Fußball hat nix mit Politik zu tun

Ein Kneipengespräch

„Vergiss die Politik!“ Der Fußballfan hat wohl schon ein paar Bierchen intus und das Deutschland-Shirt von der vorletzten WM zeigt deutliche Flecken aus vorangegangener Begeisterung. Aber macht nichts, denn in der Kneipe ist das Licht schummrig, die Luft schwer und alle gucken auf den Bildschirm. Österreich gegen die Türkei.

„Fußball hat nix mit Politik zu tun,“ sagt der Fußballfan. Der Demokratiefan hält dagegen: Warum sind Ungarn, Italien, Serbien, Georgien so früh ausgeschieden? (Foto: lizenzfrei von Pixabay, KI-generiert)

„Vergiss die Politik“, sagt der Fußballfan nochmal, wischt sich die Finger am Deutschland-Shirt ab und schwenkt das leere Bierglas. Ums Treseneck herum sitzen die beiden fremden Freunde, treffen sich hier zum ersten Mal, und spielen mit ihren Bierdeckeln. „Denk nur an den ganzen Quatsch mit Binde in Katar und irgendwelchen Arbeitssklaven und so, das war alles Politik,“ setzt der Fußballfan wieder an. Mit Schwung stellt er das leere Glas auf die Theke zurück. „Und was war dann: Schlecht gespielt haben sie.“

Sein Gegenüber ist ein Demokratiefan und wackelt mit dem Kopf hin und her. Dann zupft er sich das graue Poloshirt zurecht. Es ist warm und dampfig in der Kneipe. Draußen regnet es.

„Vergiss die Politik im Fußball“, kommt da nochmal vom Fußballfan, während er der Wirtin hinter dem Tresen winkt. Ein fragender Blick zu seinem Nachbarn, ein entschlossenes Nicken, dann werden zwei Finger gehoben in ihre Richtung.

„Irgendwie ist doch immer alles politisch“, sagt der Demokratiefan. „Gerade in Katar. Dass man da einfach in einer üblen Diktatur spielt und so tut, als gäbe es das nicht: die unterdrückten Frauen und das Verbot für Schwule und das alles. Der ganze Aufwand mit gekühlten Stadien, die jetzt leer stehen. Da kann man doch nicht weggucken. Wenn das nicht Politik ist!“

„Schon. Aber hat nix mit dem Spiel zu tun. Beim Fußball kommt es auf Fitness an, auf Kondition, und auf die gute Technik, dass sie schnell rennen können, eine Taktik haben und auf den Trainer. Das hat doch nix mit Politik zu tun.“

„Frei im Kopf müssen sie auch sein, die Spieler.“

„Ja schon, frei im Kopf ist immer gut. Ideen müssen sie haben, mal was Neues zu machen, nicht den Ball immer nur hin und her zu schieben.“

Zwei neue Biere kommen …

Die Wirtin stellt zwei Bier auf den Tresen. Saftige Schaumkronen liegen auf dem lockenden Goldgelb. Sie stoßen an.

„So muss ein Bier sein“, sagt der Fußballfan und wischt sich den Schaum von der Lippe. „Hat auch nix mit Politik zu tun.“

„Auch Bier ist politisch, vor allem der Preis“, sagt der Demokratiefan. „Es sind schon Revolutionen wegen des Bierpreises ausgebrochen.“ Er trinkt. „Aber lassen wir das. Wer ist schon alles rausgeflogen bei der Europameisterschaft?“

„Ha! Die Italiener!“ Der Fußballfan grinst.

„Siehste, die Italiener. Nicht frei im Kopf, weil sie eine postfaschistische Regierung haben.“

Der Fußballfan nimmt einen tiefen Schluck und glotzt ins Leere. „Was für ´ne Regierung?“

„Postfaschistisch. Super-autoritär. Die Meloni mag ja ganz freundlich gucken. Aber sie will die Pressefreiheit abschaffen und sich fette Macht auf immer sichern. Fast so wie der Orban.“

„Orban ist Ungarn, oder? – Auch rausgeflogen.“

„Eben: Der nächste Autokrat, der seinen Fußballern keinen Gefallen damit tut, dass sie nicht frei sind im Kopf. Ich sage: Wenn die Regierung keine Freiheit zulässt, spielen die Fußballer schlecht.“

„Jetzt Moment mal“, rafft sich der Fußballfan auf, strafft das verschwitzte Deutschland-Trikot und hebt den Zeigefinder. „Willst du mich hier in so eine Politikscheiße reinquatschen? So nach dem Prinzip, wer schlecht regiert wird, verliert im Fußball?“

„Na ja, kann man doch mal überlegen. Wer hier schon alles rausgeflogen ist, pass auf…“

„Nee, nee,“ protestiert der Fußballfan und winkt ab, „Politik hat mit Fußball nix zu tun.“

„Jetzt hör´s Dir doch wenigstens mal an. Also: Ungarn raus, Orban ist ein Diktator. Italien raus, frühere Faschisten regieren. Serbien raus, Vucic ist ein übler Putin-Freund und zündelt im Balkan.  Slowakei raus, auch so ein spalterischer Populist hat da das Sagen, Fico heißt er. Will der Ukraine keine Waffen liefern. Georgien raus, da machen sie gerade ein Gesetz zur Unterdrückung aller kritischen Meinungen.“ Der Demokratiefan nimmt einen tiefen Schluck aus dem Glas. „Also, so ist es, und jetzt kommst Du.“

Der Fußballfan schüttelt den Kopf. „Das ist doch alles Blödsinn. Die Spieler da von diesen Ländern, die haben doch mit ihrer Regierung gar nichts zu tun, die spielen doch alle bei uns oder in Italien, Frankreich oder in England!“

„Das mag schon sein,“ entgegnet der Demokratiefan, „aber im Kopf sind sie doch in ihren Ländern zu Hause – oder etwa nicht? Muss ja auch so sein. Verlangen wir doch auch von unseren Migranten, wenn sie für Deutschland spielen. Von Tar oder von Musiala oder von Rüdiger, die sollen sich doch auch im Kopf voll und ganz mit Deutschland identifizieren. Gündogan hat türkische Eltern. Trotzdem singt er die deutsche Hymne, wenn’s los geht, und das ist doch auch richtig so.“

„Ja schon, aber das ist doch was anderes.“

„Warum?“

„Weil … weil … ach, keine Ahnung. Aber überhaupt, wenn das stimmen würde, was Du da redest, dann müssten die Deutschen ja auch schlecht spielen, weil wir doch auch ganz mies regiert werden von der Ampel. Tun sie aber nicht.“

„Andersrum stimmts! Die spielen gut, weil sie den Kopf frei haben, weil wir gar nicht so schlecht regiert werden. Verstanden?“

Der Fußballfan ist nicht überzeugt. „Die spielen besser als zuletzt, sagst Du, weil der Scholz so gut regiert? Das glaubst Du doch selber nicht.“

„Na, ja, das vielleicht nicht. Jedenfalls gibt’s hier aber nichts, was die Freiheit im Kopf begrenzt. Außer eigener Blödheit. Und das ist in Ungarn und Serbien und Georgien echt anders, da kannst Du ratzfatz ins Gefängnis wandern, wenn Du was Falsches sagst. Und wenn wir nicht aufpassen, ist das bald auch in Italien so. Und deshalb verlieren die alle.“

„Krass – das glaubst Du echt?“

„Ja sicher“, antwortet der Demokratiefan. „Unfreiheit im Land führt zu Unfreiheit im Kopf. Und das führt zu schlechtem Fußball. Klarer Zusammenhang.“

Die Türken spendieren eine Runde Raki …

Lautes Jubeln und Gegröle im Lokal. Das Spiel ist aus. Autohupen auf der Straße. Eine Gruppe feiernder Türken stürmt herein.

„Da hast Du Deinen Blödsinn!“ schreit der Fußballfan im Getümmel und prostet den türkischen Fans zu. Der Tresen wird umringt von Jubelnden, während eine rote Halbmond-Fahne die beiden Biergläser ins Wanken bringt. „Die Türken feiern!“, brüllt der Fußballfan, „und das ist doch nun wirklich keine gute Regierung dort. Korrupt, alles wird immer teurer, und als Frau willste da auch nicht leben, ewig daheim und mit Kopftuch und so.“ Einen tiefen Schluck nimmt der Fußballfan aus dem Glas, richtet sich neu auf, verschafft sich Platz zwischen den Feiernden um ihn herum, und ruft: „Das ist der Gegenbeweis!“

Die feiernden Türken verstehen zwar nichts die vom Gespräch, geben aber eine Lokalrunde Raki aus. Einige zeigen den sogenannten „Wolfsgruß“, ein Symbol für radikalen türkischen Nationalismus. Der Demokratiefan schüttelt den Kopf. „Gar kein Gegenbeweis,“ sagt er. „Die Türken haben die Österreicher rausgeworfen, weil beide nicht frei sind im Kopf. Siehst Du an dieser komischen Nationalismus-Geste.“ Das Rakiglas wird auf den Tresen gestellt. „Die Österreicher sind gerade drauf und dran, eine Super-Rechtspartei zum nächsten Wahlsieger zu machen. In diesem Spiel haben eben zwei Mannschaften gegeneinander gespielt, die beide nicht den Kopf frei hatten. Einer musste ja gewinnen.“

„He, jetzt hab´ ich Dich!“, schreit der Fußballfan und kippt den Schnaps in sich hinein. „Das mit der Wahl gilt auch für Frankreich! Da haste Dir jetzt selbst widersprochen. Die Franzosen werden die rechtsradikale Le Pen auch wählen, und trotzdem haben sie gewonnen!“

Der Demokratiefan greift zum Rakiglas, überlegt und schiebt es dann voll zurück. „Ja schon … aber wie! Erst in der allerletzten Minute hat´s gereicht. Das war vor allem Glück. Und außerdem haben sich die französischen Spieler ganz öffentlich gegen den drohenden Rechtsruck in Frankreich ausgesprochen. Das ist wie Doping für Freiheit, das hilft auch für die Freiheit im Kopf.“

Die türkischen Fans ziehen wieder ab, der nächsten Kneipe entgegen.

Nochmal zwei frische Biere …

Die Wirtin blickt zu ihnen hinüber, zwei Finger gehen hoch.

„Und was sagste zur Ukraine?“, fragt der Fußballfan. „Wenn die nicht eine gute Regierung haben, wer denn dann? Halten ihren Staat irgendwie am Laufen, sogar die Bahn fährt da pünktlich, was wir hier nicht hinbekommen, und nebenbei müssen sie ihr Land verteidigen.“ Zwei frische Biere werden auf den Tresen gestellt. „Und dann fliegen sie in der ersten Runde schon raus, als Gruppenletzter.“

„Das war bitter. Stimmt,“ räumt der Demokratiefan ein. „Aber die hatten eben den Kopf auch nicht frei, wer will es ihnen verübeln in ihrer Situation? Außerdem hatten sie besonderes Turnierpech. Die waren Vierter in ihrer Gruppe mit vier Punkten. Das war mehr als die Slowenen hatten, die Gruppendritte wurden und weiterkamen. Voll ungerecht.“

„Hat eben doch nichts mit Politik zu tun. Ist alles nur Fußball.“

Die Tür geht auf, eine Gruppe Österreicher trottet herein. Lautstark bestellen sie Bier. Die Enttäuschung über das Ausscheiden gegen die Türkei klingt bereits ab.

„Sag mal?“, fragt der Demokratiefan.

„Ja was?“

„Macht schon Spaß, so eine EM in Deutschland, oder?“

„Logisch! Es regnet zwar dauernd, aber trotzdem ist überall beste Stimmung. Alle freuen sich, siehste ja gerade, sogar ich kann mich mit den Türken freuen, und mit den Österreichern traurig sein.“

Sie beide prosten den Österreichern zu, die hinter ihnen stehen und gerade ihre Biergläser bekommen haben. „Seid´s arg traurig?“, fragt der Fußballfan. Die Österreicher trinken.

