Kelly, „Kretsch“ und der Kampf um Kompromisse

Drei aktuelle Sichten auf die Partei „Die Grünen“

Petra Kelly und Winfried Kretschmann: Zwei Grüne. Gleich alt. Gleich leidenschaftlich. Gleich kämpferisch. Aber wofür? (Fotos: Bildersturm Filmproduktion / Archiv Grünes Gedächtnis, Heinrich-Böll-Stiftung; Staatsministerium Baden-Württemberg)

Petra Kelly und Winfried Kretschmann, grün-intern häufig „Kretsch“ genannt, wären fast gleich alt, würde Kelly noch leben. Geboren wurde Petra Kelly im November 1947, ein halbes Jahr später der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Was sie verbindet: Beide stammen aus Süddeutschland, beide haben Anteil gehabt an der Gründung der Partei der Grünen, und beide verbinden sich mit einem großen Kampf um das Richtige. Was ist aus ihren Zielen geworden?

Erste Sicht: „Akt Now!“

Der Kinosaal ist schütter besetzt, vielleicht zwanzig Grauköpfe verteilen sich auf die dreifache Zahl an Kinosesseln. Gezeigt wird „Act now“, der soeben angelaufene Film über die grüne Ikone Petra Kelly. Nachgezeichnet wird ihr Lebensweg, ihre ans Fanatische grenzende Leidenschaft, mit der sie zur weltweit bekannten Aktivistin für mehr Gerechtigkeit, für Frieden, Feminismus und den Schutz der Natur wurde. Vielleicht war sie auch eine der ersten, die den Zusammenhang zwischen diesen Themen erkannte. Sie spricht in größter Geschwindigkeit, um so viele Worte wie möglich in die Zeit zu pressen, die ihr zum Sprechen bleibt. Kelly jettet um die Welt, hier zu den entrechteten Indianern, dort zu den Aktivisten gegen die Kernkraft. Sie fordert Honecker zum Abrüsten auf und demonstriert zu Hause gegen die Stationierung von Atomwaffen.

Die tragischen Lebensdaten der Petra Kelly sind bekannt: Mit ihr entstanden die Grünen und zogen erstmals im Jahr 1983 in den Bundestag ein; Kellys Lachen, ihr Charisma, ihre Leidenschaft waren das wichtigste Gesicht der Grünen in dieser Zeit. Aber bald zerlegten sich Partei und Fraktion in rivalisierende Grüppchen, Petra Kelly wurde immer mehr als unberechenbarer Störfaktor in der von ihr selbst geschaffenen Bewegung empfunden, als sperrig, und der Streit führte dazu, dass die westdeutschen Grünen bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Jahr 1990 wieder aus dem Parlament flogen. Kelly, deprimiert und erschöpft, wurde schließlich – so der Stand der heutigen Erkenntnisse über die Vorgänge, die niemand bezeugen kann – von ihrem fast 25 Jahre älteren Lebensgefährten, dem zur Friedenbewegung gewechselten ehemaligen Bundeswehr-General Gerd Bastian, ermordet, der sich anschließend selbst richtete.

Der Film „Act now!“ zeichnet diese Geschichte nach, betrachtet aber vor allem Petra Kelly aus der heutigen Perspektive. Kelly als Vorbild für Aktivisten von heute, für Fridays for Future, für den Widerstand in Lützerath. Was kann man von ihr lernen: Kelly lacht, Kelly hat eine unverwechselbare, lebendige Ausstrahlung, sie ist ikonenhaft im Aussehen, sofort wieder-erkennbar und faszinierend gewinnend in ihrer rasenden, getriebenen Leidenschaft. Kelly gibt nie Ruhe, kümmert sich um alles, setzt sich für politische Gefangene ein, nimmt jedes Schicksal persönlich, egal welches und wo auf der Welt, kennt keine Prioritäten und auch keine Kompromisse. Eine Koalition mit anderen Parteien, sagt sie, die komme für sie nicht in Frage – da müsste sie ja Abstriche machen von dem, was sie für unverzichtbar, für nicht verhandelbar halte; Abstriche von dem, wofür sie doch streite mit aller Macht. Nein, sie könne in keine Koalition eintreten.

