Violetta könnte leben

Zur Oper „La Traviata“ von Giuseppe Verdi

Wie wäre das Leben der jungen Frau verlaufen, wenn sie nicht schon als junges Mädchen hätte arbeiten müssen in einer Spelunke auf dem Land? Wenn sie sich nicht als 15-jährige als Dienstmädchen in Paris verdingt hätte, damit sie ihren Eltern nicht länger auf der Tasche lag? Es war die blanke Tristesse ihres jungen Lebens, aus der sie sich befreien wollte, als sie begann, ihre Schönheit zu verkaufen. Fortan war sie abhängig von den Männern, die sich mit ihr schmücken wollten, sie verehrten und benutzten. Wie die Motten umschwirren die Männer der Gesellschaft in der Inszenierung von Andreas Homoki diese schöne Frau im prächtigen weißen Kleid schon gleich zu Beginn auf der spiegelglänzenden Bühne der Oper am Rhein in Düsseldorf: gierig, lüstern, besitzergreifend.

Noch dazu ist die schöne Frau sterbenskrank. Marie Duplessis hat bis 1847 in Paris gelebt und war das historische Vorbild für die Oper „La Traviata“ mit der suchtauslösenden Musik von Guiseppe Verdi zu einem Libretto von Francesco Maria Piava. Sie starb mit 23 Jahren an Tuberkulose. Nach ihr hat Alexandre Dumas den Roman „Die Kameliendame“ verfasst, dessen Schauspielfassung Verdi in Paris selbst gesehen hatte und sich damit von diesem Stoff anregen ließ zur „Traviata“ – „der vom Weg abgekommenen“.

Violetta stirbt auch an gesellschaftlichen Verhältnissen

Hin- und hergerissen zwischen Luxus und Todesgewissheit: Violetta und Alfredo in „La Traviata“. Foto: Birgit Hupfeld, bereitgestellt von Deutsche Oper am Rhein

Also ist auch Verdis Violetta am Ende des Opernabends tot. Sie stirbt an ihrer damals unheilbaren Erkrankung, aber auch an den gesellschaftlichen Verhältnissen, die der Gefallenen keinen sozialen Aufstieg erlauben. Die es den Männern leicht machen, die Frau in ihrer Mitte herumzuschubsen zwischen Eifersucht, Eitelkeit, Zorn und Demütigung. Schließlich aber stehen sie alle ratlos herum um das Totenbett. Das Finale der Oper „La Traviata“ hat nur wenige Takte, aber es zählt szenisch wie musikalisch in seiner vorwurfsvollen Endgültigkeit zu den wuchtigsten, stärksten musikalischen Momenten, die Musiktheater erzählen kann. Denn in diesem Moment des Todes, der eigentlich nach Stille verlangt, schlägt die Musik mit voller Wucht zu. In fünf kräftigen Orchestertutti haut Verdi wie mit der Faust auf einen apokalyptischen Tisch:  Wumm – wamm – wumm – wamm – dann ein Trommelwirbel – ein längerer Verzweiflungsschrei in Musik und schließlich ein letzter, alles mitreißender Donnerschlag, der diese ratlosen Männer hinwegfegt, sie alle hineinreißt in den Abgrund des Schicksals, und uns alle gleich mit.

Diese Opernszene gibt es auch in „Pretty Woman“

Was für eine Magie der Töne! Vielleicht aus diesem Grund hat es genau diese Schlussszene in den Film „Pretty Women“ geschafft. Die erste Opernerfahrung der schönen (von Julia Roberts gespielten) Prostituierten Vivian rührt diese zu Tränen. Denn es sind trotz aller Verzweiflung Momente der Erlösung, die sich nach jeder Vorstellung von „La Traviata“ Bahn brechen und Stürme der Begeisterung auslösen, oft schon in die letzten Klänge des wuchtigen Finales hinein. Es ist eine Erlösung darüber, dass dieser emotional-romantische Albtraum ein Ende hat. Violetta ist tot, und der Tod ist immer ungerecht. Aber wir dürfen leben!

„La Traviata“ ist eine der meistgespielten Opern der Welt, eine „sichere Bank“ für jeden Opernintendanten. Opernanfängern wird häufig geraden, mit der „Traviata“ zu beginnen, sich mit Violettas und Alfredos Hilfe einzulassen auf dieses seltsame Genre, in dem kaum gesprochen, dafür aber lange gesungen wird. Es ist vor allem die Musik von Giuseppe Verdi, die eingängig dahinschmelzend den Zuschauer hineinsaugt in diese romantisch-tragische Welt, für manche vielleicht sogar zu süßlich, für andere suchtauslösend.