„Hat vielleicht auch was mit der Demokratie zu tun,“ sagt der Demokratiefan. „Gute Stimmung gibt’s nur in Freiheit, nicht in einer Diktatur.“

„Du nervst. Ich freu´ mich jetzt aufs Viertelfinale,“ sagt der Fußballfan und nimmt einen Österreicher in den Arm. „Leider ohne Euch. Aber tolle Spitzenmannschaften kommen da jetzt: Spanien, Portugal, Frankreich, Niederlande, England, Schweiz. Und Deutschland! Das werden super spannende Spiele!“

„Alles lupenreine Demokratien“, sagt der Demokratiefan.

„Da hätten wir auch reingehört“, ruft ein Österreicher. „So demokratisch wie die Niederländer sind wir noch lange.“ Der Demokratiefan lacht.

Fünf Biere hatten die Schotten ausgegeben …

„Jetzt hört doch mal auf mit dem Politikzeug!“, ruft der Fußballfan. „Und überhaupt, was ist mit den Schotten und Deiner Theorie? Die haben besonders gute Stimmung gemacht, unglaublich, fünf Bier haben sie mir ausgegeben, hier an diesem Tresen, und eine Demokratie sind sie auch, oder? Trotzdem rausgeflogen.“

„Ja, stimmt alles, aber leider haben sie einfach zu schlecht Fußball gespielt,“ sagt der Demokratiefan.

„Siehste,“ triumphieren da der Fußballfan und die Österreicher. „Ist eben Fußball. Hat nix mit Politik zu tun.“

 

 

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Eine Liste aller Krawalle und „Revolutionen“, die vom Bierpreis ausgelöst wurden, findet sich auf Wikipedia.

Wer mehr über die Hintergründe des „Wolfsgruß“ erfahren möchte, findet eine gute Zusammenfassung hier. 

 

 

 

 

 

Und der Jubel wird grenzenlos sein

Europas Tanz um die Freiheit  – neu gehört in Beethovens 7. Sinfonie

Zweihundert Stundenkilometer auf der Schiene, irgendwo am Rhein, auf dem Weg von Amsterdam nach Wien. Ein ICE jagt grenzüberschreitend dahin. Von seiner luftdurchwirbelnden Gewalt, die zufällig Wartende auf einem Durchfahrts-Bahnsteig viele Schritte zurückweichen lässt, ist im Inneren des Zuges wenig zu spüren. Ein sanftes Ruckeln vielleicht, ein schwaches Wanken. Erste Klasse, gediegene Atmosphäre: Jeder für sich, und dem alten Europäer gegenüber sitzt eine junge Frau, um die dreißig Jahre alt, zurückgesteckte Haare, elegantes Kostüm, die ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihr Notebook zu richten scheint. Gemeinsam durchgleiten sie diese Kulturlandschaft aus grünen Hügeln und schütteren Wäldern, gemeinsam durchfliegen sie die Tunnels und Brücken, die dem rasenden Lindwurm den Weg ebenen. Gemeinsam sind sie sich ihrer jeweils eigenen Freiheit so sicher, dass sie diese gar nicht mehr spüren. Selbstverständlich selbstbestimmt reisen sie durch Europa.

Die Schöne wird schon nichts merken, denkt sich der alte Europäer, und schiebt den Regler noch etwas weiter nach oben, die Warnung vor möglichen Hörschädigungen lustvoll missachtend. Beethoven schwillt an im Kopfhörer, 7. Sinfonie, der ganze klangumspannende Wirbel der Noten durchzuckt seinen Kopf, die Augen geschlossen, aber hellwach. Ein paar verstohlen wiegende Kopfbewegungen macht er dazu, ein paar zart mitdirigierende Gesten aus dem Handgelenk.

Die Idee der Freiheit als Tanz: Sasha Waltz Compagnie interpretiert Beethovens 7. Sinfonie. (Foto: Sebastian Bolesch, bereitgestellt von Sasha Waltz)

Als Napoleons Stern sank, entstand diese Musik

Als der französische Autokrat Napoleon Bonaparte mit seinen Truppen diese schöne Landschaft am Rhein unter seine Kontrolle brachte, da lebte Ludwig van Beethoven schon längst nicht mehr in seinem Geburtsort Bonn. Er verfolgte von Wien aus das europäische Geschehen. Er jubelte Napoleon zu, solange dieser sich nach dem revolutionären Chaos in Frankreich um Ordnung bemühte, für alle Menschen gleichermaßen Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit versprach. Und er wandte sich von ihm ab, als Napoleon genau diese Werte verriet, sich selbst zum Kaiser ernannte und Europa, auch Beethovens Heimat, mit Kriegen überzog.

Dann aber, im Jahr 1813, sank der Stern Napoleons. Das Kriegsglück, das nie ein Glück, sondern immer ein mörderisches Schlachten war, wandte sich von ihm ab. Seine ausgezehrten Armeen waren überfordert mit den Eroberungsfantasien ihres Befehlshabers. Die großen europäischen Adelshäuser in Österreich, Russland und Preußen waren dabei, sich zusammenzufinden. Beethoven wusste: sie wollen nicht Brüderlichkeit und Gleichheit und Freiheit retten, sondern vor allem sich selbst genau davor. Vermutlich sehnte der Komponist das militärische und politische Ende des Franzosen zwar herbei, aber dessen ursprüngliche Idee eines freien Menschen, der mit seinesgleichen, klassenlos und humanistisch, in Frieden und Freiheit verbunden ist – diese Idee trieb ihn weiter an.

In solcher Stimmung war Beethoven, als er die Noten für seine 7. Sinfonie niederschrieb, die im Dezember 1813 in Wien erstmals gespielt wurde. Was er vorhersah, was er, selbst schon halb ertaubt, vorher-hörte, war der gewaltige Rhythmus, der Europa in dieser Zeit durcheinanderwirbelte und seine Menschen in eine neue Ordnung hineinwarf. Es sollte eine Ordnung sein, in der bis heute zumindest der Anspruch besteht, dass „alle Menschen Brüder“ sein mögen, wie Beethoven elf Jahre später am Ende der 9. Sinfonie im Text von Friedrich Schiller vertonte. Die Noten (nicht der Text) der „Ode an die Freude“ ist heute die Hymne Europas.

Der Anspruch auf Freiheit ist kein Leisetreter

Den Rhythmus von Freiheit, Gleichheit, individueller Selbstbestimmung, also jener Werte, die den Kontinent prägen sollten, den hat Beethoven aber bereits in der Siebten komponiert. Diese zu erreichen und zu verteidigen, ist kein Geschenk, es ist ein Kampf, ein Wachsen, ein Jubel schließlich. Und so kommt der Anspruch auf Freiheit mit Wucht daher. Die sanften Töne zu Beginn der Sinfonie perlen keine ganze Minute dahin, als schon die ersten kräftigen Schläge durch das Orchester zucken. Sie lassen noch nicht ahnen, mit welcher Energie die Musik zehn Minuten später den ganzen Saal in Bewegung setzen wird, die Wände wanken lässt, die Menschen von den Sitzen reißen könnte, wenn es zulässig wäre, im Konzertsaal den Emotionen freien Lauf zu lassen.

Der Anspruch auf Freiheit ist kein Leisetreter. Ein tobender Rhythmus tanzt durch den Saal, stößt links an, und dann rechts und dann überall zugleich schwebt und schwirrt er und jubelt und schweigt und schreit, spannt die Luft zum Zerreißen – ach was, zerreißt sie mit ihrer Kraft, ihrer Energie, bis endlich Stille herrscht und alles zurücksinkt in glückliche Erschöpfung.

Der Weg zur Freiheit fordert Opfer

Kein Jubel ist ohne Abgrund, auch der Weg zur Freiheit fordert Opfer. Der zweite Satz beginnt als verhaltener Trauermarsch. Wieder dauert es nur wenige Takte bis sich das leise Motiv Bahn bricht, bis es weniger Trauer und mehr Triumpf ist. Hier trottet keine Trauergemeinde, hier wird trotzig Kraft gesammelt. Vorbei geht es an den fraglichen Prioritäten des Alltages, vorbei am allgegenwärtigen Geplänkel und Geplauder.

Auf die Kraft der Trauer folgt der Übermut. Im dritten Satz betreibt das Orchester eine Jagd auf die Klänge, wirbelt ihnen hinterher, atemlos, wie in einem kindlichen Versteckspiel, bis plötzlich alles weg ist und der Klang tastend gesucht werden muss. Da, dort, wo? – noch einmal beginnt die Hetzjagd, noch einmal büxen sie aus, die Töne der Freiheit, noch zu ungestüm, um gestaltende Kraft zu entfalten und nicht nur Toberei zu sein voll überschießender Energie.

Ach, möchte man diesen Tönen der Freiheit zurufen, nehmt Euch Zeit, die Aufgaben, die vor Euch liegen sind noch groß, spart Eure Kräfte auf, Ihr müsst den Kampf um Gleichheit und Brüderlichkeit noch gewinnen, immer wieder neu lernen, klug zu sein!

Das Gewonnene kann schon morgen zerronnen sein

Dann das Finale, ein einziger Wirbel, ein tänzelnder Wahnsinn, ein rasendes Kettenkarussell der Töne, ein Aufschrei, ein grenzenloser Jubel der Freude über das Erreichte, das Gewonnene, das doch zugleich gefährdet ist, schon morgen zum Zerronnenen zu werden.

Nichts weniger als das alles lässt Beethoven in seiner Siebten ertönen, und für den, der will, ist herauszuhören: Habt Mut, die großen Linien zu sehen, das große Ganze! Haltet Euch nicht auf mit Kleinigkeiten, mit der der Wärmepumpe oder dem Verbrenner, mit  Steuern und der Schuldenbremse, ein paar Geflüchteten mehr oder weniger – alles unwichtig, weil es nun gerade gilt, Frieden in Freiheit zu verteidigen, nach Brüderlichkeit und Gleichheit zu streben. Es kann gelingen, lässt uns Beethoven hören, und der Jubel wird grenzenlos sein.

„Muss tolle Musik sein“, spricht die junge Frau

Da spürt er einen Ruck. Der ICE steht. Gerade war der Gipfel des Tongebirges erklommen gewesen, das jubelnde Finale hatte getobt und klang aus, glückstrunken war der alte Europäer hineingefallen in diese Umarmung der Töne. Seine Hände sinken zurück auf die Armlehnen, und jetzt schlägt er die Augen auf und schaut aus dem Fenster: „Siegburg/Bonn“ steht da. Noch halb benommen vom großen Tanz der Töne nimmt er den Kopfhörer ab.

„Muss tolle Musik sein, die Sie da hören“, spricht ihn da die junge Frau von Gegenüber an. „Was war das? Das will ich auch hören.“

 

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Die rhythmisch-tänzerische Dimension von Beethovens 7. Sinfonie ist schon vielfach gewürdigt worden, u.a. von Richard Wagner, der das Werk als „Apotheose des Tanzes“ bezeichnet hat. Mich hat zu diesem Text auch das Erlebnis einer modernen Tanz-Aufführung der Compagnie von Sasha Waltz inspiriert, die unter dem Titel „Beethoven 7“ die Sinfonie mit der modernen Komposition „Freiheit/Extasis“ von  Diego Noguera kombiniert. Noguera wurde 1982 in Chile geboren und lebt seit 2019 in Berlin. Dieser Teil Tanzdarbietung, von überaus lautstarker Techno-Musik unterlegt, war für mich allerdings nicht die Darstellung von Freiheit, sondern eher eine apokalyptische Vision einer nach-menschlichen Welt, die im quälenden, aber auch  eindrücklichen Gegensatz zu der nachfolgenden leichtfüßig-eleganten, tänzerischen Interpretation der Freiheitsphantasien von Ludwig van Beethoven stand. Die Performance „Beethoven 7“ war Teil des Programms der diesjährigen Ludwigsburger Schlossfestspiele und ist wieder zu erleben am 13. und 14. September 2024 in Rom.

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Germania, Europa und der grasende Stier

Eine West-Ost-Reise anlässlich der Europawahl

Germania hätte sich ja durchaus entführen lassen wollen, wie einst die antike Europa, aber der Stier war nicht interessiert. Die Idee von offenen Grenzen lag noch in weiter Ferne, als Germania plante, in die Stadt ihrer Geburt und Kindheit zurückzukehren. Sie wollte noch einmal die Orte sehen, von denen sie geflohen war, damals in panischer Angst, das böse Grollen der Front schon im Ohr, nichts wie fort, so ihr einziger Gedanke, zwei Kinder bei sich, nichts wie fort, bevor alles in Schutt und Asche fiel.

Der Stier entführt Europa – Darstellung der antiken Sage von ca. 480 v. Chr. (Bild: Berliner Maler, gemeinfrei via Wikimedia)

Nun wollte sie es noch einmal sehen: das Haus ihrer Kindheit, den Schrebergarten der Eltern, die Schule, die erste gemeinsame Wohnung mit ihrem Mann. Aber die Behörden der neuen Eigentümer ihrer Heimat missbilligten die Bezeichnung ihres Geburtsortes, der inzwischen nicht mehr so hieß, wie damals, als Germania dort das Licht der Welt erblickte. Sie verweigerten ihr das Visum solange, bis sie sich beugte und mit grollenden Gefühlen endlich „Wroclaw“ in den Antrag schieb, obwohl sie doch in Breslau geboren war.

Nach dem VW-Käfer drehten sich die Menschen um

Es war also kein Stier, den sie nutzte, und es war auch nicht Europa, sondern Germania, der  schließlich ein kurzer Besuch in ihrer alten Heimat gestattet wurde. Mit einem orangefarbenen VW-Käfer der letzten Generation rollte sie nach Polen, und der Anblick des West-Autos im realen Sozialismus war so ungewöhnlich, dass die Menschen sich nach ihm umdrehten. Ein Stier hätte nicht mehr Aufsehen erregt. So fuhr Germania damals durch die vertrauten Landschaften, durch die ergrauten Dörfer, hinein in die noch immer geschundenen Städte mit den Bombenlücken und Einschusslöchern, durch die holprigen Straßen ihrer Kindheit, die jetzt Namen trugen, die sie nicht aussprechen konnte. Und sie flüsterte nur, um sich nicht in der verhassten Sprache der Vertriebenen zu verraten als das, was sie war: Eine Geflüchtete aus dem Tätervolk.

Germania besah sich stumm die Veränderungen in ihrer verlorenen Heimat, hörte die fremde Sprache, blickte in die fremden Gesichter. Sie ängstigte sich hin wie her durch mühselige und furchteinflößende Grenzkontrollen, und kehrte schließlich erleichtert zurück, dorthin im Westen, wo sie nun zu Hause war. Unfallfrei, unbeschadet, wieder in Freiheit atmete sie auf, und packte fortan Pakete für die schlechter Gestellten jenseits der Grenzen, die damals die Welt teilten und vollständig unverrückbar schienen.

Der Stier blieb nicht untätig

Niemals hätte es Germania für möglich gehalten, aber der Stier blieb nicht untätig. Er erwachte unerwartet. Gleich einer göttlichen Eingebung stellte er sich in den Dienst der staunenden, von Kriegserfahrung geschüttelten Europa. Mit ihr auf dem Rücken trampelte er die Grenzen nieder, zerschlug die Schlagbäume, zerrte die einst Streitenden in ein komplexes Geflecht von Absprachen und Verträgen. „Europäische Union“ wurde das fragile Konstrukt genannt.

Nicht drei, wie die antike, sondern 27 Kinder zeugte diese moderne Europa, und sie alle ringen bis heute jeden Tag um das große Glück der Freiheit. Nur deshalb können nun, ganz ohne Grenzkontrollen, ihre Töchter und Söhne jene Reise wiederholen, die fünfzig Jahre früher Germania allein unternahm.

Nichts ist vergleichbar zu damals

Vom dem, was sie dabei erleben, ist nichts vergleichbar zu damals: Verheilt sind die meisten Wunden des Krieges, glitzernde Glasbauten sprießen zwischen den schmuck renovierten Fassaden der Städte, durch die nun entspannt Touristen schlendern. Überall leuchtet das Symbol der EU, die goldenen Sterne auf blauem Grund, weil Europa finanziert hat, was nun in neuem Glanz strahlt: die alten Schlösser und Bürgerhäuser, die Theater, die Straßen und Plätze. Viele Milliarden sind geflossen von West nach Ost, um diese Angleichung der Lebensverhältnisse zu ermöglichen, und vieles davon ist gelungen. Niemand achtet mehr auf West-Autos, und niemand schaut auf, wenn deutsch gesprochen wird.

Milliarden flossen von West nach Ost. Erst die Idee der europäischen Einigung auch mit Osteuropa ermöglichte eine Annäherung der Lebensverhältnisse.

Niemals mehr sollten Grenzen mit Gewalt verschoben werden – das hatte Europa vom Stier herab verkündet, hatte es zur wesentlichen Gründungsidee des vereinten Kontinents gemacht. Germania war einst noch das Misstrauen entgegengeschlagen – die Angst der Polen und Tschechen, dass Deutsche zurückverlangen könnten, was die Geschichte nach dem Krieg ihnen genommen hatte.

Nie mehr Grenzen verschieben – darauf vertrauen nun die Menschen in Schlesien, im Land der Sudeten oder in Böhmen. Europa hat es ihnen vom göttlichen Stier herab versprochen. Also gibt es dort nichts mehr zu verlangen, sondern nur noch zu staunen: Mit welchem Fleiß und welcher Ausdauer die Menschen ihre neue Heimat in Besitz genommen haben, in vielen Fällen selbst Vertriebene, wie die von dort Verjagten. Wie viele Namen neu erfunden, übersetzt, Straßenschilder ausgetauscht werden mussten. Wie viele Häuser zu renovieren, neu zu bauen, wie viele Löcher zu verputzen, wie viele Felder zu bestellen gewesen waren. Wie mühsam es gewesen sein musste, sich einzurichten in dieser fremden neuen Welt. Und wie gut es gelungen ist.

Das friedliche Bild trügt

Nun grast der Stier auf dem grünen Feld unterhalb der Schneekoppe. Große Hotelbauten wachsen den Hang entlang, Fünf-Sterne-Wellness im Riesengebirge wird versprochen, frisch asphaltiert glänzt die Straße, die dorthin führen soll. Aber das friedliche Bild trügt, denn keine sechshundert Kilometer weit fort schlagen die Raketen ein. Schon wieder möchte ein Gewalttäter in Europa Grenzen verschieben. Und die alte Angst ist zurück.

In der antiken Sage symbolisierte der Stier, der die Europa entführt, den liebestollen Göttervater Zeus. Der Allmächtige aber hat sich überanstrengt. Die Einigung des Kontinents in der Europäischen Union war ein wahrhaft göttlicher Schöpfungsakt. Nun grast er nur noch. Europa kann kein zweites Mal auf ihn zählen, sondern muss selbst wehrhaft werden. Die Rechtsstaatlichkeit, die niedergerissenen Grenzen, die einheitlichen Handytarife, die in weiten Teilen gemeinsame Währung, das freie Leben – alles das gilt es jetzt zu schützen. „Unser Europa ist sterblich, und wir müssen uns der Herausforderung stellen“, formulierten kürzlich gemeinsam der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident.

Nichts dabei wird schnell erledigt sein. Und nichts dafür ist genug. Aber auch nicht alles ist schwierig. Einfach ist, einen Stift zur Hand zu nehmen, einen Strich zu machen und dann noch einen, so dass sie ein Kreuz ergeben. Auf einem Wahlzettel am 9. Juni 2024.

Im Glanz der europäischen Idee – als hätte es nie einen Krieg gegeben, strahlen die renovierten Fassaden am großen Marktplatz von Wroclaw (früher: Breslau).

 

Einige Impressionen der Reise durch Polen habe ich in „Kleiner Ausflug ins Konservative – sieben Miniaturen von einer Reise durch Polen“ zusammengefasst

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

Informationen über die antike Sage vom Stier und der angeblichen Entführung der Europa finden Sie hier. 

 

 

 

 

 

Ideale Fehlbesetzung für das große Glück

Wolf Biermann erzählt vom ewigen Kampf für die Freiheit

Natürlich steht am Anfang die Gitarre. Noch bevor Wolf Biermann irgendetwas gesagt hat in einer Podcast-Aufnahme, die erst enden soll, wenn der Gast der Meinung ist, dass „alles gesagt“ sei, greift er zur Gitarre. Er sing eines seiner Lieder, und stellt dann die Gitarre zur Seite, seufzend fast. „Hier geht es ja nicht im Lieder“, sagt er, „heute soll geredet werden.“ Wie ein stiller Gast wird die Gitarre auf dem kleinen Podium verbleiben, geduldig wartend, bis sie mehr als sieben Stunden später wieder erklingen wird. Dazwischen wurde geredet.

Geredet über Deutschland. „Ist Biermann moderierbar?“, hatte sich Co-Moderator Jochen Wegner, Chefredakteur von „Zeit online“ bei einem Kollegen mit Erfahrung im Umgang mit dem 86-jährigen erkundigt, und als lapidare Auskunft ein „Nein“ erhalten. Diebische Freude hat der kleine Wolf daran, jede Regie durcheinanderzubringen, sich jeder Anweisung zu widersetzen. Eine Schar von Biermann-Fans hatte sich dafür im Rahmen des Hamburger Harbour Literatur-Festivals in einem ausverkauften Tonstudio durchaus kuschelig zusammengefunden.

Gezeichnet von vielen Stunden schwerer Last eines Gesprächs über deutsche Geschichte: Wolf Biermann im Gespräch mit Christoph Amend, Editorial Director ZEITmagazin, bei der Podcast-Aufnahme „alles gesagt“ in Hamburg

Biermann moderiert sich selbst

Biermann führt hier das wortwuchtige Kommando, moderiert sich nahezu selbst in diesem mäandernden Gesprächsmarathon. Ein Leben wird da ausgebreitet, das Leben einer deutschen Ikone der Gegenwart. Wie konnte dieser kleine Mann mit dem markanten, heruntergezogenen Schnauzbart dazu werden?

Im Laufe der Gesprächsstunden mangelt es nicht an Selbstbeschreibungen des putzmunteren Gastes, der von seinen Gastgebern als „größter Drachentöter der deutschen Nachkriegsgeschichte“ begrüßt wurde. Immer wieder tadelt er sich selbst als „Idiot“, schlägt sich gegen die eigene Stirn dabei, spart aber mit solcher Bewertung auch nicht gegenüber seinen Mitmenschen. Vor allem sei er ein Glückskind, eine „ideale Fehlbesetzung“, wundert er sich in eigener Sache. Wer ihm folgt über alle diese Stunden, geduldig den Redeschwall aushält, mit ihm seine häufigen Denkpausen durchschweigt, unterwirft sich seiner geschulten Dominanz, die prallvoll ist von einem deutschen Leben.

Eine Biografie, die verstummen lässt

Zuhören ist also angesagt. Aber diese Biografie lässt ohnehin jeden verstummen, der sie nicht durchlebt hat. Gesäugt an der Brust wurde er, während seine Mutter in den Gestapo-Verhörräumen mit klugen Lügen das Schicksal des Vaters zum Guten zu wenden versuchte. Erfolglos, denn der Vater war zu stolz, sich retten zu lassen. Wolf Biermann, der aus einer Hamburger Kommunisten-Familie stammt, war drei Monate alt, als sein Vater von den Nazis (bereits zum zweiten Mal) verhaftet wurde und nicht mehr freikam, bis sie ihn 1943 in Auschwitz ermordeten. Als Jude, wozu sich der Vater ausdrücklich gegenüber den SS-Schergen bekannt hatte, obwohl er als Kommunist ja eigentlich gar keinen Gott kennen wollte.

