Hurra, die Ampel ist weg! – Ein Szenario

Hurra, die Ampel ist weg! Und wie geht es dann weiter?

Es begann damit, dass sich Mitte Februar 2024 die Generalsekretäre der mitregierenden FDP und der oppositionellen CDU weitgehend gleichlautend äußerten. Die FDP strebe eine gemeinsame Regierung mit der Union an, sagte ihr Generalsekretär, das sei besser für das Land als die derzeitige Rollenteilung, nach der die FDP ihren Regierungspartnern Grüne und SPD immer die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft erklären müsse. Die Union sei zur Übernahme der Verantwortung bereit, antwortete sein Kollege der CDU, sie habe das bessere Personal und die überzeugenderen Konzepte für die schwierigen Zeiten, in denen man derzeit feststecke und noch dazu schlecht regiert würde. Die bayerische CSU hatte sich ohnehin bereits seit längerem für Neuwahlen ausgesprochen.

„Lieber nicht regieren, als schlecht.“

FDP und Union ließen sich in ihren Überlegungen nicht davon beirren, dass sie nach allen Umfragen weit von einer gemeinsamen Mehrheit im Parlament entfernt wären. In Berlins Hinterzimmern breitete sich rasend ein Fieber aus. Die Union witterte die Chance zur schnellen Machtübernahme, zumal ihrem Vorsitzenden Merz bei einer vorgezogenen Bundestagswahl die Rolle des Kanzlerkandidaten kaum zu nehmen wäre. Auch die CSU hatte ein Interesse an baldigen Wahlen. In diesem Fall würde eine schon beschlossene Änderung des Wahlrechts (von der die CSU sich bedroht fühlte) nicht mehr rechtzeitig in Kraft treten. Eine dazu anhängige Klage beim Bundesverfassungsgericht würde nicht schnell genug entschieden werden.

In der FDP schließlich, gefangen in blanker Verzweiflung ob ihrer stabil unter fünf Prozent  liegenden Umfragewerte, wuchs die Überzeugung, mit einem zuspitzenden Wahlkampf könne man den eigenen Untergang eher abwenden als durch einen Verbleib in der ungeliebten „Ampel“. „Lieber nicht regieren, als schlecht regieren“, sagte ihr Vorsitzender.

Im Land herrschte zudem zweifellos allgemeiner Unmut über die „Ampel“. Es war schick, das Dreierbündnis unter Führung des wortkargen Kanzlers Scholz zu beschimpfen. Bauern blockierten Straßen und Plätze mit sperrigen Traktoren, Wirtschaftsverbände schrieben Brandbriefe, Gewerkschaften streikten allerorten. Die Stimmung war schlecht, und FDP und Union hofften, davon politisch zu profitieren.

Die FDP fand alsbald im Frühjahr 2024 einen Anlass – die sinkende Konjunkturprognose und den Streit darüber, wie ihr ohne neue Schulden zu begegnen wäre -, um aus der ungeliebten Ampel-Koalition auszusteigen.

Die FDP-Minister erklärten ihren Rücktritt

Die FDP-Minister erklärten also mit ernsten Mienen und düsterem Verweis auf die schwere Verantwortung für das Land ihren Rücktritt. Der amtierende Bundeskanzler Scholz stellte im Bundestag die Vertrauensfrage, verlor sie erwartungsgemäß, da die FDP-Abgeordneten gegen ihn stimmten. Der Bundespräsident löste entsprechend dem Grundgesetz den Bundestag auf. Im Juni 2024, zeitgleich zur Europawahl, sollte es Neuwahlen geben. Die Bevölkerung sagte im „Politbarometer“ zu 70%, dass sie das gut findet.

Nun war die Ampel erst einmal weg. SPD und Grüne regierten bis zur Wahl ohne Mehrheit geschäftsführend weiter, und das Volk staunte, dass es plötzlich zwischen den Regierenden und ihren Parteien kaum noch Streit zu vermelden gab. Beide Parteien profitierten davon in den Umfragen. Insgesamt aber überschattete der Wahlkampf die Tagespolitik: Der amtierende Kanzler versicherte dem Volk, dass nur unter seiner Führung in der aktuellen Welt voller Krisen mit Verlässlichkeit zu rechnen sei. Die Plakate zeigten den Kanzler mit nur drei Worten: „Maß und Mitte“. Und siehe da: Ein wachsender Teil der Bevölkerung begann ihm wieder zu vertrauen, obwohl sie ihn noch wenige Wochen zuvor mit minimalen Zustimmungswerten in Umfragen abgestraft hatten.

Ein ruppiger Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild

Die Union konzipierte einen ruppigen, zuspitzenden Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild. Die Parteien der „Ampel“-Regierung seien allesamt unfähig und in ihrer Inkompetenz eine Gefahr für das Land. In den Umfragen konnten CDU und CSU mit dieser Strategie auch noch zwei Wochen vor der vorgezogenen Bundestagswahl ihren Abstand von etwa zehn Prozentpunkten vor der Partei des Kanzlers, der SPD, verteidigen. In den persönlichen Sympathiewerten bleib der Kanzlerkandidat Merz allerdings zurück, vor allem bei Frauen und jungen Menschen war er nicht besonders beliebt.

Die FDP kämpfte um ihr politisches Überleben. Sie erstritt sie sich mit einem klaren Bekenntnis gegen neue Schulden und für sinkende Steuern in den Umfragen einen halbwegs stabilen Umfrageplatz knapp oberhalb der fünf Prozent.

Die rechtsradikale AfD und die neu gegründete Partei von Sahra Wagenknecht überboten sich mit populistischen Einfältigkeiten und teilten sich ihre Wählerpotential von zusammen etwa 25 Prozent auf.

