Erwachsene, die sich wie Kinder verhalten

Kein Text über die Stromsteuer – sondern darüber, ob irgendwas „versprochen“ wurde

Dies ist kein Text über die Stromsteuer. Dies ist ein Text über die Frage, ob mündige Staatsbürger sich verhalten sollten wie Kleinkinder. „Versprochen ist versprochen – und wird nicht …“ – Es ist diese unterkomplexe, kindererziehende Alltagsweisheit, die zurzeit die Grundlage bildet für eine allseitige Empörung über die angeblich versprochene, nun aber nur teilweise in Aussicht gestellte Abschaffung der Stromsteuer. Der Spruch war schon immer weit entfernt von der Realität eines Erziehungsalltags – und er ist auch ungeeignet für die Komplexität eines Staatswesens.

„Du hast es aber versprochen!“ – Politik kann nichts „versprechen“, sondern Politik verwaltet und gestaltet. Bei einer Wahl urteilen wir darüber, ob das gelungen ist. Deshalb sollten sich mündige Wahlbürger/innen nicht verhalten wie beleidigte Kinder an der Eistruhe. Foto: Geralt via Pixabay

Ein fiktiver Blick zur Supermarktkasse: „Du hast es aber versprochen!“, protestiert lautstark die geschätzt Fünfjährige. „Ja, aber jetzt gibt’s halt hier kein Eis in der richtigen Größe, entgegnet die Mutter entnervt, „da kann ich auch nichts machen.“ Mit der rechten Hand packt sie den Einkauf für das Abendessen ein, mit der linken drückt sie das Handy zum Zahlen an den Automaten. „Du hast es aber versprochen!!“ wiederholt das Kind jetzt lautstärker.

Wenn überhaupt, können nur sich nur Unionswähler ärgern

Auf diesem Niveau befindet sich auch die Diskussion um die Stromsteuer. Was genau ist geschehen? Politiker der Unionsparteien haben im Wahlkampf dafür geworden, ihnen die Stimme zu geben – mit der Ankündigung, die Stromsteuer für alle abzuschaffen. Haben die Menschen sie deshalb gewählt? Vielleicht gibt es ein paar wenige. Die meisten aber hatten anderes im Sinn: Den Scholz loswerden, die Migranten rausschmeißen, endlich bessere Stimmung für der Wirtschaft. Egal warum – aber es waren ohnehin nur 28,6 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die am 23. Februar für die Union und diese Aussicht in Sachen Stromsteuer gestimmt haben. Eine deutliche Minderheit also, und wenn man die Zahl der Stimmen für die Union auf die Gesamtbevölkerung bezieht, sind es noch weniger. Alle anderen, die gar nicht oder nicht Union gewählt haben, können sich schon deshalb nicht auf dieses „Versprechen“ berufen. Und die Unionswähler, die jetzt jammern, sollten sich ernsthaft fragen, ob sie tatsächlich wegen der Stromsteuer ihr Kreuz bei Merz oder Söder gemacht haben.

Ja, schön, hört man hier die laute Riege der larmoyanten Politikkundigen rufen, aber was ist mit dem Koalitionsvertrag? Da steht es doch auch drin, dass die Stromsteuer für alle abgeschafft werden soll. Ist das denn kein Versprechen?

Also zurück zur Supermarktkasse. Eine junge Familie kauft ein. „Aber ihr habt es versprochen!“, rufen die zwei Söhne im Schulalter, und zappeln an der Eistruhe herum. „Wir müssen aber sparen“, versucht der Vater seine Nachkommen zu besänftigen, „Gestern Abend haben wir gesagt, beim Einkaufen morgen gibt’s ein Eis. Aber dann kam heute die Mieterhöhung. Ist ohnehin schon so teuer.“ Aber die Kinder sind unerbittlich: „Aber wir wollen trotzdem jetzt ein Eis!“

Politik kann überhaupt nichts „versprechen“

Ein Koalitionsvertrag ist kein Versprechen an die Öffentlichkeit. Politik kann überhaupt nichts „versprechen“. Politik kann verwalten und gestalten. Ein Koalitionsvertrag ist eine politische Absichtserklärung der (in diesem Fall: drei) Partner, die gemeinsam regieren wollen. Er ist die Grundlage für die Kanzlerwahl. Der Wahlbürger kann die Verabredungen des Koalitionsvertrages freudig oder verärgert zur Kenntnis nehmen, einen Anspruch auf die Umsetzung aller Inhalte hat er nicht. Und die Vertragsparteien können sich – wie bei jedem Vertrag – jederzeit einvernehmlich darauf einigen, irgendetwas aus ihrem Vertrag anders zu regeln als es dort einmal festgelegt war.

Was der empörte Wahlbürger tun kann, ist: Die Partner des Vertrages bei der nächsten Wahl abstrafen. Aber was tut die veröffentlichte Meinung? Sie empört sich stellvertretend für das angeblich um einen Anspruch gebrachte Volk über den „Stromsteuer-Betrug“ (Welt-TV), über den „Stromsteuer-Wortbruch“ (Focus) über den „Bruch des Koalitionsvertrags“ (ZDF). Sie alle köcheln auf der Jagd nach Klicks, Einschaltquoten und Auflage auf dem Feuer der billigen Vereinfachung die trübe Suppe der Politikverdrossenheit.

Es gibt vielleicht gute Gründe für die Abschaffung der Stromsteuer. Aber nicht das ‚“gebrochene Versprechen“

Muss der mündige Wahlbürger auf dem geistigen Stand von Kleinkindern gehalten werden, unfähig oder unwillig, sich größeren Zusammenhängen zu stellen? Niemand muss die Entscheidung für oder gegen die Abschaffung der Stromsteuer gut finden. Es gibt vielleicht gute Gründe und nachvollziehbare Interessen, warum man sie einfordern, anstreben und durchsetzen kann.

Aber sich darauf zu berufen, dass ein „Versprechen“ gebrochen worden sei – das ist kindisch.

 

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Der lange Schatten der kleinen Mauer

Vom Berliner Reichstag zur Danziger Werft und zurück

In diesem Text geht es um zwei Mauern, und was sie verbindet. Beide stehen in Berlin, und eine davon auch in Danzig. Diese Mauer ist unscheinbar, verglichen mit jener Mauer, die Deutschlands Hauptstadt einst durchschnitt, und die wundergleich vor 35 Jahre in sich zusammenstürzte. An den Fall der großen Mauer durch Berlin erinnern heute zahlreiche Gedenkstellen, etwa eine Mauer-Ausstellung im neuen Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages. Original rekonstruiert wurde sie dort im früheren Verlauf mit echten alten DDR-Mauer-Bauteilen, und steht so wettergeschützt im Souterrain der Abgeordnetenbüros. Erinnert wird auch an die mindestens 327 Toten, die beim Versuch, diese Mauer zu überwinden, verstorben sind.

Die weltberühmte Berliner Mauer – hier als Museumsstück im Souterrain des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses des Deutschen Bundestages – direkt am Spreeufer.

Die andere Mauer ist gleich gegenüber, auf der anderen Seite der Spree. Unscheinbar wurde sie als Gedenkstätte in eine Ecke neben die gewaltige Pracht des Reichstagsgebäudes gequetscht. Immerhin erzählt eine kleine Tafel ihre Geschichte. Wie viele Menschen mögen wohl schon an diesem kleinen Stück Backstein-Mauer achtlos vorübergegangen sein? Es muss sich gegen den stolzen Parlamentsbau behaupten. Die Fahnen Deutschlands und Europas flattern auf seinen wuchtigen Ecktürmen, glänzend schimmert die gläserne Kuppel im Sonnenlicht. Plenumsbetrieb ist im Bundestag, reihenweise schwarze Ministerlimousinen lassen die Touristen nach ihren Handys greifen. Es herrscht erhöhte Alarmbereitschaft, Polizei patrouilliert vorbei. Die Aura von Bedeutung und Macht durchtränkt den Äther rund um dieses „hohe Haus“. Wer wird da auf ein kleines Stück Backsteinmauer achten?

Die andere Mauer in Berlin: In einer Ecke des Reichstagsgebäudes steht ein Stück Mauer von der Danziger Werft.

Auch die kleine Backstein-Mauer ist ein Erinnerungsort. Sie steht für das Staunen darüber,  dass nichts bleibt und sich alles immer wieder ändern kann, auch grundlegend, und auch wenn man es für unglaublich hält. Verschwommene Erinnerungsbilder tauchen vor dem geistigen Auge auf; verwackeltes Schwarz-weiß-Fernsehen: Es kann Risse geben im festgefügten Block der kommunistischen Welt. Erinnerungen an das Geschehen im Nachbarland Polen im Jahr 1980.

Zwei Tage später in Danzig

Zwei Tage später in Danzig: Da ist es wieder, das gleiche Gemäuer. Backsteine, aufeinandergeschichtet, hier nun über und über behängt mit Tafeln, davor ein großes Denkmal: Es geht um die Toten des Arbeiteraufstandes von 1970, um Schüsse, Streiks, Niederlagen und Siege. Einer der Siege hat mit jenem kleinen Mauerstück zu tun, das jetzt als Geschenk des polnischen Parlaments Sejm an den deutschen Bundestag neben dem Reichstagsgebäudes steht. Es ist ein Stück Mauer von der Danziger Werft, über die der Elektriker und Gewerkschafter Lech Wałęsa im August 1980 kletterte, um die Führung der in der Werft streikenden Arbeiter zu übernehmen. Das waren damals die Bilder, die den Riss zeigten.

Im „Europäischen Zentrum für Solidarität“ auf dem früheren Werftgelände wird die Geschichte der Werftarbeiter in Danzig und die Gründung der Gewerkschaft „Solidarnosc“ aufgearbeitet. Das Zentrum ist ein moderner Begegnungsort für das neue Polen.

