Deutschland gemeinsam machen (13. September 2021)

Ein Essay über den Wahlkampf-Claim der CDU – aus meiner Mini-Serie als #PolitikFlaneur über die Wahlkampf-Slogans der drei Kanzlerkandidaten-Parteien

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Was ist das Beste im Mann?

Chips auf dem Sofa, das Bier im Anschlag: Ein Ehepaar guckt Fernsehen. Schon zum wiederholten Male schlägt sie in der Werbepause die Hände über dem Kopf zusammen. „Wie kann man sich nur so klein machen!“ ruft sie aus und blickt ihren Mann fragend an. Gerade hat ein Rasierklingen-Hersteller für seine Produkte geworben. Glatt und reibungslos gleitet die Klinge über das Kinn des Mannes, keine Chance für Bartstoppeln. Dazu der Slogan: „Für das Beste im Mann“.

„Wie kann man nur!“, ereifert sie sich, „die blöden Bartstoppeln sind doch nicht das Beste an Euch Männern!“ Er ist gelangweilt. Die Diskussion haben die beiden schon zig-mal geführt. „Darum geht es doch gerade, dass Du Dich aufregst, dass Dir das in Erinnerung bleibt“, wendet er müde ein. „Du denkst beim ‚Besten im Mann‘ natürlich nicht an Barthaare, sondern an was anderes, was auch immer, aber jedes Mal, wenn es wieder kommt, denkst Du an die Rasierklingen …“

Eine spontane Umfrage ohne Anspruch der Repräsentativität zeigt, dass der zentrale Werbeclaim der CDU nicht Gefahr läuft, eine vergleichbare Diskussion auszulösen. Die wenigsten Befragten kennen ihn, obwohl er auf fast jedem CDU-Plakat stand, das bis September zu sehen war. Der Slogan der CDU lautet: „Deutschland gemeinsam machen“.

Eine Aktivität vortäuschende Selbstverständlichkeit

„Die Zeit ist schlecht?“, fragte der schottische Essayist Thomas Carlyle (1795 – 1881) vor 150 Jahren, und gab gleich auch die Antwort: „Wohlan. Du bist da, sie besser zu machen!“ Aber der Spruch der CDU lautet eben nicht „Deutschland besser machen“ – sondern einfach nur „machen“. Kann man Deutschland „machen“? Ist das überhaupt erforderlich, denn eigentlich war es doch schon immer da, oder? Ist es vielleicht sogar schon fertig? Die Fragen zeigen, auf welche Komplexität der auf den ersten Blick inhaltlich eher einfallslose Claim der CDU-Kampagne zur Bundestagswahl einzahlt. „Deutschland gemeinsam machen“ ist so etwas wie eine  Aktivität vortäuschende Selbstverständlichkeit. „Machen“ tun wir alle ständig irgendwas, wir „machen“ den Abwasch oder „machen“ die Tür zu und wieder auf. Etwas „machen“ ist eine aktive Handlung, und darauf will die CDU wohl hinweisen, sie verspricht, nicht einfach nur zu warten, das etwas geschieht, sondern sie will etwas „machen“.

Abgesehen davon, dass dies ja wohl das Mindeste ist, was wir von unseren Politikern erwarten – bleibt die Frage: Was eigentlich? „Deutschland“ kann man nicht mehr „machen“, Deutschland ist in Jahrtausenden gewachsen, ist vielfach gefallen in Ruinen und aus diesen wieder auferstanden, hat sich in Stolz und Überheblichkeit geirrt und Demut gelernt. Bei allem Respekt für die CDU: Diese Partei wird Deutschland so wenig „machen“ wie es andere tun können. Die Union hat prägenden Anteil daran, dass Deutschland heute so ist, wie wir darin leben. Aber das gilt für viele. Deutschland kann man nicht machen, Deutschland gibt es so, wie es ist.

Fertigmachen? Weitermachen?