Dazu kommt eine Handlung, die jedes Herz erreicht, wenn es denn nicht ganz aus Stein ist: Eine junge Prostituierte Violetta muss weitermachen in ihrem Teufelskreis aus Verkäuflichkeit und Demütigung, weil sonst ihr Leben schon rein finanziell kollabiert. Da trifft sie auf Alfredo, der anders ist als alle anderen, der sie im Wissen um ihre Vorgeschichte umwirbt. Sie schwankt zwischen den luxuriösen Vergnügungen ihrer Käuflichkeit und den Verlockungen der Bindung, und entscheidet sich schließlich für die Liebe. Die Symptome der Krankheit verschwinden, das Paar hat zwar kein Geld mehr, aber sie planen eine gemeinsame Zukunft. Da greift Alfredos Vater ein: Der gesellschaftliche Sittenkodex könnte den Ruf der Familie gefährden, er fordert daher die junge Frau und später auch seinen Sohn auf, voneinander zu lassen. Violetta nimmt im Wissen um ihren baldigen Tuberkulose-Tod und aus Liebe zu ihrem Alfredo alles auf sich, lässt ihren Geliebten im Unwissen darüber, dass sie einem Eingriff seines Vaters folgt und erregt so seinen eifersüchtigen Zorn. Viel zu spät erkennen alle Männer, was sie da angerichtet haben.

Sollten wir uns das heute ansehen?

Sollten wir uns das heute ansehen? Unbedingt! Der gesellschaftliche Stand bestimmt noch immer den sozialen Standort. „La Traviata“ erzählt uns die Geschichte derer, die „vom Wege abkommen“ (wie die Übersetzung des Operntitels wörtlich lautet) und sich heute im Elend der Bordelle am Stadtrand, in der Gewaltwelt der Clans oder im digitalen Shitstorm wiederfinden. Verdis Oper war schon bei ihrer Uraufführung 1853 (nur sechs Jahre nach dem Tod der Marie Duplessis) nicht nur eine tragische Liebesgeschichte, sondern harte Sozialkritik, und sie ist es bis heute.

Leidenschaft auf einer aseptisch anmutenden Spiegelfläche: „La Traviata“ in Düsseldorf. Foto: Birgit Hupfeld, bereitgestellt von Deutscher Oper am Rhein

So schön dahinschmelzend wurde der Gesellschaft allerdings noch selten der Finger in die Wunde gelegt. Die zwanzig Jahre alte Inszenierung von Andreas Homoki an der Düsseldorfer Oper am Rhein macht es mit ihrer ästhetischen Strenge dem Opernfreund nicht gerade leicht, sich in diesen tragischen Stoff hineinzuschwelgen. Das Bühnenbild wechselt nicht, die ganze Handlung spielt auf einem aseptisch anmutenden, verspiegelten Bühnenrund, allein die Prachtgewänder der Damen und die überraschend aus dem Glasboden sprießenden Plastikblumen sorgen für etwas Sinnlichkeit. So muss man sich vom Rausch der Stimmen dahintragen lassen in die tragische Geschichte der Violetta. Verdis Musik und das Mitleid im wahrsten Sinne des Wortes mit diesem schicksalhaften Leben zwischen Luxus und Demütigung, zwischen Lebenswillen und Todesgewissheit, trägt durch den Opernabend.

Als Violetta schließlich tot dahingesunken ist auf die glänzende Spiegelfläche der Düsseldorfer Bühne, wissen wir, dass es Hoffnung gibt. Heute ist die Tuberkulose heilbar. Violetta könnte leben.

 

 

„La Traviata“ wird immer wieder an zahlreichen Opernhäusern in Deutschland gezeigt. Inspiration für diesen Text war mein Besuch in der Oper am Rhein in Düsseldorf. Dort gibt es weitere Aufführungstermine bis Mitte April 2022. Zur Website der Deutschen Oper am Rhein: https://operamrhein.de/de_DE/termin/la-traviata.16830039

 

Das Leben von Marie Duplessis, der historischen Vorlage für die Violetta in der Oper, ist gut dargestellt bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Duplessis

 

 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

 

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