Ausgeträumt. Ein Weckruf an meine Generation

Israel, umringt von Todfeinden, muss um seine fragile Sicherheit bangen, mehr denn je. In Europa überfallen aggressive Staaten ihre Nachbarn. Und in Deutschland ist es erfolgreich, mit  rechtsradikalen Parolen aufzutreten. Es ist Zeit zum Aufwachen für eine verträumte Generation. 

Als wir noch glaubten, die Welt könnte sich zum Besseren wandeln, da wähnten wir uns fast glücklich. Aufgewachsen nach dem Krieg, gnädig geschont von der „späten Geburt“ (Helmut Kohl) haben wir die Verheerungen der Bomben und der Schuld in den Seelen unserer Eltern und Großeltern besichtigt. Aber wir sahen vor allem, wie die Wunden verheilten, die Trümmer verschwanden, der Wohlstand sich ausbreitete.

Hinter dem „Eisernen Vorhang“, der Europa teilte, lag das Reich der Finsternis, ein paar Mal flackerte die Gefahr auf, dass sich an der Nahtstelle zwischen unserer und deren Welt etwas entzünden könnte, aber es kam niemals wirklich dazu. Unsere misstrauisch beäugten amerikanischen Freunde schützten uns mit ihren Atomwaffen. Und als sie aus Vietnam vertrieben wurden, fanden wir das auch irgendwie richtig.

Die Gründung des Staates Israel, so lernten wir, war auch eine Antwort darauf, dass unsere Erzeuger sich beispiellos mörderisch vergangen hatten am migrantischen  Kulturvolk der Juden. Israel musste seither mehrfach um sein Bleiberecht auf biblischem Boden kämpfen. Eine Gewissheit schien es uns, dass es dabei unter amerikanischem Schutz stets erfolgreich sein würde.

Ausgeträumt! Nichts wird so bleiben, wie es ist, und es wird uns Geld kosten. Viel Geld. Foto: Sarah Richter, lizenzfrei auf Pixabay

 

 

 

 

Mehrfach überschüttete uns das Glück

Mehrfach überschüttete uns das Glück. Der Staat der Juden vergaß die Gräuel der Nazis nicht, aber konnte sie uns verzeihen. Deutschland und Israel schlossen Freundschaft. Zwar wuchsen wir in einem geteilten Land auf, aber damit hatten wir uns abgefunden. Und sogar diese Last wurde uns genommen, als die deutsche Mauer zu nutzlosem Beton wurde. Freudetrunken stürmten wir unüberwindlich geglaubte Grenzen. Die einen staunten über die Sonne am blau glitzernden Mittelmeer, die ihnen lange unerreichbar gewesen war. Und die anderen konnten endlich problemlos dorthin fahren, wo die eigenen Eltern geboren waren, durften die schönen Städte an der Ostsee kennenlernen, vielleicht sogar die prächtigen Metropolen Russlands besuchen.

Ja, es gab auch Irritationen

Ja, es gab auch Irritationen in diesen glücklichen Jahren. Im Balkan fielen die Völker übereinander her. Und unser Blick auf die Welt sah großzügig über die globalen Ungerechtigkeiten hinweg, obwohl es genau diese waren und sind, denen wir eine ständige Mehrung unseres Reichtums verdankten. Wir bildeten uns ein, dass der heiße Stein der globalen Armut mit dem Tropfen unserer Entwicklungsarbeit abkühlen könnte.

Während unser Reichtum wuchs, glitten die Flugzeuge immer preiswerter dahin. So stiegen wir ein, staunten über das orientalische Bunt, das asiatische Jing-Jang, die fremde Tierwelt Afrikas, die glühenden Sonnenuntergänge Australiens und die plastikverliebte Luxuspracht der Amerikaner.

Und nun ist es vorbei

Und nun ist es vorbei. Ausgeträumt! Die verwöhnte Generation muss aufwachen.

Die hitzig flackernden Displays der globalen Vernetzung erzählen den Verzweifelten dieser Welt, wie wir leben: Wie die Maden im Speck. Ein Stück davon, eine Chance darauf, wollen auch sie. Warum sollten sie es nicht versuchen? Migration war schon seit biblischen Zeiten ein Ausweg aus purer Not. Das jüdische Volk lehrt es uns. Und noch vor gut hundert Jahren waren es die Europäer, die von feudal verursachter Armut vertrieben wurden. Voller Hoffnung brachen sie auf in die keineswegs unbesiedelten Weiten der „Neuen Welt“.

Und dann lockt auch noch die Freiheit. Millionen sind es auf dieser Welt, die jedes Wort wägen müssen in den Diktaturen, die keine Freiheit darüber haben, was sie anziehen und ob sie ihre Haare verhüllen wollen oder nicht, die nicht frei sprechen und handeln können, die nur flüstern dürfen auf ihrer Flucht vor dem eigenen Staat. Sie alle suchen ihre Chance. Sie nehmen dafür in Kauf, ihr ganzes Hab und Gut windigen Schleusern in den Rachen zu werfen, um dann doch zu ertrinken, erschossen zu werden, zu verdursten auf der Suche nach Löchern in unseren Grenzzäunen. Sie handeln nicht anders als die vielen Deutschen, die in den dumpfen Jahren der Wachtürme und Selbstschussanlagen den schnellen Tod riskierten für ihre Freiheit.