Heute muss niemand mehr die Mauer in Danzig überwinden. Die Tore stehen offen, Schiffe werden hier schon lange nicht mehr gebaut. Wer heute unter den großen Buchstaben „Stocznia Gdańska“ hindurchgeht, den erwartet ein im Jahr 2014 eröffnetes, eindrucksvolles Gebäude, das als „Europäisches Zentrum für Solidarität“ betrieben wird. Ein lichtdurchflutetes Foyer mit Café, Pflanzen, Sitzbänken, Rolltreppen empfängt die Besucher – hier wurde dem modernen, demokratischen Polen ein schicker Begegnungs-, Diskussions- und Erinnerungsort gewidmet. Die multimedial gestaltete Ausstellung führt mitten hinein in die Streiks der Werftarbeiter, in die Gewalt, die sie erlebten, macht ihren Widerstandswillen spürbar. Letztlich haben sie gewonnen: Unter ihrem Druck wurde im Sommer 1980 „Solidarność“ gegründet, die erste freie Gewerkschaft im „Ostblock“. Solidarność übernahm bald eine zentrale Rolle in der polnischen Politik. Freiheiten wurden erkämpft zu einer Zeit, als an vergleichbare Bestrebungen in Ostdeutschland nicht zu denken war. Die Gewerkschaft überlebte sogar das polnische Kriegsrecht.

Der Held: Lech Wałęsa führt den Arbeitskampf in der Werft und veränderte ganz Polen zu einer Zeit, als im restlichen Ostblock an Liberalisierungen nicht zu denken war. 1990 wurde er zum Präsident Polens gewählt. Aber für den Alltag der Politik erwies er sich als untauglich.

Alles das ist mit einem Namen verbunden: Lech Wałęsa, der Mann, der einst über die Werft-Mauer kletterte. Im „Europäischen Zentrum für Solidarität“ atmet alles den Geist dieses Mannes, der – inzwischen 82 Jahre alt – dort sogar ein Büro hat. Ein polnischer Volksheld war er in den 80er Jahren, bestaunt vom Ausland, gefeiert und bejubelt in Polen. Die kommunistischen Machthaber internierten ihn, aber sie konnten ihn nicht unter Kontrolle bringen. Er erhielt 1983 den Friedensnobelpreis, führte eine gewaltfreie Revolte an, und wurde mit Begeisterung auf den Schultern der Massen getragen. Nach der politischen Wende wählten die Polen Wałęsa im Jahr 1990 mit 70 % der Stimmen zu ihrem Präsidenten. Aber für den politischen Alltag schien sich der Revolutionär nicht zu eignen. In der Wiederwahl 1995 scheiterte er knapp, fünf Jahre später trat er noch einmal an und bekam nur ein Prozent der Stimmen.

Brutaler kann ein Held kaum stürzen

Brutaler kann ein Held kaum stürzen. Im heutigen Polen spielt Lech Wałęsa keine Rolle mehr, trotz dieses prächtigen Zentrums, das auch ihm zu Ehren auf dem Gelände der Danziger Werft errichtet wurde. Vorwürfe der Kooperation mit dem kommunistischen Geheimdienst belasten sein Andenken genauso wie fragwürdige Äußerungen, die als homophob gedeutet werden müssen. In einem Interview von 2023 für den Sender „Arte“ zeigt sich der damals 80-Jährige entschlossen proeuropäisch, kritisiert die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz und unterstützt die Abwehrkämpfe der Ukraine gegen den russischen Aggressor. Trotzdem wirken viele seiner Äußerungen erratisch, wie aus der Zeit gefallen. Wałęsa erkennt das selbst und blickt vor allem zurück. „Wir waren es“, sagt er, und der Stolz blitzt aus seinen Augen, „die dem russischen Bären die Zähne ausgeschlagen haben.“ Manches spricht dafür, dass ohne Lech Wałęsa und die von ihm gegründete Solidarność die Weltordnung der Moskauer Politbüro-Greise vielleicht niemals ins Wanken geraten wäre.

Und wieder zurück in Berlin

Zurück in Berlin. Wer steht da nun also in wessen Schatten? Fast scheint es, als könnte der Schatten der kleinen Backsteinmauer so lang sein, dass das ganze Reichstagsgebäude darin verschwinden kann.

 

Mehr über das Europäische Zentrum für Solidarität in Danzig finden Sie hier (in englisch). Das Interview mit Lech Wałęsa aus dem Jahr 2023 ist auf arte abrufbar. 

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Im Candy-Storm des Religiösen

Besuch am „Berg der Kreuze“ in Litauen – Ein Erlebnisbericht

Wahrscheinlich war es in einer Morgendämmerung, als die Bulldozer anrollten. Brutalitäten, für die sich die Verantwortlichen schämen, finden immer in der Morgendämmerung statt. Oder wurden sie schon am Abend vorher bereitgestellt? Vielleicht passierte es aber auch zu verschiedenen Tageszeiten, denn es geschah mehrfach. Sicherlich knackte und splitterte es, wenn die Hölzer unter der Last der Maschinen brachen. Es ging darum, Kreuze niederzuwalzen.

Der „Berg der Kreuze“ ist ein Ort ungebremster Religiosität, dessen außergewöhnliche Wucht auch den aufgeklärten Zweifler nicht unberührt lässt.

Niemand kann mehr genau sagen, warum die Menschen im 19. Jahrhundert genau an dieser Stelle, auf zwei unscheinbaren Hügeln in der Nähe der Stadt Šiauliai im Norden des heutigen Litauens damit begonnen hatten, Kreuze aufzustellen. Nicht ein oder zwei, sondern Zig, Hunderte, später Tausende. Vielleicht folgten sie einer Legende, wonach das Aufstellen eines Kreuzes ein Kind geheilt habe. Oder sie taten es aus anlassloser Frömmigkeit. Oder aus Angst vor dem Tod, oder als Hoffnung auf ein Leben danach. Vielleicht als Fürbitte? Oder es ging ihnen darum, der Toten in den Freiheitskämpfen Litauens gegen die russische Herrschaft zu gedenken. Warum auch immer, sie taten es.

Viermal wurde versucht, die Kreuze zu zerstören

In Folge des Hitler-Stalin-Paktes geriet auch dieser Ort unter den Einfluss der Sowjetunion. 1940 sollen auf den Hügeln etwa 140 Kreuze gestanden haben. Nach kommunistischer Ideologie zu viele, schon gar, wenn sie auch noch an die Toten erinnern wollten, die nach Sibirien deportiert worden waren. Ein solchen Ort voller Kreuze störte das Bild, ein Platz ungeregelter Volksfrömmigkeit war im Kommunismus unerwünscht. Insgesamt viermal – erstmals am 5. April 1961, dann nochmals in den Jahren 1973, 74 und 75 ließen sie die Bagger anrollen und machten die aufgestellten Kreuze dem Erdboden gleich. Sie verbrannten das Holz, zertrümmerten den Beton, schmolzen das Metall ein.

Aber es nutzte nichts, oft schon wenige Tage später standen wieder die nächsten Kreuze da. Wie von Zauberhand. So wurde mit jeder Zerstörung mehr der „Berg der Kreuze“ von einem religiösen Symbol zu einem politischen Ort. Seit 1991 ist Schluss mit der Vernichtung der Kreuze. Der politische Umsturz in Osteuropa mit der Wiedergewinnung der staatlichen Souveränität Litauens legitimierte auch diesen Ort. Wer heute den Berg besucht, findet eine gut durchstrukturierte Tourismus-Infrastruktur vor: ein gebührenpflichtiger Parkplatz, moderne Toilettenanlagen, Imbissbuden und zahlreiche Verkaufsstationen für allerlei frommen Tand. Wer Menschen erlebt hat, die ihren Glauben ganz einfach ausleben, nicht hinterfragen, nicht grübeln, sondern einfach ganz schlicht daran glauben, was die katholische Kirche verspricht – der kennt solche Orte ungebrochener Frömmigkeit.

Eine Wucht ganz besonderer Art

Der aufgeklärt-zweifelnde Besucher ahnt also, worauf er sich hier einlässt, während er den breit ausgebauten Fußweg zu den Hügeln, die jetzt ein immaterielles UNESCO-„Kulturerbe der Menschheit“ sind, entlangschreitet. Dort angelangt, ist es aber dann doch eine Wucht ganz besonderer Art, die hier das spirituell orientierungslose Gemüt überwältigt. Nicht nur, dass die politische Komponente sehr klar spürbar ist, dieses offenkundig ausgestellte, abertausendfache Obsiegen einfacher Kreuze gegen die ideologische Verneinung allen Übersinnlichen. Es auch eine Art gläubiges Evolutionserlebnis, das sich hier bietet; eine Chance, am Schicksal der Kreuze live mitzuerleben, wie alles Materielle den Weg des verrottenden Verfalls geht, welche strahlende Verheißung es auch immer gewesen sein mag zu Beginn.

So unbeugsam die Kreuze seit rund 150 Jahren der politisch gewollten Unterdrückung widerstanden haben – so sehr sind sie doch dem natürlich Verfall ausgesetzt. Die provozierende Regellosigkeit dieses Ortes lässt nachdenken über das evolutionäre Schicksal aller Materie.

