Tag 7: Fast ganz allein im Haus des Volkes

Größer als die Kirche: Das Bauhaus-Ensemble „Haus des Volkes“ dominiert das Stadtbild des Grenzortes Probstzella. Das Gebäude und seine Geschichte sind eine Sensation. Aber den Ort kennen alle nur wegen seines Schicksals als Grenzbahnhof.

Tag 7 (20. März 2025)

Von Probstzella nach Kleintettau

Mein Weg führt weiter Richtung Westen, über die rauschende Loquitz auf der gegenüberliegenden Seite den Hügel hinauf auf dem Kolonnenweg. Bald habe ich eine aussichtsreiche Höhe erreicht, um meinen Blick zurück auf Probstzella zu richten. Millionen Menschen haben schlechte Erinnerungen an den Ort, der für Reisende nur aus dem Grenzbahnhof zu bestehen schien. Zwischen 1949 und 1989 mussten dort alle Züge von und nach Berlin aus dem Süden der Bundesrepublik anhalten, hunderttausende Leibesvisitationen, Gepäckkontrollen, Schikanen und Erniedrigungen wurden hier durchlitten, manche haben auch Gewalt erfahren.

Vor allem aber sind mit Probstzella Erinnerungen an Ängste verbunden. Über den DDR-Grenzbahnhof ist viel geschrieben worden, und heute erinnert ein kleines Museum im Bahnhof an seine Geschichte. Das eigentliche Gebäude, ein hässlicher Betonbau, das damals der wahre Ort von Willkür auf deutschem Boden war, wurde bald nach dem Mauerfall abgerissen; bis zuletzt haben historisch Bewusste (u.a. auch die heutige Bundestags-Vizepräsidentin Göring-Eckardt) erfolglos dagegen gekämpft.

Einen Vorteil hat dieser Eingriff in die historische Substanz immerhin. Die Sicht auf den ganzen Ort ist jetzt frei, wenn der Wanderer vom gegenüberliegenden Hügel hinüberblickt auf das Städtchen. Aus der Entfernung wird das Grauen klein und das Malerische groß. Und so ist zu sehen, dass das größte Gebäude dieser Stadt nicht die Kirche ist – wie sonst so oft – sondern ein mächtiger Bau mit dem Namen „Haus des Volkes“ direkt gegenüber dem alten Bahnhof.

„Oh Gott, sozialistische Propaganda“, mag nun mancher ausrufen, wenn er diesen Namen hört – und liegt damit meilenweit daneben. Dieses gewaltige Haus, das heute wieder mehrere Säle, eine Bowlingbahn, ein Kino, einen Billardraum, Tagungsräume, eine Sauna und ein Hotel beherbergt, zu dem ein Park gehört mit Musikpavillon, Kneippbecken und Seerosenteich – dieser Bau heißt so, weil schon im Jahr 1925 sein Erbauer es so wollte.

Franz Itting war in Probstzella zu Geld gekommen, weil er die neu aufkommende Elektrizität herstellte und verkaufte. Itting war ein schwerreicher Industrieller – und ein überzeugter Sozialdemokrat. Itting wollte ein sozialer Vorbildunternehmer sein. Er ließ für seine Arbeiter Wohnungen bauen, schloss für sie Lebensversicherungen ab, führte die 40-Stunden-Woche ein. Und er ließ für die Stadt, mit deren Elektrifizierung er so reich geworden war, ein gewaltiges Gebäude errichten im damals aktuellen Bauhaus-Stil – zur Förderung der kulturellen und gesellschaftlichen Gemeinschaft –, und nannte es „Haus des Volkes“. Schon den Nazis war Itting als Person und die offene Idee seines „Haus des Volkes“ suspekt. Er wurde drangsaliert, zeitweise ins Konzentrationslager gesperrt, und sein großes Haus durfte auch nicht mehr dem Volk gewidmet sein. Itting überlebte den Terror, aber dann kamen die kommunistischen Ideologen an die Macht– und auch ihnen konnte er es nicht Recht machen. Sie misstrauten seinem Reichtum, enteigneten den Sozialdemokraten und brachten ihn schließlich dazu, sein Leben und einen kleines Teil seines Besitzes wenige Kilometer entfernt auf die bayerische Seite der Grenze nach Königsstadt zu retten, als das noch möglich war.

