Versagen und Hoffnung in einer Männer-Welt

Zur Wiederaufnahme des „Siegfried“ an der Stuttgarter Oper

Diese Welt der Männer ist ein einziges, trostloses Grauen, innerlich wie äußerlich. Sie ist heruntergekommen, dreckig, verschlagen. Dort wächst Siegfried auf, der Held des dritten Abends im “Ring”, der gewaltigen, insgesamt vierteiligen Opern-Novela von Richard Wagner. Dieser Held ist zweifellos für sein ganzes Leben geschädigt. Siegfried ist ein Macho, umgeben von Machos.

Die psychologisch kluge Inszenierung des „Siegfried” an der Stuttgarter Oper erlebt in diesen Tagen ihre Wiederaufnahme und wird im Frühjahr 2023 Teil von zwei „Ring“-Zyklen sein, die am Eckensee zu sehen sein werden. Sie stammt aus dem Jahr 1999 und galt schon damals mit ihrer mutigen Bildsprache und tiefgreifenden Deutung des psychologischen Geflechts zwischen den Beteiligten als spektakulär. Sie hat nichts davon verloren.

Worum geht es?

Das Schwert entsteht: Siegfried, der ungeduldige Jugendliche, schmiedet sich seine unschlagbare Waffe. (Daniel Brenna als Siegfried; Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Staatsoper Stuttgart

Alle diese Götter, Riesen und Zwerge sind voller individueller Traumata, durchtränkt von krankhaftem Machtstreben, gegenseitiger Abhängigkeit, Misstrauen und Intrige. Es ist weitgehend eine Männerwelt, gänzlich ohne Empathie, die sich in ihrer psychologischen Vielschichtigkeit einer kurzgefassten Inhaltsschilderung entzieht. Ein vereinfachender Versuch sei hier trotzdem unternommen:

Siegfried wächst als Findelkind im verlotterten Haushalt eines Ziehvaters auf, der mehr über dessen göttliche Herkunft weiß als Siegfried selbst, und darauf hofft, dass sein Schützling mit seinem testosterongesteuerten Hang zur Gewalttätigkeit ihm dereinst den berühmten Ring zur Weltherrschaft beschaffen wird. Dem jugendlichen Siegfried fehlt dafür allerdings noch eine Waffe, möglichst eine unbesiegbare. Sein Ziehvater, obwohl Schmied, bekommt sie nicht zustande, jedenfalls nicht so, dass sie den unkontrollierten Kräften des Jugendlichen Stand hält. Als der die Geduld mit dem schwächlichen Schmied verliert, hämmert er sich das gesuchte Schwert einfach selbst zurecht. Damit wandert er durch den Wald, um jenen Riesen zu erschlagen, der den Ring der Weltherrschaft besitzt und bewacht.

Ein Kettenraucher wartet, Wotan wandert

Allerdings ist die mit Stacheldraht umzäunte Stuttgarter Wohnstatt des Riesen umlagert von weiteren fragwürdigen Männern. Ein Kettenraucher wartet dort wie ein Kleinkrimineller auf die Chance, sich den Ring der Weltherrschaft abzugreifen, wenn der kräftige Siegfried den Riesen endlich erledigt hat. Und auch der allmächtige Göttervater Wotan lungert am Zaun herum, getarnt als „Wanderer“. Eigentlich will er sich künftig aus dem Weltgeschehen heraushalten, hat er doch schon erfahren, dass seine eigene ausgeprägte Prinzipienlosigkeit nichts als endlose Schuld, uneheliche Kinder und immer wieder neuen Streit produziert.

Siegfried, der Held mit Schwert, betritt also diese trübe Szenerie. Er provoziert das Riesenungeheuer und erdolcht es ohne lange Diskussionen. Seinen verhassten Ziehvater erledigt er gleich mit. Nun besitzt er alles, was ein Mann begehrt: eine unschlagbare Waffe und den Ring der Weltmacht.

Allein, was ihm fehlt, ist die Erfahrung der Liebe – kurz: Eine Frau.

Da hört er von der seit dem Ende der Oper “Walküre” auf einem Felsen dauer-schlafenden Brünnhilde. Diese hatte vor ihrer Straf-Einschläferung durch ihren Vater Wotan selbst den Wunsch geäußert, ausschließlich dann geweckt zu werden, wenn einst ein absolut furchtloser Held mutig genug wäre, den zu ihrem Schutz lodernden Flammenring zu überwinden. Siegfried hat keine Zweifel, dass er das ist, und bricht auf zum glühenden Felsen.

