Die sinnliche Seite der Zeit

Christian Marclays Videokunstwerk „The Clock“ in Stuttgart

„Sehen Sie nur“, sagt die blondgeföhnte, hochseriöse Dame im Verkauf für sehr, sehr teure Uhren zum solventen Kunden (natürlich ein Mann). „Sehen Sie nur: Die Akkuratesse der Mechanik, wie in jedem Innehalten des Zeigers die Möglichkeit von Stillstand steckt, und wie jedes Mal die gleiche Entscheidung getroffen wird: Weiter, immer weiter, es gibt keinen Weg zurück!“ Sie macht eine kunstvolle Pause, beider Blicke ruhen auf dem winzigen Uhrwerk hinter gewölbtem Glas, und der Kunde nippt am Sekt. „Und welche Eleganz in dieser Unerbittlichkeit liegt“, haucht sie ihm dann in die bereits von Gier geweiteten Ohren, „welche Schönheit und welche Traurigkeit …“

Mit dieser Szene beginnt die zweite Folge der großartigen Fernsehserie „Die Affäre Cum Ex“, die es derzeit ganz frisch in der ZDF-Mediathek abzurufen gilt. Der junge Mann ist zu Geld gekommen und will es standesgemäß in einer edlen Uhr anlegen. „Da wären wir bei 43.800 Euro,“ ergänzt die Dame im Kostüm eher beiläufig, „plus Mehrwertsteuer“, und der Banker blickt auf, aber verbietet sich jedes Zucken angesichts dieser Zahl. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem kleinen mechanischen Wunder.

Die Zeit vergeht, und wir alle schauen zu: „The Clock“ von Christian Marclay (Foto: Kunstmuseum Stuttgart)

Nichts tickt mehr, aufziehen ist out

Die sinnliche Erfahrung eines Uhrwerks muss nicht so teuer sein. Für nicht einmal fünfzig Euro ist ein Bausatz aus 166 Holz- und wenigen Metallteilen zu haben, mit dem auch ein ungeübter Bastler sich seine eigene Uhr zusammenstecken kann. Wer es macht, verbringt ein paar Stunden mit Heraus- und Zusammendrücken der vorgestanzten Zahnräder und Halterungen, mit Messen und Ausrichten, und erlebt dann staunend, wie sein Werk heranwächst. Und: Wie das zunächst tote Material nach einigem Balancieren und Justieren zu magischem Leben erwacht. Die Holzuhr, eben noch ein Stapel flacher Sperrholzbrettchen, tickt tatsächlich, die Zahnräder greifen ineinander, die Unruhe zappelt, das Pendel bewegt sich hin und her, wie von Zauberhand angetrieben (wenn auch in Wahrheit von einer aufgezogenen Feder). Weiter, immer weiter, es gibt keinen Weg zurück!, erzählt dann auch das laute Ticken dieser Uhr, beinahe selbst geschaffen, fast wie aus dem Nichts, und nun ein Symbol für das immer Verheißungsvolle des Kommenden, das ewig Verlorene des Vergangenen.

Seit sich die Digitalisierung auch unserer Zeit bemächtigt hat, ist die hier beschriebene sinnliche Seite des Alltagsgegenstandes „Uhr“ weitgehend verlorengegangen. Da tickt normalerweise nichts mehr, und aufziehen, dagegenklopfen, am Ohr horchen muss man auch nicht mehr. Die Uhrzeit wird schnöde in Zahlen angezeigt, sekundengenau zumeist, und wer die Uhr mit Sonnenenergie betreibt, braucht sich nicht einmal Gedanken um das Ermüden von Batterie oder Akku machen.

„The Clock“ – ein kommerziell erfolgreiches Kunstwerk

Alle diese Gedanken begleiten den Kulturflaneur, wenn er sich dem sensationellen Video-Kunstwerk „The Clock“ nähert. Noch bis 25. Mai ist es erstmals in Deutschland zu erleben – im Kunstmuseum Stuttgart, wegen eines Jubiläums noch dazu bei freiem Eintritt. Der US-amerikanisch-schweizerische Videokünstler Christian Marclay hat es zusammen mit vielen anderen geschaffen, es gibt weltweit davon nur sechs Kopien. Jede konnte Marclay für rund 500.000 US-Dollar verkaufen, vor allem an Museen. „The Clock“ ist damit vermutlich das bisher kommerziell erfolgreichste Werk der Videokunst. Streamen kann man es nicht, weil es eben kein Film ist, sondern ein Kunstwerk, für das Marclay im Jahr 2011 den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig gewann.