Auf dem Berg der Kreuze herrscht weitgehende Regellosigkeit. Vorgegeben ist nur, wo keine Kreuze hingestellt werden dürfen, und verboten ist es aus naheliegenden Gründen, Kerzen anzuzünden. Aber sonst kann jede und jeder so viele, so große Kreuze errichten, sie beschriften und widmen, wie es beliebt. Eine Gruppe Studierender hat in den 90er Jahren einmal versucht, nur die aufgestellten (nicht die liegenden, hängenden, angelehnten) Kreuze zu zählen und hat angeblich bei der Zahl 50.000 das Experiment abgebrochen. Es sind unzählbare Massen von Kreuzen, die hier versammelt sind, sich stapeln, aneinander lehnen, hängen, abrutschen, verrotten und zerfallen. Niemand sorgt für Ordnung, zwischen den Kreuzen bahnen sich die Trampelpfade ihren Weg und wuchert das Gebüsch. Wie eine Flechte greifen die Kreuze immer weiter aus, besiedeln inzwischen schon die Zugangswege. Große Kreuze recken sich wichtigtuerisch dem Betrachter entgegen, schüchterne Kreuze erkennt man erst auf den zweiten Blick, es gibt kleine und allerkleinste, die an Bäumen hängen und im Wind baumeln. Kreuze mit Botschaft und ohne, Kreuze verschiedener christlicher Religionen, eitle Kreuze und namenlose – alles durcheinander.

Mitmachen beim Massenkreuzgang?

Der polnische Papst Johannes Paul II. war natürlich auch schon da. Eine große Messe hat er bei seinem Besuch im Jahr 1993 an dieser Stelle abgehalten; der Pavillon davon steht noch immer. Ein Kloster wurde in der Nähe gegründet. Und doch verblasst alles das gegen diese gläubige Massenenergie, die hier greifbar wird. Eine analoger Candy-Storm der Religiosität ist hier im Gange, jeden Tag neu. Kreuze in allen Größen werden verkauft neben dem Parkplatz, und während man schon zugreifen möchte, um auch dabei zu sein bei diesem Massenkreuzgang, da lädt schon eine Familie ihr stolzes Großkreuz aus dem Kofferraum.

Also auch ein eigenes Kreuz diesem Ort der Spiritualität beisteuern, es dem Verfall preisgeben, der körperlosen Ewigkeit überantworten? Bei allem Respekt für Gläubigkeit und politische Freiheitsbotschaft: Dem aufgeklärten Zweifler ist dieser Weg zum Glück eben doch versperrt.

… und für Nachschub ist gesorgt.

Der „Berg der Kreuze“ ist eine wichtige touristische Attraktion in Litauen. Eine gut zusammengefasste Information findet sich bei Wikipedia oder z.B. hier. 

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Vom 17. bis 31. Mai 2025 habe ich eine Studienreise von Berlin aus durch den Norden Polens, anschließend durch alle drei baltischen Staaten unternommen. Nach einem Schiffstransfer über den finnischen Meerbusen endete die Reise in Helsinki. In mehreren Texten versuche ich, einen Teil der Eindrücke zu schildern. Einen weiterer Text finden Sie hier:  „Unterwegs im wohlvertraut Unbekannten“. 

Unterwegs im wohlvertraut Unbekannten

Fünf Impressionen aus dem Baltikum

Vom 17. bis 31. Mai 2025 habe ich eine Studienreise von Berlin aus durch den Norden Polens, anschließend durch alle drei baltischen Staaten unternommen. Nach einem Schiffstransfer über den finnischen Meerbusen endete die Reise in Helsinki. In mehreren Texten versuche ich, einen Teil der Eindrücke zu schildern. Dieser hier fasst fünf Impressionen zusammen. 

Trakai war die mittelalterliche Trutzburg gegen die Deutschordensritter – heute ist sie ein Symbol für die nationale Eigenständigkeit Litauens. Willkommen im Baltikum!

Störche, Kiefern und Kirchen

Wie vertraut diese Landschaften sind! Längst rollt das Gefährt nördlich von Deutschlands Norden, ist über die geografische Höhe von Kopenhagen weit hinaus. Polen ist durchfahren, nun weht die Fahne mit dem litauischen Ritter über der Trutzburg von Trakai, die einst den Deutschen Orden auf seinem Eroberungszug nach Norden aufhielt. Hier und im weiteren Verlauf bestimmen weite gelbe Rapsfelder das Landschaftsbild, geduldig vorbeigleitende Kiefernwälder, später oft Birken. Häufige Storchennester. Der große Vogel zieht viel Aufmerksamkeit auf sich, wo immer er auftaucht. Denn es gibt sonst wenig in der Landschaft, was im Vergleich zu dem bei uns Wohlbekannten ungewöhnlich wäre. Litauen, Lettland, Estland: Das Baltikum ist kein Abenteuer, sondern die Wiederentdeckung einer vertrauten Welt. Eine europäische Kulturlandschaft, geprägt von den gleichen Bäumen und Blumen, den gleichen Dörfern, Burgen und Kirchen, die wir aus unserer Welt kennen. Nichts Exotisches haben diese Landstriche an sich, das Baltikum ist Brandenburg ähnlicher als dem Baskenland. Wer also käme auf die Idee, diese alten Kulturvölker würden nicht dazugehören zu einem geeinten Europa? Wie gut: Sie gehören dazu, und keine Grenzkontrolle unterbricht die Reise ins wohlvertraute Unbekannte.

 

Unermesslicher Großmut im Billigflieger-Revier

Muss es wiederholt werden? Ja, es muss, damit der Partytourismus sein angemessenes Gegenstück hat. Die lettische Hauptstadt Riga liegt im Billigflieger-Trend: Schnell mal für ein Wochenende dorthin, das Bier ist preiswert, die Stimmung gut, und Fußball gucken lässt sich gesellig mit den vielen Feier-Briten, die hier unterwegs sind. Nur ein Kilometer entfernt vom heutigen Vergnügungsrevier in der Altstadt lag das jüdische Getto, heute eine Gedenkstätte. In Vilnius begegnet uns zwar nicht so viel Ballermann, aber auch ein jüdisches Viertel, das von den Deutschen wie in Riga systematisch leergeräumt wurde – durch Deportationen, Ermordungen, Massenerschießungen. Riga-Bikernieki, Kaunas, Kauen, Raasiku – wenige Namen nur sollen aufgezählt sein für die vielen anderen Orte des Grauens, die es genauso zu nennen gelten würde. Sie alle haben nun doch den Deutschen verziehen, was nicht zu verzeihen und  schon gar nicht zu vergessen ist. So erzählen sie jetzt vom unermesslichen Großmut geschundener Völker, der den Nachkommen der Mörder erst ermöglicht, in diesem Teil Europas unterwegs zu sein.

„#WirsindNATO“ steht in Mensch-großen Lettern vor dem Verteidigungsministerium von Vilnius.

Fragiler Reichtum der Unabhängigkeit in Freiheit

Mit ihrer nationalen Unabhängigkeit haben Deutsche den schrecklichst-denkbaren Missbrauch betrieben. Und doch: Das Gefühl, dass sie im eigenen Staat ihr Schicksal selbst bestimmen können – dieses Gefühl ist Deutschen seit Generationen so vertraut, als wäre es selbstverständlich. Dabei hatten sie es schon verwirkt und doch noch einmal geschenkt bekommen nach der Katastrophe der Nazidiktatur. Deutsche leben nun in einem freien Land, tief verankert in Europa, umgeben von Freunden, gewiss nicht perfekt, schuldbeladen, aber doch weitgehend unabhängig in der Gestaltung ihres Schicksals. Auf der Reise durch das Baltikum erspürt ein deutscher Mensch neu den fragilen Wert dieses Schatzes nationaler Selbstbestimmung. Litauen, Lettland und Estland wurden über Jahrhunderte hin und her geschubst zwischen de angrenzenden Großmächten. Zuletzt haben sie sich ihre Eigenstaatlichkeit erst wieder erkämpfen müssen vor gerade einmal gut dreißig Jahren. Kaum wahrgenommen  von der Weltöffentlichkeit, schon gar nicht in Deutschland, das im ungläubigen Staunen über die unerwartete Chance zur Einheit gebannt nach Ostberlin, Leipzig, Dresden starrte. Weiter nördlich haben im August 1989 zwei Millionen Menschen eine Menschenkette über 600 Kilometer durch alle drei baltischen Staaten gebildet, die damals noch Sowjetrepubliken waren. Sie haben später sowjetischen Panzern getrotzt, die der hierzulande so beliebte Michail Gorbatschow noch loskommandierte, um einen Zerfall seiner kollabierenden Sowjetunion aufzuhalten. Nun ist in jedem Gespräch, in jeder Begegnung die Angst vor Russland zu spüren. Die russische Exklave Kaliningrad lauert wie eine gefährliche Tretmine an Litauens Grenze, und der Osten Estlands grenzt direkt an den aggressiven Nachbarn. Verloren ist an beiden Stellen die dort schon einmal gewonnene Normalität. Die Unabhängigkeit ist erreicht, aber fragil, trotz EU- und Nato-Mitgliedschaft. Wissen Deutsche, was für ein Reichtum im Gewinn der Unabhängigkeit in  Freiheit steckt? Wer ihn spüren will, wer erfahren will, wie gefährdet dieser Reichtum sein kann, sollte hierher reisen.

