Das Richtige im Falschen – oder umgekehrt?

Mit Theodor Adorno auf der Suche nach einer Zweidrittelmehrheit

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Man dürfe sich nicht davon abhalten lassen, das Richtige zu tun, hat Friedrich Merz wenige Wochen vor der Wahl gesagt, und zwar auch dann, wenn die Falschen zustimmen. Damals ging es um schärfere Regeln für die Einreise von Asylsuchenden nach Deutschland, für die er die Zustimmung der Rechtsextremisten in Kauf nahm.

Es sei besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren, hat im Jahr 2017 Christian Lindner gesagt, als er begründete, warum die FDP die Rolle der Opposition wählte. Aber war das, was dann kam, nämlich eine Koalition aus Union und SPD wirklich falsch? Nach dem Ampel-Aus sehnt sich knapp die Hälfte der Deutschen genau wieder nach dieser Konstellation, finden sie richtig, während die dauerstreitende Scholz-Koalition mit Beteiligung der FDP die unbeliebteste Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik war – also wohl falsch.

Nun aber macht nach der Wahl zumindest die Union eine Politik (nämlich viele neue Schulden), die sie noch vor wenigen Tagen als grundfalsch beschimpft hat. Dafür braucht sie die Zustimmung der SPD und der Grünen, die genau das im Wahlkampf gefordert hatten. Was genau ist nun richtig, und was ist falsch?

Von einem klugen, komplizierten Text …

Der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno (1903 – 1969), Grafik von von Leandro Gonzalez de Leon via Wikimedia

Ein kluger, aber auch komplizierter Text dazu lässt sich im Internet abrufen. Es ist ein sprödes, engbuchstabiertes Dokument mit mehr als 150 Kapiteln, und der Abschnitt, um den es in der richtig/falsch-Frage geht, trägt die Ziffer 18. Er umfasst ziemlich genau eine Schreibmaschinenseite (wie man früher gesagt hätte, aber Schreibmaschinen gibt es nicht mehr). Der deutsche Philosoph und Soziologe Theodor Adorno hat ihn als Teil seines Werkes „Minimal Moralia“ verfasst. Die wenigsten kennen diesen Text, aber fast alle seinen letzten Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Die 150 Überlegungen Adornos zur „kleinsten Ethik“ sind schwere Kost – und damit vielleicht gut geeignet als Symbol für die heutige Zeit. Geschrieben hat er sie im amerikanischen Exil, mit entsetztem, angewiderten Blick auf die moralischen und realen Verwüstungen, die Nazis und der Zweite Weltkriegs in seiner Heimat Europa angerichtet haben. Adorno beschreibt unter Ziffer 18 die Unmöglichkeit, unter diesen Umständen überhaupt zu wohnen – er sucht im übertragenen Sinne „Asyl für Obdachlose“. So ist der Text überschrieben und er trieft vor Pessimismus. Mit einfachen Worten könnte man die ungleich tiefgründigeren Überlegungen Adornos so zusammenfassen: Es ist unmöglich, mit gutem Gewissen zu wohnen. Die meisten Häuser seien ohnehin zerstört, und wer noch über eines verfügt, kann zwar das Grauen der Wirklichkeit mit kunstgewerblichen Schnörkeln zukleistern – aber dann lebt er eben im Falschen, und darin gibt es kein richtiges Leben.

… blieb nur der letzte Satz in Erinnerung

Das vollkommen trostlose Umfeld nach den Verbrechen und Verwüstungen des Weltkrieges ist nicht vergleichbar mit den heutigen Lebensumständen in Deutschland. Dennoch dominiert auch hierzulade jetzt Pessimismus. Viele Deutsche blicken skeptisch in die Zukunft. In einer Wahl haben die Parteien, die ein eher negatives Gesamtbild der deutschen Lage zeichneten, obsiegt gegenüber beispielsweise einer Kampagne, die auf dem Versprechen von „Zuversicht“ basierte. Auch in anderer Hinsicht ist der Text Adornos, der zum berühmten Zitat führt, symptomatisch für das Denken und Handeln dieser Tage: Er ist so kompliziert, sperrig, widrig, wie das kaum entwirrbare Geflecht aus Wirtschaftskrise, Kriegssorgen, Geldnöten und den Unflätigkeiten im Oval Office – wer will sich damit schon beschäftigen? Und so bleibt eben nur der letzte Satz in Erinnerung – jenseits des Zusammenhangs, in einem jederzeit anwendbaren Sinne. Theodor Adorno wollte ganz sicher keinen Kalenderspruch schaffen, als er niederschrieb: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“.

Kann nach wenigen Tagen richtig sein, was vorher falsch war?

Auch diese Zeilen hier sind eine solche ungefragte Aneignung der sechs Worte Adornos. Gibt es „richtige Politik“ durch eine „falsche Regierung“? Gestritten wird ja nun in der politischen Mitte des Landes weniger darum, ob es richtig ist, Milliardenschulden aufzunehmen, um Rüstung einzukaufen und Brücken, die Bahn und die Schulen zu sanieren. Gestritten wird vor allem über den Positionswechsel der Union, die nun auf einmal als richtige Politik das machen möchte, was sie vor wenigen Tagen noch als falsch bezeichnet hatte, und zwar nun mit Hilfe derer, die es immer schon richtig gefunden hätten.

Und umgekehrt: Wie glaubwürdig würde eine grüne Partei handeln, wenn sie nun ihre notwendigen Dienste für eine Politik verweigern würde, die sie im Wahlkampf als richtig versprochen hatte? Die Grünen wurden für dieses Versprechen beschimpft und dezidiert nicht gewählt – sollen nun aber für die notwendige Zweidrittel-Mehrheit sorgen.

Die fachlichen Fragen zu „richtig“ oder „falsch“ in diesem Zusammenhang seien hier einmal nur erwähnt, nicht erörtert. Wie wirken weitere Schulden volkswirtschaftlich? Ist die sprunghaft steigende Schuldenlast verantwortbar für nachfolgende Generationen? Aber auch: Dürfen wir unseren Staat wehrlos ausliefern der Aggression des Nachbarn?  Sind bröckelnde Brücken, Schlaglöcher und marode Gleise nicht auch eine Schuld, die wir unseren Kindern und Enkeln aufladen würden?

Oder war eben das Falsche schon immer richtig?

Für Friedrich Merz war die politische Position von SPD und Grünen solange falsch, solange er noch keine Regierung bilden musste. Nun aber findet er sie offenbar teilweise richtig. Für die Grünen ist Friedrich Merz definitiv der falsche Kanzler, aber seine Politik ist (jedenfalls in der Schuldenfrage) auch für sie grundsätzlich richtig. Deshalb werden sie ihr wohl am Ende zur nötigen Zweidrittelmehrheit verhelfen.

Es scheint gerade so, als gäbe es vielleicht doch das Richtige im Falschen, vor allem, wenn die Falschen es für richtig halten.

 

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Der Winterdemokrat im Wahlkampf

Wie man die fröstelnde Demokratie wärmen kann – Ein Erfahrungsbericht

Es ist kalt in Deutschland, und die Demokratie friert. Ein US-Vizepräsident kommt von draußen herein, pöbelt herum und hat noch dazu die Tür offengelassen, durch die jetzt die Schneeflocken stöbern. Eine Frau mit Perlenkette, die sich „Kanzlerkandidatin“ nennt, wird von ihm empfangen und verbreitet ungestört ihre gefühlskalten Botschaften in immergleichen Fernsehformaten. Es ist zum Frösteln.

Vor der Wahl steht der Wahlkampf. Dieses Jahr hatten die Engagierten der politischen Parteien mit der Kälte zu kämpfen. Es war kalt in Deutschland, und die Demokratie muss frieren. Bild von Vilius Kukanauskas auf Pixabay

Als der Winterdemokrat morgens am Samstag, eine Woche vor der Wahl, aus dem Bett schlüpft und durch das Fenster blickt, rieseln Schneeflocken vom Himmel. Nicht große, nasse Flocken, sondern winzig kleine Kristalle, Pünktchen nur, die die kalte Luft in gleichmäßigen Linien durchschneiden. Er blickt auf das Thermometer, das am Fensterrahmen angebracht ist: null Grad.

Üble Bilder von andersdenkender Gewalt

Gestern noch war die Kälte im Fernsehen zu sehen: Üble Bilder von zerstörten Wahlplakaten, zertrümmerte Informationsstände, Parteibüros, die geschützt werden müssen vor andersdenkender Gewalt. Wie schön wäre es, ins warme Bett zurückzukehren, statt sich solchen Gefahren auszusetzen?

Aber der Winterdemokrat zieht sich an, freiwillig, aus Überzeugung, ohne eigenen Gewinn. Wie schon am letzten Samstag holt er die wärmste Hose aus dem Schrank, sucht den dicksten Pullover heraus, Anorak drüber, Schal um den Hals. Schnell etwas frühstücken. Dann die Mütze mit dem Parteilogo auf die Ohren, und Handschuhe steckt er auch ein. Es ist kalt in Deutschland, und es gilt, die Demokratie zu wärmen.

Nach zehn Minuten bereit dafür, dass die Demokratie nicht erfriert

Die Wochenendstadt erwacht, während der Winterdemokrat seinen Stand aufbaut. Das Klapptjschchen fixiert, einen Sonnenschirm als Blickfang, denn gegen die Sonne bedarf es keines Schutzes, wenn die Schneekristalle rieseln. Ein paar Prospekte, ordentlich drapiert, ein paar Bonbons, Stifte, die vom letzten Wahlkampf übriggeblieben sind. Wird niemandem auffallen. Keine zehn Minuten braucht der Winterdemokrat, um sich bereit zu machen dafür, dass die Demokratie nicht erfriert.