So war das am Anfang bei den Grünen.

Zweite Sicht: Noch immer ist nicht „alles gesagt“

Kein Vergleich zum Kelly-Film: Der Saal ist ausverkauft. Mehr als 1000 Menschen haben sich zusammengefunden, vor allem sehr junge. Der Altersschnitt des Publikums liegt geschätzt höchstens bei dreißig, und sie alle haben Eintritt bezahlt. Ein Podcast wird aufgenommen, der erst endet, wenn nach Meinung des Gastes „alles gesagt“ ist. Der Gast ist Winfried Kretschmann. Security sichert das Podium ab und kontrolliert die Taschen am Eingang. Dann erzählt der „erste grüne Regierungschef der Welt“ (so die veranstaltende ZEIT), der heute 76-jährige Kretschmann davon, wie er zu den Grünen kam. Das Sektierertum hatte er während seines Studiums in maoistischen K-Gruppen zur Genüge kennengelernt, sich dem gnadenlosen Fanatismus ausgesetzt gesehen, der dort herrschte. Davon, so Kretschmann, sei er nach dieser Erfahrung für alle Zeit geheilt gewesen. Als er dann 1979 bei den Grünen begann, als Gründungsmitglied des Südwest-Landesverbandes, da war ihm klar: Gegen die Ausbreitung solchen weltverbessernden Fanatismus werde er sich zur Wehr setzen. Der Weg dorthin war lang, sagt Kretschmann, und er war ein Kampf, „ein mehr als zehnjähriger Kampf“.

In jeder Hinsicht ist dieser alte Mann ein krasses Gegenstück zur jungen Frau des Grünen-Anfangs: Ein kampferprobter Held des Realistischen sitzt da auf der Bühne, spricht leise und langsam, wägt seine Worte und dehnt seine Sätze, das Gesicht gefurcht und gezeichnet von den ungezählten Kompromissen, die er hat eingehen müssen in seinem politischen Leben. Man vertrete niemals die Wahrheit, mahnt er die Moderatoren des Abends, man werbe immer nur für die eigene Sicht der Dinge. Wäre es anders, wäre die eigene Sicht die Wahrheit, dann würden ja die anderen lügen.

Sicher gäbe es Lügen in der Politik, in letzter Zeit mehr denn je, und das müsse man auch so benennen und bekämpfen. Aber die eigene Sicht bleibe immer nur ein Werben, niemals der Anspruch auf die Wahrheit.

So ist das heute bei den Grünen.

Dritte Sicht: „Kopf hinhalten“ oder Kämpfen?

Die jungen Erben der wilden Petra Kelly haben zufällig am gleichen Tag, da das Auditorium nach fünf Stunden dem alten Mann der Grünen stehend applaudierten, ihren Austritt aus der Partei erklärt. Der Vorstand der Grünen Jugend will eine „neue, linke Jugendorganisation gründen“. „Wir glauben,“ schreiben die jungen Nicht-mehr-Grünen, in bester Kelly-Leidenschaft, „dass eine grundsätzlich andere Gesellschaft möglich wird, wenn wir es schaffen, einen Zusammenschluss all derer zu bewirken, für die ein ‚Weiter so‘ keine Option ist.“  Und weiter: „Ob Lützerath, das 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr, die Asylrechtsverschärfungen oder die Sparpolitik: Wir sind nicht länger bereit, unseren Kopf für eine Politik hinzuhalten, die wir falsch finden.“

„Den Kopf hinhalten“ für Kompromisse? Da sind welche unterwegs, die in Kretschmanns Sinn die alleinige Wahrheit für sich beanspruchen. Die sich nicht mehr abfinden wollen mit Differenzierungen. Auf diesem Feld der gefahrlosen Besserwisserei werden sie nicht alleine sein, da tummeln sich bereits einige – allen voran die Wagenknechte, die mit dem Versprechen von Kompromisslosigkeit („Krieg oder Frieden“ – „Maulkorb oder Meinung“) gerade erst in drei ostdeutschen Bundesländern so viele Stimmen eingefangen haben, dass sie nun zu Kompromissen gezwungen sein werden. Ob sie wohl dann der Fluch der Beliebigkeit heimsuchen wird, die Last des Konkreten, der Verantwortung des mühseligen Handelns an der Macht statt des bequemen Forderns im Publikum – der Kampf also, der dem alten Kretschmann die tiefen Furchen ins Gesicht gezeichnet hat?

Petra Kelly musste – und konnte – sich dieser Herausforderung niemals stellen. Wäre sie nicht tot – vermutlich ermordet worden – welchen Weg hätte sie dann wohl genommen? Winfried Kretschmann jedenfalls kämpft noch immer. Schlechte Umfragen? Aufgeben ist für ihn keine Option. Aber zuhören, überzeugen, nachdenken.

Und kämpfen – für das Mögliche, sagt er, nicht für die Wahrheit.

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

„Act Now!“ läuft derzeit in Programmkinos. Eine Liste der Orte, an denen der Film gezeigt wird, finden Sie hier. 

Der Podcast „alles gesagt“ mit Winfried Kretschmann wurde am 25. September 2024 vor Publikum in Stuttgart aufgenommen und ist kostenlos online abrufbar. 

Der Aufruf der „Grünen Jugend“ findet sich auf der Website zeitfuerwasneues2024.de

 

 

 

Ideale Fehlbesetzung für das große Glück

Wolf Biermann erzählt vom ewigen Kampf für die Freiheit

Natürlich steht am Anfang die Gitarre. Noch bevor Wolf Biermann irgendetwas gesagt hat in einer Podcast-Aufnahme, die erst enden soll, wenn der Gast der Meinung ist, dass „alles gesagt“ sei, greift er zur Gitarre. Er sing eines seiner Lieder, und stellt dann die Gitarre zur Seite, seufzend fast. „Hier geht es ja nicht im Lieder“, sagt er, „heute soll geredet werden.“ Wie ein stiller Gast wird die Gitarre auf dem kleinen Podium verbleiben, geduldig wartend, bis sie mehr als sieben Stunden später wieder erklingen wird. Dazwischen wurde geredet.

Geredet über Deutschland. „Ist Biermann moderierbar?“, hatte sich Co-Moderator Jochen Wegner, Chefredakteur von „Zeit online“ bei einem Kollegen mit Erfahrung im Umgang mit dem 86-jährigen erkundigt, und als lapidare Auskunft ein „Nein“ erhalten. Diebische Freude hat der kleine Wolf daran, jede Regie durcheinanderzubringen, sich jeder Anweisung zu widersetzen. Eine Schar von Biermann-Fans hatte sich dafür im Rahmen des Hamburger Harbour Literatur-Festivals in einem ausverkauften Tonstudio durchaus kuschelig zusammengefunden.

Gezeichnet von vielen Stunden schwerer Last eines Gesprächs über deutsche Geschichte: Wolf Biermann im Gespräch mit Christoph Amend, Editorial Director ZEITmagazin, bei der Podcast-Aufnahme „alles gesagt“ in Hamburg

Biermann moderiert sich selbst

Biermann führt hier das wortwuchtige Kommando, moderiert sich nahezu selbst in diesem mäandernden Gesprächsmarathon. Ein Leben wird da ausgebreitet, das Leben einer deutschen Ikone der Gegenwart. Wie konnte dieser kleine Mann mit dem markanten, heruntergezogenen Schnauzbart dazu werden?

Im Laufe der Gesprächsstunden mangelt es nicht an Selbstbeschreibungen des putzmunteren Gastes, der von seinen Gastgebern als „größter Drachentöter der deutschen Nachkriegsgeschichte“ begrüßt wurde. Immer wieder tadelt er sich selbst als „Idiot“, schlägt sich gegen die eigene Stirn dabei, spart aber mit solcher Bewertung auch nicht gegenüber seinen Mitmenschen. Vor allem sei er ein Glückskind, eine „ideale Fehlbesetzung“, wundert er sich in eigener Sache. Wer ihm folgt über alle diese Stunden, geduldig den Redeschwall aushält, mit ihm seine häufigen Denkpausen durchschweigt, unterwirft sich seiner geschulten Dominanz, die prallvoll ist von einem deutschen Leben.