Es wird nicht aufhören

Ausgeträumt! Es wird nicht aufhören damit.

Die Chancenlosen, Verzweifelten, Hoffnungsfrohen dieser Welt werden weiterhin zu uns kommen, werden Wege finden für ihre Chance auf Glück und Leben und Freiheit, egal, ob wir ihnen Sozialleistungen kürzen, Bezahlkarten statt Geld verordnen oder Grenzkontrollen in den Weg stellen. Wir werden sie nicht aufhalten, jedenfalls nicht zu Bedingungen, die unser Gewissen beruhigen.

Ausgeträumt! Wir haben die Ressourcen des Planeten mithilfe korrupter Mördereliten ausgeplündert, die zufällig Herren über die flüssigen und gasförmigen Schätze der Erde wurden. Jetzt wollen wir auch noch die gleiche Clique dafür in den Dienst nehmen, uns die Flüchtenden aus aller Welt vom Hals zu schaffen. Es wird nicht gelingen.

Gierig haben wir Luft und Wasser vollgepumpt mit Giften, die Meere verseucht, Tiere ausgerottet oder versklavt, die Gletscher und Polkappen zum Schmelzen gebracht. Es sind auch unsere Überschwemmungen, unsere Dürren, unsere Waldbrände, die immer mehr Menschen weit fort von uns aus purer existentieller Verzweiflung dorthin treiben, wo ihnen ein lebenswertes Leben noch möglich erscheint: In den Norden, zu uns.

Wir sind Süchtige

Ausgeträumt! Unsere Demut haben wir verräumt in die hinterste Ecke unseres satt gefüllten Vorratsschranks. Wir sind Süchtige. Süchtig nach Öl und Gas, süchtig nach unserem billigen Vorteil. Wir fürchten um unsere Glitzerpaläste und Einfamilienhäuser, und delirieren davon, dass unser altes Glück zurückkehren könnte. Unsere Freiheit halten wir für selbstverständlich, und die Demokratie, so glauben wir, gibt es bei möglichst wenig Steuern fast gratis dazu.

Jetzt aber ist Schluss.

Die finsteren Mächte greifen zu und verwandeln unsere Welt, als wäre sie die Kulisse einer Grusel-Serie auf Netflix. Diese Monster sind echt: Sie fallen her über unsere Welt, sie massakrieren ihre Nachbarn in der Ukraine und in Israel, vielleicht bald auch im Kosovo oder anderswo. Sie bauen ihre perfiden Unterdrückungsregime aus mit den digitalen Waffen gegen das eigene Volk. Und auch manche Demokratie wankt schon unter dem populistischen Druck der gewissenlosen Rattenfänger, die versprechen, dass es so bleiben könnte, wie es ist. Die bösen Mächte wissen um unsere Träume, sie kennen unsere fettleibige Bequemlichkeit, sie lachen uns aus.

Lauter wird der Wecker nicht klingeln

Aufwachen! Lauter wird der Wecker nicht mehr klingeln.

Unser Wohlstand wird nichts Wert sein, wenn die Hitze die Felder versengt und das Wasser die Plantagen davonschwemmt. Unsere Freiheit wird verloren gehen, wenn wir nicht entschlossen für sie eintreten. Der Kampf für Demokratie entscheidet sich nicht daran, ob wir gendern oder Cannabis legalisieren, er wird nicht an der Fleischtheke verteidigt oder mithilfe der Radarfallen auf der Autobahn. Für gleichmacherische Phantasien der Sozialromantiker ist kein geeigneter Zeitpunkt, denn wir brauchen Initiative und Tatendang. Der Rückwärtsgang der Ewiggestrigen führt uns in den Abgrund.

Nichts wird bleiben

Ausgeträumt!  Entschlossen handeln werden wir müssen, um die Trümmer unserer Träume aus dem Weg zu räumen. Sonst werden wir ersticken an unserer bürokratischen Trägheit, an faktenfreier Streitlust, am Hin- und Herschieben von Verantwortung.

Respekt müssen wir haben für Polizei und Bundeswehr, wenn sie die Waffen zur Verteidigung unserer Freiheit bedienen und sich in unseren Dienst stellen. Respektvoll willkommen heißen müssen wir diejenigen, die unsere Pflegeheime, Krankenhäuser und Industriehallen, unsere Rentenkassen und Steuern mit ihrer Schaffenskraft füllen sollen.

Ausgeträumt! Es wird uns Geld kosten, viel Geld. Nichts wird so bleiben, wie es ist. Aber es ist unsere einzige Chance.

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert