Fünfzig Jahre nach Ho Chi Minh

Mit dem Rad durch Vietnam und Kambodscha – ein politisch geprägter Reisebericht

Von Hubert Seiter

Das alte Saigon heißt jetzt Ho Chi Minh-City – aber von den Schrecken des Vietnam-Krieges ist im Alltag kaum etwas zu spüren. Überall begegnen dem Touristen überaus freundliche Menschen. (Foto: Seiter)


 

 

Hubert Seiter war von 1996 bis 2016 Geschäftsführer der Rentenversicherung Baden-Württemberg. Ehrenamtlich engagierte er sich in zahlreichen Institutionen, unter anderem im Krebsverband Baden-Württemberg, in zahlreichen Patienten- und Behindertenorganisationen und als alternierender Vorsitzender im Verwaltungsrat des Medizinischen Dienstes (MD) Baden-Württemberg. Seiter ist passionierter Radfahrer und lebt in Bietigheim-Bissingen. (Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg)


„Ho Ho  – Ho Chi Minh!“ –  dieser rund fünfzig Jahre alte Schlachtruf weckte meine Erinnerungen bei einer Radreise im Spätherbst 2023 nach Vietnam und Kambodscha. Als „Bub vom Land“ habe ich damals die weltweiten Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner zunächst nur aufmerksam verfolgt. Erst zum Schluss habe ich mich getraut mitzudemonstrieren, aber bitte möglichst unauffällig. Als junger „Beamtenanwärter für den gehobenen, nichttechnischen württembergischen Verwaltungsdienst“ wusste oder ahnte ich, dass solche Aktivitäten den allermeisten Chefs – Landräten oder Bürgermeistern (damals fast nur Männer) – gar nicht gefallen würden.

Das alles ging mir auf dem viel zu langen Flug nach Saigon durch den Kopf, pardon: nach Ho-Chi-Minh-City – wie die 9-Milionen-Metropole seit 1976 zu Ehren des 1969 verstorbenen Revolutionärs und Präsidenten von Vietnam heute offiziell heißt. Drei Wochen lagen vor mir, in denen ich überwiegend auf dem Rad durch Südvietnam, durch das riesige Mekongdelta, und schließlich im benachbarten Kambodscha die Hauptstadt Phnom Penh und die unzähligen Tempel in Angkor Wat entdecken würde. Ich wollte mehr, und auch etwas darüber erfahren: Wie haben die Menschen in diesen Ländern den grausamen Vietnamkrieg gegen die Amerikaner und die nicht minder barbarische Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha verarbeitet – knapp fünfzig Jahre nach Kriegsende im Jahr 1975?

Das frühere Saigon lächelt

Das frühere Saigon lächelt, als ob nichts gewesen wäre. Man sieht fast nur junge, überwiegend sehr freundliche Menschen auf den Straßen. Das Durchschnittsalter der knapp 100 Millionen Einwohner Vietnams liegt gerade mal bei 32 Jahren – in Deutschland beträgt der Vergleichswert 45 Jahre. Die wenigsten Menschen haben daher unmittelbar mit- und überlebt, wie die USA in einer beispiellosen Material- und Menschenschlacht in Vietnam einen „Stellvertreterkrieg gegen den Weltkommunismus“ (so der Marco-Polo-Reiseführer „Vietnam“) geführt hat. Viele Millionen Tonnen Bomben, chemischen Kampfmitteln („Agent Orange“), einfach alles, was modernste Waffenarsenale damals hergaben, wurde eingesetzt.

Geschätzt 3,5 Millionen Menschen – Soldaten und Zivilisten – wurden getötet, unzählige Menschen verletzt und vertrieben. Es gibt Gedenkstätten, welche die Erinnerung an die Gräueltaten und an den stolzen Sieg wachhalten, z.B. in Cu Chi. Nachzuerleben ist dort, wie die „sehr schmächtigen Vietnamesen“ unter der Erde ein Tunnelsystem, auch mit Schutzräumen und Krankenhäusern, gegraben haben, das für die „beleibten Feinde“ unzugänglich war. Auch ein Museum mit allerlei Kriegsgerätschaften gibt es. Im Alltag dominierend ist die Erinnerung an diese Zeit jedoch nicht. Auf den mit tausenden Mopeds überfüllten Straßen habe ich keinerlei Hass gespürt. Man hat offensichtlich selbst mit Amerika seinen Frieden gefunden – spätestens seit dem Besuch von Bill Clinton im Jahr 2000, berichtet unser kundiger Reiseführer.

Gibt es eine „Verzeihenskultur“?

Kann das stimmen? Mir ist es zu einfach und ich nehme mir deshalb vor, mich zu Hause intensiver mit Konfuzius, Buddha und dem Daoismus zu befassen. Vielleicht finde ich Erklärungen für „eine Friedens- und Verzeihenskultur“, Werte, die beim Aggressor Putin, aber auch bei vielen „Zündlern“ in der NATO derzeit leider überhaupt keine Konjunktur haben.

Der Mekong mündet im zweitgrößten Delta der Welt (nach dem Amazonasdelta) in das Südchinesische Meer. Diese Landschaft auf dem Rad zu entdecken ist überwältigend. Fischfang, große Reisfelder, Handwerksbetriebe, viele Fähren (statt Brücken) und zunehmend -hoffentlich – auch ein bald wieder wachsender Fremdenverkehr, ermöglichen vielen Menschen ein bescheidenes Auskommen. Wir übernachteten überwiegend in sog. Homestays und ließen uns von vietnamesischer Hausmannskost verwöhnen. In allen Variationen gab es Fisch, Fleisch, vielfältiges Gemüse, Reis und tolle Früchte zum Nachtisch. Besondere Gewürze machten den (großen) Unterschied zum „Vietnamesen um die Ecke“ in Deutschland.

Auf kleinen Pfaden fuhren wir von Dorf zu Dorf.  Unser Guide hat es geschafft, uns fünf Tage lang durch das Delta zu lotsen, ohne dass wir einem Touristen begegnet wären, immer und überall begleitet von nur freundlichen Menschen, die uns „Hello“ zujubelten.

Mitten in Phnom Penh: Eine Begegnung auf Deutsch

Mit dem Tuk-Tuk durch Phnom Penh gefahren werden – und dabei kann man viel darüber erfahren, wie es war, als Arbeitskraft in der früheren DDR gelebt zu haben. (Foto: Seiter)

Dann weiter nach Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas. Die Busfahrt aus dem märchenhaften Mekongdelta und ein langwieriger Grenzübergang – trotz einiger Dollar Bestechungsgeld – waren eine angemessene Einstimmung. Im Reiseführer steht: „Die 600 Jahre alte Hauptstadt (ca. 2 Mio. Einwohner) ist auf einer rasanten Zeitreise ins 21 Jh. und dem bäuerlichen Rest des Landes um Lichtjahre voraus“ (Marco Polo „Kambodscha“). Nicht ganz so viele Mopeds gibt es dort wie in Saigon, dafür aber sehr viele Tuk-Tuks – motorisierte Rikschas. Unglaublich, was auf diesen „Dreirädern“ alles transportiert werden kann! Wir fanden ein Tuk-Tuk mit einem hervorragend Deutsch sprechenden Fahrer. Bis zur Wende war er „auf Arbeit“ bei Zeiss in Jena. Er hatte viel zu erzählen, auch aus seinen Lehr- und Arbeitsjahren in der DDR. „Gönnt euch einen Abend in dem Dachkaffee eines Hochhauses“, empfahl er uns. Wir folgten dieser Empfehlung und genossen einen wunderschönen Sonnenuntergang über den Dächern von Phnom Penh… bei Cocktails zu einem Preis, den sich unser „deutscher“ Tuk-Tuk-Fahrer trotz üppigem Trinkgeld wohl kaum leisten kann.

Segen und Fluch des Tourismus

Bleibt zu hoffen, dass Kambodscha im Aufschwung doch noch erspart bleibt, was sich – leider – anzudeuten scheint: Sextourismus und/oder Raubtierkapitalismus. Je ein Edelkarosse „Maybach mit Chauffeur“ in Saigon und in Phnom Penh werteten wir dafür als nicht unbedingt gute Zeichen.

Nicht mehr zu entscheiden hat man das in Angkor mit seinen unzähligen Tempel- und Klosterruinen im Dschungel. Dort gibt es bereits im benachbarten Siem Reap eine Partyszene. Nicht auszudenken, wenn jetzt – nach Corona – wieder der Massentourismus aus China einsetzt. Die Kehrseite: Über 300 Hotels (2022), und doch sind viele Gaststätten in Siem Reap immer noch geschlossen, viele Reiseführer arbeitslos. Stattdessen verkaufen Kinder im Vergnügungsviertel kleine Souvenirs und tragen so zum kümmerlichen Lebensunterhalt ihrer Familien bei.