Das Ergebnis: Die Union siegte

Als schließlich der Wahltag kam, flimmerte das folgende Ergebnis über die hochsommerlich erhitzten Bildschirme:

Die CDU/CSU gewann die Wahl mit 26 Prozent. „Gegen uns kann keine Regierung gebildet werden“, jubelte Merz am Wahlabend. Aber am nächsten Morgen bereitete das Ergebnis allerdings allgemeines Kopfzerbrechen. Die Kanzlerpartei SPD hatte aufgeholt, bleib aber bei 22 Prozent stecken. Die Grünen konnten wenig mehr als ihre eigenen Stammwähler mobilisieren und landeten bei 13 Prozent. Die FDP jubelte: Sie erreichte mit 8 Prozent wieder den Bundestag. Außerdem zogen in das Parlament ein: Die AfD mit 16 und die Wagenknecht-Partei mit 6 Prozent. Alle anderen Parteien, darunter auch Die Linke und die Freien Wähler gingen leer aus. Die Linke gewann in Berlin ein einziges, und die FW in Bayern zwei Direktmandate.

Die Sommerpause im politischen Berlin fiel aus. Die Union konnte Merz nur in einer Dreierkoalition zum Kanzler machen. Eine Zusammenarbeit mit der AfD hatte sie ausgeschlossen, also musste sie zwei der drei anderen demokratischen Parteien zu Partnern erwählen. Für eine „links-grüne“ Mehrheit unter Führung der SPD fehlten die Mandate, zumal die SPD eine Zusammenarbeit mit Sahra Wagenknecht ablehnte.

„Soziale Politik im freien Staat“, hieß das Motto

Nach wochenlangen Sondierungen und internen Auseinandersetzungen innerhalb der Union und in der SPD entschieden sich CDU/CSU für eine Koalition mit SPD und FDP. „Soziale Politik im freien Staat“, stand über dem Koalitionsvertrag. Merz wurde im Oktober zum Bundeskanzler gewählt. Das 100-Tage-Programm sah vor: Keine neuen Schulden, keine höheren Steuern, umfassende Waffenhilfe für die Ukraine, dauerhafte Stärkung der Bundeswehr, ein zusätzliches Sondervermögen für den Wohnungsbau, Aufhebung des sog. „Heizungsgesetzes“.

Die politische Fachpresse in Berlin schlug die Hände über dem Kopf zusammen: Wie sollte das funktionieren? Und schon im November, bei der finalen Verhandlung für den Haushalt 2025, zeigten sich die gravierenden Risse innerhalb der neuen Koalition. Die FDP beharrte auf einem Einhalten der Schuldenbremse und schlug zur Finanzierung von Bundeswehr und Ukraine-Hilfe massive Kürzungen bei den Renten vor, was die SPD entschieden ablehnte. Wie geplant stieg zudem der CO2-Preis weiter an, verteuerte Benzin und Gas. Soziale Kompensationen dafür waren abgeschafft worden, genauso wie die Förderung von ökologisch orientierten Investitionen. Der Einbau von Wärmedämmung, Solaranlagen und Wärmepumpen stagnierte.

Heftiger Frost im Dezember, Bomben auf die Ukraine

Im Dezember gab es – gegen den Trend der letzten Jahre – heftigen Frost. Über Weihnachten zeigte das Thermometer zwei Wochen lang unter minus 10 Grad tagsüber. Die Gasspeicher leerten sich rapide, und ihre Auffüllung ließen die Gas- und anderen Energiepreise in die Höhe schießen. Die Inflation stieg wieder an. An dieser Entwicklung war die neue Regierung zwar schuldlos, trotzdem protestierten Autofahrer und Hausbesitzer heftig. LKW-Unternehmer schlossen sich an, auf wichtigen Autobahnen rollte im Januar tageweise nichts mehr.

Russland intensivierte zeitgleich seinen Bombenkrieg gegen die Ukraine. Heftiger Bombenhagel ging auf Kiew und die ukrainischen Großstädte im Westen des Landes nieder. Die katastrophalen Folgen lösten einen neuen Flüchtlingsstrom nach Deutschland aus. Vor allem Frauen und Kinder flohen vor den Zerstörungen in ihrer Heimat, und die deutschen Kommunen erklärten erneut, sie könnten die Unterbringung nicht mehr gewährleisten. Trotz dieser Ausnahmesituation beharrte die FDP auf der Schuldenbremse.

Die neue Regierung war noch nicht einmal ein halbes Jahr im Amt, als sie in ein noch nie dagewesenes Umfragetief rutschte. „Merz muss weg!“, skandierten die hupenden Lastwagenfahrer im Chor mit wütenden Rentnern. DGB und VdK mobilisierten in Großdemonstrationen. In den Umfragen profitierten von der rebellischen Stimmung die Radikal-Parteien AfD und BSW, sowie die Grünen in der Opposition. 70% der Bevölkerung stimmten der Aussage zu: „Mit dieser Regierung bin ich unzufrieden.“

Dann ein Interview im „Bericht aus Berlin“

Der Generalsekretär der SPD gab dem „Bericht aus Berlin“ im Februar 2025 ein Interview: Er wünsche sich eine Zusammenarbeit mit den Grünen, da müsse man nicht immer allen anderen die soziale Komponente der Marktwirtschaft erklären. Die Parteiführung der Grünen antwortete prompt: Man stehe zur Verfügung. Am besten auf dem Weg über baldige Neuwahlen.

 

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Micha geht wählen – Ein modernes Märchen (26. September 2021)

Später Nachmittag, Ende September in Deutschland. Tür auf, raus aus dem Haus, links um die Ecke. Jetzt geradeaus bis zur nächsten Straße. Micha steckt in Schlabberhosen, lockerem T-Shirt und hat wirre Haare. Und er weiß nicht so recht, wie ihm geschieht. Er hat es eilig, und noch dazu hat er einen sonderbaren Gesellen im Schlepptau – oder treibt ihn dieser unpassend gekleidete Begleiter nicht eher vor sich her? Wie ist es dazu nur gekommen?