Als 17-jähriger siedelte der kleine Wolf Biermann im Jahr 1953 auf Veranlassung der Kommunistischen Partei in die gerade erstandene DDR über, ohne seine Mutter, aber mit ihrem Einverständnis. Schon wieder so ein Glücksfall, meint der Sohn heute, da die Mutter sich niemals dem diktatorischen Duktus der DDR-Bonzen untergeordnet hätte: „Die wäre in Bautzen gelandet“.

Aber so blieb die Mutter im Westen, und der Sohn legte sich im Osten mit den Bonzen an. Unbeugsam verfolgte er seinen künstlerischen Weg, der ihn schon bald isolierte in der berühmten Wohnung in der Chausseestraße, wo seine ersten illegalen Plattenaufnahmen entstanden. Nach und nach geriet Wolf Biermann in die Heldenrolle „dieses deutschen Theaterstücks, das wir aufführen“, wie er sagt.  Wer hätte erwarten können, dass dieser in einer kommunistischen Arbeiterfamilie aufgewachsene Hamburger „Jung“, einmal so gefährlich für den Arbeiter- und Bauernstaat werden könnte, dass dieser ihn 1976 in den verhassten Westen entließ, nur um ihm dann eine Rückkehr zu verweigern?

Loswerden wollten sie ihn, aber das Gegenteil haben sie erreicht

Loswerden wollten sie ihn, den Unbequemen, aber das Gegenteil haben sie erreicht. Er wurde zum Kronzeugen für viele, die dreizehn Jahre später mit dem damals noch so mächtigen, unbelasteten Ruf „Wir sind das Volk“ massenhaft den Kollaps des Systems herbeidemonstrierten. 5000 Menschen kamen am 1. Dezember 1989 zu seinem ersten Konzert nach dem Mauerfall nach Leipzig. Sein Auftritt war damals so bedeutend, dass beide deutschen Fernsehanstalten, Ost wie West, ihn live übertrugen.

Nochmal 25 Jahre später saß der Drachentöter im Bundestag, nicht gewählt, sondern eingeladen, mit Gitarre natürlich, und zupfte sein Lied von der „Ermutigung“. Zuvor aber ließ er es sich nicht nehmen, auch nicht vom launigen Hausherren Norbert Lammert, bei dieser Gelegenheit die unmittelbar vor ihm versammelten Linken-Politiker als „Drachenbrut“ zu beschimpfen. Der Präsident ließ ihn damals gewähren, was ihm Kritik einbrachte, aber beide zu Freunden machte. Vor einiger Zeit, erzählt Biermann, sei er dann von Lammert, der inzwischen Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ist, in die CDU-Parteizentrale eingeladen worden. Dorthin sei er seinem Freund zuliebe natürlich gerne gekommen. Neben Lammert habe dann da aber auch der Friedrich Merz gesessen, und da habe er zu dem gesagt: Na, wenn Sie mich eingeladen hätten, dann hätte ich natürlich abgesagt.

Unbeugsam, rebellisch, selbstgewiss: Es bedarf viel Disziplin, Wolf Biermanns Erzählungen über mehr als sieben Stunden zu folgen. Wer es tut, blickt staunend und sprachlos auf eine deutsche Biografie der Sonderklasse.

Ein Rebell ist er also geblieben, der Kommunistensohn, unbeugsam jetzt als straffer Antikommunist.  Die Mischung aus Schalk und Haltung lässt im Laufe der Gesprächsstunden in Hamburg die Luft immer nebeliger werden vor lauter gelebtem Leben, sanfter Wut und sprachlicher Fantasie. Biermann schreibt Lieder und Gedichte, die oft nicht gefällig sind, anstrengend, aber auch klug, voller Kraft und Wortwitz, der nichts zu tun hat mit dem billigen, berechneten Humor von Komödianten. Ein ganz einmaliges Amalgam schafft er, ist er selbst, eine Mischung aus Stolz und Trotz, aus Reflexion und Scharfsinn, aus kontrollierter Angst und unbändiger Lebenslust.

Und nun? Biermann ist 86 Jahre alt, kein „verdorbener Greis“ (wie er 1989 die Nomenklatura der versinkenden DDR gegeißelt hatte), sondern ein Institution der deutsche Geschichte. Ruhig könnte er sein, sich in Hamburg-Altona zurückziehen. Oft genug Recht behalten, könnte er sich denken, der schon immer vor Putin gewarnt hatte, der die DDR von innen kritisierte, als dazu noch ein Maß von Mut gehörte, das sich die von einem Rechtsstaat verwöhnten Kritiker deutscher Wirklichkeiten von heute gar nicht mehr vorstellen können.

Resignieren ist keine Option, sagt der alte Kämpfer

Aber der proletarische Kämpfer in ihm lebt noch immer. Wie er auf das heutige Deutschland blicke, auf den Rechtsruck im Osten,  wie man das alles aushalten soll mit AfD, mit Populismus, mit dem von Putin angezettelten Krieg?

Lange muss er nachdenken. Mucksmäuschenstill ist es im Tonstudio, keiner zuckt, keiner räuspert, bis Biermann sich eine Antwort zurechtgelegt hat: Der Krieg in der Ukraine, sagt er dann, und auch die Hinwendung vieler Menschen nach rechts, das seien doch letztlich auch nichts anderes als Teile des großen Freiheitskrieges, den die Menschheit führen muss, schon seit Jahrhunderten. Schon immer eigentlich, setzt er hinzu. Zu resignieren sei keine Option, sagt er,  nirgends, die Freiheit gibt’s nur im Kampf, nicht umsonst.

„Was wird mit meinem Vaterland?“

Schließlich der Griff zur Gitarre. „Was wird mit meinem Vaterland?“, singt er, und bricht doch wieder ab. Es gibt noch etwas loszuwerden, über die DDR, über die Feigheit, über die Stasi und die Uneinlösbarkeit ihrer Vertraulichkeitsversprechen. Dann setzt er neu an und bringt das Lied zu Ende. Es geht um Putin und seine Todesfurcht „vor eine Frau, die Freiheit heißt“.

Damit ist nach seiner Meinung alles gesagt, und nach sieben Stunden und vierzig Minuten trotten erschöpft die verbliebenen Zuhörer hinaus in den Hamburger Nieselregen, hinaus in die „fetten finst´ren Zeiten“, wie der in einer jüdisch-kommunistischen Familie aufgewachsene „Drachentöter“ in seinem Schlusslied noch reimte. Finstere, fette Zeiten – es ist der Abend von Freitag, dem 6. Oktober 2023, und am nächsten Morgen ermorden Hamas-Terroristen in Israel mehr als 1200 wehrlose Menschen.

 

Den ZEIT-Podcast mit Wolf Biermann in voller Länge finden Sie kostenlos unter diesem Link: https://www.zeit.de/politik/2023-11/wolf-biermann-interviewpodcast-alles-gesagt

Von dem in meinen Text angesprochene Konzert in Leipzig gibt es einen Mitschnitt auf Youtube, wie auch von Biermanns Auftritt im Deutschen Bundestag zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.  (Klick führt jeweils zu Youtube).

Noch bis 2. Juni 2024 widmet auch das Deutsche Historische Museum in Berlin Wolf Biermann eine Ausstellung: https://www.dhm.de/ausstellungen/wolf-biermann-ein-lyriker-und-liedermacher-in-deutschland/

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Frontalcrash – Über Vertrauen und Freiheit

Wohliges Brummen hinter dem Steuer.

Eine Landstraße voraus, sie verläuft schnurgerade, gut einsehbar bis in die Ferne. Der sauber abgegrenzte Asphalt durchquert eine Senke. Links Wald, rechts Wiesen, durch die Windschutzscheibe liegt das graue Band in Gänze im Blick. Gut überschaubar senkt es sich herab, eine saubere, moderne Straße, zweispurig. Das Stakkato der weißen Striche in der Mitte sorgt für Ordnung. Gerade eben erst hatte das Auto in seiner ganzen betörenden Mühelosigkeit den höchsten Punkt des Hügels erklommen, der diesen Ausblick auf ein Versprechen von Freiheit ermöglicht.

Eine freie Straße – und was geschieht, wenn ein Fahrzeug entgegenkommt? Foto: Lizenzfrei von Sabine auf Pixabay

Die Straße schmiegt sich am tiefsten Punkt in die liebliche Landschaft, die sie durchschneidet, und dann steigt sie wieder an, hoch hinauf auf das Gegenüber des nächsten Hanges. Die Straße erklimmt den Scheitelpunkt, verschwindet dahinter in unbekannten Überraschungen von Natur und Zeit.

Nun geht es bergab.

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Hitziges Streiten am Stammtisch …

… oder im Kollegenkreis. Eine Meinung steht an ihrem Anfang. Sie hat sich gebildet zum Thema Atomausstieg oder zur Frage der Dringlichkeit des Klimawandels. Oder zur Haltung über Krieg und Frieden, zur Notwendigkeit von Lohnerhöhungen, über den Sinn eines Tempolimits. Und fast immer zur Frage, ob die Regierung etwas taugt oder nicht. Die Meinung kommt aus den Untiefen des Unbewussten oder wurde im Lärm der Argumente gebildet, oder sie hat beides durchquert. Sie biegt mal links und mal rechts ab, sie bekommt Schrammen, wird ausgebeult und aufpoliert.

Nun rollt sie stolz heraus aus der Debattenwerkstatt, erobert das breite Band der Meinungsvielfalt in einer demokratischen Gesellschaft. Die Medien wirken wie Treibstoff: Sie tragen sie hoch hinauf auf den Hügel der Wahrnehmbarkeit, fast mühelos. Immer schneller und schneller geht es voran im Diskurs, das breite Band senkt sich herab, gibt der Meinung Schub und Dynamik, und mit diesem Schwung wähnt sich die Meinung schon sicher, den gegenüberliegenden Hang zur Mehrheit zu erklimmen.

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Doch die Straße ist nicht leer.

Während das eigene Auto ruhig auf der rechten Seite der Straße, rechts von den weißen Streifen, dahineilt, gefühlt freudig über die Anstrengungslosigkeit des Hinabrollens, kommt ein fremdes Fahrzeug auf dem gegenüberliegenden Hang entgegen. Ein zufälliger Partner ist das für das Durchleben dieses Augenblicks, unbekannt, niemals gesehen, gelenkt von einer wildfremden Person. Sekunden sind es nur, vielleicht eine Viertelminute, in denen die beiden Gefährte aufeinander zurasen.

Eine kleine Lenkbewegung, vielleicht eine Unachtsamkeit, ein unkluger Blick aufs Handy, eine irritierende Fliege im Auto – was auch immer: Ein paar Zentimeter nach links, und die Begegnung würde taumeln zwischen Folgenlosigkeit und Katastrophe.

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Aber da – was kommt da entgegen?

Eine Gegenmeinung hat sich formiert auf dem grauen Band der Meinungsvielfalt. Breitbeinig rollt sie vom gegenüberliegenden Debattenhügel herunter, gleißend und stolz leuchten die Scheinwerfer ihrer Argumente auf, laut hupt sie, schafft Platz für bange Ängste und große Hoffnungen.

Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden sich Meinung und Gegenmeinung begegnen. Die Meinung überlegt fieberhaft: Welche Lenkbewegung nun? Der Gegenmeinung ausweichen? Schnell die Scheinwerfer aufblenden, die Hupe betätigen? Nur nicht nachgeben, frontal drauf zu!

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Dann ein kaum spürbarer Windhauch.

Ein rasch anschwellendes Brummen und Rauschen ist zu hören – und ist schon wieder verklungen. Im Auto ein leichtes Wanken. Die rasende Begegnung ist vorüber, in einem Bruchteil einer Sekunde nur, und doch war es ein Glücksmoment des vertrauensvollen Miteinanders. Wachsamkeit, Disziplin und Regeltreue haben Leben und Freiheit ermöglicht.

Beide Fahrzeuge verschwinden hinter den Hügeln, welche die Senke begrenzen. Weiter, immer weiter streben sie auseinander, in entgegengesetzte Richtungen, zu anderen Zielen. Leer und still liegt die Straße da, als wäre nichts geschehen.