Das „Haus des Volkes“ diente dann als Veranstaltungsraum und den Grenzsoldaten als Büro und Unterkunft. Und es hieß nun auch wieder so. Heute steht es unter Denkmalschutz, und mit bemerkenswerten Engagement versucht ein privater Betreiber, es als Hotel- und Veranstaltungsstätte in stabilem Leben zu erhalten. Keine einfache Aufgabe, angesichts des gewaltigen Raumprogramms und der äußeren Umstände: Der ICE fährt schon längst nicht mehr durch Probstzella, die nächste Autobahn ist weit. Wer dort übernachtet – wie ich -, erlebt viel Fläche, und wenig Menschen. Das sei in der Saison und an Wochenenden anders, versichert der Betreiber. Ich habe das „Haus des Volkes“ nicht ohne großen Respekt vor dieser Leistung wieder verlassen, und wurde bereichert um das Wissen über Franz Itting, diesen Visionär des Sozialen und Nachhaltigen, und über die Frauen und Männer, die als Architekten und Künstler dieses große Schloss für das Volk geschaffen haben.

Dann, einige Kilometer weiter, führt mein Weg zu einem Aussichtsturm, der „Thüringer Warte“. 1962 wurde sie errichtet, um in Zeiten des Kalten Krieges von bayerischer Seite einen freien Blick zu haben auf den abgesperrten Teil Deutschlands. Nun wartet die Warte inmitten dahinsterbender Fichtenwälder auf einen neuen Sinn. Auch diesen Turm hat die Baufirma von Franz Itting errichtet. Vielleicht konnte er dann von dort oben beobachten, was mit seinem „Haus des Volkes“ passiert, das so nah vor ihm lag, und für ihn doch unerreichbar war.

 

Distanz: 16,5 Kilometer, 24.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 1

Jäger-Hochsitze am Weg: 6

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Im Text sind Weiterleitungen zum Grenzbahnhof-Museum Probstzella, zum Haus des Volkes und zu Franz Itting und zur Thüringer Warte verlinkt.

Die Entschandelung der „Entschandelten“ (#57)

Ev. Brenzkirche am Weissenhof, Am Kochenhof 7, 70192 Stuttgart

Mein Besuch am 5. April 2024

Die Nationalsozialisten waren wenige Wochen an der Macht, als am Stuttgarter Killesberg eine Kirche geweiht wurde, die ihresgleichen suchte. Im Stil der neuen Sachlichkeit, angelehnt an die weltberühmte Bauhaussiedlung am Weissenhof in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, war diese Kirche anders als fast alle anderen. Sie hatte ein Flachdach und abgerundete Fasssadenkanten, keinen Turm, und auch innen war sie so gebaut, dass sie mehr Gemeindezentrum war als Kirche.

Eine Kirche als modernes Zeitdokument: Aus einem wegweisenden Bauhaus-Kunstwerk wurde unter Druck der Nazis eine unharmonische Allerweltskirche. Nun soll sie erneut „entschandelt“ werden.

Die Nazis konnten mit dem Bauhaus nicht nur nichts anfangen, sie verfolgten ihre Vertreter und die baulichen Ergebnisse regelrecht. Dass eine Kirche im Bauhaus-Stil direkt neben dem Eingang der Reichsgartenschau auf dem Killesberg von 1939 stehen sollte, war also ein kunstpolitisches Politikum. Und tatsächlich erreichten die mörderischen Machthaber, dass die Kirchengemeinde dem Druck nachgab, und die Kirche eiligst umbauen ließ – also verschandelte. Man nannte das damals allerdings tatsächlich „Entschandelung“. „In nur vier Monaten werden aus Flachdächern Steildächer, das Runde wird eckig, das markante Trapezfenster begradigt und verkleinert, der filigrane Glockenstuhl zu einem plumpen Türmchen“ (aus dem Flyer des Fördervereins).

Der schlichte Innenraum im Obergeschoss der Brenzkirche lässt ahnen, wie kühn einst ihr architektonisches Konzept war.

Mehr oder weniger genauso verschandelt steht die „Entschandelte“ noch heute; und für den flüchtigen Spaziergänger am Killesberg ist sie kaum als Kirche erkennbar. Im Inneren aber erahnte ich auch heute noch das außergewöhnliche Raumprogramm – der schlichte Kirchenraum mit blau gestrichenen Bänken und einer asymmetrisch angeordneten Orgel liegt im Obergeschoss, darunter findet sich ein Gemeindesaal.

Nun wird es wieder eine internationale Ausstellung sein, die das Schicksal der Brenzkirche bestimmen könnte: Zur Internationalen Bauausstellung 2027 in Stuttgart plant ein Förderverein zusammen mit der Kirchengemeinde, die Entschandelung der verschandelten Kirche. Sie soll aber nicht in ihren Altzustand zurück verwandelt, sondern modern interpretiert dem Bauhaus-Stil wieder angenähert werden. Der Weg dorthin war nicht einfach, denn inzwischen steht sie unter Denkmalschutz, und zwar auch wegen ihrer Verschandelung unter Nazi-Druck, als Musterbeispiel für politischen Einfluss auf Kirchenbauten. Ich freue mich darauf, die neue, alte Bauhauskirche besuchen zu können, wenn sie denn zur IBA fertiggestellt sein sollte.

Der Förderverein für die Neugestaltung der Brenzkirche hat gute Informationen zur Geschichte und Bilder zu den geplanten Veränderungen online.

Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier. 

 

 

Die Feiningerkirche (#0005)

Die Kirche von Gelmeroda - Bild von Lionel Feininger
Die Feiningerkirche – hier ein Foto des Druckes „Gelmeroda XI“ von L. Feininger, der in der Kirche hängt; ein Gemälde mit ähnlichem Motiv besitzt das Metropolitan Museums of Art New York.

Feiningerkirche in 99428 Gelmeroda

Meine Besuche am 15. April und am 14. Mai 2021

Da duckt sie sich unter das hohe Turmdach, das nadelspitz zuläuft und so hoch ist wie der ganze restliche Turm, die weltberühmte Kirche im Thüringischen, nah bei Weimar, direkt an der Autobahn.  Weltberühmt? Oft bin ich vorbeigefahren, aber ich kannte sie nicht. Der Bauhaus-Künstler Lionel Feininger, der zwischen 1906 und 1937 „Meister“ am Bauhaus in Weimar war (solange es dort geduldet war, dann in Dessau und Berlin), liebte diese kleine Kirche und hat sie mehr als zwanzig Jahre immer wieder gemalt, auch dann noch, als er, geflohen vor den Nazis, längst wieder im sicheren Amerika wirkte. Eine späte seiner Skizzen ist in der kleinen Ausstellung in dieser Kirche zu sehen und stammt aus dem Jahr 1954, kaum zwei Jahre vor seinem Tod.

Innenraum
Im Innenraum sorgt schlichtes Weiß für eine sehr klare Atmosphäre.

Das uralte Kirchlein mit Fundamenten aus dem 12. Jahrhundert und dem gewaltigen Turmhelm wäre wohl längst verfallen, hätten nicht engagierte Menschen sich ihrer angenommen. In den 90er Jahren grundlegend renoviert, strahlt der Innenraum jetzt schmucklos weiß, still, streng, und doch einladend. Die spärlichen Rest-Fresken und der Altarraum aus früheren Zeiten blieben unangetastet, aber sie verschwinden in dieser klugen, modernen Inszenierung.

Abends könnte die Kirche im Stile eines Feininger-Gemäldes farbig angestrahlt werden, aber für die Wartung der Beleuchtungsanlage fehlt das Geld. An einer Lösung wird gearbeitet, berichtete mir Pfarrer Joachim Neubert, als ich die Kirche ein zweites Mal Mitte Mai besuchte und ihn dort zufällig antraf. Ob Licht oder nicht: Ich plädiere für einen Halt tagsüber an diesem künstlerisch inspirierenden Ort.

https://de.wikipedia.org/wiki/Lyonel_Feininger

https://www.kirchenkreis-weimar.de/kirchenkreis/gemeinden-und-kirchen/buchfart-legefeld/gelmeroda/kirche-gelmeroda-autobahnkirche-feiningerkirche/

An der Kirche führt auch ein „Feininger-Radweg“ vorbei.