Das Versagen der Männer als Zusammenfassung

Fassen wir das Versagen der Männer bis dahin zusammen: Der Ziehvater hat niemals eine Beziehung zu seinem heldenhaften Findelkind aufbauen wollen, immer hatte er in ihm nur ein Werkzeug für seine eigenen Pläne gesehen. Siegfried hat eine Kindheit wie ein emotionaler Zombie und lehnt sich gewaltsam gegen diese Karikatur eines Pflegevaters auf. Der vorübergehende Besitzer des umkämpften Rings, der Riese Fafner, gibt den lächerlichsten Weltherrscher ab, den man sich vorstellen kann: als fauler, fetter Wurm hockt er schläfrig auf seinem Besitz, ohne jeden Gestaltungswillen, dumm und überheblich.

Eine trostlose Männerwelt am Stacheldraht: Matthias Klink (Mime), Daniel Brenna (Siegfried) Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Staatsoper Stuttgart

Der Göttervater lässt der Gewalt ihren Lauf, setzt seine Allmacht nicht ein, um den fortdauernden männlichen Kreislauf aus Mord, Gier und Totschlag zu durchbrechen. Dabei hatte Wotan das ganze Übel in Gang gesetzt, weil er im ersten Teil der Serie, im „Rheingold”, die Riesen für den Neubau seiner eitlen Burg mit dem zum Ring geschmiedeten Schatz entgolten hatte.

Weltherrscher vegetieren in verfallenem Gemäuer

Die trostlose Welt, in der alle diese Männer ihr Unwesen treiben, ist in der Stuttgarter „Siegfried“-Inszenierung ein einziger Albtraum. Die wechselnden, selbstverliebten Weltherrscher vegetieren dahin in halb verfallenen Gemäuern und hinter löchrigen Zäunen, zerborsten sind die blinden Fensterscheiden, klapprig die Stühle, fleckig das Sofapolster. Tütensuppen bilden den Speiseplan, der Göttervater verbirgt sein mafiöses Wesen hinter einer billigen Sonnenbrille.

So also ist die deprimierende Lage nach fast drei Stunden auf der Stuttgarter Bühne, vor Beginn des 3. Aktes. Dann endlich tritt das Weibliche auf den Plan. Erst scheitert der Göttervater bei seiner Liebschaft Erda damit, sie in die Verantwortung für seine intriganten Pläne einzubeziehen. „Du bist nicht, was Du Dich nennst“, wirft sie dem gescheiterten Allmächtigen an den Kopf und wendet sich ab.

Der Held ist derangiert

Und dann endlich hat auch der kühne schöne junge Held Siegfried den Felsen der schlafenden Brünnhilde erreicht. Aber er ist derangiert. In den vergangenen Stunden hat er: erstens ein unbesiegbares Schwert geschmiedet, ist zweitens stundenlang durch den tiefen Wald gewandert und hat dort drittens ein Monster getötet, dabei viertens den Ring der Weltherrschaft für sich erobert. Nebenbei musste er noch fünftens seinen Ziehvater ermorden. Dann hat er sich – sechstens – noch eben durch das lodernde Feuer von Brünnhildes Felsen gekämpft. Verschwitzt und verdreckt dringt er in das wohlgeordnete Gemach der ersten Frau seines Lebens ein.

Das Ende ist zu schön , um es zu schildern …

Was dann passiert, ist in der Stuttgarter Aufführung des „Siegfried“ so schön geschildert, dass es sich zu erzählen verbietet. Zu erleben ist, wie das Ewig-Weibliche in uns allen mit sanfter Wucht hinwegrafft, einschmilzt, bedeutungslos macht, was dem Manne so wichtig erschien. Brünnhilde lässt das ganze übersteigerte Ego der Eitlen, die zerstörerische Gewalt der Machtmenschen, den Schrecken der Tyrannen und Bombenwerfer ganz wortwörtlich in der Schublade verschwinden.

Ach, wäre es schön, wenn die Welt so wäre. Aber wer wollte nicht dabei sein, wenn es doch geschieht? Auf in die Oper!

 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

Gesehen habe ich die Generalprobe am 7. Oktober 2022. 

 

„Siegfried“ an der Stuttgarter Oper ist zu sehen am 10. März und 8. April 2023 jeweils als Teil von zwei „Ring“-Zyklen. Mehr Informationen zur Inszenierung auf der Webseite der Staatsoper Stuttgart: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/siegfried/

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier, auch Texte zu den anderen Teilen des vierteiligen Stuttgarter „Rings“: Rheingold, Walküre und Götterdämmerung.

Über den schicksalhaften Stuttgart-Aufenthalt von Richard Wagner im Frühjahr 1864 habe ich ein Essay verfasst: „Aber wir haben den Daimler“.

 

One thought on “Versagen und Hoffnung in einer Männer-Welt

  1. Manfred Zach Oktober 26, 2022 / 11:41 am

    Glückwunsch!

    Auch wer (wie ich) mit dem ganzen Wagner-Endzeitschwulst überhaupt nichts anfangen kann, freut sich doch über die sanfte Rezensenten-Ironie, durch die aus schwerverdaulichem Götter-Geraune amüsante Belletristik wird.

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