Und keine drei Minuten vergehen, bis der erste Wähler mit Anorak und Mütze von sich aus unter den winterlich umgedeuteten Sonnenschirm tritt: „Euch wähl ich nicht“, bruddelt der alte Mann durch die dampfende Atemluft. „Das ist doch ohnehin alles Betrug, die Politiker machen doch sowieso alle, was sie wollen.“ Ein wenig Übung hat der Winterdemokrat inzwischen im Umgang mit solchen Gästen. Humor hilft, hat er gelernt. „Ich?“, grinst er den Alten an, „ich habe Sie noch nicht betrogen.“ Wie auch, weder hat er ein Amt, noch eine Funktion, die das ermöglichen würde. Er steht hier doch einfach, weil die Demokratie nicht erfrieren darf in diesen frostigen Zeiten. „Ja, Sie nicht“, räumt der Alte ein, „aber die anderen alle.“ Nun, von der eigenen Partei überzeugen wird man diesen Wähler nicht. „Wenigstens wählen gehen, bitte!“ fordert der Winterdemokrat auf, und der Alte nickt. „Mach ich.“

Wer die Demokratie wärmen will, muss sich mit wenig zufrieden geben

Immerhin. Wer die Demokratie wärmen möchte, muss sich mit wenig zufriedengeben. Und darf nicht warten, bis er gefragt wird. Er muss aktiv werden. „Bitteschön, für die Bundestagswahl!“ Viele nehmen den angebotenen Faltprospekt der örtlichen Kandidatin, manche nicht. „Hab´schon gewählt!“, triumphieren die Briefwähler, und der Winterdemokrat fühlt einen schwachen Wärmeschwall. Wenigstens das.

„Nein, von Euch sicher nicht“, weisen Andersdenkende das Angebot brüsk zurück. Manche nehmen wortlos den Flyer und der Winterdemokrat blickt ihnen hinterher: Landet er gleich im nächsten Papierkorb? Nein, er landet in der Einkaufstausche. Zufrieden.

Nach der ersten Stunde zieht die Kälte durch die Schuhsohlen

Nur wenige wollen wirklich sprechen. Meistens dominieren gesittet vorgetragene Vorurteile: „Ihr schmeißt doch nur das Geld für Eure Privilegien heraus!“ Oder: „Ihr wollt doch sowieso nur, dass alles noch schlimmer wird.“ Oder rätselhafte Logiken: „Ich bin voll Eurer Meinung da, und da, und da auch, aber ich wähle trotzdem anders.“ Warum? „Weil ich Euch eben nicht mag, auch wenn ich oft Eurer Meinung bin.“ Immer wieder auch freundliche Zustimmung: „Euch wähl ich sowieso“, ein Lächeln, und dann „Danke, dass Ihr Euch engagiert“.

Die meisten Gespräche wärmen, aber nach der ersten Stunde zieht die Kälte im Land durch die dicken Schuhsolen. Flyer verteilen mit Handschuhen ist nicht einfach, also besser in Kauf nehmen, dass die Finger frösteln. Da kommt vom Marktstand gegenüber eine Frau herüber. „Mei,“, ruft sie, „Ihr seid ja wirklich tapfer bei der Kälte! Mögt Ihr einen Kaffee zum Aufwärmen?“ Und tatsächlich, sie bringt zwei Becher des warmen Gebräus herüber. „Das seid´s Ihr mir Wert, auch wenn ich Euch nicht wählen werd´.“

Ablehnung, ja. Zustimmung, auch

Durch den Pappbecher wärmt der Kaffee für ein paar Gespräche mehr. Nach zwei Stunden ist Schluss. Schneefall hat wieder eingesetzt. Die Passanten suchen Schutz vor der Kälte im noch schnelleren Vorbeihetzen. Der Winterdemokrat packt den Infostand zusammen. Zu viele Flyer bestellt für einen kurzen kalten Wahlkampf. Immerhin: Nichts zu spüren von der Endzeitstimmung, die mit Eiseskälte durch die Medien peitscht. Nicht die Spur von Gewalt an diesem kalten Vormittag, auch nicht verbal. Andere Meinungen, ja. Ablehnung, ja. Zustimmung, auch.

Es mag der Demokratie eiskalt sein im Land. Aber man kann sie wärmen.

 

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Trump, Merz und der Fosbury Flop

Fortschritt und Disruption: Was Politik vom Hochsprung lernen kann

Der amerikanische Hochspringer Dick Fosbury galt als talentierter Athlet, war eher ein Einzelgänger, trainingsfaul und verkopft. Er interessierte sich sehr für Physik und spürte bei jedem Sprung dem kurzen Moment des Gefühls von Schwerelosigkeit nach. Von seinen Trainern ließ er sich nur wenig sagen. Dann aber, am 20. Oktober 1968 in Mexiko führte er der ganzen Welt vor, was er im Hochsprung unter Fortschritt verstand – und gewann damit die Goldmedaille der Olympischen Spiele. Der Fosbury Flop war geboren, eine Disruption, eine radikale Veränderung der Sprungtechnik, nicht mehr mit dem Bauch oder den Beinen über die Latte, sondern flach liegend mit dem Rücken. Anfangs wurde gelacht, aber innerhalb weniger Monate setzte sich die neue Technik weltweit durch.

Im Liegen über die Latte fliegen: Mit einer disruptiven Veränderung hat 1968 Dick Fosbury mit seinem Olympiasieg den Hochsprung verändert. Es war eine radikale Disruption. Funktioniert das auch in der Politik? Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

So also kann Fortschritt funktionieren: Das Alte betrachten, nachdenken, es schrittweise verbessern – oder auch mit einem radikalen Eingriff, einer grundlegend neuen Vorgehensweise, die das Alte über Bord wirft. „Fortschrittskoalition“ hatte sich in ihren Anfangsstunden jene deutsche Regierung der „Ampel“-Parteien genannt. „Mehr Fortschritt wagen“, so war der Koalitionsvertrag überschrieben. Gemeinsam wolle man „die Dinge vorantreiben und damit auch ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein setzen: dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können“. Wer möchte, kann sich auf YouTube noch heute die Bilder von den ersten Tagen dieser Regierung ansehen: Ein Minister auf dem Fahrrad, die Ernennungsurkunde auf den Gepäckträger gespannt, eine Außenministerin, die mit dem Zug von Paris nach Brüssel fährt und ein Kanzler Scholz, der sich (im gleichen Film) Hoffnung auf kooperatives Zusammenwirken in den nächsten Jahren des gemeinsamen Regierens macht.

Fortschritt als Leitmotiv: Nicht alles anders, vieles besser

Das ist ja nun gründlich danebengegangen. Was ist misslungen? Es könnte sich lohnen, dem Fortschritt als Leitmotiv nachzuforschen, verspricht er doch immerhin eines: Es soll vorwärts gehen, der Zukunft zugewandt, das Bessere suchen, nicht das Vergangene wiederherstellen. Vor drei Jahren wollte die in Deutschland regierende „Ampel“ den Fortschritt stückchenweise erreichen, nicht „alles anders, sondern vieles besser machen“ (wie Altkanzler Schröder einmal nach der Ära Kohl sagte).

Solche Geduld ist offensichtlich aus der Mode geraten. Die Bilder aus den USA, die den frisch wieder im Amt befindlichen Donald Trump zeigen, wie er stapelweise „Executive Orders“ unterscheibt, haben auch hierzulande Eindruck hinterlassen. Endlich soll Schluss sein mit dem mühsamen Palaver, vorbeisein soll das langweilige Warten auf „echte“ Veränderungen. Stattdessen: Disruption. Trump macht es vor: Ein radikaler Eingriff, eine Unterschrift, eine Anweisung, zack – und die Sache ist geändert.

„Am ersten Tag meiner Amtszeit“, sagt nun also Friedrich Merz, „werde ich anweisen, dass an den Grenzen alle Versuche illegaler Einreisen ausnahmslos abgewiesen werden.“ Es soll sich also endlich etwas ändern, wenn der neue Kanzler im Amt ist, und zwar von einem Tag auf den anderen.

Eine Unterschrift und zack, die Sache ist geändert?

Allerdings ist zu erwarten, dass sich erstmal gar nichts ändert. Illegale Einreisen nach Deutschland sind schon jetzt verboten. Wer an der Grenze Asyl beantragt, reist nicht illegal ein, sondern nutzt europäisches und deutsches Recht. Gewiss kann man den Umgang damit verändern, vielleicht sogar mit Polizeigewalt das Überschreiten der Grenze verhindern. Abgesehen davon, was das bei Deutschlands Nachbarn auslöst – was genau soll geschehen, wenn der illegal Einreisende eine Wanderung ein paar hundert Meter nach links oder rechts des offiziellen Grenzübergangs macht? Zäune? Wasserwerfer? Schusswaffen?

Mit den so spektakulär unterschiebenen Orders des amerikanischen Präsidenten verhält es sich ähnlich. Zwischen der Unterschrift vor Fernsehkameras und der Umsetzung liegen lange Wege, rechtliche Hindernisse, Prozesse und föderale Widerstände. Es fühlt sich an wie eine Disruption, aber es ist keine wirkliche Veränderung, sondern eine effekthascherische Showeinlage.