Eine Lebensversicherung? Litauen hofft, dass die Zusagen des US-Präsidenten auch für seine Nachfolger gelten. (gesehen am Rathaus von Vilnius)

Der Stolz der Restauratoren

Wenn die Fresken zerstört sind, wenn die Mauern in Trümmern liegen, wenn die Fenster zersplittern – spielt es eine Rolle, wer Verursacher war? Deutsche haben hier gemordet und vergewaltigt, sie haben Menschen gequält und ihre Städte und Dörfer geschunden. Auch Stalins  Rotarmisten haben hier getötet und gefoltert, Kulturstätten im Baltikum zerstört, zerbombt und geplündert. Sowjetische Ideologen haben Kirchen verrotten lassen, zu Lagerhäusern umfunktioniert ohne Rücksicht auf die ihnen schutzlos ausgelieferten Kulturgüter. Die drei jungen Staaten des Baltikums bemühen sich nun um eine Restaurierung ihrer kulturellen Identitäten, ihrer Geschichte und Geschichten. Die Menschen, die es praktisch tun, berichten gerne von ihren Kämpfen und Erfolgen im Gefecht gegen den Zahn der Zeit, gegen das Vergessen und Zerstören. Es ist auch ein Streit um die Wahrheit und darum, was eigentlich die Wahrheit ist. Was davon soll sichtbar sein? Das Schöne naiv wiederherstellen, als wäre nie etwas gewesen? Die Wunden als solche erhalten? Zeigen, was fehlt? Und während der Besucher der restaurierten Orgel in Riga lauscht, bombardieren russische Flugzeuge gezielt auch Bibliotheken, Theater, Museen, Kirchen in der Ukraine. Wer den Restauratoren im Baltikum zuhört, spürt die Mühsal, aber auch den Stolz, die eigene kulturelle Identität wieder herzustellen, erfahrbar zu machen für sich selbst und alle, die kommen. Spielt es eine Rolle, wer schuld war? Nein, sagen sie dann, aber festgehalten werden, das muss es schon.

 

Von Kirchenglocken zu blau gefärbten Haaren

Natürlich könnte man einfliegen. Ein Wochenende im gemütlichen Vilnius, das nächste im feiergelaunten Riga, und schließlich eine Shopping-Tour nach Tallinn. Warum nicht? Alle drei baltischen Hauptstädte versprechen in den Sommermonaten lange helle Nächte bei angenehmen Temperaturen. Und doch hat der langsame Reiseverlauf vom Süden in den Norden des Baltikums eine eigene Qualität. Mit jedem Kilometer wandelt sich das Bild von der Tradition in die Moderne. Das geschichtlich mit Polen verbundene Litauen ist von katholischer Volksfrömmigkeit geprägt. In dieser eher konservativen Gesellschaft tönen die  Kirchenglocken noch lauter als die hochgetunten Autos. Vieles hier wirkt improvisiert, auf dem Land finden sich immer wieder verfallene Gehöfte, die ihrem Schicksal überlassen wurden. Menschen, die nicht dem europäisch-weißen Muster entsprechen, begegnen dem Reisenden kaum in Litauen und nur sehr vereinzelt in Lettland. Immerhin ist Riga urban und lebendig, die größte Stadt der ganzen Region. Aber erst im protestantisch geprägten Estland ändert sich das Bild: Der Sozialraum wirkt fast schon skandinavisch aufgeräumt, oft strahlen rote Holzhäuschen im satten Grün, fast alles ist geordnet, die Gärten akkurat. Hier schimmern auch einmal blau gefärbte Haare durch das Straßenbild, ungewöhnliche Kleidung kommt entgegen, andere Haut als weiß. Estland hat – anders als die beiden anderen Balten-Republiken – eine gemeinsame Geschichte und eine verwandte Sprache mit Finnland, und in nur zwei Stunden gleitet die Fähre von Tallinn nach Helsinki und zurück. Und zwei Stunden mit dem Zug oder dem Auto weiter Richtung Osten läge St. Petersburg, das auch zu Europa gehört. Unerreichbar – nicht nur, weil man ein Visum bräuchte.

Hinter der blauen Linie endet die Welt des Westens. (Schautafel auf der Kurischen Nehrung)

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein weiterer Text berichtet von meinem Eindruck am „Berg der Kreuze“, einen katholischen Wallfahrtsort der Sonderklasse: „Im Candystorm des Religiösen“ 

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Ein Kind des 8. Mai hat Geburtstag

Eine politische Kurzgeschichte

Das Handy gratuliert ihr als erstes. Sie war gerade aufgewacht, hatte mit tastendem Suchen nach dem Smartphone gegriffen. Auf dem Bildschirm steht: „Herzlichen Glückwunsch! Heute ist Dein Geburtstag!“ und, darunter, etwas kleiner: „8. Mai, Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus“. Vierzig Jahre alt ist sie nun, denkt sie und sinkt zurück in ihr Kopfkissen. Sie nimmt sich vor, heute einmal zufrieden zu sein mit sich: blond, schlank, sportlich, lange Haare, noch immer jugendlich wirkend, soweit sie das beurteilen kann, aber erfolgreich mitten im Leben: Beruf, Familie, zwei Kinder, eine eigene Immobilie, älter werdende Eltern. Geboren am 8. Mai 1985.

An dem Tag, als sie auf die Welt kam, hatten ihre Eltern keine Zeit gehabt für das sonstige Weltgeschehen. Die Wehen, die Schmerzen, das Glück, alles überstanden zu haben! Und dann der immerwährende Blick auf das kleine Wunder im Arm der Mutter. Ein Mädchen! Und der Vater, der sonst immer die Tagesschau schaute, hatte sich an diesem Tag um die älteren Geschwister gekümmert. Kein Gedanke frei für den damals noch gewölbten Röhrenbildschirm. Er war schwarz geblieben.

Wie ein Guckloch in die Vergangenheit

Dabei hätte es sich gelohnt. Wenn sie sich heute, an ihrem vierzigsten Geburtstag, die Zeit nähme, (z.B. auf Youtube) den Mitschnitt herauszufischen, könnte sie wie durch ein Guckloch in ihre eigene Vergangenheit blicken: Der Deutsche Bundestag in seinem Bonner Plenarsaal. Die noch nicht wiedervereinigte Republik fest in der Hand grauhaariger Männer.  Wenige Frauen sind Tupfer, seltene Einsprengsel im Einheitsschwarz der Anzüge. Keine Handys; noch nicht erfunden. Ein noch vergleichsweise schlanker Helmut Kohl als Kanzler.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner Rede zum 8. Mai 1985. (Foto: Bundespräsidialamt)

Es ist der 8. Mai 1985, vierzig Jahre nach Kriegsende. Der erst vor einem Jahr ins Amt gewählte, neue deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker wendete mit einer Rede die Deutung der deutschen Geschichte. „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“, sagte er, selbst ehemaliger Wehrmachtssoldat, „er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

Reden können die Welt verändern

Beifall brandete auf. Weizsäcker war nicht der erste Deutsche, der einen solchen Satz sprach, aber der wichtigste. Deutschland und die ganze Welt horchte auf: Das Land der Täter bekennt sich ohne Wenn und Aber zur historischen Einmaligkeit seiner Schuld. Endlich, vierzig Jahre nach Kriegende, versteht sich (West-)Deutschland nicht mehr als Opfer einer Niederlage, sondern als Profiteur einer Befreiung, die sie den Siegern von damals verdankt.

Reden können die Welt verändern. Die Weizsäcker-Rede von 1985 war eine solche Rede, auch wenn man sie heute noch einmal hört. Jeder Satz brilliert in schnörkelloser Klarheit. Es sind demütige Worte nach außen und versöhnende nach innen, und doch von bewundernswerter intellektueller Schärfe. Nicht jede Wortwahl, aber jeder enthaltene Gedanke hat Gültigkeit bis heute.

Die Rede war umjubelt, aber nicht unumstritten. Ewiggestrige empfahlen, auf den Blick zurück zu verzichten. „Die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe lähmt ein Volk!“, schimpfte die CSU-Ikone Franz-Josef Strauß. Aber das blieben Einzelstimmen. Weizsäcker wendete das Blatt der deutschen Geschichte: Erst nach dieser Rede wurde es möglich, dass er als erster deutscher Bundespräsident nach Israel reiste. Nach dieser Rede konnte niemand, der ernst genommen werden wollte, irgendetwas herumdeuten wollen an der einzigartigen Verantwortung, die Deutsche auf sich geladen haben. Und dass bewusstes Erinnern notwendig ist, um Versöhnung erst möglich zu machen.

Wieder ist „Tag der Befreiung“ – den Namen hat Deutschland von der DDR übernommen

Seit jener Rede sind weitere vierzig Jahre vergangen. Wieder ist „Tag der Befreiung“. Den offiziellen Namen hat das wiedervereinigte Deutschland von der DDR übernommen – wo der 8. Mai schon seit 1950 so hieß. Im Westen war dieser Tag namenlos geblieben. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist der sechste Nachfolger von Weizsäckers.  Er blickt in das weite Rund des neuen Plenarsaals im Berliner Reichstagsgebäude. Er weiß genau: Was immer er sagt, wird im Schatten der großen Rede von 1985 stehen. Und so bleibt er über weite Passagen im Selbstverständlichen und Allgemeinen, zitiert seinerseits die große Rede von vor vierzig Jahren, und schlägt den Bogen zu den Herausforderungen von heute: Zur Notwendigkeit der Wehrhaftigkeit in einer Zeit, da Deutschland von der Gewalt im Osten und der Abkehr von gemeinsamen Werten in den USA bedroht ist. Und vom erstarkenden Rechtsextremismus in Deutschland: „Sie verhöhnen die Institutionen der Demokratie und diejenigen, die sie repräsentieren. Sie vergiften unsere Debatten. Sie spielen mit den Sorgen der Menschen. Sie betreiben das Geschäft mit der Angst. Sie hetzen Menschen gegeneinander auf. Sie erwecken alte böse Geister zu neuem Leben.“

Die Angesprochenen lümmeln in den blauen Sitzen

Die so Angesprochenen lümmeln in den blauen Sitzen und ertragen die präsidiale Schelte mit demonstrativem Desinteresse. Wie sich das Bild gewandelt hat in vierzig Jahren: Fort ist das Einheitsschwarz, manche Abgeordnete folgen der Rede in eher lässiger Kleidung. Jünger ist dieses Parlament, und diverser ist es auch. Aber noch längst nicht sitzen da gleich viele Frauen wie Männer, wenn auch sehr, sehr viele mehr als damals. Die Handys liegen auf der Bildschirmseite; während der Rede will sich von den allgegenwärtigen Kameras niemand beim Daddeln erwischen lassen.

„Ja, wir sind alle Kinder des 8. Mai,“ resümiert Steinmeier nachdenklich und zitiert damit den Philosophen Jürgen Habermas. Dann schließt er seine Rede mit einem Appell: „Schützen wir unsere Freiheit! Schützen wir unsere Demokratie!“ Beifall von Linken bis CDU. Kaum eine Hand der AfD rührt sich.

 

Als die Kinder in der Schule sind, gönnt sie sich wieder einen Blick auf das Handy, das ständig gebrummt hat. Geburtstagsglückwünsche trudeln ein, tanzende Torten-Videos, glitzernde Feuerwerkssterne, schwebende Luftballons. Dazwischen die Pushmeldungen im Newsfeed: „Steinmeier spricht zum 8. Mai“. Und dann: „Kein Beifall der AfD für die Rede des Bundespräsidenten“.

Aber das Kind des 8. Mai versteht gar nicht, warum das eine Meldung ist. Sie wischt sie weg.

 

 

Die Reden von Richard von Weizsäcker und Frank-Walter-Steinmeier kann man auf der Website des Bundespräsidenten nachlesen. Noch eindrucksvoller ist es, sich die Ansprache von 1985 als Video (Link führt zu Youtube) zu gönnen – 45 Minuten, in denen kluge Worte eine Welt veränderten.

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Ein Justizmord, die Nazis und der Papst

Zur Geschichte des „Tag der Arbeit“ am 1. Mai

Vielleicht war es im Mai. Wir schreiben das Jahr 1872, ziemlich genau vor 150 Jahren. Vielleicht erlebte damals ein junger Mann noch ein letztes Mal in Deutschland einen Sonnentag auf dem Höhepunkt des Frühlings, einen Tag voll blühenden Flieders, ein Tag der blumenübersäten Wiesen.

Kein Mörder, sondern ein Justizopfer: August Spies aus Deutschland. Foto: Chicago Historical Society, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=755968

Dann verließ der junge Mann Deutschland. Er bestieg ein Schiff, bezog darin ein Massenlager, vermutlich tief unten im stickigen Bauch des Ozeanriesen. Seine Reise war eine Flucht vor der Armut und sie brachte ihn nach New York.

Der junge Mann war der im Hessischen geborene Försterssohn August Spies. Er war erst 17 Jahre alt, als sein Vater starb. Spies´ Familie geriet deshalb in tiefe Not. Sozialsysteme, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. August war das älteste Kind und arbeitsfähig, also musste er gehen. Mutter und Geschwister blieben zunächst in Deutschland zurück; später holte er sie nach.

Ein Streik veränderte die Weltsicht von August Spies

Spies schlug sich durch in der neuen Welt. Er begann in New York eine Lehre als Möbeltischler, zog um nach Chicago und begann sich für die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu interessieren. Dann erlebte er als 22-jähriger etwas, das sein weiteres Denken und Handeln grundlegend prägen sollte. Würde man es in unser deutsches Heute übertragen, dann muss man sich diese Ereignisse aus dem Jahr 1877 in den USA etwa so vorstellen:

Den Mitarbeitenden der Deutschen Bahn, den Schaffnern und Lokführerinnen, den Stellwerkern und Rangierkräften, den Werkstattmitarbeitern und dem Reinigungspersonal – einfach allen – wird zum dritten Mal innerhalb eines Jahres mitgeteilt, dass ihre Gehälter gekürzt werden. Die wirtschaftliche Lage sei schlecht, heißt es zur Begründung, außerdem habe ein Krieg das Land ruiniert. Daraufhin treten die empörten Angestellten der Bahn an verschiedenen Orten in den Streik. Immer mehr Eisenbahnerinnen und Eisenbahner schließen sich landesweit an. Kaum noch ein Zug wird gewartet, die Gleise werden blockiert, keine Fahrkarten mehr verkauft, die Loks bleiben stehen. Der Vorstand der Bahn ruft den Staat zur Hilfe – und der schickt die Bereitschaftspolizei. Mit Knüppel und Schusswaffen kämpft der Staat die Arbeitnehmer nieder, diese reagieren mit Vandalismus: Gebäude werden niedergebrannt und Lokomotiven zerstört. Nach mehr als zwei Monaten Verwüstung und Gewalt gewinnt der Staat die Oberhand. Im ganzen Land hat der Kampf der Streikenden gegen die Polizeigewalt mehr als 100 Tote gefordert.

Der Große Eisenbahnstreik von 1877, die sozialen Ungerechtigkeiten, die ihn ausgelöst haben, und die Gewalt, mit der er beendet wurde, erschütterten die USA. August Spies machten die Ereignisse um die staatliche Niederschlagung des Streiks gegen die zunächst unbewaffneten Streikenden so wütend, dass er sich einer paramilitärischen Arbeiterorganisation anschloss. Später gründete er eine Arbeiterzeitung und wurde ihr Herausgeber und Chefredakteur.

Eine Bombe, ein Justizmord

Neun Jahre später, am 1. Mai 1886, stand August Spies in Chicago auf dem Haymarket und hielt eine flammende Rede. Er brandmarkte die Ungerechtigkeit der Arbeitsordnung. Er verlangte bessere Löhne und einen gesetzlichen Acht-Stunden-Arbeitstag für die Werktätigen. Wieder eskalierte die Situation durch Gewalteinsatz der staatlichen Milizen. Es folgten über mehrere Tage Großdemonstrationen, denen der Staat jeweils mit brutaler Gewalt begegnete. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen wurden am 3. Mai sechs streikende Arbeiter erschossen, etliche weitere verletzt. Am 4. Mai explodierte auf dem Haymarket eine Bombe, deren Herkunft bis heute ungeklärt ist.

Das dadurch verursache Chaos nahm die Polizei zum Anlass, die Streikanführer zu verhaften. Acht Männer, darunter August Spies, wurden für die Bombe verantwortlich gemacht, als „Mörder“ angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. August Spies starb im Herbst 1887 durch Erhängen. Sechs Jahre später rehabilitierte der Gouverneur von Illinois die Getöteten: Ein Zusammenhang ihrer gewerkschaftlichen Agitation mit der Bombe sei nicht nachweisbar.

Wofür werben eigentlich die Plakate seit Mitte April?

Diese Geschichte könnte im Kopf haben, wer sich an diesem Sonntag – geeignetes Wetter vorausgesetzt – im Biergarten ein kühles Bierchen bestellt. Auf dem Weg dorthin hat sich vielleicht sogar der eine oder andere gefragt, wofür die Plakate eigentlich werben, die der Deutsche Gewerkschaftsbund jedes Jahr ziemlich lieblos ab Mitte April an die Laternenmasten klemmt.

Wofür wird hier geworben? Aktuelles Plakat des DGB zur Maikundgebung vor den Werkstoren von BOSCH in Stuttgart-Feuerbach.

Der radikal-anarchistische Arbeiterführer August Spies, das deutschstämmige Opfer eines amerikanischen Justizmordes, zählt zu den Urvätern des 1. Mai als Feiertag. Die internationale Arbeiterbewegung erhob in Andenken an ihn und an den Kampf der Streikenden auf dem Chicagoer Haymarket erstmals den 1. Mai 1890 zum internationalen Kampftag der Werktätigen. Die damals Mächtigen beeindruckte das kaum. Erst mehr als 40 Jahre später waren es in Deutschland ausgerechnet die Nationalsozialisten, die diesen Schritt vollzogen und den 1. Mai zum arbeitsfreien „Tag der nationalen Arbeit“ erklärten. Ein Paradebeispiel für ideologische Aneignung: Am 1. Mai 1933 erlebten die deutschen Berufstätigen erstmals den Feiertag zu ihren Gunsten, aber am Tag darauf, am 2. Mai 1933, stürmten Nazi-Schergen die Häuser der deutschen Gewerkschaften, betrieben ihre nationalsozialistische „Gleichschaltung“ und verhafteten ihre Anführer.

Der 1. Mai: Eine ideologische Projektionsfläche

Nach dem Krieg erbte die junge Bundesrepublik Deutschland den weltlichen Mai-Feiertag. Oft strahlendes Frühsommerwetter, keine Maloche, und noch dazu kein Kirchenbesuch – der 1. Mai war der Lieblingsfeiertag der aufkommenden deutschen Freizeitgesellschaft. Immerhin, wer sich in den 60er und 70er Jahren gesellschaftlich engagierte, empfand es noch als edle Werktätigen-Pflicht, auf die gewerkschaftliche Maikundgebung zu gehen. Ein Großereignis war das, Zigtausende auf den Marktplätzen, die Radiosender übertrugen die Maikundgebungen aus verschiedenen Städten ihres Sendegebietes live in einer Konferenzschaltung wie am Samstagnachmittag die Bundesliga.

Abends dann, in der „Tagesschau“, da waren die Bilder aus Ostberlin und aus Moskau oder Peking zu sehen. Endlose Paraden defilierten vor den Tribünen, furchteinflößende Waffen rollten vorbei, fröhliche Erzieherinnen schwenkten gemeinsam mit den von ihnen beaufsichtigten Kindern im sozialistisch gradlinigen Gleichschritt die roten Fähnchen. In der kommunistischen Welt wurde der „Tag der Arbeit“ zu Schwerstarbeit für Paraden-Organisatoren und Ordensspangen-Festnäherinnen. Auf den Tribünen saßen alte Männer, die von der Situation der Werktätigen keine Ahnung hatten, sich aber als Vertreter der siegreichen Arbeiterklasse fühlten.