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Der krachende Zusammenstoß …

… war weithin hörbar gewesen. Übersäht ist nun das graue Band der Meinungsvielfalt mit rauchenden Trümmern. Der Zusammenprall der Meinungen hatte katastrophale Folgen. Überall liegen Beleidigungen und Herabsetzungen herum. Im Aufprall herausgeschleuderte Unterstellungen zucken noch wie abgerissene Körperteile. Hässliche Pfützen von Hass und Hetze verschandeln das graue Band. Böswillige Fehlinformationen schwelen weiter, und noch immer könnten sie einen Flächenbrand auslösen in der Landschaft der demokratischen Gesellschaft.

„Es wäre ein leichtes gewesen“, sagt später im Prozess vor dem Gericht der Wahrheitsfindung ein renommierter Gutachter aus der Wissenschaft. „Der Frontalzusammenstoß wäre vermeidbar gewesen.“ Es hätte genug Zeit gegeben, zu bremsen, vorsichtig aneinander vorbeizufahren, oder gar anzuhalten und nach einem Konsens zu suchen.

„Und warum ist das dann nicht geschehen?“, fragt der Richter der Wahrheitsfindung.

„Man kann es nicht verstehen. Es fehlte wohl am Vertrauen, die Freiheit des anderen  zuzulassen.“

 

 

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Liebe Verbots-Paniker! Ein empörter Brief

Liebe Verbots-Paniker!

Dieses Schreiben richtet sich an Euch. Es richtet sich an solche Mitbürgerinnen und Mitbürger, die bei jeder Diskussion um eine Transformation unserer Gesellschaft herumschreien: „Verbot!“ Wenn diskutiert wird, ob es sinnvoll ist, jetzt noch neue Gas- oder Ölheizungen in unsere Keller zu wuchten – „Verbot!“. Wenn wir diskutieren, ob wir in zwanzig Jahren noch neue (!) Verbrenner-Autos zulassen sollten – „Verbot!“. Wenn Zweifel bestehen, ob es eine kluge Idee ist, rund um Schulen und Kindergärten oder in Kinder-Fernseh-Sendungen für Süßigkeiten zu werben – „Verbot!“. Oder ob ein strengeres Waffenrecht angebracht wäre? – „Verbot!“ Und wenn über ein Tempolimit auf Autobahnen gesprochen wird, oder über Tempo 30 als Regelfall innerhalb von Ortschaften – dann sowieso: „Verbot!“. Wenn das Ausmaß unseres Fleischkonsums kritisch hinterfragt wird – „Verbot!“.

Liebe Verbots-Paniker,

ich kann es nicht mehr hören. Euer Geschrei geht mir auf  die Nerven, weil es mich und die Gesellschaft intellektuell unterfordert. Habt Ihr Eure Kindheit nicht überwunden? Ja, ich erinnere mich selbst gut daran, wie ich es als Kind gehasst habe, etwas verboten zu bekommen. Es war so interessant, was da auf der Herdplatte köchelte. Es war so spannend, was es da hinter dem Bauzaun in der tiefen Grube zu sehen gegeben hätte. Aber ich durfte nicht. Als ich dann selbst Kinder zu erziehen hatte, habe ich mir vorgenommen: Keine Verbote! Und was war das erste, was ich aussprach? Verbote! War das bei Euch anders?

Was hat es mit „verbieten“ zu tun, darüber zu diskutieren, welche Technik sinnvollerweise neu einzubauende Heizungen haben sollten?

Jetzt bitte nicht das Argument: Damals waren wir doch Kinder, aber jetzt sind wir erwachsen! Als ob das eine Garantie wäre, dass wir alles aus purer Vernunft heraus machen: Auto fahren immer nur so schnell, dass es niemanden gefährdet. Leise sein, um niemanden zu stören. Rücksicht üben, wo es möglich ist. Wäre es so, könnten wir auf die ganze Polizei, die Justiz, die Gefängnisse, die Gerichtsvollzieher verzichten. Ist es aber nicht. Wir brauchen Regeln, und dazu zählen auch Verbote.

Und die Freiheit, fragt ihr?

Die Art von Freiheit, die Ihr hier ungebeten ans Tageslicht zerrt, die hatten vielleicht unsere Ur-Vorfahren in der Höhle. Aber seit wir diese verlassen haben, schränken wir uns gegenseitig unsere Freiheit ein, weil sonst ein Zusammenleben nicht funktionieren würde. „Die Freiheit eines jeden beginnt dort, wo die Freiheit eines anderen aufhört“, wusste schon der kluge Immanuel Kant. Freiheit und Regeln gehören zusammen – es gibt das eine nicht ohne das andere.

Verbote begleiten un seren Alltag. Was also soll die dümmliche Verbots-Empörung bei jeder neuen Regel-Diskussion?

Oder wollt Ihr das jetzt ändern? Zulassen, dass jeder Dahergekommene in Euere Wohnung oder euer Haus eindringt?  Schon jetzt ist es verboten, seinen Kindern die Schule vorzuenthalten. Schon jetzt muss jedes Jahr ein Kaminkehrer messen, ob der Dreck aus unseren Schornsteinen noch unter einer bestimmten Höchstgrenze liegt. Schon jetzt müsst Ihr alle zwei Jahre zum TÜV mit Eurer Freiheitskarre. Schon jetzt braucht Ihr einen gültigen Führerschein zum Rumfahren, sonst ist es verboten. Sind das alles auch Verbote, die Ihr abschaffen wollt? Wollt Ihr allen Erstes plattgefahren werden von irgendeinem Troll, der ohne Führerschein und wirksame Bremsen unterwegs ist? Wäre das Eure Freiheit?

Kann man so verblendet sein?

Das darf doch nicht wahr sein, dass man das nicht versteht. Was hat denn das mit „Verbot“ zu tun, wenn eine Gesellschaft die Grenzen zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl immer wieder neu diskutiert? Kann man so verblendet sein, das nicht zu verstehen? Die Erde heizt sich auf, und wir müssen reagieren, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Auf dem Herd der Klimakatstrophe kocht die heiße Brühe, und wenn manche das nicht glauben wollen, dann wird es wohl verboten werden, den brodelnden Topf vom Herd zu ziehen. Denn sonst verbrühen wir uns alle.

Also, liebe Verbots-Paniker,

rüstet doch bitte einfach mal ab. Nicht jede Diskussion über eine Veränderung in der Gesellschaft ist ein „Verbot“. Wir diskutieren neue Regeln, und gerne kann jeder aus irgendwelchen, auch egoistischen, Gründen gegen diese oder jene neue Regel sein. In unserer Demokratie könnt ihr dagegen opponieren, die Notwendigkeit bestreiten, dafür werben, darauf schimpfen, was auch immer. Aber lasst bitte die „Verbot!“-Keule im Sack. Verbote sind schon jetzt ein sinnvolles und notwendiges Instrument zur Regelung unseres Zusammenlebens. Es pauschal doof zu finden, dass einem etwas verboten wird, ist kindisch.

Immer noch nicht überzeugt? Es gefällt Euch einfach zu gut, erwachsene Leute billig und populistisch an ihre verbotsgeschwängerten Kindheitserinnerungen zu packen, statt um ihre erwachsene Vernunft zu werben? Dann stellen wir uns mal bitte gemeinsam eine Welt vor, in der es keine Regeln, also auch keine Verbote mehr gibt, in der einfach jeder machen kann, was er will.

Das ist dann grob gesagt die Welt unserer Höhlenvorfahren, in der das Recht des Stärkeren gilt. Keule drauf und fertig. Es gibt genügend Regionen in der Welt, wo man Reste davon besichtigen kann. Und was dort als erstes verboten wird, das ist die eigene Freiheit.

Mit empörten Grüßen

Der #Politikflaneur

 

 

Auf die Idee zu diesem Text hat mich u.a. das kluge Interview mit Ulrich Wegst im Deutschlandfunk Kultur gebracht, das ich zum Nachlesen empfehle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ulrich-wegst-verzicht-100.html

 

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Der Barde und die Baby-Boomer

Ein Essay über den Liedermacher Reinhard Mey, die Freiheit und die Verantwortung

Es gab nichts zu verantworten für die Schüler in der Kleinstadt, aber die Institution nannte sich trotzdem „Schülermitverantwortung“. Für den Schulrektor waren sie eine potenzielle Störung des Schulalltags, für die Lehrer aufschneiderische Wichtigtuer, für die meisten Schüler entweder selbstverliebt oder machtlos oder beides. Dennoch: einmal im Monat, nach dem Unterricht, früher Nachmittag, fand die gemeinsame Sitzung der von ihren gymnasialen Klassen gewählten Schülersprecher statt. Ort: Klassenraum 3.32, dritter Stock, Linoleum, zotiges Gekritzel auf den Schulbänken. Der abgegriffene Holzzirkel drohte von der Wand, die Tafel war verschmiert.  Man atmete den Muff des letzten Unterrichts, befühlte die fremden getrockneten Kaugummis unter Bänken und Stühlen. Irgendjemand hatte Jasmin-Tee gekocht, der neueste Schrei unter den Gymnasiasten, und bröckeligen Kandiszucker besorgt. Gesucht waren Ideen, was mit der Mitverantwortung anzustellen sei. Was könnte man den Schülern bieten?

70er Jahre: Mond betreten, Jasmin-Tee mit Kandiszucker

Es war die Zeit, als der Mond gerade eben vom Menschen betreten und, wie erwartet, als staubig und unwirtlich vorgefunden worden war. Die olympischen Spiele in München standen noch bevor. Beginn der siebziger Jahre in Deutschland, das Ende des kriegerischen Jahrhunderts dämmerte schon am fernen Horizont. Die Generation der „Baby-Boomer“ (die man damals noch nicht so nannte) sorgte für überquellende Klassenzimmer, seit im Land der Kriegsverursacher Frieden und Wohlstand eingezogen war.

Dazu immer Musik! Wenn es nicht die Beatles oder Stones waren, wenn es deutsch sein sollte, dann Peter Alexander, Roy Black oder Tony Marshall. „Mein Freund, der Baum“, die frühe Öko-Hymne der 1969 tödlich verunglückten Sängerin Alexandra war textlich schon herausragend anspruchsvoll gewesen, sonst aber waren deutsche Lieder rosarot und seicht.

Die erste verwöhnte Generation

„Was bin ich?“ fragte sich ganz Fernsehdeutschland vor dem Bildschirm, aber eine Antwort gab es dort nicht. Nur viele neue Fragen taten sich auf, wenn die einstigen Trümmerfrauen, die bescheiden wohlstandsstolzen Vertriebenen und die noch immer traumatisierten Kriegsheimkehrer auf ihre Kinder blickten: langhaarige, barttragende, dauergewellte Schlaghosenträger/innen. Auch diese Generation war sich einig in der Abgrenzung zu ihren Eltern, die nur schaufeln und schaffen und wegschauen wollten. Aber die ersten Kinder des Wirtschaftswunders waren auch schon verwöhnt vom Wohlstand, in dem sie satt und sehnsüchtig dem nächsten elternfinanzierten Italienurlaub entgegenträumen konnten.

Der Liedermacher und seine Generation: Reinhard Mey füllt jetzt große Hallen, in Stuttgart waren es mehr als 5000 Zuhörer/innen.

Der Frieden schien gesichert im Schatten der Waffen

Zurück lag der Aufruhr des Sommer 1968, als in den Großstädten Auflehnung gegen die Lähmschicht des Stillstandes und der stillen Verleugnung sich den Weg bahnte. Wütende Studierende hatten die Ruhe in den deutschen Wohnzimmern gestört, Pflastersteine waren geflogen gegen damals noch lächerlich schwach geschützte Polizisten. Schaufenster splitterten. Und die zerfetzten Bild-Zeitungen lagen im Schlamm der Straßen, durchweicht vom Nass der Wasserwerfer, mit deren Hilfe der verzweifelte Staat dem rebellischen Treiben seiner Jugend hatte Einhalt gebieten wollen. Vorbei war die Kuba-Krise und die Niederschlagung des Prager Frühlings, das System der atomaren Abschreckung war im Gleichgewicht, stabiler Frieden schien gesichert im Schatten der tödlichen Waffen.