Da einfach nur mildtätig kaufen nicht mein Ding ist, versuchte ich mit einigen – meist – VerkäuferInnen ins Gespräch zu kommen. Ein besonders neugieriges und wissbegieriges kleines Mädchen hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ich bat sie gestenreich, sich zu uns zu setzten. Auf einer Papierserviette löste sie kleine Rechenaufgaben und vergaß dabei einige Minuten völlig ihren „Job“. Die Serviette – und einen Dollar für einen kleinen Anhänger – packte sie in ihr Täschchen. Wir trafen sie auf dem Heimweg nochmals. Freudestrahlend – und ich glaube auch etwas stolz – zeigte sie uns die Serviette aus ihrem Täschchen.  Ich nahm mir vor, zu Hause nach Projekten zu suchen, die Kindern in Kambodscha – immer noch eines der ärmsten Länder weltweit – Schule und damit Zukunft ermöglichen.

Zwei Tage unterwegs, nur einen Bruchteil gesehen

Einen Teil der riesigen Tempelanlagen in Angkor zu entdecken – verteilt auf eine Fläche so groß wie Berlin! – gelingt am besten auf dem Rad. Auf dem Mountainbike, abseits der Massen, geführt von einem kundigen Guide war es ein unbeschreibliches Erlebnis, im Dschungel nicht nur die gängigen Tempel zu finden. Zwei Tage waren wir unterwegs und haben doch nur einen Bruchteil der sehenswerten Ruinen gesehen. Einfach unvorstellbar, was die Hochkultur der Khmer vor eintausend Jahren hier geschaffen hat. Diese Schätze der Vergangenheit zu schützen und zu erhalten, ist eine Herkulesaufgabe – nicht nur für das arme Kambodscha, sondern für die ganze Welt!

Mit dem Fahrrad durch den Dschungel, und dabei die geheimnisvolle Tempelwelt des Angkor Wat entdecken – ein unvergleichliches Erlebnis. (Foto: Seiter)

Auch dafür ist der nagelneue, hochmoderne Flughafen von Siem Reap Segen und Fluch zugleich. Millionen von Touristen werden in den nächsten Jahren erwartet. Sie bringen die dringend notwendigen Devisen in die Region und nach Kambodscha, aber die Touristen sind auch eine Gefahr für die unverfälschte Freundlichkeit dieser liebenswerten Menschen und den Erhalt der unschätzbaren Kunstwerke vor Ort.

Auf dem Rückflug: Träumen ist erlaubt

So war für mich während des 13-stündigen Fluges zurück von einer nachhaltig- beeindruckenden Reise durch Vietnam und Kambodscha das Träumen angesagt: Bemühen wir uns alle um viel mehr und behutsame Wertschätzung. Reagieren wir wütend auf unmenschliche und unsagbar teure Kriege auf der Welt. Fordern wir Versöhnung statt Revanchismus! Christen, Juden, Buddhisten, Muslime, Atheisten – einfach alle sind gleichermaßen verpflichtet!

 

Dieser Text ist ein Gastbeitrag auf vogtpost.de und gibt ausschließlich die persönliche Meinung von Hubert Seiter wieder.

Wer der Empfehlung von Hubert Seiter folgen und Projekte für Kinder in Kambodscha unterstützen möchte, kann dies an zahlreichen Stellen tun. Hier eine Auswahl: UNICEF-Projekte für Kambodscha, SOS-Kinderdorf in Kambodscha, oder das Projekt „Raise and support the Poor“, das dem Autor persönlich bekannt ist.

 

Mit dem Vietnam-Krieg und wie er in den USA und Deutschland wirkte, setzt sich auch der Text „Vom Frieden träumen, im Krieg aufwachen“ auseinander, veröffentlicht anlässlich eines Musical-Besuchs von „Hair“ in Saarbrücken im Frühjahr 2023.

 

One thought on “Fünfzig Jahre nach Ho Chi Minh

  1. Dr. Johann Brunkhorst 28. Dezember 2023 / 18:30

    Lieber Herr Seiter, das ist eine sehr interessante Reise durch ein für uns meist sehr unbekanntes Land – und zudem noch mit dem Rad, wodurch eine sehr intime, nachhaltige Erfahrung entsteht. Fast bedrückend ist ja die Analogie zu den aktuellen Kriegen – sowohl zum Überfall des Putin-Regimes auf die Ukraine, wo ja auch eine Atommacht auf eine zum Befreiungskampf bereite Nation trifft. Als auch zum Krieg der Israelis gegen eine Terrororganisation, die sich eine Parrallelwelt in den Tunneln unter Gaza erschaffen hat. Es ist tatsächlich eine verrückte Zeit – aber es wird eine Zeit nach den Gräueln geben. Ich will die Hoffnung nicht aufgeben – das wir die Kraft haben, an einer neuen Ordnung mit zu gestalten. Da ist der Bezug auf die Würde des Menschen, in einer demokratischen Welt mit Entscheidungsfreiheit und sozialem Rechtsstaat ein sehr guter Bezugsrahmen!

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