Disruptionen gegen den Fortschritt

Dick Fosbury wollte den Fortschritt. Er erdachte den nach ihm benannten Flop, weil er höher springen wollte als die Konkurrenz mit ihrer althergebrachten Technik. Die Trumps und Musks – und in ihrem Gefolge die deutschen Konservativen, wollen nicht den Fortschritt. Ihre Disruptionen sollen uns dorthin zurückführen, wo wir herkommen: Wiedereinführung der Kernkraft (ohne Klärung der Frage des Atommülls), das neue Wahlrecht rückgängig machen (also wieder einen XXL-Bundestag zulassen), zurück zu Diesel und Benzin (also Abschied von den Klimazielen), das sogenannte „Heizungsgesetz“ aufheben (obwohl sogar die betroffenen Lobbyorganisationen dies kritisch sehen). Die Rechtsradikalen wollen gar die „Windmühlen der Schande“ absägen, die FDP mehr Milei (Kettensäge) und Musk (Hitlergruß) wagen. Sollen das die Veränderungen sein, die uns in die Zukunft führen?

Die konservative Seite der Politik argumentiert nicht mehr erhaltend und entwickelnd, wie es ihre Aufgabe im politischen Diskurs wäre, sondern radikalverändernd rückwärtsgewandt.  Und sie hat sich verliebt in die neue Ästhetik der Schein-Disruption: Nicht lange diskutieren, lieber schnelles Ändern – oder es wenigstens so aussehen lassen. Der Soziologe Armin Nassehi hat in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung dies als „Disruptive Kontinuität“ bezeichnet. Man müsse im politischen Wettbewerb heute mehr Kausalität zwischen Handlung und Wirkung vorspielen, als fachlich haltbar ist.

Der Fortschritt will erarbeitet sein, mühsam, Stück für Stück

Will heißen: Erfolgreich sind im Zeitalter der Sozialen Medien solche Politiker, die dem Volk erzählen: Nach der Wahl mache ich erstens, zweitens, drittens – und dann ist alles wieder so wie vorher: Keine Mordüberfälle mehr, die Arbeitsplätze alle sicher, die Wohnungen billig und die Bahn pünktlich. Und nach Amtsantritt machen sie erstens, zweitens, drittens, unterzeichnen wirkungslose Absichtserklärungen und Anweisungen von fraglichem rechtlichen Bestand – aber bestens sichtbar für die Kameras, millionenfach geteilt hinein in das zufriedene Wahlvolk. Nichts wird sich dadurch ändern: Der nächste Anschlag durch einen psychisch Kranken wird uns ereilen, die Konjunktur erholt sich nicht von heute auf morgen, die Miete bleibt gleich hoch, und der lästige Personenschaden auf den Gleisen sorgt noch immer für Verspätungen.

Und ein paar Jahre später dann das gleiche Spiel. Bis wir es gelernt haben, dass wir wohl die Geduld werden aufbringen müssen, uns den Fortschritt zu erarbeiten, mühsam, Stück für Stück. Dick Fosburys Sprung war eine Disruption – aber vorher hat er jahrelang dafür trainiert.

 

 

Eine gute Zusammenfassung der Geschichte von Dick Fosbury, die ich auch als Informationsgrundlage für meinen Textes genommen habe, findet sich in der Neuen Züricher Zeitung vom 14.4.2020, der online gebührenfrei verfügbar ist.

 

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Friedrich, der Zaubergeselle

Die Geschichte vom Zauberlehrling – und die bösen Besen von heute

Friedrich ist kein Zauberlehrling, er ist ein alter Zaubergeselle. Schon seit vielen Jahren. Nun will er die Meisterprüfung ablegen – endlich. Der alte Geselle hat viel mehr Erfahrung als jeder andere Lehrling im Berliner Zauberbetrieb, und gerade deshalb darf ihm nicht passieren, was man einem Lehrling vielleicht noch verzeihen könnte.

Der Zaubergeselle – bald ein Meister? Foto: CDU/Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

Die Geschichte vom Zauberlehrling ist eine wunderbare Parabel von Meisterschaft und Dilettantismus, vom Unterschied zwischen Schläue und Klugheit. Johann Wolfgang von Goethe hat sie im Jahr 1797 in einer Ballade erzählt: Ein Zaubermeister ist außer Haus gegangen, und sein Lehrling hat keine Lust, das Wasser, das er benötigt – wofür auch immer -, selbst vom Fluss zum Haus herauf zu schleppen. Also befielt er mit dem abgehorchten Zauberspruch des Meisters dem Besen, ihm das Wasser zu holen. Und die Sache funktioniert: Eimer um Eimer wuchtet der Besen heran, bald ist es mehr als genug – und da erst fällt dem Lehrling auf: Er kannte zwar das Wort, das den Besen in Bewegung setzt, nicht aber jenes, das ihn wieder davon abbringt.

Der Zauberlehrling hatte das Ende nicht bedacht

Die Wasser ergießen sich bereits über das ganze Haus, und in seiner Verzweiflung greift der Lehrling zur Axt, will den Besen zerschlagen und spaltet ihn in zwei Teile. Dieser brutale Eingriff aber macht alles nur noch schlimmer. Nun hat sich der Besen verdoppelt und zwei seiner Art schleppen immer noch mehr Wasser herbei. Dann endlich, in allerhöchster Not, erscheint der Meister. Wenige, aber richtige, Worte von ihm genügen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Der Lehrling bleibt bedröppelt zurück, die Grenzen seines Könnens waren ihm höchstpersönlich vorgeführt worden. Er war schlau gewesen – aber nicht klug. Sein größter Fehler: Er hatte das Ende nicht bedacht.

Friedrich bringt vieles dafür mit, was ihn zum Meister gereichen könnte: Er hat Erfahrung und Anstand, er scheut keine Verantwortung, er ist mutig, redegewandt. Er begegnet Mitmenschen und auch Andersdenkenden meistens mit Respekt – vielleicht weniger in seinen manchmal scharfzüngig gewählten Worten, aber immerhin dann, wenn er ihnen unmittelbar gegenübersteht. Friedrich ist oft ein wenig steif und altmodisch, aber er ist rechtschaffen. Und er war glaubwürdig. Mit überzeugendem Tremolo hatte er selbst es verlangt: Niemals dürfe ihm oder sonst wem der Besen zu Hilfe kommen, niemals würde er es zulassen, dass der Besen darüber entscheiden könne, ob eine Sache obsiegt oder nicht.

Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen

Es sah also ganz danach aus, als habe er sich nun endlich die Würde für den Meistertitel erarbeitet. Dann aber kam jener Moment des unüberlegten und ungeduldigen Übermuts, in dem Friedrich den kurzfristigen Erfolg haben, ein fadenscheiniges Symbol von Handlungsstärke in die Welt setzen wollte. Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen von angeblich notwendiger Veränderung.

Dafür ließ Friedrich zu, dass der Besen ihm das Wasser reichte. Er tat, wie ihm geheißen, er spaltete sich gleich mehrfach auf und holte Stimmen herein. Während Friedrich noch zufrieden das Ergebnis seines durchscheinenden Werkes betrachtete, hörte der Besen nicht mehr auf ihn. Am Rednerpult des hohen Hauses verhöhnte der Besen seinen unüberlegten Kommandeur: Da säße der Geselle jetzt mit schlotternden Knien, spottete er, da wäre es doch besser, wenn er sich gleich der neuen Herrschaft der Besen anschließen würde, falls er dazu noch die Kraft habe.

Das Richtige mag er gewollt haben, aber was hat er verloren?

„Die ich rief, die Geister, werd´ ich nun nicht mehr los“, klagt bei Goethe der unbedachte Zauberlehrling. Auch Friedrich, der Zaubergeselle, klagt: Er habe doch mit dieser scheußlichen Besenschar nichts zu tun, die sich feixend in die Arme fielen, nachdem er ihre Hilfe zugelassen hatte. Man solle ihm doch bitte glauben, fleht er nun: Er habe nur das Richtige gewollt, da müsse doch jedes Mittel Recht sein?!

Das Richtige mag er gewollt haben, aber seinen wichtigsten Kredit hat er dabei verloren – die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen in sein Wort. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er die Wahrheit spricht“, reimt der Volksmund. Der Zaubergeselle ist eben kein Meister, er hat das Ende nicht bedacht.

Bald ist Meisterprüfung

So tanzen nun die Besen durch das weite Land und durch das hohe Haus. Wer wird sie nun wieder zurück kommandieren können in die Ecke? Die weise Meisterin ist fort. Sie ist schon im Ruhestand. Auf ihren Ruf aus der Ferne hören die Besen schon lange nicht mehr. Und der Zaubergeselle selbst will sich von der Meisterin ohnehin schon lange nichts mehr sagen lassen.

Bald ist Meisterprüfung. Besteht der Zaubergeselle?

 

Den vollständigen Text der Ballade „Der Zauberlehrling“ von J.W.Goethe finden Sie z.B bei Wikipedia. 

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Die neun Köpfe der modernen Hydra

Herakles und Iolaos hängen Wahlplakate auf  – Eine Neujahrserzählung

Der alte Herakles schaut aus dem Fenster. Er ist zu Besuch bei seinem Neffen. Familientreffen über Silvester und Neujahr. Nun ist Neujahrsmorgen, und alle anderen schlafen noch. Langweilig. Dabei hatte doch heute das Jahr der Neun begonnen! Kalt und grau ist es draußen. Ein paar Böllerfetzen liegen auf der Straße.

Herakles und Iolaos kämpfen mit den neun Köpfen der Hydra – Darstellung von ca. 1565

Zwei – null – zwei – fünf hatte Herakles summiert, Quersumme Neun. Und damit auch durch neun teilbar. Genauso hatten sie es ihm erklärt im Internet. Es ist das Jahr der Neun. Und für Herakles stand fest: Im Jahr der Neun muss er in die Sümpfe. Das Ungeheuer bekämpfen, das mit den neun Köpfen.

Der Neffe heißt übrigens Iolaos. Nebenan schnarcht er. Hört man durch die Tür. Mit ihm, seiner Familie und seinen Freunden hatte Herakles gestern gefeiert. Netter Kerl. Ein Wahlkämpfer! Setzt sich ein für die Demokratie. Auch so eine griechische Erfindung, denkt sich Herakles. Ob Iolaos wohl etwas weiß vom Jahr der Neun? Wahrscheinlich nicht.

Gestern hatte der Neffe ihn noch gebeten, am Neujahrsmorgen mitzukommen. Zum Plakate aufhängen für die Wahl in fünf Wochen. Und jetzt schläft er da seinen Rausch aus!

„Junge, wir müssen in die Sümpfe!“ ruft Herakles und trommelt an die Tür seines Neffen. „Die Hydra mit den neun Köpfen muss besiegt werden! Es ist das Jahr der Neun!“

Iolaos reagiert nicht.

„Nun mach schon“, gibt Herakles keine Ruhe, rumpelt in das Zimmer und rüttelt an den Schultern des Jungen, „wir müssen los. Das Jahr der Neun hat begonnen. Und Du wolltest Plakate aufhängen. Wenn Du willst, dass ich mitkomme, dann wach endlich auf!“

Moderne Sümpfe, denkt sich Herakles

Also stapfen die beiden gegen Mittag los, durch die Straßen ihrer Stadt. Moderne Sümpfe, denkt sich Herakles. Iolaos zieht einen Bollerwagen voller Wahlplakate hinter sich her, in der Hand hat er ein Plastikbündel: Kabelbinder. An jedem zweiten Laternenmast bleiben sie stehen, immer der gleiche Ablauf: Abstand zu Kreuzungen einhalten, keine Sicht versperren, keine Verkehrsschilder verdecken. Wenn alles passt, das Plakat aufklappen, um den Mast legen, die Kabelbinder durch die Löcher, festziehen, abknipsen. Festen Halt prüfen. Fertig. Weiter.

„Die Hydra mit neun Köpfen lebt heutzutage nicht mehr in den echten Sümpfen, wie früher bei den Griechen, die lebt jetzt hier“, doziert Herakles.

Iolaos wedelt mit der Hand durch die Luft und schüttelt den Kopf. „Lass mich in Ruhe mit Deiner Hydra,“ mault er, und dann, während er sich nach dem nächsten geeigneten Laternenmast umschaut, fragt er doch: „Neun Köpfe, sagst Du?“

Herakles bleibt stehen. „Ja genau. Neun Köpfe. Und mit jedem kann sie töten.“

Der nächste Mast, das nächste Plakat. Hochwuchten, Kabelbinder durch die Löcher, festziehen, abknipsen.

Iolaos betrachtet das hängende Plakat. „Jetzt mal langsam“, sagt er und hindert seinen Onkel am Weitergehen. „Was ist das mit der Neun, mit den Köpfen und mit den Sümpfen?“

Herakles schnauft vernehmlich. „Hab` ich Dir doch heute Nacht schon erklärt. Etwa nicht aufgepasst?“

„Bitte nochmal, ganz in Ruhe“, bettelt der Neffe.

„Also gut. Hier in Kurzform: Angefangen hat alles mit den alten Griechen. Die haben eine Sage, nach der in ihren Sümpfen ein schreckliches Ungeheuer leben würde. Mit neun Köpfen, jeder einzelne davon tödlich. Heißt Hydra. Und so´n Held musste dieses Ungeheuer aufspüren und besiegen, als Strafe dafür, dass er seine Familie ermordet hatte. Als Sühne gewissermaßen.“

„Und was hat das mit uns zu tun?“

„Viel. Weil wir leben im Jahr der Neun. Alle neun Jahre ist die Quersumme der Jahreszahl unserer Zeitrechnung durch neun teilbar. Und das sind die Jahre, in denen wir gegen die Hydra und ihre neun Köpfe in die Schlacht ziehen müssen.“

„Wo hast du denn diesen Blödsinn her?“

„Stand bei Telegram. Und in Facebook sagen sie es auch. In meiner Prepper-Gruppe.“

Die Hydra unserer Zeit hat auch neun Köpfe

Iolaos verdreht die Augen. „Und Du glaubst das alles?“ Entschlossen peilt er den nächsten Straßenmast an, nestelt ein Plakat aus dem Bollerwagen. „Wenn Du mir mit solchem Zeug kommst, dann erzähl ich Dir jetzt mal was über die Hydra unserer Zeit. Die hat auch neun Köpfe, und willst du wissen welche?“

Herakles nickt.

„Okay, dann zähl mit. Fangen wir mit dem Krieg in der Ukraine an, Kopf eins. Könnte mich ziemlich real verschlingen, wenn ich deshalb mal zum Militär muss.“ Nächste Straßenlaterne, nächstes Plakat. „Du bist natürlich fein raus, zu alt nämlich.“

Iolaos denkt kurz nach. „Dann der ganze marode Zustand unserer Straßen, der Bahn und so weiter. Die kaputten Schulklos. Muss ich alles bezahlen helfen, während Du Deine fette Rente verfrühstückst. Aber wovon, wenn doch die Wirtschaft marode ist und ich meinen Job verliere. Kopf zwei.“

Herakles hebt zwei Finger in die Luft.

„Das Klima. Kopf drei. Verschlingt uns alle, und zwar buchstäblich mit Überschwemmungen und Bränden und so. Und dann die dumpfe nationale Dummheit der Europäer. Kopf vier. Jedes Land glaubt, allein irgendwas zu reißen gegen China und Indien und Trump und so. Kann uns alle umbringen.“

Das nächste Plakat hängt.

„Weiter. Die Armut überall auf der Welt, die hungernden Kinder und Frauen und Männer in Gaza und im Sudan und in Jemen und weiß der Geier, wo noch. Kein Wunder, dass sich da viele auf den Weg zu uns machen. Kopf fünf.“

Die linke Hand von Herakles war ausgezählt. Er hält sie mit ausgestreckten Fingern in die Luft. „Und, weiter?“

Iolaos zerrt den Bollerwagen mit den Plakaten hinter sich her, wartet grünes Licht an der Ampel ab und bleibt am übernächsten Laternenpfahl stehen. „Die da.“ Er deutet auf ein Plakat, das da schon hängt. „Die da, die Rechtsradikalen, gegen die Ihr Alten nichts gemacht habt. Und bis heute nichts macht. Irgendwann sitzen sie in der Regierung. Ein ganz besonders übler Kopf. Nummer sechs.“

„Aber die werden doch gewählt, und das ist schließlich Demokratie!“, wendet Herakles ein.

„Das ist nicht Demokratie, das ist Dummheit,“ empört sich der Neffe. „Dummheit ist gleich mein Kopf Nummer sieben. Dummheit, Parteien wegen irgendwelchen billigen Parolen zu wählen, die nichts mit der leider komplizierten Wahrheit zu tun haben.“

Herakles hebt Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. „Zu Kopf sieben gehören auch alle“, ergänzt er, „die ihre Stimme einfach verschenken. Nicht zur Wahl gehen.“

Der Neffe nickt. „Oder irgendwelches Zeug wählen, eine Satire-Partei, oder eine, die nur über Tierschutz redet. Auch verschenkte Stimmen.“

„Fehlen noch zwei!“, ruft Herakles

„Fehlen noch zwei!“ Herakles schwenkt seine beiden Hände in der Luft.

„Lass mich nachdenken …“ Iolaos zählt die Plakate durch, die noch im Bollerwagen liegen. „Wir wechseln jetzt die Straßenseite und gehen auf der anderen Seite zurück.“ Am ersten Laternenpfahl geht’s wieder los: Hochwuchten, zuklemmen, Kabelbinder durch, festzurren, abknipsen.

„Kopf acht ist das mit den Steuern“, sagt er dann. „Dass Superreiche kaum Steuern zahlen, weil sie ihr Geld hin und herschieben können, wie es gerade passt.“

Wieder hängt ein Plakat. Iolaos bleibt stehen. „Und weißt Du, was mein Hydra-Kopf Nummer neun ist?“ Er blickt seinem Onkel mitten ins Gesicht. „Du.“

„Ich? Warum denn ich?“

„Weil Du solchen Blödsinn aus irgendeiner Chatgruppe bei Telegram glaubst. Das Zeug mit der Hydra und dem Jahr der Neun. Mensch, schalt halt mal Dein Gehirn ein! Kann doch gar nicht sein. Das mit der Neun und den modernen Sümpfen. Schließlich wählen wir alle vier Jahre, und manchmal sogar früher, wie jetzt.“

Iolaos zurrt das letzte Plakat fest.

„Die ganzen Leute, die wie Du den größten Quatsch aus dem Internet glauben, die sind Kopf Nummer neun. Einfach schrecklich, wie leichtgläubig viele sind.“

Er lässt die Zange in den Bollerwagen plumpsen. „Geschafft!“, ruft er, „die Wahl kann kommen!“

Herakles ist noch nicht überzeugt

Herakles grinst. „Und Du glaubst ernsthaft, dass Deine Plakate die neun Köpfe der Hydra besiegen werden?“

„Na ja, jedenfalls ein bisschen. Wenn Du so willst: Sie helfen mit, der Hydra von heute ihre blöden Köpfe abzuschlagen.“

Aber Herakles ist noch nicht überzeugt. „Weißt du, was das Problem mit den neun Köpfen der Hydra ist?“, fragt er seinen Neffen.