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Für Georgios hatte der Tag schon sehr früh begonnen. Das war nicht ungewöhnlich, denn tagsüber brannte die Sonne gnadenlos vom attischen Himmel. Es war wichtig, die kühlen Morgenstunden zu nutzen für die schwere Feldarbeit oder – wie heute – für den Weg in die Stadt. Georgios wollte nach Athen, rechtzeitig, bevor die Ekklesia begann. Perikles sollte eine Rede halten, und das war ein besonderes Ereignis. Um dorthin zu kommen, musste Georgios vier Stunden laufen, hinweg über staubige Wege, hindurch zwischen den Weinbergen, vorbei an Bettlern, vorbei an den Tempeln. Heute hatte er keine Zeit, den Göttern zu opfern. Er musste auf die Agora, denn heute war Volksversammlung.

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Micha hatte einen faulen Sonntag-Nachmittag verbracht, bis es geklingelt hatte. Das Nachmittags-Fußballspiel war eben erst beendet, Abpfiff nach drei Minuten Nachspielzeit. Aber dann machte es „Ding-dong“. Vor der Tür war ein sonderbarer Fremder gestanden, ein Mann mittleren Alters, gestutzter Bart, in langem weißem Gewand. Es war eigentlich nur ein Tuch, ähnlich wie es indische Frauen als bunte Sahris tragen, kunstvoll gewickelt, aber in Weiß. Gerafft war das Tuch über die rechte Schulter. Die linke lugte blank hervor, und das jetzt im Herbst, dachte sich Micha, so warm ist es doch auch wieder nicht. „Ich bin auf dem Rückweg“, sagt der sonderbare Fremde, „das sind noch fast vier Stunden Fußweg.“ Manfred schaute dem Bärtigen ins Gesicht, perplex über dessen Erscheinung, und hatte keine Idee, was er zu diesem Überraschungsbesuch sagen könnte. „Vielleicht etwas zu trinken?“, fiel ihm schließlich doch noch ein.

„Nein, Danke,“ winkte der Fremde ab, „wir haben dafür keine Zeit.“ Seine Stimme klang angenehm, klar, auch selbstbewusst. „Wissen Sie, den ganzen langen Weg habe ich nur wegen meiner Stimme auf mich genommen“, setzte der Fremde hinzu, „nur damit sie nicht verfällt.“

„Und – und was kann ich sonst für Sie tun?“ stotterte Micha.

„Für meine Stimme bin ich so weit gelaufen, Stunde um Stunde,“ antwortete der rätselhafte Fremde, „da wirst Du doch die paar Meter hier zum Wahllokal schaffen“. Fordernd zeigte er in eine bestimmte Wegesrichtung. „Aber beeil Dich, Du hast nicht mehr viel Zeit.“

Ja, heute war Wahlsonntag. Eigentlich hatte Micha per Briefwahl abstimmen wollen, wie das zurzeit fast alle taten. Aber erstens hatte er es verduselt, den Antrag abzuschicken. Und zweitens war er ohnehin unsicher, was oder wen er eigentlich wählen sollte. Die dauernden Wahlsendungen, die Plakate überall und die Posts auf Facebook – das alles hatte ihn schwer genervt in letzter Zeit. Keine Ahnung, für oder gegen wen er da stimmen sollte. Irgendwie war es auch egal, fand Micha. Ihm ging es gut, er hatte eine kleine, aber auskömmliche Rente, das Häuschen war abbezahlt, die Kinder verdienten ihr eigenes Geld. Weniger Steuern wären erfreulich, klar. Aber Micha machte sich auch keine Illusionen: Weniger Steuern machen den Staat arm, und irgendwer muss ja seine Rente und die Schulen und Straßen bezahlen. Also werden die Steuern ohnehin nicht sinken und wegen der Steuern muss er dann auch nicht zum Wählen gehen. Mindestlohn interessierte ihn auch nicht mehr. Und das mit dem Klima verstand er sowieso nicht. Also hatte er erst heute Morgen den Brief mit der Wahlbenachrichtigung in den Papierkorb geworfen, zu spät für eine Briefwahl. Und was würde seine Stimme schon ausmachen?

„Es ist nicht selbstverständlich, dass man eine Stimme hat, mein Freund,“ hörte Micha den Fremden jetzt sagen, als könnte er Gedanken lesen. Seine strenge Autorität blieb bei Micha nicht ohne Wirkung. Verwirrrt kramte er den Umschlag wieder aus seinem Abfall, schlüpfte in seine Schuhe und stapfte los.

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Der griechische Politiker Perikles (gest. 429 v. Chr.) gilt aus Vordenker und Konstruktuer der Athener Demokratie (Hier eine Statue von der Fassade der Glytothek, München).

Georgios war stolz auf sein Bürgerrecht. Deshalb nahm er es alle paar Wochen es auf sich, den langen heißen Weg in der frühen Morgensonne hinter sich zu bringen. Als vollwertiger Bürger von Attika durfte er in Athen abstimmen und wählen. Seine Stimme zählte. Georgios fand es wichtig, dass nicht nur die fettleibigen Städter ihre Stimme abgaben, sondern auch die hart arbeitenden Bauern vom Land rund um die Hauptstadt. Als er die Agora erreichte, herrschte dort schon reges Treiben, hunderte Bürger hatten sich versammelt, um zu diskutieren und abzustimmen. Der Rat hatte dafür gesorgt, dass es eine Ordnung gab in diesem Durcheinander. Aufmerksam hörte er die mitreißende Rede von Perikles. Und die Gegenreden anderer Athener Bürger. Aber Georgios wusste auch: Die Städter hatten vieles schon vorab besprochen. Wie bei jeder Versammlung dominierten diejenigen, die hier jeden Tag lebten, die sich in den Gassen der Hauptstadt absprechen konnten, die täglich palaverten in den Tavernen, die sich auf dem Markt begegneten und nebenbei Politik machten. Viele der Diskussionen verstand er auch gar nicht richtig, aber er stimmte nach bestem Wissen mit.

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So kam es, dass Micha jetzt unterwegs ist. In seinen Sandalen schlurft der Fremde hinter ihm her, das weiße Gewand schleift auf dem Asphalt. Den Weg zum Wahllokal kennt Micha gut, er war ihn schon tausendmal gegangen, nicht zum Wählen, sondern raus zu den Sportplätzen am Ortsrand. An der Straßenecke links, vorbei an der Flüchtlingsunterkunft, die vor ein paar Jahren gebaut worden war. Stammt der Fremde von dort? Nein, eher nicht, denkt sich Micha. Die Menschen in der Unterkunft sehen fremdländisch aus, aber so eigenartig wie der Mann im gewickelten Tuch denn doch nicht.

Jetzt muss Micha die Straße überqueren, vorbei an der Schranke, die dafür sorgt, dass es keinen Durchgangsverkehr gibt im schönen Wohnviertel. Micha wendet sich um, der Fremde folgt ihm auf Schritt und Tritt. auf. Schließlich bleibt Micha stehen, und sieht dem Kauz mit der Toga mitten ins Gesicht. „Wer bist Du eigentlich und warum willst Du mir vorschreiben, wohin ich gehe?“

Der Fremde bleibt ruhig, seine Hand macht eine nach vorne wedelnde Bewegung – Los, geh weiter!, soll sie wohl bedeuten. „Du verlierst Zeit, mein Freund. Du hast nur noch fünf Minuten.“

Also setzt Micha seinen Weg fort, rechts abbiegen, jetzt den Fußweg am Wald entlang, links vorbei am Kindergarten. Rechts die Schule, die seine Kinder besucht hatten. Weiter vorne lugt das große Automobilwerk hervor, in dem Micha gearbeitet hatte.

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Als Georgios bei Sonnenuntergang seinen Rückweg antrat, wieder vier Stunden zurück in sein Dorf, da dachte er an seine Frau und seine Kinder, die ihn fragen werden, ob es das wieder Wert gewesen sei? Ein ganzer Tag in Stadt, statt auf den Feldern, bei den Tieren? Georgios wusste, wie er antworten würde: So viele Menschen in den anderen Städten des Peloponnes, in Sparta zum Beispiel, wären dankbar, wenn sie eine Stimme hätten. Niemand sonst kennt eine Herrschaft des Volkes. Überall regiert das Schwert der Mächtigen. Nur als Bürger Attikas bin ich nicht despotischen Entscheidungen ausgeliefert. Ich entscheide selbst mit!

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„Du willst wissen, wer ich bin?“, hört Micha jetzt den Fremden sagen. „Es ist nicht einfach zu erklären, weil aus Deiner Zeit bin ich nicht. Aber ich bin attischer Bürger, und wir Athener sind stolz auf unsere Demokratie. Aber von einem freien, gleichen Wahlrecht, wie Ihr es heute habt, können wir zu unserer Zeit nur träumen. Frauen dürfen nicht mitstimmen, und auch nur solche Männer, die ein Bürgerrecht besitzen. Und das blieb auf der ganzen Welt noch fast 2500 Jahre so.“

Ah, ein Grieche! Einer aus dem Erfindervolk der Demokratie! Endlich konnte Micha den seltsamen Begleiter einordnen. Aber wie konnte der Bärtige das alles wissen? War er 2500 Jahre alt? Die Begegnung blieb rätselhaft.

„Ihr habt es wirklich weit gebracht im Vergleich zu uns,“ hob der Grieche wieder an. „Neidisch bin ich nicht nur auf Eure glatten Straßen und großen Schulen und prächtigen Fabriken, sondern auch auf Euer Stimmrecht.“ Noch ein paar Schritte, schon kommt die Gastwirtschaft in den Blick, heute Michas Wahllokal. „Klingt doch ganz einfach, oder?“ fragt der Toga-Mann. „Jeder erwachsene Mensch wählt in seinem Land, wo er Staatsbürger ist, frei, gleich, geheim. Egal, ob Mann oder Frau, egal ob reich oder arm, egal ob von Adel oder nicht, ob Arbeiter oder Professor, egal was er glaubt oder denkt. Jede Stimme zählt gleich. Und es gibt feste Regeln, wann und wen man wählen kann.“

„Ja eben,“ antwortet Micha. „Klare Sache. Was regst Du Dich so auf?“

Da kommt Leben auf in dem rätselhaften Fremden. Er springt an Micha vorbei, das Tuchgewand wirbelt herum. Der Grieche stellt sich Micha in den Weg: „Eine klare Sache nennst Du das? Wir haben es erfunden, aber damit es so ist wie heute, musste über Jahrhunderte gekämpft werden, dafür sind Menschen eingekerkert worden und gestorben!“, schnauzt er Micha jetzt an. „Und was machst Du? Du schmeißt Deinen Wahlbrief einfach in den Papierkorb.“

Kopfschüttelnd tritt der Bärtige zur Seite. „Nun mach schon, die Zeit läuft!“ Micha blickt auf seine Uhr: eine Minute vor sechs. Mit wenigen Schritten stürmt er in das Wahllokal. „Jetzt aber schnell“, lacht die Wahlhelferin, als er den Raum betritt. Resopaltische, Sperrholzkabinen, an der Decke Hochzeitsgirlanden für vergangene und künftige Feste. Rein in die Kabine, zwei Kreuze gemacht. Plötzlich hat Micha keine Zweifel mehr: na klar, dorthin gehören sie, die Kreuze. Und schon verschwindet der Zettel sorgsam gefaltet im Schlitz des grauen Kastens. Geschafft!

„18 Uhr!“ ruft der Wahlvorstand in den Raum. Micha tritt heraus, blickt sich um. Der Fremde ist verschwunden.

 

Mehr Informationen über die attische Demokratie hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Attische_Demokratie

 

 

 

Deutschland gemeinsam machen (13. September 2021)

Ein Essay über den Wahlkampf-Claim der CDU – aus meiner Mini-Serie als #PolitikFlaneur über die Wahlkampf-Slogans der drei Kanzlerkandidaten-Parteien

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Was ist das Beste im Mann?

Chips auf dem Sofa, das Bier im Anschlag: Ein Ehepaar guckt Fernsehen. Schon zum wiederholten Male schlägt sie in der Werbepause die Hände über dem Kopf zusammen. „Wie kann man sich nur so klein machen!“ ruft sie aus und blickt ihren Mann fragend an. Gerade hat ein Rasierklingen-Hersteller für seine Produkte geworben. Glatt und reibungslos gleitet die Klinge über das Kinn des Mannes, keine Chance für Bartstoppeln. Dazu der Slogan: „Für das Beste im Mann“.

„Wie kann man nur!“, ereifert sie sich, „die blöden Bartstoppeln sind doch nicht das Beste an Euch Männern!“ Er ist gelangweilt. Die Diskussion haben die beiden schon zig-mal geführt. „Darum geht es doch gerade, dass Du Dich aufregst, dass Dir das in Erinnerung bleibt“, wendet er müde ein. „Du denkst beim ‚Besten im Mann‘ natürlich nicht an Barthaare, sondern an was anderes, was auch immer, aber jedes Mal, wenn es wieder kommt, denkst Du an die Rasierklingen …“

Eine spontane Umfrage ohne Anspruch der Repräsentativität zeigt, dass der zentrale Werbeclaim der CDU nicht Gefahr läuft, eine vergleichbare Diskussion auszulösen. Die wenigsten Befragten kennen ihn, obwohl er auf fast jedem CDU-Plakat stand, das bis September zu sehen war. Der Slogan der CDU lautet: „Deutschland gemeinsam machen“.

Eine Aktivität vortäuschende Selbstverständlichkeit

„Die Zeit ist schlecht?“, fragte der schottische Essayist Thomas Carlyle (1795 – 1881) vor 150 Jahren, und gab gleich auch die Antwort: „Wohlan. Du bist da, sie besser zu machen!“ Aber der Spruch der CDU lautet eben nicht „Deutschland besser machen“ – sondern einfach nur „machen“. Kann man Deutschland „machen“? Ist das überhaupt erforderlich, denn eigentlich war es doch schon immer da, oder? Ist es vielleicht sogar schon fertig? Die Fragen zeigen, auf welche Komplexität der auf den ersten Blick inhaltlich eher einfallslose Claim der CDU-Kampagne zur Bundestagswahl einzahlt. „Deutschland gemeinsam machen“ ist so etwas wie eine  Aktivität vortäuschende Selbstverständlichkeit. „Machen“ tun wir alle ständig irgendwas, wir „machen“ den Abwasch oder „machen“ die Tür zu und wieder auf. Etwas „machen“ ist eine aktive Handlung, und darauf will die CDU wohl hinweisen, sie verspricht, nicht einfach nur zu warten, das etwas geschieht, sondern sie will etwas „machen“.

Abgesehen davon, dass dies ja wohl das Mindeste ist, was wir von unseren Politikern erwarten – bleibt die Frage: Was eigentlich? „Deutschland“ kann man nicht mehr „machen“, Deutschland ist in Jahrtausenden gewachsen, ist vielfach gefallen in Ruinen und aus diesen wieder auferstanden, hat sich in Stolz und Überheblichkeit geirrt und Demut gelernt. Bei allem Respekt für die CDU: Diese Partei wird Deutschland so wenig „machen“ wie es andere tun können. Die Union hat prägenden Anteil daran, dass Deutschland heute so ist, wie wir darin leben. Aber das gilt für viele. Deutschland kann man nicht machen, Deutschland gibt es so, wie es ist.

Fertigmachen? Weitermachen?

Natürlich ist Deutschland trotz allem, was da schon gemacht wurde, nicht „fertig“. „Ich habe fertig“, sagte in einer berühmt gewordenen Pressekonferenz des FC Bayern Giovanni Trapattoni, drehte sich um, und ging hinaus, damit es keine Chance für die Journalisten gab, ihm Fragen zu stellen. Aber fertig war er trotzdem nicht, er musste noch weitermachen, bis die Bayern ihn aus dem Amt jagten. Die CDU will nicht herausgejagt werden aus dem Kanzleramt, und deshalb Deutschland gemeinsam – ja was? Fertigmachen? Nein, das passt nicht. Besser machen, wie Carlyle vorschlägt? Hört sich nicht toll an nach 16 Jahren CDU-Kanzlerschaft. Vielleicht ist „Weitermachen“ gemeint. Sehr dynamisch klingt auch das nicht, „Weitermachen“ hat so etwas von langweiliger Kontinuität, und deshalb haben die Werbestrategen der Union vermutlich das „weiter“ gestrichen, obwohl es inhaltlich so gemeint  sein dürfte.

Nun will die CDU nicht einfach Deutschland „weitermachen“, sie will es „gemeinsam“ tun. Gemeinsam mit uns Bürgern, gemeinsam mit der ganzen Gesellschaft, mit allen, die mitmachen wollen. Das klingt nach einem einladenden Angebot, ist aber eine demokratische Selbstverständlichkeit.

„Deutschland gemeinsam machen“ ist ein missglückter Allgemeinplatz. Vielleicht deshalb findet sich auf der Website der CSU der Spruch nicht. Das gemeinsame Wahlprogramm von CDU und CSU steht unter dem ebenfalls wenig originellen Motto „Gemeinsam für ein modernes Deutschland“, und auf den neuesten Wahlplakaten der CDU ist auch nichts mehr zu lesen vom gemeinsamen Machen.

Mit sprachlichen Belanglosigkeiten verkauft man nichts

Sprache ist verräterisch. Wenn die Union aus der Wahl mit einem schlechten Ergebnis herauskommen sollte, wird sie nachdenken müssen, ob es ihr selbstbezogenes Denken ist, das da zu sehr aus ihrem Slogan herauslugt. Die Parteien der konkurrierenden Kanzler-Kandidaten nehmen zumindest sprachlich in ihren zentralen Claims „Respekt für Dich“ (SPD) und „Bereit, weil Ihr es seid“ (Grüne) nicht sich selbst, sondern den Adressaten von Politik, das Wahlvolk in den Blick. Von der Idee des „gemeinsam machen“ dürfte sich die Wählerin oder der Wähler eher nicht direkt angesprochen fühlen. Eine Nebensächlichkeit? Ja, vielleicht. Aber die Bartstoppeln sind ja auch nebensächlich und nicht das Beste im Mann. Für jeden Kandidierenden ist derzeit das Beste am Wähler oder der Wählerin die Wahlstimme. Mit sprachlicher Belanglosigkeit wird sie schwer zu bekommen sein, genauso wie man damit keine Rasierklingen verkaufen kann.

 

Hier der Link zum gemeinsamen Wahlprogramm der CDU/CSU: https://www.ein-guter-plan-fuer-deutschland.de/

 

Dieser Beitrag gehört zu einer dreiteiligen Serie, die sich mit den zentralen Wahlkampf-Claims der drei Parteien beschäftigt, die einen Kanzlerkandidaten aufgestellt haben. Hier die Links zu den anderen Beiträgen: 

Respekt für Dich (SPD)

Bereit, weil Ihr es seid (Grüne)

Respekt für Dich (13. September 2021)

Ein Essay über den Wahlkampf-Claim der SPD – aus meiner Mini-Serie als #PolitikFlaneur über die Wahlkampf-Slogans der drei Kanzlerkandidaten-Parteien

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Drei Szenen aus einer Welt der Respektlosigkeit

Später Nachmittag. Lang reiht sich die Schlange der müden Arbeitsmenschen, der ermatteten Väter und Mütter mit quengelnden Kindern zwischen den Regalen. Ungeduldig wird gerufen: „Zweite Kasse aufmachen!“. Ein genervtes Stöhnen geht durch die Reihe, als die zweite Kassenkraft ihre Schranke aufklappt. Manche, die dran sind mit beim Bezahlen, halten den Betrieb auf, weil sie telefonieren, während sie missmutig und unkonzentriert Scheine und Münzen herauskramen. Kaum jemand nimmt den Menschen wahr, der an der Kasse sitzt und ihnen damit gerade dabei hilft, dass abends etwas zu essen auf dem Tisch steht.

Im letzten Moment hat sie hingesehen, die ältere Dame in der Großstadt, die sich mit müden Beinen zum Einkauf in den Laden geschleppt hat. Nun geht es zurück nach Hause, schwer trägt sie an den zwei Tüten, die ihr das Leben für den Rest der Woche sichern werden. Im letzten Moment hat sie erkannt, dass da ein Hindernis quer auf dem Gehweg liegt. Eine ideale Stolperfalle in idealer Höhe: der e-Roller, achtlos stehengelassen, vielleicht dann umgekippt, versperrt den Weg. Viele sind schon über ihn hinweggestiegen, ohne einzugreifen. Im letzten Moment erkannt, nochmal gut gegangen, aber es hätte übel enden können: Ein Schritt später, ein Sturz weiter, ein Krankenhauaufenthalt mehr … weil andere nicht nachdachten.

Die Praktikantin hatte sich Mühe gegeben. All ihr Wissen hatte sie gezeigt und ihren ganzen Einsatz herausgekramt, bis tief in die Nacht hatte sie recherchiert und getippt und korrigiert und wieder getippt und nochmal nachgesehen. Denn es war ja so eilig. „Spätestens heute Abend!“ hatte es geheißen. Aber jetzt ist es schon Mittag und ihre Chefin meldet sich nicht. Seit Stunden liegt der Konzeptvermerk in ihrem E-Mail-Briefkasten. Schließlich will es die Praktikantin wissen und ruft an: „War das ok? Soll ich noch etwas daran ändern?“, fragt sie die Vorgesetzte. „Was, worum geht es?“, schnappt diese zurück, hörbar genervt. „Ach Dein Vermerk, ja den schaue ich mir mal an, wenn ich Zeit habe. Hab´ jetzt Wichtigeres zu tun. Und so eilig ist es ja nicht.“

„Schmierstoff“ des gesellschaftlichen Miteinanders

Dies sind Szenen aus einer Welt der Respektlosigkeit. Der Wunsch nach Respekt im Arbeitsleben zwischen den Kolleg/innen und von oder gegenüber Führungspersonen ist nach Umfragen größer als der Wunsch nach einem besseren Gehalt. Die Idee der Scholz-/SPD-Kampagne, den Begriff „Respekt“ und das Versprechen „Respekt für Dich“ zu zentralen Ankern im Bundestagswahlkampf zu machen, ist daher klug und nachvollziehbar. Wir alle wünschen uns Respekt, wir sind verletzt, wenn es im Umgang mit uns an Respekt mangelt. Das Fehlen von Respekt nimmt uns gegenseitig die Lebensfreude, macht den Alltag trübe und kühl. Respekt ist der „Schmierstoff im gesellschaftlichen Miteinander“, sagt in einem sehr klugen Podcast des Bayerischen Rundfunks (Link siehe unten) Nils van Quaquebeke, ein Hamburger Professor für Psychologie, der sich seit Jahren mit dem Thema Respekt beschäftigt hat.

Kann ein Respekt-Versprechen politisches Programm sein? „Aus Respekt vor Deiner Zukunft“, lauten die ersten Zeilen des SPD-Wahlprogramms. Und gleich danach verspricht es Einsatz für eine „Gesellschaft des Respekts“. Auch listet es gleich eine Reihe von Maßnahmen auf, die je nach politischem Standort als geeignet bewertet werden mögen, für mehr gegenseitigen Respekt in unserer Gesellschaft zu sorgen. Aber im engeren Sinne können nur wir selbst dafür sorgen, den Blick für ein Lächeln an der Supermarktkasse zu heben; nur wir können den liegengebliebenen Roller aufheben und zur Seite stellen, anstatt darüber hinwegzusteigen. Oder Wertschätzung für die Arbeit zu zeigen, die für uns erledigt wird, im Job, aber auch gegenüber dem Paketboten in der zweiten Reihe, gegenüber der Müllabfuhr, den Arbeitern auf der Straßenbaustelle, auch wenn sie uns gerade aufhalten.

Respekt ist politische Kultur, kein Programm

Dass Politiker/innen Respekt haben und zeigen sollten gegenüber den Wählenden, ist Grundlage der demokratischen Ordnung (was übrigens auch umgekehrt gilt: Das Ausmaß an Respektlosigkeit, das relevante Teile der Öffentlichkeit gegenüber Politiker/innen zeigen, ist bodenlos.). Der einzelne Bürger mag die eine politische Entscheidung mehr oder weniger „respektvoll“ für sein Alltagsleben und gegenüber seinen eigenen Interessen empfinden als die andere – von der Grundidee des „respektvollen Dienens“ der Politik gegenüber den Bürgern sollte im Idealfall jede davon getragen sein. Unsere Interessen sind unterschiedlich, und wir sollten ihnen im politischen Prozess allesamt voller Respekt begegnen – aber keine Politik wird alle Interessen befriedigen können. Man kann es noch so eilig haben – jede Ampel muss einmal rot haben und uns aufhalten, damit andere vorankommen können. Dann ist der Respekt vor den Interessen des anderen gefordert. Respekt ist ein wichtiger Baustein der politischen Kultur – aber kein politisches Programm.

„Wie hältst Du es mit dem Klima, Olaf?“

Und wie ist das mit dem „für Dich“ in dem Claim der SPD? Olaf Scholz bietet dem Bürger auf seinen Plakaten einfach mal so locker das „Du“ an. Nach den auch heute noch gültigen Knigge-Regeln ist das in mehrfacher Hinsicht problematisch.  Die Dame hat Vortritt, und unter Männern der Ältere. Und er müsste eigentlich fragen, und das nicht einfach verordnen. Eine Respektlosigkeit? Vielleicht, wenn auch eine zeitgemäße. Immer mehr Unternehmen reden alle ihre Kunden mit „Du“ an, und auch im Arbeitsalltag breitet sich die lockere Anrede immer weiter aus. In der SPD duzen sich die Genossen  untereinander ohnehin. Auch die Grünen haben in ihrem Claim „Bereit, weil Ihr es seid“, den Du-Plural gegenüber den Bürgern gewählt (übrigens im Süddeutschen durchaus üblich, auch wenn man sich sonst siezt – zum Beispiel in einer Gruppe: „Seid´s Ihr noch im Biergarten oder sind Sie schon wieder im Büro?“).

Ob Olaf Scholz so locker ist, wie der Spruch vermuten lässt, wäre zu beobachten, wenn ein Nicht-SPD-Mitglied in der nächsten TV-Talkrunde den Bundesfinanzminister und Vizekanzler auch einfach mal duzen würde: „Wie hältst Du es mit dem Klima, Olaf?“ Bei der ARD-Wahlarena hat sich das niemand getraut. Scholz wäre vermutlich professionell genug, das auszuhalten, ohne mit der Mine zu zucken. Die Öffentlichkeit würde es aber als unhöfliche Respektlosigkeit einordnen, vielleicht sogar als fragwürdige Vertrautheit. Insofern gilt: „Respekt für Dich“ gilt auch gegenüber dem Kanzlerkandidaten.

 

Eine gute und ausführliche Definition des Begriffs „Respekt“ ist hier zu finden: https://www.respectresearchgroup.org/respekt/definition/

Der hörenswerte Podcast von BR-Wissen zum Thema Respekt ist hier zu finden: https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/respekt-grundpfeiler-des-miteinander/33176

Das Wahlprogramm der SPD ist hier zu finden: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Programm/SPD-Zukunftsprogramm.pdf

Dieser Beitrag gehört zu einer dreiteiligen Serie, die sich mit den zentralen Wahlkampf-Claims der drei Parteien beschäftigt, die einen Kanzlerkandidaten aufgestellt haben. Hier die Links zu den anderen Beiträgen: 

Bereit, weil Ihr es seid (Grüne)

Deutschland gemeinsam machen (CDU)

Bereit, weil Ihr es seid (13. September 2021)

Ein Essay über den Wahlkampf-Claim der Grünen – aus meiner Mini-Serie als #PolitikFlaneur über die Wahlkampf-Slogans der drei Kanzlerkandidaten-Parteien

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Über die Bereitschaft

Der Augenblick, in dem alles bereit ist, ist ein ganz besonderes Momentum in unserem Leben. Wenn alle Geschenke bereitliegen, die Ungeduld ein Ende hat und die lichterglänzende Einbescherung endlich beginnen kann. Wenn das Orchester bereit ist, alle Töne gestimmt sind, das Publikum im Dunkel versinkt, und der Dirigent das Podium betritt. Wenn sich der Vorhang hebt und endlich das Schauspiel beginnt – weil jetzt alle dazu bereit sind.

Aber Bereitschaft ist auch eine Last: Jeden Tag sitzen Tausende Polizeibeamte in Deutschland in Wartesälen und Schlafräumen, und sind bereit dafür, einzugreifen, wenn es nötig ist. Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräfte, Notfalltechniker und viele andere Berufe geben uns mit ihrer Bereitschaft die Sicherheit, dass notfalls jemand da ist, wenn wir sie oder ihn brauchen. Wir hoffen, dass wir das nicht brauchen, und die Soldatin in Friedenszeiten, die Polizistin oder der Krankenpfleger im Bereitschaftsdienst hoffen ebenfalls, dass es bei der Bereitschaft bleibt und ihr kein Einsatz folgen möge. Am schönsten ist für alle, wenn die Nacht ruhig bleibt.

Ein Slogan von ausdrucksstarker Sperrigkeit

Es lohnt sich also darüber nachzudenken, was die Grünen eigentlich meinen, wenn sie über ihre eigene und unser aller Bereitschaft sprechen. Ihr zentraler Wahlkampfslogan „Bereit, weil Ihr es seid“ brennt sich mit seiner ausdrucksstarken Sperrigkeit ein in den Kopf. Das spricht zunächst einmal für die Werbeagentur, die ihn erfunden hat. Keine andere Partei, die im aktuellen Bundestagswahlkampf einen Kanzlerkandidaten stellt, hat ihren Claim so konsequent auf jedem Plakat, in jeder Werbung verwendet. Aus gutem Grund: „Bereit, weil Ihr es seid“ ist kein Motto, das in Beliebigkeit untergeht, kein Wiederholen des immer gleichen Geredes von „Zukunft“ und „Gestalten“. „Bereit, weil Ihr es seid“ ist eine Überraschung, hat sprachliche Widerhaken, ist mindestens im gleichen Umfang ein Appell wie ein Versprechen: Wer ist denn hier bereit? Und wofür?

„Ihr“, das sind ja wohl wir Deutschen. Ob wir bereit sind für die erforderliche, grundlegende Änderung unserer Gewohnheiten, damit wir die galoppierende Erderhitzung aufhalten, wird sich erst noch herausstellen. Schon verblassen die Bilder von den Folgen der Flutkatastrophe in unserem eigenen Land, von den Waldbränden, von den Hitzerekorden in den USA und Südeuropa. Ob es ausreichend Bereitschaft in unserer Wohlstandsgesellschaft gibt, etwas abzugeben vom eigenen Reichtum – das ist vorerst ungeklärt. Die sinkenden Umfragezahlen für die Grünen lassen eher wenig Optimismus zu. Aber nur so wird sich das Klima retten und damit verbunden die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich schließen lassen.

Sind wir bereit, dass die Einbescherung beginnt?

Am Anfang jeder Bereitschaft steht die Einwilligung in den möglichen Verzicht. Wer Bereitschaftsdienst hat, muss erreichbar bleiben, um einzugreifen, zu helfen, zu löschen, zu retten, auch wenn der Grill glüht oder die Fernsehserie spannend ist. Wer bei der Einbescherung das Geschenk aufpackt, kann sich nicht mehr auf etwas freuen, was er dann vielleicht gar nicht bekommt. Mit „Bereit, weil Ihr es seid“ unterstellen die Grünen unser aller Bereitschaft, endlich mit der Einbescherung zu beginnen. Vielleicht packen wir die entscheidenden Chancen für die Zukunft unseres Planeten aus, aber wir werden bereit sein müssen, dafür Opfer zu bringen.

Wer sonst könnte uns für den Verzicht gewinnen?

Auch ob die Grünen selbst dazu bereit, bleibt offen. In den ersten Wochen ihres Wahlkampfes hatten sie zunächst mit Fehlern zu kämpfen, die daran zweifeln lassen, ob sie bereit sind für viel größere Aufgaben. Schließlich geht es künftig nicht um Lebensläufe und Buchquellen, sondern darum, unsere Gesellschaft in eine Politik des notwendigen Verzichts hineinzuführen, damit wir die drohende Klimakatastrophe bei sozialer Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt noch abwenden. Andererseits ist auch nicht erkennbar, wer sonst als die Grünen die selbstzufriedenen Wohlstandsbürger in Stuttgart-West, Schwabing, Eppendorf oder am Prenzlauer Berg für die notwendige Hinwendung zum Verzicht gewinnen könnte.

Es ist nicht leicht, mit Ankündigungen von notwendigen Einschnitten erfolgreich Wahlkampf zu führen. Die Grünen spüren das und dürften es auch gewusst haben. „Bereit, weil Ihr es seid“ ist daher eine reichlich optimistische Analyse, aber auch ein eleganter Versuch, uns alle in den notwendigen Bereitschaftsmodus zu versetzen. Denn: Die Nacht wird nicht ruhig bleiben.

Hier geht es zum Wahlprogramm der Grünen: https://www.gruene.de/artikel/wahlprogramm-zur-bundestagswahl-2021

Dieser Beitrag gehört zu einer dreiteiligen Serie, die sich mit den zentralen Wahlkampf-Claims der drei Parteien beschäftigt, die einen Kanzlerkandidaten aufgestellt haben. Hier die Links zu den anderen Beiträgen: 

Respekt für Dich (SPD)

Deutschland gemeinsam machen (CDU)