Neue Aufgaben für „Josef den Arbeiter“ aus der Weihnachtskrippe

In diesem ideologischen Getümmel rund um den „Tag der Arbeit“ wollte im Jahre 1955 ein anderer alter Mann nicht beiseite stehen. Der fast 80-jährige Papst Pius XII. erhob einen prominenten Zimmermann in den Status der „Arbeiters“ und machte damit den 1. Mai zu einem katholischen Gedenktag. Die Ehrung der Arbeit sollte nicht den atheistischen Systemen des Ostblocks allein überlassen bleiben. „Josef der Arbeiter“ heißt seither jener gütige, uneheliche Vater von Jesus, uns allen besser bekannt als der Mann neben dem Kindlein in der Weihnachtskrippe.

Prost! – Ein Hoch auf alle, die am 1. Mai arbeiten

August Spies hat sich das alles am 1. Mai 1886 bestimmt nicht so gedacht. Erreicht hat er einiges: Der 8-Stunden-Tag ist heute in den reichen Teilen der Welt die Regel. Und der arbeitsfreie Feiertag 1. Mai gilt in vielen Ländern für alle, die das Glück haben, den dafür passenden Beruf gewählt zu haben. Denn arbeitsfreier Feiertag für viele heißt besonders viel Arbeit für wenige, die auf unsere Sicherheit, unsere Gesundheit, unsere Mobilität achten – oder uns das Bier an den Biergartentisch schleppen.

Also lasst uns das Glas heben: Ein frisch gezapftes Maibock auf August Spies – und auf alle, die am 1. Mai arbeiten!

 

Zur Geschichte des 1. Mai siehe auch auf der Website des DGB: https://www.dgb.de/themen/++co++d199d80c-1291-11df-40df-00093d10fae2

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Ich werde Ihnen zuhören, Herr Merz

Ein offener Brief an den neuen Bundeskanzler

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

gewählt habe ich Sie nicht, aber nun sind Sie trotzdem mein Bundeskanzler. Ja: „mein“ Kanzler. Denn ich habe mir vorgenommen, Ihnen mit dem Respekt zu begegnen, den das Amt, das Sie ausfüllen, verdient. Und erst recht habe ich Respekt vor der Größe der Aufgabe und Verantwortung, die nun auf Ihnen lastet. Ich danke Ihnen dafür, dass sie auch für mich diese Last tragen werden. Ich bin überzeugt, dass Sie „das Beste“ für mich wollen, auch wenn wir vielleicht streiten müssten, was genau „das Beste“ ist.

Friedrich Merz auf der Mission ins Kanzleramt – Foto: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Ich bitte Sie um nichts, was nur meinen Interessen dient. Ich bin kein Lobbyist für mich selbst. Ich erwarte keine Steuersenkungen und keine Rentenerhöhungen und auch keine anderen Wohltaten zu meinem Vorteil. Ich wünsche mir von Ihnen das, was sich alle wünschen, die guten Willens sind: Sicherheit für dieses Land durch Besonnenheit und kluge Diplomatie, aber auch in angemessener Wehrhaftigkeit. Den Wohlstand erhalten, in dem der größte Teil meiner Mitmenschen, wie ich selbst auch, leben. Dabei dürfen wir nicht weiter die begrenzten, natürlichen Ressourcen vernichten. Dass die Kinder gerne in eine intakte Schule gehen, die Straßen nicht voller Schlaglöcher oder gesperrt sind wegen der maroden Brücken. Dass die Bahn pünktlicher wird. Dass wir uns auf eine integre Polizei und eine unabhängige Justiz verlassen können. Dass wir als Gesellschaft das Ziel der sozialen Gerechtigkeit nicht aus den Augen verlieren, dass wir stets im Blick behalten, wo Not ist und wie wir sie lindern können.

Das alles wünsche ich mir wie Millionen andere, und ich zweifle nicht daran, dass Sie, sehr geehrter Herr Merz, sich genau das vorgenommen haben.

Ich möchte Sie zur Demut ermutigen

Aber ich möchte Sie zur Demut ermutigen. Ich möchte Sie darum bitten – und sei es nur für sich selbst und nicht öffentlich -, sich einzugestehen, dass es ein fraglicher Impuls war, als sie wenige Tage vor der Wahl Ihre Rhetorik gegen Geflüchtete mithilfe fraglicher Behauptungen verschärften („tägliche Gruppenvergewaltigungen“). Dass es unklug war, sich in dieser Sache von rechtsradikalen Demokratiefeinden unterstützen zu lassen. Dass Sie sich nun vornehmen, in Ihrem neuen Amt sich solche zuspitzende Impulsivität nicht mehr zu genehmigen.

Ich möchte Ihnen Mut zusprechen, den Verlockungen der scheinbar einfachen Wahrheiten entgegenzutreten. Politik ist kein Lieferdienst, daher muss sie nicht „endlich liefern“, wie derzeit alle von Ihnen fordern, sondern besonnen und entschlossen handeln. Ich brauche auch gar keinen „Politikwechsel“, sondern verlässliches, nachvollziehbares Regieren im Diskurs, aber ohne verletzenden Streit.

Sie sind Christ, wie ich.

Ganz gewiss werden Sie politische Entscheidungen treffen müssen, die ich inhaltlich kritisieren werde. Ich würde mir wünschen, dass Sie dann so viel an Bedächtigkeit zeigen, passende Worte der Abwägung finden, so dass ich Ihre Entscheidung vielleicht wenigsten verstehen, wenn auch nicht billigen kann.

Sie sind Christ, wie ich. Ich möchte Ihr Sprechen daran messen können. Wenn ich Ihnen künftig zuhören werde, dann hoffe ich auf Worte, die jederzeit dem Ideal einer unteilbaren Menschenwürde gerecht werden. Dem grundlegenden Verständnis für jeden Menschen in Not, egal welcher Rasse, Glaube oder Herkunft er sei. Der immerwährenden Achtung vor der Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

Nach allem, was ich über Sie und von Ihnen gehört und gelesen habe, bin ich sicher, dass Sie in reflektierten Momenten genau so denken. Und ich verstehe durchaus, dass ich Ihr politisches Handeln nicht immer nur an diesem Maßstab werde messen dürfen. Denn Sie müssen nun die Interessen Deutschlands in einer Welt und Wirklichkeit vertreten, die sich nicht ausschließlich an den Grundwerten der UN-Charta oder unseres Grundgesetzes orientiert. Ich weiß das.

Aber Ihre Worte, sehr geehrter Herr Merz, – Ihre Worte sollten es sein. In diesem Sinne vertraue ich Ihnen. Vielleicht bin ich naiv, aber ich werde aufmerksam sein. Nehmen Sie sich in Acht. Ich werde Ihnen zuhören.

Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen!

Ihr Andreas Vogt

aktualisiert am 6. Mai 2025

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier – auch zwei weitere Texte über Friedrich Merz aus der Wahlkampf-Phase: Friedrich, der Zaubergeselle und Trump, Merz und der Fosbury-Flop

 

Das Richtige im Falschen – oder umgekehrt?

Mit Theodor Adorno auf der Suche nach einer Zweidrittelmehrheit

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Man dürfe sich nicht davon abhalten lassen, das Richtige zu tun, hat Friedrich Merz wenige Wochen vor der Wahl gesagt, und zwar auch dann, wenn die Falschen zustimmen. Damals ging es um schärfere Regeln für die Einreise von Asylsuchenden nach Deutschland, für die er die Zustimmung der Rechtsextremisten in Kauf nahm.

Es sei besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren, hat im Jahr 2017 Christian Lindner gesagt, als er begründete, warum die FDP die Rolle der Opposition wählte. Aber war das, was dann kam, nämlich eine Koalition aus Union und SPD wirklich falsch? Nach dem Ampel-Aus sehnt sich knapp die Hälfte der Deutschen genau wieder nach dieser Konstellation, finden sie richtig, während die dauerstreitende Scholz-Koalition mit Beteiligung der FDP die unbeliebteste Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik war – also wohl falsch.

Nun aber macht nach der Wahl zumindest die Union eine Politik (nämlich viele neue Schulden), die sie noch vor wenigen Tagen als grundfalsch beschimpft hat. Dafür braucht sie die Zustimmung der SPD und der Grünen, die genau das im Wahlkampf gefordert hatten. Was genau ist nun richtig, und was ist falsch?

Von einem klugen, komplizierten Text …

Der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno (1903 – 1969), Grafik von von Leandro Gonzalez de Leon via Wikimedia

Ein kluger, aber auch komplizierter Text dazu lässt sich im Internet abrufen. Es ist ein sprödes, engbuchstabiertes Dokument mit mehr als 150 Kapiteln, und der Abschnitt, um den es in der richtig/falsch-Frage geht, trägt die Ziffer 18. Er umfasst ziemlich genau eine Schreibmaschinenseite (wie man früher gesagt hätte, aber Schreibmaschinen gibt es nicht mehr). Der deutsche Philosoph und Soziologe Theodor Adorno hat ihn als Teil seines Werkes „Minimal Moralia“ verfasst. Die wenigsten kennen diesen Text, aber fast alle seinen letzten Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Die 150 Überlegungen Adornos zur „kleinsten Ethik“ sind schwere Kost – und damit vielleicht gut geeignet als Symbol für die heutige Zeit. Geschrieben hat er sie im amerikanischen Exil, mit entsetztem, angewiderten Blick auf die moralischen und realen Verwüstungen, die Nazis und der Zweite Weltkriegs in seiner Heimat Europa angerichtet haben. Adorno beschreibt unter Ziffer 18 die Unmöglichkeit, unter diesen Umständen überhaupt zu wohnen – er sucht im übertragenen Sinne „Asyl für Obdachlose“. So ist der Text überschrieben und er trieft vor Pessimismus. Mit einfachen Worten könnte man die ungleich tiefgründigeren Überlegungen Adornos so zusammenfassen: Es ist unmöglich, mit gutem Gewissen zu wohnen. Die meisten Häuser seien ohnehin zerstört, und wer noch über eines verfügt, kann zwar das Grauen der Wirklichkeit mit kunstgewerblichen Schnörkeln zukleistern – aber dann lebt er eben im Falschen, und darin gibt es kein richtiges Leben.