Eine Biografie, die verstummen lässt

Zuhören ist also angesagt. Aber diese Biografie lässt ohnehin jeden verstummen, der sie nicht durchlebt hat. Gesäugt an der Brust wurde er, während seine Mutter in den Gestapo-Verhörräumen mit klugen Lügen das Schicksal des Vaters zum Guten zu wenden versuchte. Erfolglos, denn der Vater war zu stolz, sich retten zu lassen. Wolf Biermann, der aus einer Hamburger Kommunisten-Familie stammt, war drei Monate alt, als sein Vater von den Nazis (bereits zum zweiten Mal) verhaftet wurde und nicht mehr freikam, bis sie ihn 1943 in Auschwitz ermordeten. Als Jude, wozu sich der Vater ausdrücklich gegenüber den SS-Schergen bekannt hatte, obwohl er als Kommunist ja eigentlich gar keinen Gott kennen wollte.

Als 17-jähriger siedelte der kleine Wolf Biermann im Jahr 1953 auf Veranlassung der Kommunistischen Partei in die gerade erstandene DDR über, ohne seine Mutter, aber mit ihrem Einverständnis. Schon wieder so ein Glücksfall, meint der Sohn heute, da die Mutter sich niemals dem diktatorischen Duktus der DDR-Bonzen untergeordnet hätte: „Die wäre in Bautzen gelandet“.

Aber so blieb die Mutter im Westen, und der Sohn legte sich im Osten mit den Bonzen an. Unbeugsam verfolgte er seinen künstlerischen Weg, der ihn schon bald isolierte in der berühmten Wohnung in der Chausseestraße, wo seine ersten illegalen Plattenaufnahmen entstanden. Nach und nach geriet Wolf Biermann in die Heldenrolle „dieses deutschen Theaterstücks, das wir aufführen“, wie er sagt.  Wer hätte erwarten können, dass dieser in einer kommunistischen Arbeiterfamilie aufgewachsene Hamburger „Jung“, einmal so gefährlich für den Arbeiter- und Bauernstaat werden könnte, dass dieser ihn 1976 in den verhassten Westen entließ, nur um ihm dann eine Rückkehr zu verweigern?

Loswerden wollten sie ihn, aber das Gegenteil haben sie erreicht

Loswerden wollten sie ihn, den Unbequemen, aber das Gegenteil haben sie erreicht. Er wurde zum Kronzeugen für viele, die dreizehn Jahre später mit dem damals noch so mächtigen, unbelasteten Ruf „Wir sind das Volk“ massenhaft den Kollaps des Systems herbeidemonstrierten. 5000 Menschen kamen am 1. Dezember 1989 zu seinem ersten Konzert nach dem Mauerfall nach Leipzig. Sein Auftritt war damals so bedeutend, dass beide deutschen Fernsehanstalten, Ost wie West, ihn live übertrugen.

Nochmal 25 Jahre später saß der Drachentöter im Bundestag, nicht gewählt, sondern eingeladen, mit Gitarre natürlich, und zupfte sein Lied von der „Ermutigung“. Zuvor aber ließ er es sich nicht nehmen, auch nicht vom launigen Hausherren Norbert Lammert, bei dieser Gelegenheit die unmittelbar vor ihm versammelten Linken-Politiker als „Drachenbrut“ zu beschimpfen. Der Präsident ließ ihn damals gewähren, was ihm Kritik einbrachte, aber beide zu Freunden machte. Vor einiger Zeit, erzählt Biermann, sei er dann von Lammert, der inzwischen Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ist, in die CDU-Parteizentrale eingeladen worden. Dorthin sei er seinem Freund zuliebe natürlich gerne gekommen. Neben Lammert habe dann da aber auch der Friedrich Merz gesessen, und da habe er zu dem gesagt: Na, wenn Sie mich eingeladen hätten, dann hätte ich natürlich abgesagt.

Unbeugsam, rebellisch, selbstgewiss: Es bedarf viel Disziplin, Wolf Biermanns Erzählungen über mehr als sieben Stunden zu folgen. Wer es tut, blickt staunend und sprachlos auf eine deutsche Biografie der Sonderklasse.