Die Krawalle in München, Berlin oder Frankfurt hatten die Schüler-Mitverantwortlichen, genauso wie die Mondlandung, nur in verschneiten, wackeligen Schwarz-Weiß-Bildern auf der gewölbten Oberfläche des heimischen Fernsehers erlebt. Für die Provinz-Gymnasiasten in Raum 2.32 war alles das wichtig gewesen, aber auch sehr weit weg.

Dann holte einer ein mobiles Tonband hervor, fummelte das Kabel in die Steckdose, drückte ein paar Tasten. Mitschnitt aus dem Radio, vor ein paar Tagen, sagte er.

„Ich wollte wie Orpheus singen …“

„Ich wollte ….“, sang eine schüchterne Männerstimme, „… wie Orpheus singen“, tastete sich das Lied, begleitet nur vom Zupfen einer Gitarre, zwischen das Rauschen und Knacken im schwächlichen Lautsprecher. „Ich wollte wie Orpheus singen, dem es einst gelang, Felsen selbst zum Weinen zu bringen – durch seinen Gesang…“

„Reinhard Mey!“, riefen gleich mehrere Schülermitverantwortliche. Und dann war die Idee schnell geeint: Macht der nicht eine Tournee? Ganz sicher wird er nicht in unsere Kleinstadt kommen, aber vielleicht in den größeren Ort in der Nähe, könnten wir nicht eine Fahrt dorthin organisieren?

Dieser Mann war damals 29 Jahre alt und sang bisher ungehörte deutsche Lieder. Reinhard Mey tourte mit seiner Gitarre durch die Hinterzimmer und kleineren Säle des Landes. 1967 hatte er seinen ersten Plattenvertrag ergattert, verglich sich mit Orpheus, spottete über deutsche Krimis, in denen „immer der Gärtner“ der Mörder sei und erlebte 1972 seinen ersten Popularitätsdurchbruch mit der Ballade „Gute Nacht, Freunde“.

Politisch, aber nicht rebellisch

Es waren die Texte seiner Lieder, die dem Lebensgefühl junger Menschen in den Siebziger-Jahren Ausdruck verliehen. Reinhard Mey (und andere, wie Hannes Wader oder etwas später Konstantin Wecker) trafen den Nerv einer Jugend, die politisch sein wollte, aber nicht mehr so rebellisch wie ihre älteren Geschwister. Es waren 15-, 17-, 19-Jährige, denen es dank ihrer fleißigen Eltern gut genug ging, dass sie es sich nun leisten konnten, das Zuhören zu lernen.

120 Mark kostete die Miete für den Bus, der die Schüler des Kleinstadt-Gymnasiums zur Halle in der Regionalmetropole brachte. Zwanzig Teilnehmer hatten sich bei der Schülermitverantwortung für die Fahrt angemeldet. Als es so weit war, trat der junge Barde vor den beigefarbenen Vorhang. Der Saal war vollbesetzt mit vielleicht dreihundert jungen Menschen, die hören wollten, was damals neu und ungewohnt war: Deutsche Texte, sanft, nachdenklich machend, diskursiv, auch öfters spöttisch. Es war ein Ton, der die dumpfe Selbstgerechtigkeit der Nachkriegsjahre genauso hinter sich ließ wie den gewaltgeprägten Krawall der 68er-Bewegung.

Still war es damals im kleinen Saal, …

Ganz still war es damals im stickigen Saal, kein rhythmisches Klatschen, keine Feuerzeuge, nur das Zuhören junger Menschen und dann Beifall und Hoffnung auf eine Zugabe, vielleicht noch eine Zugabe. Damals waren die Lieder von Reinhard Mey Teil der Veränderung, die bevorstand. Sie waren in ihrer Einfachheit – nur eine Gitarre und ein Mann, der singt – eine Vision für eine neue deutsche Nachdenklichkeit. Sie kündeten früh von jener Achtsamkeit, die wir uns heute mühsam abringen. Sie nahmen auch den Spott vorweg, der nun Comedy heißt.

… heute warten 5000. Graue Locken bestimmen das Bild

Zeitsprung! Stuttgart, Porsche-Arena, Oktober 2022. Fünfzig Jahre sind vergangen, der Sänger ist an Jahren gealtert wie auch sein Publikum. Graue Locken bestimmen das Bild, wackelig und tastend auf Geländersuche staksen die Klassenkameraden der einstigen Schülervertreter über die steilen Stufen der Riesenarena in ihre Sitzreihen.

Beifallumrauscht, gleichermaßen vorfreudig wie vorsichtig, nimmt der fast achtzigjährige Reinhard Mey die Stufen hinauf zur Bühne, auf der seine Gitarre schon wartet. Still wird es auch jetzt noch im dunklen Saal, wenn der Barde die Gitarre zupft. Jetzt sind es mehr als 5000 Menschen, die einem alten, weißen Mann zuhören, der ihnen noch immer etwas zu sagen hat. Es ist eine demutsvolle, sehr persönliche Rückschau, zu der er einlädt, ein sanfter, dankbarer Blick auf ein Leben voll Liebe und Wein, auf Momente von Glück und tiefer Trauer, auf die eigenen Kinder, die nahen Mitmenschen, auch auf die Annäherung an den Tod.

Politisch hält sich der Liedermacher auf der Bühne zurück

Ein Mann, seine Stimme, eine Gitarre. Im Dezember wird Reinhard Mey 80 Jahre alt. Er trifft noch immer den Ton seiner Generation. Aber welcher Ton ist das?

Politisch hält sich der Liedermacher auf der Bühne zurück. Das war nicht immer so. Immer wieder hat sich Reinhard Mey in seinen Liedern dezidiert politisch und pazifistisch positioniert.  „Nein, meine Söhne geb ich nicht …“ textete er 1986 im gleichnamigen Lied, „… sie werden nicht in Reih und Glied marschieren, nicht durchhalten, kämpfen bis zuletzt.“ Lieber werde er „mit ihnen in die Fremde ziehen, in Armut und wie Diebe in der Nacht.“ Im April 2022, im ersten großen Schock über den Krieg in Europa, hatte sich Reinhard Mey als Erstunterzeichner dem umstrittenen „Offenen Brief“ angeschlossen, in dem zahlreiche Künstler und Intellektuelle zur Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine aufriefen.

Im Konzert sagt oder singt er kein Wort dazu. Aber dann, fast zum Schluss, schon als Zugabe, stimmt Mey seinen größten Erfolg an. Es ist die stille Hymne auf den Traum einer grenzenlosen Freiheit, die man wohl nur über den Wolken, nicht bei uns auf der Erde finden könne. „Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben dahinter verborgen. Und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.“

Der betörende Mehrklang der Wohlstandsfreiheit

Noch immer trifft der Liedermacher den Ton seiner Generation. Es ist der ungemein verlockende, in seiner Schönheit so betörende Mehrklang aus Sehnsucht und Tatenlosigkeit, der dieses Lied für viele Menschen berührend macht. Es ist ein Statement für eine Wohlstandsfreiheit, die nicht erkämpft oder aktiv verteidigt werden muss.

Leider ist die Welt von heute nicht so. Die Baby-Bommer werden nicht umhinkommen, noch einmal neu zu lernen, Verantwortung zu übernehmen.

 

 

Reinhard Mey ist noch bis 15. Oktober 2022 auf Tournee. Ich habe das Konzert am 18. Oktober 2022 in Stuttgart erlebt.

Die angesprochenen Lieder habe ich jeweils direkt im Text verlinkt, jeweils zu Youtube. Wenn Sie draufklicken, stimmen Sie der Weiterleitung zu. Es lohnt sich, zuzuhören!

Mich persönlich hat auch eine Neuversion des pazifistischen Liedes „Meine Söhne geb ich nicht“, eine Gemeinschaftsproduktion von Reinhard Mey und mehreren weiteren Künstlern sehr angesprochen. Die Künstler werben damit für https://friedensdorf.de/

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Rucksack und Rücksicht – Ein Reise-Essay

Hinaus in die Welt!

Es ist Sommerzeit, die Sonne scheint, mehr als es uns und der Natur guttut. Urlaub steht an, die „wertvollsten Wochen des Jahres“, wie eine Werbung einmal versprach. Viele sind unterwegs, und es ist ihre wohlverdiente Freiheit.

Hinaus in die Welt! – Ein großer Rucksack lässt über das Thema Rücksicht beim Reisen nachdenken.

Diese Reise startet in einem ICE: Dicht gedrängt sitzen die Fahrgäste der 2. Klasse. Kein freier Platz, genervte Stimmung, stickige Atmosphäre trotz Klimaanlage. Der vollbesetzte Zug rollt in den Bahnhof ein, einige wenige Passagiere steigen aus, viel mehr steigen ein. Die Neuankömmlinge quetschen sich im Gang aneinander vorbei, es herrscht erhöhte Unruhe. „Au!“ schreit eine Dame auf, kurz dimmt die Lautstärke im anrollenden Waggon herunter, alle schauen sich um, wenige haben etwas gesehen. Die Dame ist Opfer einer Drehbewegung geworden. Sie hat einen Schlag in die Schläfe erlitten.

Voll strahlender Freude eines sommerlichen Aufbruchs, …

Ein junger Mann mit schwarzem Bart im schmalen Gesicht und langen, zu einem lockeren Zopf zusammengebundenen Haaren, schaut sich um nach einem freien Platz, den es nicht gibt. Auch seine Begleiterin blickt wachsam in die Welt, neugierig, freundlich. Das junge Paar im Zug strahlt die ganze Freude aus, die einem sommerlichen Aufbruch innewohnen kann. Noch ein paar Stationen im ICE, nach Frankfurt-Flughafen, dort hinein in das Koloss für weltweite Mobilität, ein paar Stunden des Wartens und Schlangestehens, dann hinein in den Flieger, der sich mit aufheulenden Triebwerken von der Schwerkraft des Bodens lösen wird, nach Amerika, nach Australien, nach Afrika, wohin auch immer – hinaus in die Welt!

… die Welt im Blick, aber nicht den eigenen Rücken.

Jetzt aber haben beide schwere Backpacker-Rucksäcke auf dem Rücken. Sie haben die Welt im Blick, aber eine Wahrnehmung für den Radius, den ihre Rucksäcke raumgreifend erfordern, haben sie nicht. Vielleicht haben sie noch nicht einmal bemerkt, dass der Schmerzenslaut im nervösen Getümmel etwas mit ihnen zu tun hatte. Wenn doch, hätten sie sich bestimmt entschuldigt. Aber sie haben eben keinen Blick nach hinten – keine Rücksicht. Also reibt sich die Dame den Hinterkopf.

Es ist eine privilegierte Form von Freiheit, zum Vergnügen zu reisen

Es setzt voraus, dass man selbst in Freiheit lebt und es sich leisten kann. Milliarden Menschen können nicht aus Spaß unterwegs sein, weil der Staat es ihnen verbietet, oder weil sie zu arm sind, oder alt und krank. Millionen Menschen werden vom Schicksal zu einer „Reise“ gezwungen, weil sie fliehen müssen vor Hunger, Verfolgung, Vernichtung, aber sie kämen niemals auf die Idee, es so zu nennen. Andere können es sich mangels Bildung, oder weil ihnen ein angemessener Zugang zu Information fehlt, noch nicht einmal vorstellen, irgendwohin aufzubrechen. Der Reisbauer in Bangladesch oder der Tagelöhner in Indien kämpft täglich um seine Existenz und denkt nicht ans Reisen. Allenfalls fährt er manchmal im überfüllten Bus zu seiner Familie aufs Land.

