Die Bilder von der Grenze zwischen Belarus und Polen sind unerträglich. In Eiseskälte campieren Menschen auf dem Weg in die EU. Vor ihnen patrouillieren polnische Grenzsoldaten, die sie mit Stacheldraht und Waffengewalt genau davon abhalten. Hinter ihnen stehen ebenfalls Bewaffnete: Milizionäre aus Belarus, die sie hindern, umzukehren. Glaubt man dem, was dazu in unseren Medien berichtet wird, so sind diese Menschen zumindest zum Teil gezielt aus den desaströsen Verhältnissen ihrer Heimat, aus dem Irak oder Syrien, dorthin gelockt worden. Vom Regen in die Traufe? Das wäre eine zynische Untertreibung.
Ein „Machthaber“ handelt skrupellos …
Verantwortlich dafür sei der „Machthaber“ von Belarus, Alexander Lukaschenko, berichten die Medien. Er verleite Menschen, die in die EU einreisen wollen, gezielt dazu, dies an der Grenze seines Landes zu Polen zu versuchen. Angeblich holt er sie mit Hilfe Russlands und der Türkei sogar gezielt zu diesem Zweck in sein Land. Es sollen genau die Bilder des Grauens produziert werden, die uns jetzt quälen. Er will damit erreichen, dass europäische Sanktionen gegen sein Land zurückgenommen werden, seine Partner wollen Europa destabilisieren. Das Kalkül: Die Gutmenschen im satten Westeuropa werden es nicht aushalten, Menschen vor ihrer Eingangstür erfrieren zu lassen. Sie werden es nicht zulassen, dass ganze Familien sterben, wenn polnische Grenzsoldaten mit Waffengewalt das verteidigen, was wir „europäische Außengrenze“ nennen.
Und auch diese Bilder sind unerträglich: Am Rande der Erschöpfung kämpfen Intensivmediziner und -pflegende um das Leben von Menschen, die sich geweigert haben, die notwendige Vorsorge zu treffen. Obwohl sie es besser hätten wissen können. Obwohl die Impfung kostenlos und massenhaft angeboten wurde. Jetzt verstopfen sie die Betten für Menschen, die auf eine Krebsoperation oder das Einsetzen eines lebenssichernden Stents länger als eigentlich nötig und medizinisch geboten warten müssen. Gegen den Krebs oder den möglichen Herzinfarkt gibt es keine Impfung, gegen das Schicksal dieser Betroffenen keine Chance. Unsolidarische verstopfen den Weg zur Versorgung von Unschuldigen.
… und andere Machthaber zögern
Auch in diesem Drama fehlt es nicht an „Machthabern“, die daran etwas verändern könnten. Wir haben in Deutschland eine geschäftsführende Regierung, die umfassend handlungsfähig ist und auch verpflichtet, zu handeln. Wir haben amtierende Ministerpräsidenten. Sie alle sollte angesichts rapide steigender Infektionszahlen Macht ausüben, die ihr demokratisch zugeteilt wurde. Und wir leisten uns noch dazu den Luxus einer neuen, gerade legitimierten parlamentarischen Mehrheit. Auch sie könnte im Parlament Macht ausüben, wenn sie nicht abgelenkt wäre davon, sich mit anderen wichtigen Fragen zu beschäftigen. Die Ampel-Koalitionäre sind Machthaber im selbst auferlegten Wartestand. Kein Wort vom baldigen Kanzler, unentschlossene Konzepte der neuen „Machthaber“, die noch nicht „fertig“ damit sind, die Macht auch wirklich ausüben zu wollen, die ihnen die Wähler verliehen hat.
Vorsicht mit Begriffen! Wer ist ein „Machthaber“?
In beiden Geschichten sind nicht vergleichbar. Und doch wird in beiden der Begriff „Machthaber“ verwendet. Er geistert derzeit täglich durch deutsche Medien, wenn man den so Bezeichneten nicht anders einordnen kann oder möchte. In der Tatenlosigkeit deutscher Politik gegenüber wieder rapide steigenden Infektionszahlen zeigt sich, dass „Machthaber“ eine neutrale Bezeichnung sein könnte für diejenigen, welche die Macht ausüben. Wir haben in Deutschland nach unserer Verfassung hauptsächlich einen Machthaber: die oder der Bundeskanzler/in. „Machthaberin Merkel“ würde aber (außerhalb einzelner Pegida-Verwirrter) ernsthaft kein Mensch sagen. Auch den französischen oder amerikanischen Präsidenten würden wir niemals als „Machthaber“ bezeichnen, obwohl es beide noch viel umfassender sind als ein deutscher Kanzler. Sogar der mit fragwürdigen Methoden regierende russische Präsident Putin wird meist respektvoll als „Präsident“ bezeichnet.
Einen „Machthaber“ macht nach unserem Verständnis aus, dass ein Mächtiger (ja, in der Regel ist es ein Mann) seine Macht missbräuchlich nutzt. Ein „Machthaber“ vertritt die böse Seite der Macht. An der Grenze zu Belarus zeigt sich, dass der Begriff „Machthaber“ eine Verharmlosung ist. Wer ohne demokratische Kontrolle rücksichtslos Macht ausübt, wer mit Gewalt und Einschüchterung verhindert, dass er abgewählt werden kann, wer Hilflose oder Naive als menschliche Munition missbraucht und sie bewusst in ihr möglicherweise tödliches Unglück treibt, ist ein Tyrann, ein Diktator, vielleicht sogar ein Verbrecher.
Auch Macht-Unlust verursacht Schäden
Auch das Nichtausüben von Macht ist fragwürdig, zumal dann, wenn sie demokratisch legitimiert ist. Was ist das für ein Geeiere zwischen 2G und 3G, zwischen Impf- und Maskenpflichten, zwischen Festen und Testen! Es fehlt an entschlossener Machtausübung in unserem Land, das noch dazu geadelt ist von hoher politischer Kultur, in der eine große Mehrheit der Gesellschaft den Konsens sucht. Was wir erleben, ist Machtunlust der Machthaber zum Schaden unser aller Gesundheit.
Was also folgt daraus? Deutsche Medien sollten einen gewalttätigen, menschenverachtenden Diktator nicht als „Machthaber“ verniedlichen, sondern als solchen bezeichnen. Und eine Gesellschaft, die gewählt hat, hat Anspruch auf Machtausübung. Das gilt erst recht, wenn die Sorge um die Gesundheit keinen Aufschub des Tätigwerdens duldet. Demokratisch legitimierte „Machthaber“, die ihre Macht nicht ausüben, weil sie gerade anderweitig beschäftigt sind, versündigen sich an ihrem Auftrag.
Ein kluger Essay zum Thema Machtausübung in der Pandemie von Nils Minkmar in der Süddeutschen Zeitung (hinter der Bezahlschranke, aber lohnt sich!): https://www.sueddeutsche.de/kultur/corona-politik-deutschland-bundesregierung-zaudern-1.5460138?reduced=true
Das perfide Kalkül, dem die Flüchtenden derzeit an den Westgrenzen von Belarus ausgesetzt sind, schildert sehr anschaulich der SZ-Podcast zu diesem Thema „Auf den Punkt“: https://www.sueddeutsche.de/politik/podcast-nachrichten-gefluechtete-in-belarus-lukaschenkos-kalkuel-1.5459637
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