Natürlich ist Deutschland trotz allem, was da schon gemacht wurde, nicht „fertig“. „Ich habe fertig“, sagte in einer berühmt gewordenen Pressekonferenz des FC Bayern Giovanni Trapattoni, drehte sich um, und ging hinaus, damit es keine Chance für die Journalisten gab, ihm Fragen zu stellen. Aber fertig war er trotzdem nicht, er musste noch weitermachen, bis die Bayern ihn aus dem Amt jagten. Die CDU will nicht herausgejagt werden aus dem Kanzleramt, und deshalb Deutschland gemeinsam – ja was? Fertigmachen? Nein, das passt nicht. Besser machen, wie Carlyle vorschlägt? Hört sich nicht toll an nach 16 Jahren CDU-Kanzlerschaft. Vielleicht ist „Weitermachen“ gemeint. Sehr dynamisch klingt auch das nicht, „Weitermachen“ hat so etwas von langweiliger Kontinuität, und deshalb haben die Werbestrategen der Union vermutlich das „weiter“ gestrichen, obwohl es inhaltlich so gemeint  sein dürfte.

Nun will die CDU nicht einfach Deutschland „weitermachen“, sie will es „gemeinsam“ tun. Gemeinsam mit uns Bürgern, gemeinsam mit der ganzen Gesellschaft, mit allen, die mitmachen wollen. Das klingt nach einem einladenden Angebot, ist aber eine demokratische Selbstverständlichkeit.

„Deutschland gemeinsam machen“ ist ein missglückter Allgemeinplatz. Vielleicht deshalb findet sich auf der Website der CSU der Spruch nicht. Das gemeinsame Wahlprogramm von CDU und CSU steht unter dem ebenfalls wenig originellen Motto „Gemeinsam für ein modernes Deutschland“, und auf den neuesten Wahlplakaten der CDU ist auch nichts mehr zu lesen vom gemeinsamen Machen.

Mit sprachlichen Belanglosigkeiten verkauft man nichts

Sprache ist verräterisch. Wenn die Union aus der Wahl mit einem schlechten Ergebnis herauskommen sollte, wird sie nachdenken müssen, ob es ihr selbstbezogenes Denken ist, das da zu sehr aus ihrem Slogan herauslugt. Die Parteien der konkurrierenden Kanzler-Kandidaten nehmen zumindest sprachlich in ihren zentralen Claims „Respekt für Dich“ (SPD) und „Bereit, weil Ihr es seid“ (Grüne) nicht sich selbst, sondern den Adressaten von Politik, das Wahlvolk in den Blick. Von der Idee des „gemeinsam machen“ dürfte sich die Wählerin oder der Wähler eher nicht direkt angesprochen fühlen. Eine Nebensächlichkeit? Ja, vielleicht. Aber die Bartstoppeln sind ja auch nebensächlich und nicht das Beste im Mann. Für jeden Kandidierenden ist derzeit das Beste am Wähler oder der Wählerin die Wahlstimme. Mit sprachlicher Belanglosigkeit wird sie schwer zu bekommen sein, genauso wie man damit keine Rasierklingen verkaufen kann.

 

Hier der Link zum gemeinsamen Wahlprogramm der CDU/CSU: https://www.ein-guter-plan-fuer-deutschland.de/

 

Dieser Beitrag gehört zu einer dreiteiligen Serie, die sich mit den zentralen Wahlkampf-Claims der drei Parteien beschäftigt, die einen Kanzlerkandidaten aufgestellt haben. Hier die Links zu den anderen Beiträgen: 

Respekt für Dich (SPD)

Bereit, weil Ihr es seid (Grüne)

Respekt für Dich (13. September 2021)

Ein Essay über den Wahlkampf-Claim der SPD – aus meiner Mini-Serie als #PolitikFlaneur über die Wahlkampf-Slogans der drei Kanzlerkandidaten-Parteien

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Drei Szenen aus einer Welt der Respektlosigkeit

Später Nachmittag. Lang reiht sich die Schlange der müden Arbeitsmenschen, der ermatteten Väter und Mütter mit quengelnden Kindern zwischen den Regalen. Ungeduldig wird gerufen: „Zweite Kasse aufmachen!“. Ein genervtes Stöhnen geht durch die Reihe, als die zweite Kassenkraft ihre Schranke aufklappt. Manche, die dran sind mit beim Bezahlen, halten den Betrieb auf, weil sie telefonieren, während sie missmutig und unkonzentriert Scheine und Münzen herauskramen. Kaum jemand nimmt den Menschen wahr, der an der Kasse sitzt und ihnen damit gerade dabei hilft, dass abends etwas zu essen auf dem Tisch steht.

Im letzten Moment hat sie hingesehen, die ältere Dame in der Großstadt, die sich mit müden Beinen zum Einkauf in den Laden geschleppt hat. Nun geht es zurück nach Hause, schwer trägt sie an den zwei Tüten, die ihr das Leben für den Rest der Woche sichern werden. Im letzten Moment hat sie erkannt, dass da ein Hindernis quer auf dem Gehweg liegt. Eine ideale Stolperfalle in idealer Höhe: der e-Roller, achtlos stehengelassen, vielleicht dann umgekippt, versperrt den Weg. Viele sind schon über ihn hinweggestiegen, ohne einzugreifen. Im letzten Moment erkannt, nochmal gut gegangen, aber es hätte übel enden können: Ein Schritt später, ein Sturz weiter, ein Krankenhauaufenthalt mehr … weil andere nicht nachdachten.

Die Praktikantin hatte sich Mühe gegeben. All ihr Wissen hatte sie gezeigt und ihren ganzen Einsatz herausgekramt, bis tief in die Nacht hatte sie recherchiert und getippt und korrigiert und wieder getippt und nochmal nachgesehen. Denn es war ja so eilig. „Spätestens heute Abend!“ hatte es geheißen. Aber jetzt ist es schon Mittag und ihre Chefin meldet sich nicht. Seit Stunden liegt der Konzeptvermerk in ihrem E-Mail-Briefkasten. Schließlich will es die Praktikantin wissen und ruft an: „War das ok? Soll ich noch etwas daran ändern?“, fragt sie die Vorgesetzte. „Was, worum geht es?“, schnappt diese zurück, hörbar genervt. „Ach Dein Vermerk, ja den schaue ich mir mal an, wenn ich Zeit habe. Hab´ jetzt Wichtigeres zu tun. Und so eilig ist es ja nicht.“

„Schmierstoff“ des gesellschaftlichen Miteinanders

Dies sind Szenen aus einer Welt der Respektlosigkeit. Der Wunsch nach Respekt im Arbeitsleben zwischen den Kolleg/innen und von oder gegenüber Führungspersonen ist nach Umfragen größer als der Wunsch nach einem besseren Gehalt. Die Idee der Scholz-/SPD-Kampagne, den Begriff „Respekt“ und das Versprechen „Respekt für Dich“ zu zentralen Ankern im Bundestagswahlkampf zu machen, ist daher klug und nachvollziehbar. Wir alle wünschen uns Respekt, wir sind verletzt, wenn es im Umgang mit uns an Respekt mangelt. Das Fehlen von Respekt nimmt uns gegenseitig die Lebensfreude, macht den Alltag trübe und kühl. Respekt ist der „Schmierstoff im gesellschaftlichen Miteinander“, sagt in einem sehr klugen Podcast des Bayerischen Rundfunks (Link siehe unten) Nils van Quaquebeke, ein Hamburger Professor für Psychologie, der sich seit Jahren mit dem Thema Respekt beschäftigt hat.

Kann ein Respekt-Versprechen politisches Programm sein? „Aus Respekt vor Deiner Zukunft“, lauten die ersten Zeilen des SPD-Wahlprogramms. Und gleich danach verspricht es Einsatz für eine „Gesellschaft des Respekts“. Auch listet es gleich eine Reihe von Maßnahmen auf, die je nach politischem Standort als geeignet bewertet werden mögen, für mehr gegenseitigen Respekt in unserer Gesellschaft zu sorgen. Aber im engeren Sinne können nur wir selbst dafür sorgen, den Blick für ein Lächeln an der Supermarktkasse zu heben; nur wir können den liegengebliebenen Roller aufheben und zur Seite stellen, anstatt darüber hinwegzusteigen. Oder Wertschätzung für die Arbeit zu zeigen, die für uns erledigt wird, im Job, aber auch gegenüber dem Paketboten in der zweiten Reihe, gegenüber der Müllabfuhr, den Arbeitern auf der Straßenbaustelle, auch wenn sie uns gerade aufhalten.

Respekt ist politische Kultur, kein Programm

Dass Politiker/innen Respekt haben und zeigen sollten gegenüber den Wählenden, ist Grundlage der demokratischen Ordnung (was übrigens auch umgekehrt gilt: Das Ausmaß an Respektlosigkeit, das relevante Teile der Öffentlichkeit gegenüber Politiker/innen zeigen, ist bodenlos.). Der einzelne Bürger mag die eine politische Entscheidung mehr oder weniger „respektvoll“ für sein Alltagsleben und gegenüber seinen eigenen Interessen empfinden als die andere – von der Grundidee des „respektvollen Dienens“ der Politik gegenüber den Bürgern sollte im Idealfall jede davon getragen sein. Unsere Interessen sind unterschiedlich, und wir sollten ihnen im politischen Prozess allesamt voller Respekt begegnen – aber keine Politik wird alle Interessen befriedigen können. Man kann es noch so eilig haben – jede Ampel muss einmal rot haben und uns aufhalten, damit andere vorankommen können. Dann ist der Respekt vor den Interessen des anderen gefordert. Respekt ist ein wichtiger Baustein der politischen Kultur – aber kein politisches Programm.

„Wie hältst Du es mit dem Klima, Olaf?“

Und wie ist das mit dem „für Dich“ in dem Claim der SPD? Olaf Scholz bietet dem Bürger auf seinen Plakaten einfach mal so locker das „Du“ an. Nach den auch heute noch gültigen Knigge-Regeln ist das in mehrfacher Hinsicht problematisch.  Die Dame hat Vortritt, und unter Männern der Ältere. Und er müsste eigentlich fragen, und das nicht einfach verordnen. Eine Respektlosigkeit? Vielleicht, wenn auch eine zeitgemäße. Immer mehr Unternehmen reden alle ihre Kunden mit „Du“ an, und auch im Arbeitsalltag breitet sich die lockere Anrede immer weiter aus. In der SPD duzen sich die Genossen  untereinander ohnehin. Auch die Grünen haben in ihrem Claim „Bereit, weil Ihr es seid“, den Du-Plural gegenüber den Bürgern gewählt (übrigens im Süddeutschen durchaus üblich, auch wenn man sich sonst siezt – zum Beispiel in einer Gruppe: „Seid´s Ihr noch im Biergarten oder sind Sie schon wieder im Büro?“).

Ob Olaf Scholz so locker ist, wie der Spruch vermuten lässt, wäre zu beobachten, wenn ein Nicht-SPD-Mitglied in der nächsten TV-Talkrunde den Bundesfinanzminister und Vizekanzler auch einfach mal duzen würde: „Wie hältst Du es mit dem Klima, Olaf?“ Bei der ARD-Wahlarena hat sich das niemand getraut. Scholz wäre vermutlich professionell genug, das auszuhalten, ohne mit der Mine zu zucken. Die Öffentlichkeit würde es aber als unhöfliche Respektlosigkeit einordnen, vielleicht sogar als fragwürdige Vertrautheit. Insofern gilt: „Respekt für Dich“ gilt auch gegenüber dem Kanzlerkandidaten.

 

Eine gute und ausführliche Definition des Begriffs „Respekt“ ist hier zu finden: https://www.respectresearchgroup.org/respekt/definition/

Der hörenswerte Podcast von BR-Wissen zum Thema Respekt ist hier zu finden: https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/respekt-grundpfeiler-des-miteinander/33176

Das Wahlprogramm der SPD ist hier zu finden: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Programm/SPD-Zukunftsprogramm.pdf

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Bereit, weil Ihr es seid (Grüne)

Deutschland gemeinsam machen (CDU)

Bereit, weil Ihr es seid (13. September 2021)

Ein Essay über den Wahlkampf-Claim der Grünen – aus meiner Mini-Serie als #PolitikFlaneur über die Wahlkampf-Slogans der drei Kanzlerkandidaten-Parteien

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Über die Bereitschaft

Der Augenblick, in dem alles bereit ist, ist ein ganz besonderes Momentum in unserem Leben. Wenn alle Geschenke bereitliegen, die Ungeduld ein Ende hat und die lichterglänzende Einbescherung endlich beginnen kann. Wenn das Orchester bereit ist, alle Töne gestimmt sind, das Publikum im Dunkel versinkt, und der Dirigent das Podium betritt. Wenn sich der Vorhang hebt und endlich das Schauspiel beginnt – weil jetzt alle dazu bereit sind.

Aber Bereitschaft ist auch eine Last: Jeden Tag sitzen Tausende Polizeibeamte in Deutschland in Wartesälen und Schlafräumen, und sind bereit dafür, einzugreifen, wenn es nötig ist. Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräfte, Notfalltechniker und viele andere Berufe geben uns mit ihrer Bereitschaft die Sicherheit, dass notfalls jemand da ist, wenn wir sie oder ihn brauchen. Wir hoffen, dass wir das nicht brauchen, und die Soldatin in Friedenszeiten, die Polizistin oder der Krankenpfleger im Bereitschaftsdienst hoffen ebenfalls, dass es bei der Bereitschaft bleibt und ihr kein Einsatz folgen möge. Am schönsten ist für alle, wenn die Nacht ruhig bleibt.

