläue und Klugheit. Johann Wolfgang von Goethe hat sie im Jahr 1797 in einer Ballade erzählt: Ein Zaubermeister ist außer Haus gegangen, und sein Lehrling hat keine Lust, das Wasser, das er benötigt – wofür auch immer -, selbst vom Fluss zum Haus herauf zu schleppen. Also befielt er mit dem abgehorchten Zauberspruch des Meisters dem Besen, ihm das Wasser zu holen. Und die Sache funktioniert: Eimer um Eimer wuchtet der Besen heran, bald ist es mehr als genug – und da erst fällt dem Lehrling auf: Er kannte zwar das Wort, das den Besen in Bewegung setzt, nicht aber jenes, das ihn wieder davon abbringt.

Der Zauberlehrling hatte das Ende nicht bedacht

Die Wasser ergießen sich bereits über das ganze Haus, und in seiner Verzweiflung greift der Lehrling zur Axt, will den Besen zerschlagen und spaltet ihn in zwei Teile. Dieser brutale Eingriff aber macht alles nur noch schlimmer. Nun hat sich der Besen verdoppelt und zwei seiner Art schleppen immer noch mehr Wasser herbei. Dann endlich, in allerhöchster Not, erscheint der Meister. Wenige, aber richtige, Worte von ihm genügen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Der Lehrling bleibt bedröppelt zurück, die Grenzen seines Könnens waren ihm höchstpersönlich vorgeführt worden. Er war schlau gewesen – aber nicht klug. Sein größter Fehler: Er hatte das Ende nicht bedacht.

Friedrich bringt vieles dafür mit, was ihn zum Meister gereichen könnte: Er hat Erfahrung und Anstand, er scheut keine Verantwortung, er ist mutig, redegewandt. Er begegnet Mitmenschen und auch Andersdenkenden meistens mit Respekt – vielleicht weniger in seinen manchmal scharfzüngig gewählten Worten, aber immerhin dann, wenn er ihnen unmittelbar gegenübersteht. Friedrich ist oft ein wenig steif und altmodisch, aber er ist rechtschaffen. Und er war glaubwürdig. Mit überzeugendem Tremolo hatte er selbst es verlangt: Niemals dürfe ihm oder sonst wem der Besen zu Hilfe kommen, niemals würde er es zulassen, dass der Besen darüber entscheiden könne, ob eine Sache obsiegt oder nicht.

Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen

Es sah also ganz danach aus, als habe er sich nun endlich die Würde für den Meistertitel erarbeitet. Dann aber kam jener Moment des unüberlegten und ungeduldigen Übermuts, in dem Friedrich den kurzfristigen Erfolg haben, ein fadenscheiniges Symbol von Handlungsstärke in die Welt setzen wollte. Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen von angeblich notwendiger Veränderung.

Dafür ließ Friedrich zu, dass der Besen ihm das Wasser reichte. Er tat, wie ihm geheißen, er spaltete sich gleich mehrfach auf und holte Stimmen herein. Während Friedrich noch zufrieden das Ergebnis seines durchscheinenden Werkes betrachtete, hörte der Besen nicht mehr auf ihn. Am Rednerpult des hohen Hauses verhöhnte der Besen seinen unüberlegten Kommandeur: Da säße der Geselle jetzt mit schlotternden Knien, spottete er, da wäre es doch besser, wenn er sich gleich der neuen Herrschaft der Besen anschließen würde, falls er dazu noch die Kraft habe.

Das Richtige mag er gewollt haben, aber was hat er verloren?

„Die ich rief, die Geister, werd´ ich nun nicht mehr los“, klagt bei Goethe der unbedachte Zauberlehrling. Auch Friedrich, der Zaubergeselle, klagt: Er habe doch mit dieser scheußlichen Besenschar nichts zu tun, die sich feixend in die Arme fielen, nachdem er ihre Hilfe zugelassen hatte. Man solle ihm doch bitte glauben, fleht er nun: Er habe nur das Richtige gewollt, da müsse doch jedes Mittel Recht sein?!

Das Richtige mag er gewollt haben, aber seinen wichtigsten Kredit hat er dabei verloren – die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen in sein Wort. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er die Wahrheit spricht“, reimt der Volksmund. Der Zaubergeselle ist eben kein Meister, er hat das Ende nicht bedacht.