„Nein, weiß ich nicht. Aber erzähl mir nicht wieder irgendwelches Verschwörungszeug.“

„Man kann die Köpfe zwar abschlagen, aber die wachsen doppelt nach.“

„Echt? Doppelt?“

Iolaos schüttelt den Kopf. „Doppelt? Wirklich krass, was für dummes Zeug Euch erzählt wird.“

 


Die Geschichte des Herakles, der zusammen mit seinem Neffen Iolaos die Hydra besiegt, ist der griechischen Mythologie entlehnt. Wer sie nachlesen will, kann das hier tun. 

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Was wir brauchen, ist wehrhafter Anstand

Fünf unbequeme Vorschläge nach Trump-Triumph und Ampel-Aus

Ok, Amerika! Du hast einen verurteilten Straftäter, Vergewaltiger und Lügner erneut zu Deinem Präsidenten gewählt – nicht, weil Du es nicht wusstest, sondern weil er so ist, wie er ist. Du hast Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Ok, Deutschland! Mehr als jede/r zehnte Deiner Wählenden gibt einer rechtsradikalen Partei die Stimme – nicht, weil sie es nicht wüssten, sondern weil sie es wollen. Sie entscheiden sich gegen den Anstand, ganz bewusst.

Ok, Lindner! Du willst für Deutschland keine neuen Schulden machen. Nicht, weil Du nicht verstehen würdest, dass dies für unsere Wehrhaftigkeit unausweichlich ist – sondern weil Du weißt, dass es so ist, es aber nicht verantworten willst. Aus Angst vor den Illusionen Deiner Wähler/innen hast Du Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Es ist Zeit für einen Aufbruch

Es ist Zeit für einen Aufbruch. Politik und Gesellschaft brauchen eine neue Idee, einen breiten Konsens der Gutwilligen: Den wehrhaften Anstand. Anstand ist die Grundlage von allem, was uns wichtig ist:

Der Frieden, in dem wir seit siebzig Jahren leben, verdanken wir den Anständigen und ihrem Militär, mit dem sie die deutschen Nazi-Verbrecher vertrieben.

Die Freiheit, die halb Deutschland seither und ganz Deutschland seit 35 Jahren genieß, hat der Westen geschenkt bekommen. Der Osten hat sie ohne Gewalt erkämpft – ein wahrer Aufstand der Anständigen gegen die Stasi-Schergen.

Unseren Wohlstand haben sich die meisten von uns anständig erarbeitet, aber es gäbe ihn nicht ohne die Schuld, mit der unsere Vorfahren und wir Millionen anderer Menschen ausgebeutet und unsere natürlichen Lebensgrundlagen massiv geschädigt haben. Dies zu erkennen, zu benennen und zu ändern – das ist anständig.

 

Hier fünf unbequeme Vorschläge, wie wir zu wehrhaftem Anstand kommen:

Mehr Resilienz für die Anständigen

Wir Anständige sind im Recht, lasst Euch nicht verunsichern! Es ist unanständig, ein Nachbarland zu überfallen oder zu bedrohen. Es ist unanständig, den politischen Diskurs mit Gewalt, Lügen und Simplifizierungen zu durchtränken. Eine anständige Gesellschaft muss sich das nicht gefallen lassen. Sie braucht mehr Widerstandskraft nach innen und außen. Der Staat muss robuster auftreten, klar die Wahrheit benennen, mehr investieren in Sicherheit und Wehrhaftigkeit, aber auch in breite (politische) Bildung. Wir alle sollten aktiv eintreten für eine anstandsbasierte Kultur der Kommunikation.

Anstand erträgt keine Armut

Es ist nicht anständig, den eigenen Reichtum als unteilbar zu betrachten. Viel zu viele Menschen auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland, leiden reale Not, während andere gar nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Dieser Zustand ist unanständig und unerträglich. Ein legitimes Mittel dagegen ist staatlich gelenkte Umverteilung, beispielsweise durch Steuern. Früher waren Steuern eine unanständige Ausbeutung durch die Obrigkeit. Bis heute versuchen Ideologen, dieses Zerrbild auch auf das legitime Interesse des modernen Staates anzuwenden. Aber das ist falsch: In den Demokratien von heute ist Umverteilung ein notwendiges Instrument auf der Suche nach Gerechtigkeit. Wer sich ihm entzieht, wer es diskreditiert, handelt unanständig.

Anständige sind keine politischen Gegner

Wer den Anstand wahrt, ist kein Gegner. Die Anständigen im demokratischen Spektrum dürfen ihre Kräfte nicht im Streit mit den falschen Gegnern verschleißen.  Konservative sind nicht automatisch Populisten, so wie Grüne nicht immer Besserwisser sind. Anständige, gesprächsbereite Konservative sind keine Gefährder der Demokratie. Radikale und Populisten dagegen wollen Probleme zum eigenen Nutzen lieber vergrößern, anstatt mitzuhelfen, sie zu lösen. Das ist unanständig, und muss genau so bezeichnet und bekämpft werden.

Das Grundgesetz setzt politischen Anstand voraus

Es ist höchste Zeit, den Anstand wehrhaft zu machen. Gewalt, Lügen, radikale Vereinfachungen wider besseren Wissens und demokratieschädliche Tricksereien zielen auf die Grundlagen unseres demokratischen Zusammenlebens. Sie beabsichtigen, die Gesellschaft dumm zu machen und die demokratische Prozesse des Staates zu zersetzen. Jeder Blick in soziale Medien zeigt, wie tief dieses Gift bereits eingesickert ist. Wer da mitmacht, verstößt gegen die Idee des Anstandes, wie ihn das Grundgesetz für den politischen Raum voraussetzt. Auch hier ist wehrhafter Anstand gefordert – notfalls mit einem Verbotsverfahren.

Wer zu Unanständigkeit schweigt, macht sich mitschuldig

Jede und jeder kann zu wehrhaftem Anstand in einer Gesellschaft der demokratischen Resilienz beitragen, kann täglich gegen die Zersetzungskräfte der Billighändler der politischen Niedertracht eintreten – in der Arbeit, in der Familie, im Verein, in der Nachbarschaft. Wer schweigt, wenn der Anstand verletzt wird, macht sich mitschuldig.

 

Über Anstand hat der Autor Axel Hacke ein ganzes Buch geschrieben: „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ – das ich zur Lektüre sehr empfehle.

Die Idee für meinen Texteinstieg „Ok, Amerika!“ verdanke ich einem gleichnamigen Podcast von ZEITonline, mit dessen Hilfe ich viel besser verstanden habe, wie der Wahlkampf in den USA verlief und warum er das bekannte Ende nahm.

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Artikel Siebenunddreißig und Vierundachtzig

Über Populismus im Föderalismus – und zwei heimliche Stars des deutschen Grundgesetzes

Fabian Hinrichs als „Volksbürger“-Ministerpräsident. (Screenshot von der ARTE-Aufzeichnung)

Man solle doch regieren nach „gesundem Menschenverstand“, sagen Politikerinnen und Politiker – und auch viele Wählende – immer dann, wenn sie sich der Komplexität der Dinge verweigern möchten. Es sei doch ganz einfach, es müsse sich „was ändern im Land“, „die Mehrheit“, „das Volk“ habe in der Demokratie doch ein Anrecht darauf, dass ihr Wille geschehe.

Es sind diese Floskeln des Populismus, die Raum greifen im gesellschaftlichen Diskurs, und denen zu widersprechen schwerfällt. Wer sollte schon etwas haben gegen „Vernunft“, auch wenn jederfrau und -mann weiß, dass jedes seine eigene „Vernunft“ hat. Und heißt denn Demokratie nicht tatsächlich, dass die Macht vom Volk, und damit letztlich von dessen mehrheitlichem Willen ausgeht?

Föderalismus heißt oft: Bund beschließt, Land setzt um

Wohin das führen kann, ist ansatzweise im Freistaat Bayern zu besichtigen. Dort gibt es bekanntlich einen Ministerpräsidenten, der bei jeder Gelegenheit behauptet, die Bundesregierung würde sein Land benachteiligen. „Es dauert nicht lange“, schreibt zum Beispiel die Allgäuer Zeitung über Söder-Auftritte, „und schon ist die Rede vom Vorwurf, der Bund mache bewusst dem Freistaat das Leben schwer.“ Söder sage dann gerne: „Es soll bewusst der Norden bevorzugt und der Süden benachteiligt werden“, oder nennt es gar eine spürbare „Anti-Bayern-Stimmung“, die sich schon darin zeige, dass es keine Bundesminister aus Bayern gebe.