Hinaus in die Welt! Der Motor röhrt potent, das Band der Straße flirrt frei und einladend in der Sonnenglut, das Gaspedal gedrückt, die nostalgische Tachonadel erreicht die 200. Vielleicht sind es die Eltern dieses jungen Mannes im ICE mit dem großen Rucksack, die jetzt gerade die Straße unter ihrem Porsche spüren. Draußen strahlt die Sonne, es herrscht Traumwetter, also das Cabrio-Verdeck zurückgefahren, frische Briese um die Nase.

30 Liter Super für eine Spritztour?

Sicher, man könnte zum Abendessen auch beim Italiener um die Ecke einkehren, aber bei diesem Wetter kann man doch auch zum See hundert Kilometer fahren, den Rausch der Geschwindigkeit einsaugen, den Fahrtwind in den Haaren spüren, das Plätschern des Sees hören, den vorbeiziehenden Fähren zugucken. Und dann, nach dem Essen beim Edel-Italiener am Seeufer, geht es zurück nach Hause in der anbrechenden lauwarmen Sommernacht. Dreißig Liter Super verbraucht für die abendliche Spritztour, in die Luft gepustet, das Klima geschädigt. Es war ihre Freiheit.

Dann kommen die Porsche-Eltern heim, zurück in ihre elegante Maisonette-Wohnung, trinken noch ein Glas Wein auf dem Balkon, den Blick auf die nachtglitzernde Stadt. Bald ruhen sie im komfortablen Boxspring-Bett und es ist Nacht, tiefe Nacht, und es sollte Stille sein.

Mit dem Moped um den Globus?

Ist es aber nicht. Unter dem offenstehenden Fenster, das die wohltuend kühle, sternendurchfunkelte Luft hereinströmen lässt, entfaltet sich blubbernd-heulender Krach. Den Lärm hat nicht jemand zu verantworten, der zu dieser frühen Stunde zur Arbeit eilen will. Es ist auch keine Sirene, weil irgendwer in der Not der Hilfe bedürfte. Nein, zu hören ist das Aufheulen eines Mopeds, einmal, wieder, nochmal. Zwei junge Männer stehen um das Gefährt herum, unterhalten sich zu dieser Unzeit lautstark über seine Leistung und Vorzüge, und zum Beweis von Potenz, ihrer eigenen und der des klapprigen Zweirades, lassen sie den Motor aufheulen. Wieder, jetzt wieder. Vielleicht will einer von ihnen morgen früh noch aufbrechen, hinaus in die Welt, mit dem Moped um den Globus- oder wenigstens ans Mittelmeer?

Es wäre seine Freiheit. Aber es gibt keine Freiheit, nachts zur Unzeit und ohne Not zu lärmen, denn es herrscht die gesetzlich bestimmte Nachtruhe. Wo bleibt also die Rücksicht?

Rücksicht begrenzt die Freiheit nicht

Rücksicht begrenzt die Freiheit nicht, sie ermöglicht sie sogar erst, denn ohne Rücksicht finden wir uns in einem kalten Land bösartiger Egoisten wieder. „Rücksicht bedeutet, die Freiheitsräume des anderen zu respektieren“, schreibt der frühere Benediktinermönch Anselm Bilgri. Rücksichtslosigkeit ist ein Krebsgeschwür, an der die Freiheit sterben kann. Sie bildet Metastasen, denn wer Rücksichtslosigkeit erlebt, versteht weniger, warum er selbst rücksichtsvoll sein sollte. Umgekehrt wirkt Rücksicht wie eine Impfung gegen die Kälte im Miteinander: Wer viel Rücksicht ausübt, wirkt ansteckend auf andere. Rücksicht ist eine Haltung, man kann sie durchgängig einnehmen, von früh bis Abend, in der Familie und Ehe, unter Nachbarn, beim Einsteigen in die S-Bahn, beim Verhalten im Restaurant, immer und überall. Rücksicht kostet nichts. Rücksicht macht glücklich.

Vielleicht brauchen wir im Sommer noch ein wenig mehr Rücksicht

Fast scheint es so, als bräuchten wir im Sommer, wir alle unterwegs sind und uns dabei ständig über den Weg laufen, da die Fenster offenstehen und uns mehr verbinden als trennen, noch eine Portion Rücksicht mehr, damit wir frei sein können. Denn es ist die Rücksicht der Stillen, die den Lärmenden ihre Freiheit erst ermöglicht, da wir sonst in einer unerträglich lauten Welt leben würden.

Gute Reise! Aber bitte mit Rücksicht.

Es ist die Rücksicht der Reisenden, ihre sommerliche Reisefreiheit so auszuleben, dass der Schaden für die anderen begrenzt bleibt. Vielleicht geht es ohne Flugzeug? Vielleicht reicht Tempo 100? Vielleicht lässt sich der Co2-Schaden wenigstens kompensieren? Denn auch der Reisende im Auto und Flugzeug profitiert von der Rücksicht der Alten und Kranken und Sesshaften, der Rad- und Bahnfahrer, die mit ihren Steuern helfen, dass eine Autobahn gebaut wurde und das Flugbenzin subventioniert wird.

Also gute Reise! Hinaus in die Welt! Aber bitte mit Rücksicht.

 

Den klugen Text von Anselm Bilgri über die Rücksicht finden Sie hier: https://anselm-bilgri.de/ruecksicht-eine-forderung-zuerst-an-sich-selbst/

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„Sie dürfen!“ – Ein Wort hat Konjunktur

Eine sprach-politische Betrachtung über das Wort „Dürfen“ in einer freien Gesellschaft

„Das wird man doch noch sagen dürfen“, schnauzt der Querdenker in die bereitstehenden Mikrofone der angeblichen „Lügenpresse“ – und unterstellt mit seiner Formulierung, dass es ihm irgendjemand verboten hätte, seine schräge Sicht der Dinge zu formulieren.

„Ich darf doch wohl anderer Meinung sein als Du“, ist der ultimative Schlusspunkt mancher innerfamiliären Auseinandersetzung, als ob die Freiheit der Meinung in Frage gestellt worden wäre – und nicht die Stichhaltigkeit des Arguments.

„Sie dürfen schon mal Ihre Karte reinstecken“, sagt die Supermarkt-Kassiererin zum solventen Kunden, der seinen Einkauf bezahlen will.

„Sie dürfen sich erstmal ins Wartezimmer setzen, es dauert noch einen Moment“, erteilt die Assistenz in der Hausarztpraxis dem schmerzgeplagten Patienten die hoheitliche Erlaubnis zum Hinsetzen.

Das Dürfen hat Konjunktur

Die „Dürfen“-Kurve in der deutschen Sprache seit 1946: Ein Wort hat Konjunktur. Seit 2016 geht die Wortverwendung besonders steil nach oben. Quelle: DWDS-Wortverlaufskurve, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, abgerufen am 20.4.2022.
Der historische Höhepunkt für das „Dürfen“ in der deutschen Sprache lag in der Zeit des Nationalsozialismus. (Datenbasis unterschiedlich zur Statistik ab 1946) Quelle: DWDS-Wortverlaufskurve für „dürfen“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, abgerufen am 20.4.2022.

Das Dürfen hat Konjunktur. Das ist nicht nur ein Gefühl, sondern sogar messbar. Die Wortverlaufskurve des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS) zeigt steil nach oben, wenn es um das Dürfen geht. Die vermeintliche Erlaubniserteilung wird im Deutschen heute so viel verwendet wie seit der Zeit des Nationalsozialismus nicht mehr. Der statistische Wert von heute übertrifft sogar den damalige Dürfen-Terror. Das steht als sprach-politische Botschaft donnernd im Raum, auch wenn die unterschiedliche Datenbasis der Zeiträume einen solchen Vergleich aus wissenschaftlicher Sicht ausdrücklich nicht erlaubt.

Die Wörter-Statistik kommt erwartbar komplex zustande – kurz zusammengefasst sieht sie so aus: Ausgewertet werden zigtausende schriftliche Dokumente aus Belletristik, Zeitgeschehen, Zeitungen und Zeitschriften, und – seit es sie gibt – auch elektronische Medien. Das Dürfen hatte seinen Beliebtheitshöhepunkt in der deutschen Sprache zwischen 1930 und 1939 – und jetzt wieder. Vor allem seit 2016 steigt die Verwendungskurve für das Wort „Dürfen“ wieder steil nach oben.

„Mein schönes Fräulein, darf ich´s wagen?“

„Er darf hereinkommen“, sagte in vergangenen Zeiten der Despot zum Bittsteller, den er noch nicht mal für würdig erachtete, ihn direkt anzusprechen. Der Fürst saß und der Bittsteller durfte in der Regel stehen, was immerhin eine Parallelität zur Situation an der Supermarktkasse sein dürfte.

„Mein schönes Fräulein, darf ich´s wagen,“, lässt Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) seinen Faust das Fräulein fragen, „meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“, in einer geradezu herzzerreißend verliebten Mischung aus direkter und indirekter Ansprache. Hier ist klar: Der höfliche Herr ist ein gut erzogener Bittsteller, das junge Fräulein erlaubt ihm, ihr den stützenden Arm zum Spaziergang zu reichen. Die Erlaubnis zum Dürfen wird nicht ungefragt erteilt.

Nach dieser Ordnung wäre es richtig, wenn der Kunde im Supermarkt fragt: „Darf ich schon loslegen mit der Karte?“ und die freundliche Kassenkraft antwortet: „Ja, Sie dürfen!“ Ach, da hört man doch schon das geschundene Discounter-Personal im Chor dem Autor zurufen: „Sie dürfen sich mit Ihren Spitzfindigkeiten gerne mal einen Tag an diese Kasse setzen!“ – was auch wieder im Wortsinn korrekt wäre, denn die Erlaubnis dazu wäre zweifellos vorab entsprechend von denjenigen zu erteilen, die da immer sitzen.

„Dürfen“ steht für Erlaubnis, Bitte, Aufforderung, Befürchtung

Ein Blick in das bereits zitierte Wörterbuch lehrt, dass die Bedeutungsvielfalt des Dürfens deutlich über die klassische Erlaubnis hinausgeht. Es darf auch als ethisch intendierter Imperativ gemeint sein: „Du darfst keine Tiere quälen!“ Auch der Ausdruck einer Bitte ist erlaubt – allerdings eher in verneinender Form: „Das darfst du bitte dem Vater nicht sagen …“, eine Befürchtung darf formuliert werden „Der VfB darf auf keinen Fall absteigen!“, oder in Verbindung mit dem Konjunktiv eine Wahrscheinlichkeit: „Morgen dürfte es regnen“. Die Varianten des Dürfens sind vielfältig, und so verneigen wir uns vor all jenen Menschen, die nicht von der Kindeswiege an in unserer wunderbaren Sprache aufwachsen konnten und die vielfältig unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten des Dürfens als Erwachsene bei vollem Bewusstsein erlernen müssen.

In den 70er-Jahren war „Dürfen“ nicht in Mode

Der statistische Tiefpunkt bei der Wortverwendung des Dürfens lag übrigens im Jahr 1977. Das war eine Zeit, in der die Studenten-Revolutionäre von 1968 den Marsch durch die Institutionen erfolgreich begonnen hatten. Eine sozialliberale Regierung bestimmte über Deutschlands Schicksal und musste sich mit dem Schrecken des RAF-Terrorismus herumschlagen. Die Überwindung des „Muffs unter den Talaren“ war im Gange. Es ging um Emanzipation und gegen die Atomkraft, drei Jahre später wurde in Westdeutschland die grüne Partei gegründet. Es war eine Zeit, in der mehr über das Wollen und das Können diskutiert wurde. Etwas zu „dürfen“, das war nicht up to date.

Seither klettert die Nutzungskurve des Dürfens wieder dauerhaft nach oben. „Wir haben sogar an einer Bundestagssitzung teilnehmen dürfen“, sagt der Oberstufenschüler nach der Berlinreise seiner Schulklasse, wobei sich die Frage stellt, ob er das in einer öffentlichen Sitzung nicht immer hätten tun können, wenn er es denn gewollt hätte. Oder er hätte die TV-Übertragung anschalten dürfen.