… blieb nur der letzte Satz in Erinnerung

Das vollkommen trostlose Umfeld nach den Verbrechen und Verwüstungen des Weltkrieges ist nicht vergleichbar mit den heutigen Lebensumständen in Deutschland. Dennoch dominiert auch hierzulade jetzt Pessimismus. Viele Deutsche blicken skeptisch in die Zukunft. In einer Wahl haben die Parteien, die ein eher negatives Gesamtbild der deutschen Lage zeichneten, obsiegt gegenüber beispielsweise einer Kampagne, die auf dem Versprechen von „Zuversicht“ basierte. Auch in anderer Hinsicht ist der Text Adornos, der zum berühmten Zitat führt, symptomatisch für das Denken und Handeln dieser Tage: Er ist so kompliziert, sperrig, widrig, wie das kaum entwirrbare Geflecht aus Wirtschaftskrise, Kriegssorgen, Geldnöten und den Unflätigkeiten im Oval Office – wer will sich damit schon beschäftigen? Und so bleibt eben nur der letzte Satz in Erinnerung – jenseits des Zusammenhangs, in einem jederzeit anwendbaren Sinne. Theodor Adorno wollte ganz sicher keinen Kalenderspruch schaffen, als er niederschrieb: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“.

Kann nach wenigen Tagen richtig sein, was vorher falsch war?

Auch diese Zeilen hier sind eine solche ungefragte Aneignung der sechs Worte Adornos. Gibt es „richtige Politik“ durch eine „falsche Regierung“? Gestritten wird ja nun in der politischen Mitte des Landes weniger darum, ob es richtig ist, Milliardenschulden aufzunehmen, um Rüstung einzukaufen und Brücken, die Bahn und die Schulen zu sanieren. Gestritten wird vor allem über den Positionswechsel der Union, die nun auf einmal als richtige Politik das machen möchte, was sie vor wenigen Tagen noch als falsch bezeichnet hatte, und zwar nun mit Hilfe derer, die es immer schon richtig gefunden hätten.

Und umgekehrt: Wie glaubwürdig würde eine grüne Partei handeln, wenn sie nun ihre notwendigen Dienste für eine Politik verweigern würde, die sie im Wahlkampf als richtig versprochen hatte? Die Grünen wurden für dieses Versprechen beschimpft und dezidiert nicht gewählt – sollen nun aber für die notwendige Zweidrittel-Mehrheit sorgen.

Die fachlichen Fragen zu „richtig“ oder „falsch“ in diesem Zusammenhang seien hier einmal nur erwähnt, nicht erörtert. Wie wirken weitere Schulden volkswirtschaftlich? Ist die sprunghaft steigende Schuldenlast verantwortbar für nachfolgende Generationen? Aber auch: Dürfen wir unseren Staat wehrlos ausliefern der Aggression des Nachbarn?  Sind bröckelnde Brücken, Schlaglöcher und marode Gleise nicht auch eine Schuld, die wir unseren Kindern und Enkeln aufladen würden?

Oder war eben das Falsche schon immer richtig?

Für Friedrich Merz war die politische Position von SPD und Grünen solange falsch, solange er noch keine Regierung bilden musste. Nun aber findet er sie offenbar teilweise richtig. Für die Grünen ist Friedrich Merz definitiv der falsche Kanzler, aber seine Politik ist (jedenfalls in der Schuldenfrage) auch für sie grundsätzlich richtig. Deshalb werden sie ihr wohl am Ende zur nötigen Zweidrittelmehrheit verhelfen.

Es scheint gerade so, als gäbe es vielleicht doch das Richtige im Falschen, vor allem, wenn die Falschen es für richtig halten.

 

Alles über Theodor Adorno finden Sie hier. 

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Der Winterdemokrat im Wahlkampf

Wie man die fröstelnde Demokratie wärmen kann – Ein Erfahrungsbericht

Es ist kalt in Deutschland, und die Demokratie friert. Ein US-Vizepräsident kommt von draußen herein, pöbelt herum und hat noch dazu die Tür offengelassen, durch die jetzt die Schneeflocken stöbern. Eine Frau mit Perlenkette, die sich „Kanzlerkandidatin“ nennt, wird von ihm empfangen und verbreitet ungestört ihre gefühlskalten Botschaften in immergleichen Fernsehformaten. Es ist zum Frösteln.

Vor der Wahl steht der Wahlkampf. Dieses Jahr hatten die Engagierten der politischen Parteien mit der Kälte zu kämpfen. Es war kalt in Deutschland, und die Demokratie muss frieren. Bild von Vilius Kukanauskas auf Pixabay

Als der Winterdemokrat morgens am Samstag, eine Woche vor der Wahl, aus dem Bett schlüpft und durch das Fenster blickt, rieseln Schneeflocken vom Himmel. Nicht große, nasse Flocken, sondern winzig kleine Kristalle, Pünktchen nur, die die kalte Luft in gleichmäßigen Linien durchschneiden. Er blickt auf das Thermometer, das am Fensterrahmen angebracht ist: null Grad.

Üble Bilder von andersdenkender Gewalt

Gestern noch war die Kälte im Fernsehen zu sehen: Üble Bilder von zerstörten Wahlplakaten, zertrümmerte Informationsstände, Parteibüros, die geschützt werden müssen vor andersdenkender Gewalt. Wie schön wäre es, ins warme Bett zurückzukehren, statt sich solchen Gefahren auszusetzen?

Aber der Winterdemokrat zieht sich an, freiwillig, aus Überzeugung, ohne eigenen Gewinn. Wie schon am letzten Samstag holt er die wärmste Hose aus dem Schrank, sucht den dicksten Pullover heraus, Anorak drüber, Schal um den Hals. Schnell etwas frühstücken. Dann die Mütze mit dem Parteilogo auf die Ohren, und Handschuhe steckt er auch ein. Es ist kalt in Deutschland, und es gilt, die Demokratie zu wärmen.

Nach zehn Minuten bereit dafür, dass die Demokratie nicht erfriert

Die Wochenendstadt erwacht, während der Winterdemokrat seinen Stand aufbaut. Das Klapptjschchen fixiert, einen Sonnenschirm als Blickfang, denn gegen die Sonne bedarf es keines Schutzes, wenn die Schneekristalle rieseln. Ein paar Prospekte, ordentlich drapiert, ein paar Bonbons, Stifte, die vom letzten Wahlkampf übriggeblieben sind. Wird niemandem auffallen. Keine zehn Minuten braucht der Winterdemokrat, um sich bereit zu machen dafür, dass die Demokratie nicht erfriert.

Und keine drei Minuten vergehen, bis der erste Wähler mit Anorak und Mütze von sich aus unter den winterlich umgedeuteten Sonnenschirm tritt: „Euch wähl ich nicht“, bruddelt der alte Mann durch die dampfende Atemluft. „Das ist doch ohnehin alles Betrug, die Politiker machen doch sowieso alle, was sie wollen.“ Ein wenig Übung hat der Winterdemokrat inzwischen im Umgang mit solchen Gästen. Humor hilft, hat er gelernt. „Ich?“, grinst er den Alten an, „ich habe Sie noch nicht betrogen.“ Wie auch, weder hat er ein Amt, noch eine Funktion, die das ermöglichen würde. Er steht hier doch einfach, weil die Demokratie nicht erfrieren darf in diesen frostigen Zeiten. „Ja, Sie nicht“, räumt der Alte ein, „aber die anderen alle.“ Nun, von der eigenen Partei überzeugen wird man diesen Wähler nicht. „Wenigstens wählen gehen, bitte!“ fordert der Winterdemokrat auf, und der Alte nickt. „Mach ich.“

Wer die Demokratie wärmen will, muss sich mit wenig zufrieden geben

Immerhin. Wer die Demokratie wärmen möchte, muss sich mit wenig zufriedengeben. Und darf nicht warten, bis er gefragt wird. Er muss aktiv werden. „Bitteschön, für die Bundestagswahl!“ Viele nehmen den angebotenen Faltprospekt der örtlichen Kandidatin, manche nicht. „Hab´schon gewählt!“, triumphieren die Briefwähler, und der Winterdemokrat fühlt einen schwachen Wärmeschwall. Wenigstens das.

„Nein, von Euch sicher nicht“, weisen Andersdenkende das Angebot brüsk zurück. Manche nehmen wortlos den Flyer und der Winterdemokrat blickt ihnen hinterher: Landet er gleich im nächsten Papierkorb? Nein, er landet in der Einkaufstausche. Zufrieden.

Nach der ersten Stunde zieht die Kälte durch die Schuhsohlen

Nur wenige wollen wirklich sprechen. Meistens dominieren gesittet vorgetragene Vorurteile: „Ihr schmeißt doch nur das Geld für Eure Privilegien heraus!“ Oder: „Ihr wollt doch sowieso nur, dass alles noch schlimmer wird.“ Oder rätselhafte Logiken: „Ich bin voll Eurer Meinung da, und da, und da auch, aber ich wähle trotzdem anders.“ Warum? „Weil ich Euch eben nicht mag, auch wenn ich oft Eurer Meinung bin.“ Immer wieder auch freundliche Zustimmung: „Euch wähl ich sowieso“, ein Lächeln, und dann „Danke, dass Ihr Euch engagiert“.