Nun sieht das Grundgesetz vor, dass in vielen Bereichen der föderalen Struktur in Deutschland der Bundestag unter jeweils gestaffelt strenger Mitwirkung der Länderkammer Gesetze erlässt, und diese in der Regel durch die Landesbehörden umzusetzen sind. Ein Beispiel: Man muss kein Freund der neuen Cannabis-Gesetzgebung sein (wie z.B. der Autor dieser Zeilen), man kann auch aus guten Gründen der Überzeugung sein, dass sie nicht den Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht und vielleicht sogar gegen den gesunden Menschenverstand verstößt – das Gesetz ist trotzdem gültig. Bei der nun folgenden Umsetzung durch Landesbehörden gibt es freilich einen Spielraum. „Wer mit Cannabis glücklich werden will, ist anderswo besser aufgehoben als in Bayern“, sagte Söder schon im Februar. Laut BR24 werde Bayern das Gesetz „extremst restriktiv“ anwenden. Später ergänzte der Ministerpräsident Söder: Der Freistaat soll „kein Kiffer-Paradies“ werden, was die Frage aufwirft, ob diese Gefahr je bestanden hätte. Alles das mag an der Grenze zwischen einer legitimen politischen Positionierung einer Landesregierung und ihrer Verpflichtung zur regelkonformen Umsetzung eines Bundesgesetzes liegen. Gegen den restriktiven bayerischen Kurs in dieser Sache regt sich inzwischen Widerstand, eine Klage dagegen wurde gerade angekündigt.

„Der Volksbürger“ regiert nach dem Prinzip „Freistaat first“

Was aber, wenn ein Land sich ganz und gar weigern würde, ein Bundesgesetz umzusetzen? Auf ARTE ist dies noch bis 2.10.2027 anschaulich, unterhaltsam und sehr lehrreich zu besichtigen. Gezeigt wird die Aufzeichnung eines Theaterereignisses, das Ende September im bekannten großen Saal der Bundespressekonferenz stattfand. Als „Politische Farce“ bezeichnet sich das zweistündige Stück, und der Titel lautet: „Der Volksbürger“. Gespielt vom famosen Fabian Hinrichs wird dort der jung-dynamische Ministerpräsident eines nicht näher bezeichneten „Freistaats“ gezeigt, der nach dem Prinzip „Freistaat first“ seine Landtagswahl mit absoluter Mehrheit gewinnt und sich dann tatsächlich daran macht, die bundesgesetzlich vorgegebenen Regelungen zum Ausländerrecht durch Nicht-Umsetzung ins Leere laufen zu lassen. Die betroffenen Menschen werden entweder obdachlos oder suchen sich ein anderes Bundesland zur Geltendmachung ihrer Rechte, wären also gewissermaßen „anderswo besser aufgehoben“ – um noch einmal Söder in anderem Zusammenhang zu zitieren.

Dabei ist dieser vom Schauspieler Hinrichs interpretierte, smarte Politik-Charakter kein unsympathischer Radikalinski, sondern ein charismatischer, sich seiner Außenwirkung allzu bewusster Populist, der das hässlich Konkrete im Vagen lässt, sein Volk glauben lässt, er hätte die Macht, vieles zu verwirklichen, was (früher) der Stammtisch und (heute) das Netz als „gesunden Menschenverstand“ palavert. Er müsse im Interesse seines Volkes dem „moralischen Gesetz“ folgen, nicht dem „Gesetz zwischen Aktendeckeln“.

Eitle Medien, Lokalpolitiker ohne Rückrad

Zu erleben ist auch allerhand nebenbei. Wie etwa die Medien zwar zunächst Freude daran haben, Aufmerksamkeit auf die rechtswidrige Praxis im „Freistaat“ zu lenken, mit der langfristigen Strategie des regierenden „Volksbürgers“ aber überfordert sind in ihrer Sucht nach der schnellen Schlagzeile. Oder: Wie der Politikbetrieb im Land sich blitzschnell nach den jeweils neuen, realen Machtverhältnissen ausrichtet wie die Nägel auf einen Magneten.

Allerdings: Der Rechtsstaat wehrt sich. Wie müsste die Bundesregierung in einem solchen Fall vorgehen (denn noch nie hat es diese Notwendigkeit wirklich gegeben)? Die Eskalation endet in einer Auseinandersetzung auf Messers Schneide, und wie sie ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Das zu Recht so viel gelobte deutsche Grundgesetz hat 146 Artikel, und es ist ein gutes Zeichen für den Zustand unserer Demokratie, dass der gesunde Menschenverstand der großen Mehrheit der Volksbürger in Deutschland die meisten davon nicht zu kennen braucht. Das gilt auch für die Artikel 37 und 84 GG.

Aber dass es sie gibt, das ist auch ein gutes Zeichen.

 

Den Film finden Sie auf  ARTE hier, aber auch in den Mediatheken von ZDF und 3sat.

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Kelly, „Kretsch“ und der Kampf um Kompromisse

Drei aktuelle Sichten auf die Partei „Die Grünen“

Petra Kelly und Winfried Kretschmann: Zwei Grüne. Gleich alt. Gleich leidenschaftlich. Gleich kämpferisch. Aber wofür? (Fotos: Bildersturm Filmproduktion / Archiv Grünes Gedächtnis, Heinrich-Böll-Stiftung; Staatsministerium Baden-Württemberg)

Petra Kelly und Winfried Kretschmann, grün-intern häufig „Kretsch“ genannt, wären fast gleich alt, würde Kelly noch leben. Geboren wurde Petra Kelly im November 1947, ein halbes Jahr später der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Was sie verbindet: Beide stammen aus Süddeutschland, beide haben Anteil gehabt an der Gründung der Partei der Grünen, und beide verbinden sich mit einem großen Kampf um das Richtige. Was ist aus ihren Zielen geworden?

Erste Sicht: „Akt Now!“

Der Kinosaal ist schütter besetzt, vielleicht zwanzig Grauköpfe verteilen sich auf die dreifache Zahl an Kinosesseln. Gezeigt wird „Act now“, der soeben angelaufene Film über die grüne Ikone Petra Kelly. Nachgezeichnet wird ihr Lebensweg, ihre ans Fanatische grenzende Leidenschaft, mit der sie zur weltweit bekannten Aktivistin für mehr Gerechtigkeit, für Frieden, Feminismus und den Schutz der Natur wurde. Vielleicht war sie auch eine der ersten, die den Zusammenhang zwischen diesen Themen erkannte. Sie spricht in größter Geschwindigkeit, um so viele Worte wie möglich in die Zeit zu pressen, die ihr zum Sprechen bleibt. Kelly jettet um die Welt, hier zu den entrechteten Indianern, dort zu den Aktivisten gegen die Kernkraft. Sie fordert Honecker zum Abrüsten auf und demonstriert zu Hause gegen die Stationierung von Atomwaffen.

Die tragischen Lebensdaten der Petra Kelly sind bekannt: Mit ihr entstanden die Grünen und zogen erstmals im Jahr 1983 in den Bundestag ein; Kellys Lachen, ihr Charisma, ihre Leidenschaft waren das wichtigste Gesicht der Grünen in dieser Zeit. Aber bald zerlegten sich Partei und Fraktion in rivalisierende Grüppchen, Petra Kelly wurde immer mehr als unberechenbarer Störfaktor in der von ihr selbst geschaffenen Bewegung empfunden, als sperrig, und der Streit führte dazu, dass die westdeutschen Grünen bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Jahr 1990 wieder aus dem Parlament flogen. Kelly, deprimiert und erschöpft, wurde schließlich – so der Stand der heutigen Erkenntnisse über die Vorgänge, die niemand bezeugen kann – von ihrem fast 25 Jahre älteren Lebensgefährten, dem zur Friedenbewegung gewechselten ehemaligen Bundeswehr-General Gerd Bastian, ermordet, der sich anschließend selbst richtete.

Der Film „Act now!“ zeichnet diese Geschichte nach, betrachtet aber vor allem Petra Kelly aus der heutigen Perspektive. Kelly als Vorbild für Aktivisten von heute, für Fridays for Future, für den Widerstand in Lützerath. Was kann man von ihr lernen: Kelly lacht, Kelly hat eine unverwechselbare, lebendige Ausstrahlung, sie ist ikonenhaft im Aussehen, sofort wieder-erkennbar und faszinierend gewinnend in ihrer rasenden, getriebenen Leidenschaft. Kelly gibt nie Ruhe, kümmert sich um alles, setzt sich für politische Gefangene ein, nimmt jedes Schicksal persönlich, egal welches und wo auf der Welt, kennt keine Prioritäten und auch keine Kompromisse. Eine Koalition mit anderen Parteien, sagt sie, die komme für sie nicht in Frage – da müsste sie ja Abstriche machen von dem, was sie für unverzichtbar, für nicht verhandelbar halte; Abstriche von dem, wofür sie doch streite mit aller Macht. Nein, sie könne in keine Koalition eintreten.

So war das am Anfang bei den Grünen.

Zweite Sicht: Noch immer ist nicht „alles gesagt“

Kein Vergleich zum Kelly-Film: Der Saal ist ausverkauft. Mehr als 1000 Menschen haben sich zusammengefunden, vor allem sehr junge. Der Altersschnitt des Publikums liegt geschätzt höchstens bei dreißig, und sie alle haben Eintritt bezahlt. Ein Podcast wird aufgenommen, der erst endet, wenn nach Meinung des Gastes „alles gesagt“ ist. Der Gast ist Winfried Kretschmann. Security sichert das Podium ab und kontrolliert die Taschen am Eingang. Dann erzählt der „erste grüne Regierungschef der Welt“ (so die veranstaltende ZEIT), der heute 76-jährige Kretschmann davon, wie er zu den Grünen kam. Das Sektierertum hatte er während seines Studiums in maoistischen K-Gruppen zur Genüge kennengelernt, sich dem gnadenlosen Fanatismus ausgesetzt gesehen, der dort herrschte. Davon, so Kretschmann, sei er nach dieser Erfahrung für alle Zeit geheilt gewesen. Als er dann 1979 bei den Grünen begann, als Gründungsmitglied des Südwest-Landesverbandes, da war ihm klar: Gegen die Ausbreitung solchen weltverbessernden Fanatismus werde er sich zur Wehr setzen. Der Weg dorthin war lang, sagt Kretschmann, und er war ein Kampf, „ein mehr als zehnjähriger Kampf“.

In jeder Hinsicht ist dieser alte Mann ein krasses Gegenstück zur jungen Frau des Grünen-Anfangs: Ein kampferprobter Held des Realistischen sitzt da auf der Bühne, spricht leise und langsam, wägt seine Worte und dehnt seine Sätze, das Gesicht gefurcht und gezeichnet von den ungezählten Kompromissen, die er hat eingehen müssen in seinem politischen Leben. Man vertrete niemals die Wahrheit, mahnt er die Moderatoren des Abends, man werbe immer nur für die eigene Sicht der Dinge. Wäre es anders, wäre die eigene Sicht die Wahrheit, dann würden ja die anderen lügen.

Sicher gäbe es Lügen in der Politik, in letzter Zeit mehr denn je, und das müsse man auch so benennen und bekämpfen. Aber die eigene Sicht bleibe immer nur ein Werben, niemals der Anspruch auf die Wahrheit.

So ist das heute bei den Grünen.

Dritte Sicht: „Kopf hinhalten“ oder Kämpfen?

Die jungen Erben der wilden Petra Kelly haben zufällig am gleichen Tag, da das Auditorium nach fünf Stunden dem alten Mann der Grünen stehend applaudierten, ihren Austritt aus der Partei erklärt. Der Vorstand der Grünen Jugend will eine „neue, linke Jugendorganisation gründen“. „Wir glauben,“ schreiben die jungen Nicht-mehr-Grünen, in bester Kelly-Leidenschaft, „dass eine grundsätzlich andere Gesellschaft möglich wird, wenn wir es schaffen, einen Zusammenschluss all derer zu bewirken, für die ein ‚Weiter so‘ keine Option ist.“  Und weiter: „Ob Lützerath, das 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr, die Asylrechtsverschärfungen oder die Sparpolitik: Wir sind nicht länger bereit, unseren Kopf für eine Politik hinzuhalten, die wir falsch finden.“

„Den Kopf hinhalten“ für Kompromisse? Da sind welche unterwegs, die in Kretschmanns Sinn die alleinige Wahrheit für sich beanspruchen. Die sich nicht mehr abfinden wollen mit Differenzierungen. Auf diesem Feld der gefahrlosen Besserwisserei werden sie nicht alleine sein, da tummeln sich bereits einige – allen voran die Wagenknechte, die mit dem Versprechen von Kompromisslosigkeit („Krieg oder Frieden“ – „Maulkorb oder Meinung“) gerade erst in drei ostdeutschen Bundesländern so viele Stimmen eingefangen haben, dass sie nun zu Kompromissen gezwungen sein werden. Ob sie wohl dann der Fluch der Beliebigkeit heimsuchen wird, die Last des Konkreten, der Verantwortung des mühseligen Handelns an der Macht statt des bequemen Forderns im Publikum – der Kampf also, der dem alten Kretschmann die tiefen Furchen ins Gesicht gezeichnet hat?

Petra Kelly musste – und konnte – sich dieser Herausforderung niemals stellen. Wäre sie nicht tot – vermutlich ermordet worden – welchen Weg hätte sie dann wohl genommen? Winfried Kretschmann jedenfalls kämpft noch immer. Schlechte Umfragen? Aufgeben ist für ihn keine Option. Aber zuhören, überzeugen, nachdenken.

Und kämpfen – für das Mögliche, sagt er, nicht für die Wahrheit.

 

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„Act Now!“ läuft derzeit in Programmkinos. Eine Liste der Orte, an denen der Film gezeigt wird, finden Sie hier. 

Der Podcast „alles gesagt“ mit Winfried Kretschmann wurde am 25. September 2024 vor Publikum in Stuttgart aufgenommen und ist kostenlos online abrufbar. 

Der Aufruf der „Grünen Jugend“ findet sich auf der Website zeitfuerwasneues2024.de

 

 

 

Das Hakenkreuz auf der Wartburg

Ein Plädoyer für tätige Hoffnung nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen

Der erste Versuch

Zweimal haben sie es versucht, und beide Male haben sie gelogen. Fake News gehörten schon damals zum Alltagswerkzeug der Faschisten. Sie streuten das Gerücht, der Unterbau des Kreuzes auf der Burgturm müsse überprüft werden, das Kreuz drohe herabzustürzen, da Fäulnis die Tragfähigkeit des hölzernen Fundaments angegriffen habe. Die Burgverwaltung protestierte, aber es nutzte ihr wenig: In einer Nacht- und Nebel-Aktion  wurde das Kreuz abmontiert und durch ein Hakenkreuz ersetzt.

Auf dem höchsten Punkt der Wartburg prangt ein goldenes Kreuz – als Symbol für Freiheitssinn und geistige Größe. Es gab Zeiten, in denen es ersetzt wurde. (Foto: Jürgen lizenzfrei auf Pixabay)

 

Dieser Vorgang ereignete sich tatsächlich, und zwar am 10. und 11. April 1938 auf dem Bergfried der Wartburg nahe der thüringischen Stadt Eisenach. Die Wartburg war schon damals weltberühmt, vor allem, weil sie Martin Luther zehn Monate lang als Versteck diente, er also Asyl genoss in Thüringen, und damit vermutlich seinem Tod entging. Nebenbei übersetzte er in dieser Zeit die Bibel auf Deutsch.

Jede gute Lüge hat einen realen Hintergrund

Das Kreuz wurde dem Turm im Jahr 1859 aufgesetzt – als weithin sichtbares Zeichen für die zuvor abgeschlossene Rekonstruktion der Burgruine zur Prachtburg. Heute ist sie  das weltbekannte Wahrzeichen für zwei zentrale deutsche Ideen: Die der Reformation und die eines geeinten Deutschlands, wie es von den Studenten auf der Wartburg im Jahr schon 1817 gefordert worden war.

Drei Tage lang strahlte das Nazi-Symbol auf der Wartburg, dann wurde es auf Weisung aus Berlin wieder abgebaut. (Foto: Leffler, gefunden auf DDR-postkartenmuseum.de)

Jede gute Lüge hat einen realen Hintergrund, was sie vielleicht glaubwürdiger, aber nicht wahr macht. Die thüringischen Nationalsozialisten machten sich bei ihrer Hakenkreuz-Aktion zu Nutze, dass tatsächlich zwanzig Jahre zuvor das Kreuz vorübergehend eingelagert worden war, um sein vermoderndes Holzpodest zu erneuern. 1938 aber ging es in Wahrheit nicht um das Podest, sondern um das Kreuz. Der Austausch gelang, und drei Tage lang belästigte das beleuchtete Nazi-Symbol Tag und Nacht die Umgebung. Die Vollendung dieser Verschandelung feierte ein Marsch von Hitlerjugendlichen durch Eisenach, aber in der Bevölkerung formierte sich Widerstand gegen das Hakenkreuz, vor allem auch die evangelische Kirche protestierte.

Dann kam die Anordnung aus Berlin, dass das Hakenkreuz zu entfernen sei. Hitlers Regierung wollte nach dem gerade vollzogenen „Anschluss“ Österreichs keinen außenpolitischen Ärger wegen des Thüringer Kreuzes. Die Verbreitung von Fotos und Presseartikeln über das falsche Kreuz wurde verboten. Noch am nächsten Tag verschwand es vom Turm, und am 14. Mai 1938 war der alte Zustand wieder hergestellt. So endete der erste Versuch.

Was die Geschichte des Kreuzes lehrt

In unseren Tagen leuchtet das vergoldete, christliche Kreuz auf der Wartburg, fünf Meter hoch, tief hinein in den Thüringer Wald, und für alle, die seine Botschaft verstehen möchten, auch weit darüber hinaus als imposantes Zeichen von Freiheitssinn und geistiger Größe. Nicht ohne Wirkung, denn zwei Drittel der Wählenden in Thüringen und Sachsen haben am vergangenen Sonntag den Fake News unserer Zeit widerstanden – und nicht blau-braun gewählt. Der Kleingeist des anderen Drittels, auf billige Lügen zu hören und einfache Unwahrheiten zu glauben,  ist bestürzend genug. Aber die Geschichte des wiedererstandenen Kreuzes auf der Wartburg lehrt: Was auch immer Menschen durch Lügen an Verbrechen und Verheerungen anrichten, wie lang und schwer auch immer die Zeit ihrer dummen Kraftmeierei ist –  danach gewinnt die Wahrheit.

Denn erstens sind diejenigen, die bereit sind, die Komplexität unserer Welt zu verstehen und unsere Werte im Umgang damit zu verteidigen noch immer in der großen Mehrheit – und zum anderen wird das Geschrei der politischen Billighändler zwar schmerzhaften Schaden anrichten – aber kein einziges Problem lösen. Mehr Lehrende für bessere Bildung, mehr Pflegende für ein würdiges Alter, mehr Polizei für ein besseres Sicherheitsgefühl – sie alle fallen nicht vom Himmel. Der Mangel an Fachkräften wird nicht geringer, sondern größer, wenn deutsche wie nicht-deutsche Menschen die verödenden Gebiete meiden, in denen sich dumpfe Ressentiments sammeln. Folgen dieser fehlenden Attraktivität sind das traurige Sterben der Infrastruktur, die geschlossenen Läden in den überalterten Kleinstädten und Dörfern, der fehlende Bus, der Mangel an Hausärztinnen, die Schließung von kleinen Krankenhäusern. Alles das können Herr Höcke und Frau Wagenknecht zwar beklagen, aber sie lügen, wenn sie behaupten, dass sie es mit ihren Vorschlägen aufhalten könnten.

Kein Plädoyer für Passivität, sondern für tätige Hoffnung

Die Klimakatastrophe wird sich nicht abschwächen, weil sie geleugnet wird. Die Hitzewellen werden heißer werden und die Überschwemmungen höher. Den Atommüll wollen auch die Thüringer nicht in ihrem Wald vergraben, und in Sachsen kein neues Atomkraftwerk bauen.

Wenn es schließlich weit genug ist, dann wird die Wahrheit gewinnen. Dies ist kein Plädoyer für Passivität, sondern eines für tätige Hoffnung. Sie beginnt mit der Wahrnehmung der Wahrheit, die uns umgibt. Sie bedeutet aktives Eintreten gegen die Lüge, gegen die Gewalt, die bedenkenlose Verachtung in Sprache und Tat.  Sie gründet sich auf die Werte für das menschliche Zusammenlebens, für die auch das Kreuz der Wartburg steht. In seinem Schatten muss sich niemand schämen, dafür einzutreten, Menschen in Not zu helfen, egal, woher sie kommen.

Der zweite Versuch

Es ist diese wuchtige Botschaft, wegen der die Nazis das Kreuz auf der Wartburg unbedingt zerstören wollten. Den zweiten Versuch unternahmen sie ein halbes Jahr vor Kriegsende im November 1944. Wieder musste eine Propagandalüge herhalten: englische Jagdbomber hätten das Kreuz beim Tiefflug zerstört. In Wahrheit war es mit Schneidbrennern zerteilt und demoliert worden. Zum geplanten, erneuten Ersatz durch ein Hakenkreuz kam es nicht mehr. Amerikanische Truppen besetzten Thüringen, und ein Eisenacher Kunstschlosser schweißte die Trümmer zu einem neuen Kreuz zusammen, das (etwas verspätet zum 400. Todestag von Martin Luther am 18. Februar) im November 1946 wieder auf dem Turm der Wartburg stand.

Da war Thüringen bereits von russischen Soldaten besetzt, aber weder sie, noch die atheistisch orientierte DDR tastete das Kreuz jemals wieder an. Mehrfach erhielt es seither eine neue Goldschicht, und so strahlt es bis heute, und erzählt von der Hoffnung auf die Macht der Wahrheit.

 

 

Die Geschichte vom Hakenkreuz auf der Wartburg habe ich auf Wikipedia und bei domradio.de gefunden.

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Der junge Mann auf dem Blechdach

Warum es keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten geben darf

„Du sollst nicht töten“ – Das fünfte christliche Gebot vermittelt eine einfache Botschaft. Ist noch Platz dafür in einer verrohenden Gesellschaft? Foto: Bruno, lizenzfrei via Pixaby

Der junge Mann liegt auf dem Blechdach und ist tot. Um ihn herum ist die ganze Welt in Aufruhr, denn der junge Mann hat kurz zuvor einen Schuss abgefeuert, der das Ohr des ehemaligen Präsidenten der USA traf. Vermutlich hatte Thomas Matthew Crooks die Absicht, Donald Trump mit einem Kopfschuss zu töten. Nur sehr glückliche Umstände haben das verhindert, eine spontane Kopfdrehung seines Opfers, vielleicht eine Unkonzentriertheit, das Unvermögen oder eine Ablenkung des Schützen. Ein Besucher von Trumps Wahlkampfveranstaltung hatte nicht solches Glück; er wurde tödlich getroffen, da er in der Schussbahn saß.

Wem gilt das Bedauern? Ganz gewiss diesem Besucher, der Trump zujubeln wollte und das nicht überlebt hat. Auch Trump, denn auch er, trotz allem Hass und aller Spaltung, für die er verantwortlich ist, muss nicht hinnehmen, ermordet zu werden. Aber gilt das Bedauern auch dem Schützen?

Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage

Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage. Sie zeigt sich nicht nur in dem tödlichen Bestreben des Attentäters, dem Leben von Donald Trump gewaltsam ein Ende zu setzen, warum auch immer. Sie zeigt sich auch in dem Fehlen von Innehalten, im Ausbleiben von öffentlich wahrnehmbarem Bedauern über den Tod des jungen Mannes auf dem Blechdach. „Der Attentäter wurde durch Scharfschützen getötet“, meldeten die Agenturen lapidar. Sein Tod wird wie selbstverständlich hingenommen.

Osama Bin Laden hatte tausende Menschen auf dem Gewissen. Sie verbrannten, wurden erschlagen und verschüttet in den Ruinen der zusammenstürzenden Türme von New York am 11. September 2001. Hat er den Tod „verdient“? Als amerikanische Spezialeinheiten ihn zehn Jahre später aufspürten, machten sie kurzen Prozess mit ihm – besser: gar keinen Prozess. Sie töteten ihn. Seine Leiche warfen sie ins Meer, damit kein Grab übrigbleiben möge von dem Massenmörder.

Aus dem Nahost-Konflikt kennen wir die Pushmeldungen über gezielte Tötungen, und wir schauen kaum noch auf. Israel wehrt sich gegen seine Todfeinde, tötet regelmäßig diesen oder jenen Kämpfer, Kommandeur, General. Sie sind die Verantwortlichen dafür, dass Juden um ihr Leben fürchten müssen, auch jetzt wieder, sogar in ihrem eigenen Staat, zuletzt beim brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023. Diese Menschen haben selbst getötet und hatten vermutlich kein Bedauern mit ihren Opfern. Dürfen wir sie deshalb auch einfach töten? Festnahme, Prozess, Rechtsstaatsverfahren? Offensichtlich keine Optionen im Anblick des allseitigen Hasses.

Die Attentäter auf Kennedy und Reagan wurden noch verhaftet

Die gesellschaftlichen Veränderungen zeigen sich auch in der rigiden Hinnahme solcher final-tödlicher Gewalt als erste, nicht mehr als letzte Option. Die Attentäter auf  John F. Kennedy und Ronald Reagan wurde noch festgenommen, die Mörder von John Lennon und Martin Luther King ebenfalls und blieben Jahrzehnte im Gefängnis. Und auch jener psychisch kranke Mann, der am 12. Oktober 1990 auf Wolfgang Schäuble geschossen hatte und ihm damit ein Weiterleben im Rollstuhl aufzwang, wurde überwältigt und in einer psychiatrischen Klinik behandelt.

Wahrscheinlich kann es keine Welt geben ohne das Töten von Menschen durch Menschen. Was aber möglich scheint, ist eine Welt, in der dieses Töten von Zaudern, Skrupeln und Bedauern begleitet wird. Eine Welt, in der das Töten – auch eines offenkundig Schuldigen – nicht als selbstverständlich hingenommen wird. Es könnte eine Welt sein voller Bedauern über das Versagen, über die traurige Unmöglichkeit, das Leben dieses Menschen nicht geschont zu haben.

„Du sollst nicht töten“ – Die Botschaft ist einfach

Wer will einem Soldaten verübeln, dass er sein angreifendes Gegenüber tötet, wenn er sich doch gewiss sein muss, dass dieser ihm andernfalls das Leben nehmen wird? Und ähnliches dürfte auch für den Mann mit Gewehr auf dem Blechdach gelten, der auf Trump anlegt. Was anderes soll der Scharfschütze des Secret Service mit ihm machen – außer den „finalen Rettungsschuss“ zu setzen? Vielleicht so zielen, dass der Schütze am Leben bleibt, aber unfähig wird, weitere Schüsse abzugeben? Welches Risiko bedeutet das für den Präsidenten, wenn es misslingt?

„Du sollst nicht töten“, das fünfte christliche Gebot, hat eine einfache klare Botschaft: Das Töten ist verboten, es ist eine Ultima Ratio, kein Spaß, nichts, an das wir uns gewöhnen dürfen. Es ist niemals „gerecht“, zu töten.

Verrohung als Denk- und Geschäftsmodell

Nichts am Töten ist leichtfertig zu erledigen, das weiß jeder Vernünftige. Das industrielle Töten der Tiere, die vom Lebewesen zur Nahrung werden sollen, wird an Orte ausgelagert, die niemand sieht und Menschen überlassen, die kaum jemand kennt. So kauft sich eine Gesellschaft frei von der Verrohung, die mit dem Töten einhergeht. Noch schlimmer: Die Verrohung ist zum Denk- und Geschäftsmodell geworden. Gesellschaftliche Spaltung, kommerziell ausgebeuteter Hass, dümmlich bis krankhaft ausgeübte Rechthaberei, virale Verschwörungsblasen, Egoshooter-Spiele und (vor allem in den USA) Waffenverfügbarkeit haben das Verbot des Tötens längst relativiert.

Es gilt, der gedankenlosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten Einhalt zu gebieten: „Spiele“, die auf dem lustvollen Töten basieren, sind kein Spaß. Filme, die das Töten zur Unterhaltung degradieren, muss man nicht ansehen. Postings, die unverhohlene Freude über den Tod Andersdenkender ausdrücken, gehören gelöscht. Und Nachrichten, die das Töten als selbstverständlichen Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit darstellen, sind mangelhaft.

Denn jeder fremde Tod bringt immer auch den eigenen näher. Vergesst das nicht.

 

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