Sensibilität für unsere Werte ist gefragt

Alles nur sprachliche Petitessen? Nein, Ausdruck einer Geisteshaltung. Das „Dürfen“ setzt in allen geschilderten, alltäglichen Zusammenhängen voraus, dass es einer Erlaubnis dafür bedürfen würde. Das ist nur in den wenigsten Fällen so gegeben. In einem freiheitlichen Staat darf jeder alles sagen oder tun, auch jeden noch so großen Unsinn, wenn er nicht nach den Gesetzen unseres Landes anderen schadet, sie beleidigt oder offensichtlich lügt. Die empörte Betonung „Das darf man doch wohl noch sagen!“ ist deshalb eine Herabsetzung hoher Werte unserer individuellen Freiheit, weil sie unterstellt, da sei etwas nicht erlaubt.

Sensibilität für diese unsere Werte, die übrigens gerade in der Ukraine mit Menschenleben gegen einen Angriff verteidigt werden, ist auch im Alltag nicht fehl am Platz. Der Kunde „darf“ nicht an der Kasse zahlen, sondern er muss. Der Patient „darf“ sich nicht ins Wartezimmer setzen, sondern er soll es, weil Frau Doktor noch zu tun hat, was ja völlig in Ordnung ist. Und das Herumstehen im Gang verträgt sich nicht mit dem Datenschutz. Es ist also keine höfliche Erlaubnis, sondern eine sinnvolle Aufforderung, gedeckt durch das Hausrecht.

Und diesen Text, den dürfen die geschätzten Leserinnen und Leser nicht lesen oder hören, weil der Autor es erlaubt, sondern weil sie es wollen.

„… aber dürfen hab´ ich mich nicht getraut!“

Was ist das für eine Gesellschaft, in der die Grenzen zwischen Wollen, Müssen, Können und Dürfen immer weiter verschwimmen, sich verrühren zu einem schlierigen Einheitsbrei? „Mögen hätt‘ ich schon wollen, aber dürfen hab´ ich mich nicht getraut“, formulierte der Münchner Künstler Karl Valentin (1882-1948) sehr treffend.

Also bitte, hier ein Appell an alle selbstbewussten Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft: Flatten the „Dürfen“-Curve! Wer etwas mag, kann es wollen und muss es nicht dürfen.

 

Die zitierte Wortstatistik zu „Dürfen“ finden Sie hier: https://www.dwds.de/wb/d%C3%BCrfen#:~:text=Mehr-,d%C3%BCrfen%20Vb.,haben‚.

Um Karl Valentin geht es auch in meinem Text zum Valentinstag. 

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Der Krieg ist da – Eine politische Erzählung

Ein warmer Augusttag, mitten in den Schulferien. Eigentlich Hochsommer, aber es war nicht so warm, dass das gemeinsame Abendessen im Garten einladend gewesen wäre. Die Mutter klapperte in der Küche herum, bald sollte es ein klassisches Abendbrot geben: Schwarzbrot, Käse, Wurst, ein paar saure Gurken. Der Zwölfjährige lümmelte im heimischen Wohnzimmer auf dem Sofa herum. Ein Strahl der Abendsonne brach durch die Wolken und ließ die hölzerne Bücherwand kurz aufglänzen: Tolstoi, Mann, Kafka – der Blick des Kindes huschte über die vertrauten Rückenbeschriftungen. Dann blätterte es weiter in der neuen „Micky Maus“, gerade heute noch vom Kiosk geholt, mit Taschengeld bezahlt.

Der Vater stürmte zum Radio

Der Junge blickte auf, als sich die Türe öffnete und sein Vater hereintrat, nein, hereinstürmte. Ernst schaute er drein, der Vater, kein Lächeln wie sonst, kurz nur und ohne Blickkontakt, war sein Gruß. Er musste eben aus der Arbeit zurückgekommen sein, die Haustüre war gar nicht zu hören gewesen. Vielleicht war sie auch offen gestanden, wegen dem Sommer, oder wegen dem Hund. Jetzt stürmte der Vater zum Radio, diesem großen Holzkasten mit der Stoffbespannung und der goldwarm leuchtenden Tabelle mit den faszinierenden Ortsnamen, dahinter der rote Strich, der sich bewegen ließ. Nervös drehte der Vater an den beiden Knöpfen, lauter soll es werden, und besser verständlich. Im Zischen und Rauschen des Äthers soll das Gerät einfangen, was los ist in dieser Stunde.

„Was ist denn los?“, fragte das Kind, aber der Vater antwortete nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Rauschen und Knacken, das da aus dem Trichter quoll, der sich hinter der beigen Stoffbespannung schemenhaft abzeichnete.  Endlich hatte er einen Sender gefunden, der nicht Musik dudelte, nicht Schlager spielte oder Volksmusik.

„Die Regierung der Tschechoslowakei hat entschieden,“ sagte eine ernste Männerstimme, „der Intervention der Truppen aus der Sowjetunion, aus Ungarn, Polen und Bulgarien keinen militärischen Widerstand entgegenzusetzen“. Der Vater atmete tief durch.

„Was ist denn los?“, wiederholte der Sohn seine Frage.

„Es könnte wieder Krieg geben“, sagte der Vater

„Es könnte wieder Krieg geben“, antwortete der Vater leise. Seine Aufmerksamkeit galt noch immer nicht dem fragenden Kind, sondern den Nachrichten aus dem Radio.

Sowjetische Panzer auf dem Wenzelsplatz in Prag am 21. August 1968 (Foto: FaceMePLS, flickr, CC BY 2.0)

Dort fasste der Sprecher die Ereignisse des Tages zusammen: Nachdem eine demokratisch und freiheitlich geprägte Reformbewegung in der Tschechoslowakei umfassende Reformen zur Liberalisierung der sozialistischen Staatsordnung eingeleitet hatte, waren am frühen Morgen dieses Augusttages Panzer der „sozialistischen Bruderstaaten“ unter Führung der Sowjetunion in das Land eingerollt und bis in das Zentrum von Prag vorgestoßen. Verzweifelte Bürger hatten sich ihnen entgegengestellt, aber sie hatten keine Chance gegen die Drohung der Stahlketten und Geschütze.

„Wenn sie sich nicht wehren“, murmelte jetzt der Vater, „muss es vielleicht keinen Krieg geben.“

„Warum Krieg?“ Das Kind war zu ratlos, um besorgt zu sein. „Ich dachte, das ist vorbei, das kommt nie wieder. Hast du immer gesagt!“

„Ja, dachte ich auch.“ Der Blick des Vaters ging jetzt hinaus zum Fenster, vorbei an den Büchern, hinaus in den Vorgarten, auf die akkurat gestutzte Hecke, den grünen Rasen. Der Dackel sprang darauf herum.

„Dachte ich auch“, wiederholte der Vater.

Krieg – Ein Wort mit dem Klang von unwiederbringlich Vergangenem

Wieder Krieg – hier? Entsetzt starrte das Kind den Vater an. Hier, in unserem Städtchen? Hier in unserem Wohnzimmer? Unvorstellbar. Krieg – Das Wort war so groß, sein Klang hatte etwas unwiederbringlich Vergangenes. Krieg, das war etwas aus der Welt seiner Eltern, etwas aus ihrer Geschichte, mit der er nichts, aber auch gar nichts, zu tun hatte. Krieg? Obwohl der Familienurlaub noch bevorstand? Krieg? Geht man im Krieg eigentlich auch zur Schule?

Natürlich wusste der Sohn um den Krieg, der zehn Jahre vor seiner Geburt zu Ende gegangen war. Er kannte die Schwarz-Weiß-Bilder der Zerstörung. Es waren Bilder von rauchenden Ruinen und zerlumpten Menschen, denen man ansah, dass sie nichts mehr hatten, nur sich selbst. Der Sohn hatte die Geschichten gehört von der Flucht seiner Mutter, von der Kriegsgefangenschaft des Vaters. Aber gerne darüber reden – das wollten die beiden ohnehin nicht.

Nun lebten sie seit zwanzig Jahren als Familie in Süddeutschland, hatten sich eine neue Existenz aufgebaut. Sie waren angekommen in einem Leben mit wiedererlangtem bürgerlichem Wohlstand, mit Haus und Garten, Dackel und vier Kindern. Nur Hohn und Spott hatten die Eltern übrig für die Ewiggestrigen, für Vertriebenenverbände und Heimatvereine, die davon träumten, dass man die Folgen der kriegerischen Katastrophe wieder rückgängig machen könnte.

„Wenn die Amerikaner eingreifen, dann gibt es wieder Krieg,“ hörte das Kind jetzt den Vater. „Wenn sich die Tschechen aber nicht wehren, dann werden die Amerikaner auch nicht eingreifen.“

Der Verzicht darauf, sich zu wehren, sicherte den Frieden

So kam es. Die Freiheitsbestrebungen der Menschen in der Tschechoslowakei waren im „kalten Krieg“ dem westlichen Bündnis unter Führung der USA schlicht nicht wichtig genug gewesen, um einen Krieg zu riskieren. Sie wollten nicht die Stabilität einer Weltordnung gefährden, in der nun einmal die Tschechen und die Slowaken zur Einflusssphäre der Sowjetunion gehörten. Das wusste auch die reformerische Führung der Tschechoslowakei, sie verzichtete auf Gewalt, musste das Diktat Moskaus akzeptieren und nahm alle Reformen zurück. Die Verantwortlichen des „Prager Frühlings“, wie der Westen die kurze Phase reformerischer Liberalisierung im Frühjahr und Sommer 1968 nannte, wurden in Moskau inhaftiert und mussten um ihr Leben fürchten. Ihre Entscheidung, sich nicht zu wehren, sicherte damals für Europa den Frieden.

Es ist bekannt, wie es weiterging. Das sowjetische Machtsystem, der „Ostblock“, kontrollierte die Hälfte Europas noch zwanzig Jahre lang, bis es völlig überaltert und reformunfähig kollabierte. Unter dem Reformer Gorbatschow zerfielen die Blöcke. Die meisten europäischen Staaten nutzten die Chance auf Selbstbestimmung, und den Deutschen bescherte sie noch dazu das Glück eines wiedervereinigten Heimatlandes.

„Dies ist Putins Krieg“, sagt der Kanzler

Nun ist es ein frühlingshafter Februartag, und das Kind von 1968 ist längst älter als sein Vater es damals war. Fassungslos sitzt der erwachsene Mann vor dem Fernseher und verfolgt die Bilder aus der Ukraine: Heulende Sirenen und von Flüchtenden verstopfte Straßen in einer europäischen Hauptstadt, deren Regierung demokratisch gewählt wurde. Bilder von rollenden Militärkolonnen und  Bombenkratern und einem russischen Präsidenten, der mit absurden Falschdarstellungen einen Angriffskrieg rechtfertigen will.

„Dies ist Putins Krieg“, sagt der Bundeskanzler. Krieg? Hier in Europa? Krieg? Es sind die vermeintlichen Wahrheiten der letzten fünfzig Jahre, die hier zusammenstürzen: Dass wir die Feindschaften auf diesem Kontinent für immer überwunden hätten. Dass wir gelernt hätten, Streit friedlich lösen zu können und nicht mit Waffen. Dass es universale Menschenrechte gibt, auf Freiheit und Selbstbestimmung, auf Frieden und Unverletzlichkeit von Grenzen. Dass wir uns pazifistisches Denken und den Luxus einer kleinen Armee gönnen könnten zugunsten von niedrigen Steuern. Dass wir uns Wohlstand durch Handel sichern könnten, anstatt aufeinander zu schießen.

53 Jahre sind vergangen. Röhrenradios gibt es nur noch in Vintage-Läden, der Dackel ist tot und die Bibliothek der Eltern in alle Winde zerstreut. Der bange Blick richtet sich auf den Bildschirm, auf das Display des Smartphones. Wird sich die Ukraine wehren? Der Krieg ist da.

 

Mehr Informationen über den „Prager Frühling“ z.B. auf der Website der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: https://osteuropa.lpb-bw.de/prager-fruehling

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