Zu sehen ist der Ablauf von genau 24 Stunden, also 1440 Minuten. Um „The Clock“ zu erstellen, wurden Zigtausende von Film- und Fernsehsequenzen gesichtet und nach Szenen durchsucht, in denen Uhren zu sehen sind oder von der Uhrzeit die Rede ist. Rund zwölftausend Filmschnipsel haben es schließlich in das Werk geschafft. Sie sind nicht sinnlos nacheinander gereiht, sondern so, dass sie durchaus so etwas wie eine Ahnung von kurzen Handlungen ergeben. Beispiel: Eine Frau springt aus dem Bett und geht durch eine Tür – Schnitt – eine ganz andere Frau aus einem ganz anderen Film kommt aus einer anderen Tür heraus, nimmt ein Baby in die Hand – Schnitt – Großaufnahme eines weinenden Babys auf dem Arm einer Krankenschwester – diese blickt auf die Uhr im Flur: 11.55 Uhr.

Das Werk über die Zeit ist selbst eine Uhr

„The Clock“ darf nur so synchronisiert gezeigt werden, dass während des Filmes die echte Zeit vergeht – oder auch angezeigt wird, je nachdem, wie man es betrachten möchte. Wenn es also 11.55 Uhr ist, so wird eine Filmszene gezeigt (manchmal auch mehrere), in der es ebenfalls genau fünf vor zwölf Uhr ist: Irgendwo, auf der Uhr an der Wand, auf einer Armbanduhr oder im Gespräch der Filmhandlung. Die Sequenzen bilden nebenbei oft den Tagesablauf ab: Vormittags wird meist gearbeitet, mittags viel gegessen, abends treffen sich Freunde in der Bar, nachts wird geschlafen. So geht das jede Minute, ohne Unterbrechung, 24 Stunden lang. Das Werk über das Vergehen der Zeit ist selbst eine Uhr.

Etwa zwanzig bequeme Sofas stehen im abgedunkelten Raum des Stuttgarter Kunstmuseums. Besuchende können sich hineinsaugen lassen in dieses einzigartige Monumentalwerk der Videokunst. Filmen und Fotografieren ist streng verboten. Minute um Minute vergeht, Stunde um Stunde blickt man gebannt auf die Zeit. Vom 17. auf den 18. Mai könnte man das sogar die ganze Nacht hindurch tun, denn dann hat das Museum aus diesem Anlass rund um die Uhr geöffnet.

„The Clock“ macht süchtig. Lümmelnd auf dem Sofa zieht die Zeit vorbei, sinnlich, vielfältig, tiefsinnig und albern. Beim Schauen auf dieses Räderwerk der Bilder bleibt keine Zeit zum Nachdenken, nur zum Mitspüren. Ist der Moment gelebt, schon ist er verloren. „Welche Schönheit in dieser Erkenntnis liegt!“ Ja, und auch: welch tröstende Traurigkeit. Ein großes, buntes, stumm machendes Erlebnis aus gut verbrachter Zeit.

Mehr zu „The Clock“ im Kunstmuseum Stuttgart finden Sie hier.

Die Fernsehserie „Die Affäre Cum-Ex“ finden Sie in der ZDF-Mediathek.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

Mal mehr Mozart, mal mehr Zufall

Wenn KI Klassik komponiert – Ein Konzerterlebnis

Unterlegt vom Geschnatter der restlichen Streicher stürmt zunächst das drängende Cello auf die abwartende erste Violine ein; dann umgekehrt. Irgendwann im weiteren Verlauf einigen sie sich auf eine Harmonie und der anfangs stürmische Streit mündet in einem Hörerlebnis der Ausgeglichenheit. Es ist das Streichquintett C-Dur (KV 515) von Wolfgang Amadeus Mozart, das so beginnt.

Eine Installation aus der Ausstellung „Shift- KI und eine zukünftige Gemeinschaft“ im Kunstmuseum Stuttgart. Im Rahmenprogramm dieser Ausstellung fand das hier beschriebene Konzert statt. Foto: Gerald Ulmann, bereitgestellt vom Kunstmuseum Stuttgart

Entstanden sind diese Töne im Jahr 1787. Der umjubelte Komponist war 31 Jahre alt und berauscht vom Höhenflug des Erfolges seines „Figaro“. Wie hat er seine eigenen Töne gehört, während er sie, vielleicht in fliegend-kreativer Hast, zu Papier brachte? Das Genie musste sie vermutlich gar nicht hören können, seine Musik erklang ihm im Kopf. Wer aber kein Genie war, der brauchte Instrumente und fünf fachkundige Musikerinnen oder Musiker, um das Werk zum Erlebnis werden zu lassen.