Ein Slogan von ausdrucksstarker Sperrigkeit

Es lohnt sich also darüber nachzudenken, was die Grünen eigentlich meinen, wenn sie über ihre eigene und unser aller Bereitschaft sprechen. Ihr zentraler Wahlkampfslogan „Bereit, weil Ihr es seid“ brennt sich mit seiner ausdrucksstarken Sperrigkeit ein in den Kopf. Das spricht zunächst einmal für die Werbeagentur, die ihn erfunden hat. Keine andere Partei, die im aktuellen Bundestagswahlkampf einen Kanzlerkandidaten stellt, hat ihren Claim so konsequent auf jedem Plakat, in jeder Werbung verwendet. Aus gutem Grund: „Bereit, weil Ihr es seid“ ist kein Motto, das in Beliebigkeit untergeht, kein Wiederholen des immer gleichen Geredes von „Zukunft“ und „Gestalten“. „Bereit, weil Ihr es seid“ ist eine Überraschung, hat sprachliche Widerhaken, ist mindestens im gleichen Umfang ein Appell wie ein Versprechen: Wer ist denn hier bereit? Und wofür?

„Ihr“, das sind ja wohl wir Deutschen. Ob wir bereit sind für die erforderliche, grundlegende Änderung unserer Gewohnheiten, damit wir die galoppierende Erderhitzung aufhalten, wird sich erst noch herausstellen. Schon verblassen die Bilder von den Folgen der Flutkatastrophe in unserem eigenen Land, von den Waldbränden, von den Hitzerekorden in den USA und Südeuropa. Ob es ausreichend Bereitschaft in unserer Wohlstandsgesellschaft gibt, etwas abzugeben vom eigenen Reichtum – das ist vorerst ungeklärt. Die sinkenden Umfragezahlen für die Grünen lassen eher wenig Optimismus zu. Aber nur so wird sich das Klima retten und damit verbunden die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich schließen lassen.

Sind wir bereit, dass die Einbescherung beginnt?

Am Anfang jeder Bereitschaft steht die Einwilligung in den möglichen Verzicht. Wer Bereitschaftsdienst hat, muss erreichbar bleiben, um einzugreifen, zu helfen, zu löschen, zu retten, auch wenn der Grill glüht oder die Fernsehserie spannend ist. Wer bei der Einbescherung das Geschenk aufpackt, kann sich nicht mehr auf etwas freuen, was er dann vielleicht gar nicht bekommt. Mit „Bereit, weil Ihr es seid“ unterstellen die Grünen unser aller Bereitschaft, endlich mit der Einbescherung zu beginnen. Vielleicht packen wir die entscheidenden Chancen für die Zukunft unseres Planeten aus, aber wir werden bereit sein müssen, dafür Opfer zu bringen.

Wer sonst könnte uns für den Verzicht gewinnen?

Auch ob die Grünen selbst dazu bereit, bleibt offen. In den ersten Wochen ihres Wahlkampfes hatten sie zunächst mit Fehlern zu kämpfen, die daran zweifeln lassen, ob sie bereit sind für viel größere Aufgaben. Schließlich geht es künftig nicht um Lebensläufe und Buchquellen, sondern darum, unsere Gesellschaft in eine Politik des notwendigen Verzichts hineinzuführen, damit wir die drohende Klimakatastrophe bei sozialer Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt noch abwenden. Andererseits ist auch nicht erkennbar, wer sonst als die Grünen die selbstzufriedenen Wohlstandsbürger in Stuttgart-West, Schwabing, Eppendorf oder am Prenzlauer Berg für die notwendige Hinwendung zum Verzicht gewinnen könnte.

Es ist nicht leicht, mit Ankündigungen von notwendigen Einschnitten erfolgreich Wahlkampf zu führen. Die Grünen spüren das und dürften es auch gewusst haben. „Bereit, weil Ihr es seid“ ist daher eine reichlich optimistische Analyse, aber auch ein eleganter Versuch, uns alle in den notwendigen Bereitschaftsmodus zu versetzen. Denn: Die Nacht wird nicht ruhig bleiben.

Hier geht es zum Wahlprogramm der Grünen: https://www.gruene.de/artikel/wahlprogramm-zur-bundestagswahl-2021

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