Frontalcrash – Über Vertrauen und Freiheit

Wohliges Brummen hinter dem Steuer.

Eine Landstraße voraus, sie verläuft schnurgerade, gut einsehbar bis in die Ferne. Der sauber abgegrenzte Asphalt durchquert eine Senke. Links Wald, rechts Wiesen, durch die Windschutzscheibe liegt das graue Band in Gänze im Blick. Gut überschaubar senkt es sich herab, eine saubere, moderne Straße, zweispurig. Das Stakkato der weißen Striche in der Mitte sorgt für Ordnung. Gerade eben erst hatte das Auto in seiner ganzen betörenden Mühelosigkeit den höchsten Punkt des Hügels erklommen, der diesen Ausblick auf ein Versprechen von Freiheit ermöglicht.

Eine freie Straße – und was geschieht, wenn ein Fahrzeug entgegenkommt? Foto: Lizenzfrei von Sabine auf Pixabay

Die Straße schmiegt sich am tiefsten Punkt in die liebliche Landschaft, die sie durchschneidet, und dann steigt sie wieder an, hoch hinauf auf das Gegenüber des nächsten Hanges. Die Straße erklimmt den Scheitelpunkt, verschwindet dahinter in unbekannten Überraschungen von Natur und Zeit.

Nun geht es bergab.

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Hitziges Streiten am Stammtisch …

… oder im Kollegenkreis. Eine Meinung steht an ihrem Anfang. Sie hat sich gebildet zum Thema Atomausstieg oder zur Frage der Dringlichkeit des Klimawandels. Oder zur Haltung über Krieg und Frieden, zur Notwendigkeit von Lohnerhöhungen, über den Sinn eines Tempolimits. Und fast immer zur Frage, ob die Regierung etwas taugt oder nicht. Die Meinung kommt aus den Untiefen des Unbewussten oder wurde im Lärm der Argumente gebildet, oder sie hat beides durchquert. Sie biegt mal links und mal rechts ab, sie bekommt Schrammen, wird ausgebeult und aufpoliert.

Nun rollt sie stolz heraus aus der Debattenwerkstatt, erobert das breite Band der Meinungsvielfalt in einer demokratischen Gesellschaft. Die Medien wirken wie Treibstoff: Sie tragen sie hoch hinauf auf den Hügel der Wahrnehmbarkeit, fast mühelos. Immer schneller und schneller geht es voran im Diskurs, das breite Band senkt sich herab, gibt der Meinung Schub und Dynamik, und mit diesem Schwung wähnt sich die Meinung schon sicher, den gegenüberliegenden Hang zur Mehrheit zu erklimmen.

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Doch die Straße ist nicht leer.

Während das eigene Auto ruhig auf der rechten Seite der Straße, rechts von den weißen Streifen, dahineilt, gefühlt freudig über die Anstrengungslosigkeit des Hinabrollens, kommt ein fremdes Fahrzeug auf dem gegenüberliegenden Hang entgegen. Ein zufälliger Partner ist das für das Durchleben dieses Augenblicks, unbekannt, niemals gesehen, gelenkt von einer wildfremden Person. Sekunden sind es nur, vielleicht eine Viertelminute, in denen die beiden Gefährte aufeinander zurasen.

Eine kleine Lenkbewegung, vielleicht eine Unachtsamkeit, ein unkluger Blick aufs Handy, eine irritierende Fliege im Auto – was auch immer: Ein paar Zentimeter nach links, und die Begegnung würde taumeln zwischen Folgenlosigkeit und Katastrophe.

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Aber da – was kommt da entgegen?

Eine Gegenmeinung hat sich formiert auf dem grauen Band der Meinungsvielfalt. Breitbeinig rollt sie vom gegenüberliegenden Debattenhügel herunter, gleißend und stolz leuchten die Scheinwerfer ihrer Argumente auf, laut hupt sie, schafft Platz für bange Ängste und große Hoffnungen.

Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden sich Meinung und Gegenmeinung begegnen. Die Meinung überlegt fieberhaft: Welche Lenkbewegung nun? Der Gegenmeinung ausweichen? Schnell die Scheinwerfer aufblenden, die Hupe betätigen? Nur nicht nachgeben, frontal drauf zu!

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Dann ein kaum spürbarer Windhauch.

Ein rasch anschwellendes Brummen und Rauschen ist zu hören – und ist schon wieder verklungen. Im Auto ein leichtes Wanken. Die rasende Begegnung ist vorüber, in einem Bruchteil einer Sekunde nur, und doch war es ein Glücksmoment des vertrauensvollen Miteinanders. Wachsamkeit, Disziplin und Regeltreue haben Leben und Freiheit ermöglicht.

Beide Fahrzeuge verschwinden hinter den Hügeln, welche die Senke begrenzen. Weiter, immer weiter streben sie auseinander, in entgegengesetzte Richtungen, zu anderen Zielen. Leer und still liegt die Straße da, als wäre nichts geschehen.

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Der krachende Zusammenstoß …

… war weithin hörbar gewesen. Übersäht ist nun das graue Band der Meinungsvielfalt mit rauchenden Trümmern. Der Zusammenprall der Meinungen hatte katastrophale Folgen. Überall liegen Beleidigungen und Herabsetzungen herum. Im Aufprall herausgeschleuderte Unterstellungen zucken noch wie abgerissene Körperteile. Hässliche Pfützen von Hass und Hetze verschandeln das graue Band. Böswillige Fehlinformationen schwelen weiter, und noch immer könnten sie einen Flächenbrand auslösen in der Landschaft der demokratischen Gesellschaft.

„Es wäre ein leichtes gewesen“, sagt später im Prozess vor dem Gericht der Wahrheitsfindung ein renommierter Gutachter aus der Wissenschaft. „Der Frontalzusammenstoß wäre vermeidbar gewesen.“ Es hätte genug Zeit gegeben, zu bremsen, vorsichtig aneinander vorbeizufahren, oder gar anzuhalten und nach einem Konsens zu suchen.

„Und warum ist das dann nicht geschehen?“, fragt der Richter der Wahrheitsfindung.

„Man kann es nicht verstehen. Es fehlte wohl am Vertrauen, die Freiheit des anderen  zuzulassen.“

 

 

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