Ein Rebell ist er also geblieben, der Kommunistensohn, unbeugsam jetzt als straffer Antikommunist.  Die Mischung aus Schalk und Haltung lässt im Laufe der Gesprächsstunden in Hamburg die Luft immer nebeliger werden vor lauter gelebtem Leben, sanfter Wut und sprachlicher Fantasie. Biermann schreibt Lieder und Gedichte, die oft nicht gefällig sind, anstrengend, aber auch klug, voller Kraft und Wortwitz, der nichts zu tun hat mit dem billigen, berechneten Humor von Komödianten. Ein ganz einmaliges Amalgam schafft er, ist er selbst, eine Mischung aus Stolz und Trotz, aus Reflexion und Scharfsinn, aus kontrollierter Angst und unbändiger Lebenslust.

Und nun? Biermann ist 86 Jahre alt, kein „verdorbener Greis“ (wie er 1989 die Nomenklatura der versinkenden DDR gegeißelt hatte), sondern ein Institution der deutsche Geschichte. Ruhig könnte er sein, sich in Hamburg-Altona zurückziehen. Oft genug Recht behalten, könnte er sich denken, der schon immer vor Putin gewarnt hatte, der die DDR von innen kritisierte, als dazu noch ein Maß von Mut gehörte, das sich die von einem Rechtsstaat verwöhnten Kritiker deutscher Wirklichkeiten von heute gar nicht mehr vorstellen können.

Resignieren ist keine Option, sagt der alte Kämpfer

Aber der proletarische Kämpfer in ihm lebt noch immer. Wie er auf das heutige Deutschland blicke, auf den Rechtsruck im Osten,  wie man das alles aushalten soll mit AfD, mit Populismus, mit dem von Putin angezettelten Krieg?

Lange muss er nachdenken. Mucksmäuschenstill ist es im Tonstudio, keiner zuckt, keiner räuspert, bis Biermann sich eine Antwort zurechtgelegt hat: Der Krieg in der Ukraine, sagt er dann, und auch die Hinwendung vieler Menschen nach rechts, das seien doch letztlich auch nichts anderes als Teile des großen Freiheitskrieges, den die Menschheit führen muss, schon seit Jahrhunderten. Schon immer eigentlich, setzt er hinzu. Zu resignieren sei keine Option, sagt er,  nirgends, die Freiheit gibt’s nur im Kampf, nicht umsonst.

„Was wird mit meinem Vaterland?“

Schließlich der Griff zur Gitarre. „Was wird mit meinem Vaterland?“, singt er, und bricht doch wieder ab. Es gibt noch etwas loszuwerden, über die DDR, über die Feigheit, über die Stasi und die Uneinlösbarkeit ihrer Vertraulichkeitsversprechen. Dann setzt er neu an und bringt das Lied zu Ende. Es geht um Putin und seine Todesfurcht „vor eine Frau, die Freiheit heißt“.

Damit ist nach seiner Meinung alles gesagt, und nach sieben Stunden und vierzig Minuten trotten erschöpft die verbliebenen Zuhörer hinaus in den Hamburger Nieselregen, hinaus in die „fetten finst´ren Zeiten“, wie der in einer jüdisch-kommunistischen Familie aufgewachsene „Drachentöter“ in seinem Schlusslied noch reimte. Finstere, fette Zeiten – es ist der Abend von Freitag, dem 6. Oktober 2023, und am nächsten Morgen ermorden Hamas-Terroristen in Israel mehr als 1200 wehrlose Menschen.

 

Den ZEIT-Podcast mit Wolf Biermann in voller Länge finden Sie kostenlos unter diesem Link: https://www.zeit.de/politik/2023-11/wolf-biermann-interviewpodcast-alles-gesagt

Von dem in meinen Text angesprochene Konzert in Leipzig gibt es einen Mitschnitt auf Youtube, wie auch von Biermanns Auftritt im Deutschen Bundestag zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.  (Klick führt jeweils zu Youtube).

Noch bis 2. Juni 2024 widmet auch das Deutsche Historische Museum in Berlin Wolf Biermann eine Ausstellung: https://www.dhm.de/ausstellungen/wolf-biermann-ein-lyriker-und-liedermacher-in-deutschland/

Weitere Texte als #Kuturflaneur finden Sie hier.