Bald ist Meisterprüfung

So tanzen nun die Besen durch das weite Land und durch das hohe Haus. Wer wird sie nun wieder zurück kommandieren können in die Ecke? Die weise Meisterin ist fort. Sie ist schon im Ruhestand. Auf ihren Ruf aus der Ferne hören die Besen schon lange nicht mehr. Und der Zaubergeselle selbst will sich von der Meisterin ohnehin schon lange nichts mehr sagen lassen.

Bald ist Meisterprüfung. Besteht der Zaubergeselle?

 

Den vollständigen Text der Ballade „Der Zauberlehrling“ von J.W.Goethe finden Sie z.B bei Wikipedia. 

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Werther liebt und stalkt

Zur Oper „Werther“ von Jules Massenet

Zwei Menschen begegnen sich, und manchmal entsteht Liebe zwischen ihnen. „Ein Tropfen Liebe“, sagte der französische Literat Blaise Pascal, „ist mehr als ein Ozean Verstand“. Schaltet Liebe den Verstand aus? Sie sollte das Gefühl unbedingter Zusammenhörigkeit sein, des Hingezogen-Seins, das Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit, wenn der oder die andere nicht da ist, vielleicht sogar für immer verloren ist. Liebe geht „über den Zweck oder den Nutzen einer zwischenmenschlichen Beziehung“ in der Regel hinaus, schreibt Wikipedia. Sie zeige sich üblicherweise „in tätiger Zuwendung zum anderen“. Das Gefühl der Liebe könne auch unabhängig davon entstehen, „ob es erwidert wird oder nicht“.

Ist gegen die Liebe also kein Kraut gewachsen, wie es der römische Dichter Ovid einst schrieb? Ist es noch Liebe, wenn sie für die Geliebte, die nicht lieben will oder darf, zum quälenden Übergriff wird? Rund 20.000 Stalking-Fälle werden jährlich in Deutschland aktenkundig, vermutlich gibt es viel mehr davon. Im Jahr 2007 handelte deshalb die deutsche Politik; im Strafgesetzbuch gibt es seither einen Paragrafen, der verbietet, einen verschmähenden Liebespartner „andauernd und wiederholt zu belästigen“, sich ihm also gegen seinen erklärten Willen zu nähern, ihm nachzustellen mit telefonisch oder persönlich oder schriftlich gestammelten Liebesschwüren, mit Drohungen, mit unerwünschtem Klingeln an der Haustür. Aktuell wird die Regelung auch auf alle Formen der viralen Nachstellungen erweitert. Der Schutz, den der Staat Betroffenen – in den weit überwiegenden Fällen sind es Frauen – gewährt, kann bis zur Bereitstellung einer neuen Identität reichen, um für den ungewünscht Liebenden unauffindbar zu werden.

Anna Sutter hätte leben können

Die Schicksalsgöttin vor dem Stuttgarter Opernhaus

Der Stuttgarter Opernsängerin Anna Sutter hätte 1910 ein solches Gesetz geholfen, vielleicht wäre sie dann älter als 39 Jahre geworden, jedenfalls wäre sie vermutlich nicht erschossen worden von ihrem verschmähten Liebhaber Alois Obryst, der sich anschließend selbst das Leben nahm. Anna Sutter hatte sich wiederholt die Nachstellungen ihres Liebhabers verbeten; genutzt hatte es ihr nichts. Heute erinnert ein Brunnendenkmal vor der Stuttgarter Oper an ihr trauriges Schicksal. Die dort dargestellte Schicksalsgöttin trägt angeblich ihre Gesichtszüge.