Technische Intelligenz hat die Musik schon längst erobert

Gut hundert Jahre später trat das Grammophon auf den Plan. Seit 1889 hat technische Intelligenz die Musik erobert. Mit Hilfe eines furchterregend großen Kastens und seines emporragenden Schalltrichters rang die Technik dem Schellack krächzende und rauschende Töne ab. Es folgten viele Schritte des technischen Fortschritts, das Rauschen wurde leiser und die Qualität der musikalischen Konserve besser. Elektrische Lautsprecher lösten den Trichter ab und Motoren die Kurbel, handliche und weniger empfindliche Tonbandcassetten schließlich die sperrige Schallplatte. Die noch robusteren kleinen silbernen CD´s folgten, der Walkman brachte der Musik das Laufen bei, und heute quillt jederzeit Musik aus jedem Handy, ganz ohne Ruckeln und Rauschen, in glasklarer Qualität, immer und überall. Aber es blieb dabei: Komponieren musste der Mensch.

Der Kreis zu Mozart wäre daher erst geschlossen, wenn die kleinen Apparate, aus denen jetzt nach wenigen Wischbewegungen jene Musik quillt, die einst vom Menschen komponiert wurde, auch noch dazu in der Lage wären, die schönen Töne gleich selbst zu erfinden. Was die Produktion der Töne angeht, wäre das kein Problem. Aber die Komposition?

„Komponiere mir ein Streichquintett!“

„Komponiere mir ein Streichquintett im Stil von Wolfgang Amadeus Mozart“ – mit einer solchen Aufforderung hat Dr. Axel Berndt, Experte für „Interactive Algorithmic Sound and Music“ an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe seinen Computer tatsächlich auf eine musikalische Reise geschickt. Was dabei herauskam, war kürzlich im Stuttgarter Kunstmuseum zu hören, vorgetragen von den Streicher-Profis des Stuttgarter Kammerorchesters.

Der Konzertabend traf auf angemessen erregtes Interesse eines neugierigen Publikums, wobei sich die musik- und technikinteressierten Menschen bunt durchmischten, um eine halbe Stunde im klimatisiert kühlen Saal anzuhören, was der Computer ihnen musikalisch mitzuteilen hatte. Unstrittig ist immerhin, dass Computerprogramme bereits heute achtbare Ergebnisse erzielen, wenn sie sogenannte „Gebrauchsmusik“ komponieren, also zum Beispiel Musiksequenzen, die Filmszenen untermalen. Aber kann sich Komponist KI mit Mozart messen?

Zunächst ist menschliche Intelligenz gefragt

Zunächst sahen sich die erwartungsvollen Konzertbesucher geballter menschlicher Intelligenz ausgesetzt. Dr. Berndt war ehrlich bemüht, dem Publikum näherzubringen, wie das denn nun vor sich geht, wenn der Computer Musik im Stile Mozarts ausbrütet. Einfach ist es nicht, das wurde schnell deutlich. Mit sehr unterschiedlichen Methoden kann ein kundiger Computerfreund die Maschine zum künstlich intelligenten Komponieren anstiften. „Neuronale Netze“, „genetische Algorithmen“ oder „Markov-Ketten“ heißen diese Zauberformeln, wobei der mitfühlende Experte sich und seinem Publikum ersparte, deren Unterschiede auszubreiten. Je nachdem, was davon angewendet wird, kommt etwas anderes heraus.

Schwierige Materie, das Ganze, vielleicht so viel: Wie das vielzitierte KI-basierte Schreibprogramm kann auch der Musikcomputer nur komponieren, wenn ihm zuvor als Lernmaterial grundlegende Stilrichtungen vorgegeben wurden (z.B. ein Mozart-Streichquintett). In vielen sich wiederholenden Lernschritten erlernt die künstliche Intelligenz auf dieser Grundlage kompositorische Abläufe und Charakteristika, etwa so, wie man bei Kindern das Erlernen der Muttersprache miterlebt – in ungezählten, millionenfach wiederholten Alltagsschritten. Nur dass die Software keinen Alltag hat, nicht schläft und nicht träumt und nicht isst, so dass sie die Aneignung unermüdlich, ununterbrochen, Tag und Nacht, millionenfach neu in sich hineinlernen kann. Nach einiger Zeit könnte die Software dann tatsächlich Musik im Stile von Mozarts Kammermusik produzieren.