Die meisten Gespräche wärmen, aber nach der ersten Stunde zieht die Kälte im Land durch die dicken Schuhsolen. Flyer verteilen mit Handschuhen ist nicht einfach, also besser in Kauf nehmen, dass die Finger frösteln. Da kommt vom Marktstand gegenüber eine Frau herüber. „Mei,“, ruft sie, „Ihr seid ja wirklich tapfer bei der Kälte! Mögt Ihr einen Kaffee zum Aufwärmen?“ Und tatsächlich, sie bringt zwei Becher des warmen Gebräus herüber. „Das seid´s Ihr mir Wert, auch wenn ich Euch nicht wählen werd´.“

Ablehnung, ja. Zustimmung, auch

Durch den Pappbecher wärmt der Kaffee für ein paar Gespräche mehr. Nach zwei Stunden ist Schluss. Schneefall hat wieder eingesetzt. Die Passanten suchen Schutz vor der Kälte im noch schnelleren Vorbeihetzen. Der Winterdemokrat packt den Infostand zusammen. Zu viele Flyer bestellt für einen kurzen kalten Wahlkampf. Immerhin: Nichts zu spüren von der Endzeitstimmung, die mit Eiseskälte durch die Medien peitscht. Nicht die Spur von Gewalt an diesem kalten Vormittag, auch nicht verbal. Andere Meinungen, ja. Ablehnung, ja. Zustimmung, auch.

Es mag der Demokratie eiskalt sein im Land. Aber man kann sie wärmen.

 

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Trump, Merz und der Fosbury Flop

Fortschritt und Disruption: Was Politik vom Hochsprung lernen kann

Der amerikanische Hochspringer Dick Fosbury galt als talentierter Athlet, war eher ein Einzelgänger, trainingsfaul und verkopft. Er interessierte sich sehr für Physik und spürte bei jedem Sprung dem kurzen Moment des Gefühls von Schwerelosigkeit nach. Von seinen Trainern ließ er sich nur wenig sagen. Dann aber, am 20. Oktober 1968 in Mexiko führte er der ganzen Welt vor, was er im Hochsprung unter Fortschritt verstand – und gewann damit die Goldmedaille der Olympischen Spiele. Der Fosbury Flop war geboren, eine Disruption, eine radikale Veränderung der Sprungtechnik, nicht mehr mit dem Bauch oder den Beinen über die Latte, sondern flach liegend mit dem Rücken. Anfangs wurde gelacht, aber innerhalb weniger Monate setzte sich die neue Technik weltweit durch.

Im Liegen über die Latte fliegen: Mit einer disruptiven Veränderung hat 1968 Dick Fosbury mit seinem Olympiasieg den Hochsprung verändert. Es war eine radikale Disruption. Funktioniert das auch in der Politik? Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

So also kann Fortschritt funktionieren: Das Alte betrachten, nachdenken, es schrittweise verbessern – oder auch mit einem radikalen Eingriff, einer grundlegend neuen Vorgehensweise, die das Alte über Bord wirft. „Fortschrittskoalition“ hatte sich in ihren Anfangsstunden jene deutsche Regierung der „Ampel“-Parteien genannt. „Mehr Fortschritt wagen“, so war der Koalitionsvertrag überschrieben. Gemeinsam wolle man „die Dinge vorantreiben und damit auch ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein setzen: dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können“. Wer möchte, kann sich auf YouTube noch heute die Bilder von den ersten Tagen dieser Regierung ansehen: Ein Minister auf dem Fahrrad, die Ernennungsurkunde auf den Gepäckträger gespannt, eine Außenministerin, die mit dem Zug von Paris nach Brüssel fährt und ein Kanzler Scholz, der sich (im gleichen Film) Hoffnung auf kooperatives Zusammenwirken in den nächsten Jahren des gemeinsamen Regierens macht.

Fortschritt als Leitmotiv: Nicht alles anders, vieles besser

Das ist ja nun gründlich danebengegangen. Was ist misslungen? Es könnte sich lohnen, dem Fortschritt als Leitmotiv nachzuforschen, verspricht er doch immerhin eines: Es soll vorwärts gehen, der Zukunft zugewandt, das Bessere suchen, nicht das Vergangene wiederherstellen. Vor drei Jahren wollte die in Deutschland regierende „Ampel“ den Fortschritt stückchenweise erreichen, nicht „alles anders, sondern vieles besser machen“ (wie Altkanzler Schröder einmal nach der Ära Kohl sagte).

Solche Geduld ist offensichtlich aus der Mode geraten. Die Bilder aus den USA, die den frisch wieder im Amt befindlichen Donald Trump zeigen, wie er stapelweise „Executive Orders“ unterscheibt, haben auch hierzulande Eindruck hinterlassen. Endlich soll Schluss sein mit dem mühsamen Palaver, vorbeisein soll das langweilige Warten auf „echte“ Veränderungen. Stattdessen: Disruption. Trump macht es vor: Ein radikaler Eingriff, eine Unterschrift, eine Anweisung, zack – und die Sache ist geändert.

„Am ersten Tag meiner Amtszeit“, sagt nun also Friedrich Merz, „werde ich anweisen, dass an den Grenzen alle Versuche illegaler Einreisen ausnahmslos abgewiesen werden.“ Es soll sich also endlich etwas ändern, wenn der neue Kanzler im Amt ist, und zwar von einem Tag auf den anderen.

Eine Unterschrift und zack, die Sache ist geändert?

Allerdings ist zu erwarten, dass sich erstmal gar nichts ändert. Illegale Einreisen nach Deutschland sind schon jetzt verboten. Wer an der Grenze Asyl beantragt, reist nicht illegal ein, sondern nutzt europäisches und deutsches Recht. Gewiss kann man den Umgang damit verändern, vielleicht sogar mit Polizeigewalt das Überschreiten der Grenze verhindern. Abgesehen davon, was das bei Deutschlands Nachbarn auslöst – was genau soll geschehen, wenn der illegal Einreisende eine Wanderung ein paar hundert Meter nach links oder rechts des offiziellen Grenzübergangs macht? Zäune? Wasserwerfer? Schusswaffen?

Mit den so spektakulär unterschiebenen Orders des amerikanischen Präsidenten verhält es sich ähnlich. Zwischen der Unterschrift vor Fernsehkameras und der Umsetzung liegen lange Wege, rechtliche Hindernisse, Prozesse und föderale Widerstände. Es fühlt sich an wie eine Disruption, aber es ist keine wirkliche Veränderung, sondern eine effekthascherische Showeinlage.

Disruptionen gegen den Fortschritt

Dick Fosbury wollte den Fortschritt. Er erdachte den nach ihm benannten Flop, weil er höher springen wollte als die Konkurrenz mit ihrer althergebrachten Technik. Die Trumps und Musks – und in ihrem Gefolge die deutschen Konservativen, wollen nicht den Fortschritt. Ihre Disruptionen sollen uns dorthin zurückführen, wo wir herkommen: Wiedereinführung der Kernkraft (ohne Klärung der Frage des Atommülls), das neue Wahlrecht rückgängig machen (also wieder einen XXL-Bundestag zulassen), zurück zu Diesel und Benzin (also Abschied von den Klimazielen), das sogenannte „Heizungsgesetz“ aufheben (obwohl sogar die betroffenen Lobbyorganisationen dies kritisch sehen). Die Rechtsradikalen wollen gar die „Windmühlen der Schande“ absägen, die FDP mehr Milei (Kettensäge) und Musk (Hitlergruß) wagen. Sollen das die Veränderungen sein, die uns in die Zukunft führen?

Die konservative Seite der Politik argumentiert nicht mehr erhaltend und entwickelnd, wie es ihre Aufgabe im politischen Diskurs wäre, sondern radikalverändernd rückwärtsgewandt.  Und sie hat sich verliebt in die neue Ästhetik der Schein-Disruption: Nicht lange diskutieren, lieber schnelles Ändern – oder es wenigstens so aussehen lassen. Der Soziologe Armin Nassehi hat in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung dies als „Disruptive Kontinuität“ bezeichnet. Man müsse im politischen Wettbewerb heute mehr Kausalität zwischen Handlung und Wirkung vorspielen, als fachlich haltbar ist.

Der Fortschritt will erarbeitet sein, mühsam, Stück für Stück

Will heißen: Erfolgreich sind im Zeitalter der Sozialen Medien solche Politiker, die dem Volk erzählen: Nach der Wahl mache ich erstens, zweitens, drittens – und dann ist alles wieder so wie vorher: Keine Mordüberfälle mehr, die Arbeitsplätze alle sicher, die Wohnungen billig und die Bahn pünktlich. Und nach Amtsantritt machen sie erstens, zweitens, drittens, unterzeichnen wirkungslose Absichtserklärungen und Anweisungen von fraglichem rechtlichen Bestand – aber bestens sichtbar für die Kameras, millionenfach geteilt hinein in das zufriedene Wahlvolk. Nichts wird sich dadurch ändern: Der nächste Anschlag durch einen psychisch Kranken wird uns ereilen, die Konjunktur erholt sich nicht von heute auf morgen, die Miete bleibt gleich hoch, und der lästige Personenschaden auf den Gleisen sorgt noch immer für Verspätungen.

Und ein paar Jahre später dann das gleiche Spiel. Bis wir es gelernt haben, dass wir wohl die Geduld werden aufbringen müssen, uns den Fortschritt zu erarbeiten, mühsam, Stück für Stück. Dick Fosburys Sprung war eine Disruption – aber vorher hat er jahrelang dafür trainiert.

 

 

Eine gute Zusammenfassung der Geschichte von Dick Fosbury, die ich auch als Informationsgrundlage für meinen Textes genommen habe, findet sich in der Neuen Züricher Zeitung vom 14.4.2020, der online gebührenfrei verfügbar ist.

 

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