„Werther“ ist die Geschichte einer Rebellion, …

Um die Qualen verschmähter Liebe geht es auch im Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe. Als im Jahr 1774 der Welthit des „Sturm und Drang“ (auch so eine problematische Kategorisierung, wenn man sie in Sachen Liebe mal aus der Sicht der möglichen Opfer betrachtet) veröffentlicht wurde, war das die spannend-mitreißende Schilderung eines verzweifelten Liebesabenteuers, aber vor allem ein rebellischer Stoff gegen das Establishment. Der Held macht alles, was damals nicht vorgesehen war. Werther verliebt sich in eine standesgemäß unpassende Frau und hadert mit deren Verlobungsversprechen an einen anderen. Schließlich ignoriert er es, stürzt in einen Liebeswahn und damit sich selbst und seine Angebetete ins Verderben. Er begeht Selbstmord, was aus damaliger kirchlicher Sicht eine Sünde darstellte. Besondere Wucht erwächst diesem Stoff unter anderem daraus, dass der liebende Held sich selbst umbringt, und nicht etwa seine Geliebte (oder beide, wie im Fall der unglücklich geliebten Anna Sutter – und Tausenden anderen Fällen, von denen zu hören und zu lesen wir uns gewöhnt haben). Werther lässt Charlotte zwar am Leben, als eine verzweifelte und an ihren Gefühlen zweifelnde Frau, gezeichnet für ihr Leben – wir würden heute sagen: traumatisiert.

… aber auch einer neurotischen Liebe

Werther in der Oper Stuttgart (dem Bild Arturo Chacón-Cruz) Foto: Philip Frowein

Jules Massenet hat diesen Stoff 1892 romantisierend mit manchmal schwülstiger, oft rauschhafter Musik durchtränkt und zu einer Oper gemacht. Von Goethes politischem Rebellionsgeist ist bei Massenet nichts mehr übrig. Hier ist das Stück eine wahnhaft-romantische Liebesgeschichte. Der 1856 geborene Sigmund Freud hatte zu Massenets Zeit gerade erst damit begonnen, sich mit Neurosen als Krankheiten zu beschäftigen und der Welt die Zusammenhänge zu eröffnen, die sich aus seelischen Störungen und dem Handeln des Menschen ergeben. Die Librettisten der Oper wussten davon nichts und stellten also die narzisstische Fixierung ihres Werther auf seine eigenen Interessen nicht in Frage. Selbst dann, wenn er sich im Interesse seiner Geliebten zurückzieht, ihr mit seinem Freitod droht und ihn schließlich vollzieht, sieht er sich selbst doch immer noch heldenhaft im Mittelpunkt des Geschehens. Werther fehlt jede Erkenntnis, die wir heute zum zivilisierten Kanon der Mitmenschlichkeit zählen: dass es gleichberechtigte, andere Interessen gibt, die man auszuhalten hat. Wenn ein wacher und sensibler Mensch heute von seinem Freund eine E-Mail erhalten würde, in der über dessen Sehnsucht nach einer Geliebten steht: „Weiß der Gott, wie einem das tut, so viele Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit“ (Originaltext Goethe, zitiert nach dem Programmheft) – dann würde hoffentlich sein Alarmsystem sofort anschlagen: Hier ist eine gefährliche, eine verachtende Grenze der Liebe erreicht.

Die Oper Stuttgart hat dieses besonders liebestolle Stück Musiktheater als letzte neue Inszenierung (von Felix Rothenhäusler) an das Ende der Spielzeit 2020/21 gesetzt. Herausgekommen ist große Kunst mit strenger Ästhetik, in der uns Musizierende, Singende, Regie und Bühnenbild in diesen gescheiterten Liebenstaumel hineinziehen.

Warum sollten wir uns das heute anhören?

Das Grab von Anna Sutter auf dem Stuttgarter Pragfriedhof

Warum sollten wir uns das heute ansehen und anhören? Vor allem zum Nachdenken über Gewalt in und wegen der Liebe, über Suizide und Morde, die im Namen der Liebe, in Wahrheit aber von untröstlicher Aussichtslosigkeit betrieben werden. Niemand müsste sich heute noch so quälen wie einst Charlotte und Werther. Anna Sutter und viele andere hätten nicht sterben müssen. Heute kennen wir das Kraut, das gegen solche krankhafte Liebe gewachsen ist.

 

Jules Massenets „Werther“ an der Oper Stuttgart ist wieder zu sehen ab 12. Juni 2022: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/werther/

Das Schicksal der Stuttgarter Opernsängerin von Anna Sutter wurde zu ihrem 100. Todestag sehr gut aufbereitet bei RONDO: https://www.rondomagazin.de/artikel.php?artikel_id=1494

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