Eine Mozart-Retorte reicht nicht

Kann es dann jetzt also losgehen mit der KI-Musik?

Nein, erläutert der Experte. Denn so entstandene Musik würde zu sehr berechenbaren Ergebnissen führen, gewissermaßen eine sich ständig wiederholende Mozart-Retorte. „Zu langweilig“, urteilt Dr. Berndt. Der KI muss also zusätzlich die Aufgabe gegeben werden, gezielt und willentlich (hat KI einen Willen? Ja, wohl schon.) abzuweichen von dem, was sie da gerade mühsam erlernt hat.

„Und nach welcher Logik geht das?“, wird der musikalische Zauberlehrling fragt. „Das ist dann Zufall“, freut sich dieser über seine selbst gewählte Machtlosigkeit. Immerhin, in welchem Umfang er der musikalischen Software vorgibt, sich an Mozart zu halten, oder eigene, freie Ideen beizumischen, das könne er beeinflussen. Man solle sich das wie einen Regler vorstellen: mal mehr Mozart, mal mehr Zufall.

Wer KI spielt, blättert keine Papiernoten

Genug der Erläuterungen, jetzt endlich mal was hören von der komponierenden KI! Schon quillt das Streichorchester aus den rückwärtigen Türen des Saals. Mit i-Pads ausgerüstet nehmen sie ihre Positionen ein. Wer KI spielt, blättert kein Papier.

Gute Laune hinter dem i-Pad: Das Stuttgarter Kammerorchester (SKO) versucht sich an der Interpretation von Klassik, die Künstliche Intelligenz erzeugt hat. Foto: Wolfgang Schmidt Ammerbuch, bereitgestellt von SKO

Was zu hören ist, klingt gefällig, hat auch musikalische Spannungsbögen, und doch: Irgendwie verhallen die drei Stücke „Cannon Crossover“, „Polyphnic Skeleton“ und „Deconstruction“ ziemlich konturlos im Raum. Wenig davon haftet im Ohr, und wenn, dann am ehesten jene Töne der leisen Ironie, die sich auch in den grinsenden Gesichtern der Musiker/innen ausdrückt, immer dann, wenn sich im KI-Werk deutlich manche Mozart-Zitate heraushören lassen. Das waren dann wohl die Stellen, an denen Dr. Berndt den Zufalls-Regler Richtung Mozart verschoben hatte. Artiger Beifall.

KI verhallt konturlos, Mozart aber steckt voller Überraschungen

Dann nimmt das Kammerorchester erneut Anlauf und lässt Mozart im Original hören. Eine Orchester-Version des berühmten c-dur-Streichquintetts füllt den Raum. Es war dies eines jener Stücke, mit denen die lernende KI als Anschauungsmaterial gefüttert worden war. Die Violinen und Violas, die Celli und der Kontrabass legen dynamisch los, mit dialogischer Wucht und voller Überraschungen. Ach, so schöne Töne, nichts Beliebiges haftet dieser Musik an. Die Magie der Kreativität eines Mozart bestand eben ganz sicher nicht nur in der Beimischung des Zufalls zu gelernten Regeln des Musikaufbaus. Sondern aus einem Zauber, der sich nicht errechnen lässt.

„Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viel Noten, lieber Mozart,“ hat bekanntlich Kaiser Josef II. die Aufführung der „Entführung aus dem Serail“ im Jahr 1782 kommentiert. Das würde der KI nicht passieren, da ihr jeder moderne Herrscher (und das sind heutzutage die Programmierer) die Länge eines Stückes exakt vorgeben könnte. Erst dann, wenn der Rechner antwortet wie einst Mozart: „Grad so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind“ – erst dann müssen wir uns Sorgen machen über die Zukunft menschlicher Kreativität.

 

Das besuchte Konzert war Teil des Begleitprogramms für die Ausstellung „Shift – KI und eine zukünftige Gemeinschaft“, die nur noch bis 21. Mai 2023 im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen ist. https://www.kunstmuseum-stuttgart.de/ausstellungen/shift .

Danach zieht sie weiter in das Museum https://marta-herford.de/ in Herford, wo sie ab 17. Juni bis 15. Oktober 2023 für Besucher zugänglich sein wird.

Das Stuttgarter Kammerorchester beschäftigt sich schon länger mit der Wirkung von Künstlicher Intelligenz auf klassische Musik. Im aktuellen Magazin 1/23 des SKO findet sich auch ein ausführlicher Beitrag dazu. Es kann kostenfrei heruntergeladen werden: https://stuttgarter-kammerorchester.com/publikationen

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