Der Klang der neuen Zeit – Zwei Konzertbesuche

München, Herbst 1992

Das Konzert galt schon im Vorfeld als so legendär, dass jeder Platz ausverkauft war. Auch die schmalen harten Chorbänke hinter dem Orchester würden gefüllt sein bis auf den letzten Platz. Manche Kartenbesitzer begriffen ihr Glück erst, als sie am Eingang des „Gasteig“, des im Herbst 1992 noch als frisch empfundenen, weiten, luftigen Konzertsaals in München, ein Spalier von Suchenden und Rufenden durchdringen mussten: „Haben Sie noch eine Karte?“, war da vielstimmig zu hören, „Hundert Mark – oder mehr? Sagen Sie einfach, was ich zahlen soll!“

Ameisenhafte Emsigkeit herrschte im gestuften Foyer, besorgtes Suchen nach dem richtigen Eingang, schnell das Sektglas geleert, ein letzter Blick durch die hoch aufgefalteten Fenster über das Kopfsteinpflaster der Großstadtstraße, hinaus auf die im Regennass glänzenden Gleise der Straßenbahn, auf die rot aufleuchtenden Lichter der sich den Hang hinabbremsenden Autos. Dann der Welt den Rücken gekehrt, denn im Saal saß das Orchester bereits erwartungsvoll und gestimmt. Noch bedurfte es keines Hinweises auf das Ausschalten von Handys.

„Jugend an die Macht!“

Dann, als das Licht abdunkelte, als sich das allseitige Räuspern und Husten ängstlich legte, wohl wissend um die diesbezügliche Empfindlichkeit des Solisten, der schon Konzerte abgebrochen hatte wegen solcher Störungen, – als sich endlich die seitliche Tür öffnete, da traten die greisen Matadoren auf die hölzerne Bühne. Zwei Herren, der eine stolz aufrecht mit pechschwarzem Haar, der andere grau und gebeugt, kamen gemessenen Schrittes daher: Arturo Benedetti-Michelangeli, der legendäre Pianist, 72 Jahre alt und erst vor wenigen Jahren von einem auf offener Bühne erlittenen Herzinfarkt genesen, und Sergiu Celibidache, der Dirigent, 80 Jahre alt.

„Jugend an die Macht!“, flüsterte der nebensitzende Konzertbesucher, als er die ganze Wucht der Jahre erfasste, all der Töne und Noten, der abertausenden Stunden des Zweifelns und Übens, die sich hier auf das Podium tasteten. Aber auch dieser Lästerer war ergriffen von einem Auftritt, der an der Ewigkeit klopfen könnte, der ein geronnener Augenblick der Verbeugung werden wird vor den Lebensleistungen zweier Künstler, die seit Jahrzehnten, ihr ganzes wildes, wechselhaftes Leben lang, den richtigen Ton gesucht hatten, dabei Niederlagen erleiden mussten und Triumpfe feiern konnten. Sie hatten den Äther ungezählter Konzerthallen eingeschüchtert und abertausende Zuhörer zum ehrfurchtsvollen Schweigen gebracht.

Die unerbittliche Suche nach Perfektion

Dann setzte sich der heikle Pianist, der zu jedem Konzert mit zwei eigenen Flügeln anreiste. Er war komplett in schwarz gekleidet, akkurat sortierte er die zwei Schöße seines Fracks hinter die Klavierbank. Benedetti-Michelangeli galt als ausnehmend schwierig. Auf der Suche nach dem perfekten Ton war er unerbittlich sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber.

Celibidache erklomm seinen Hochstuhl. Auch er trug einen Frack und ein weißes, rüschenbesetztes Hemd. Er wollte und konnte einen ganzen Konzertabend nicht mehr über-stehen. Auch der Münchner Chefdirigent stand für die unerbittliche Suche nach der Perfektion. Er war für den Weltruhm der Münchner Philharmoniker ein künstlerischer Hauptgewinn, aber auch ein wirtschaftliches Desaster. Um die von ihm angestrebte Interpretationstiefe der Musik zu erzielen, verlangte er doppelt so viele Proben als andere Dirigenten. So entstand über die Jahre ein langsamer, zwischen Trägheit und Zärtlichkeit schwankender Ton. Hundertfach geduldig und wachsam eingeübt, ausgefeilt in allen seinen Klängen und Zwischentönen, entstand ein Klangbild, wie es kaum ein anderes Orchester bieten konnte im auch schon vor 30 Jahren als internationales Business betriebenen Klassik-Zirkus. Konzerte mit Celibidache waren Einladungen zu tiefempfundenen Musikerlebnissen, nicht wiederholbar, keiner Konserve zugänglich, und genau so wollte es der Maestro. Er weigerte sich, mit seinem Orchester Schallplattenaufnahmen zu machen. Was es heute an Celibidache-Aufnahmen zu kaufen und zu hören gibt, sind tolerierte Live-Mitschnitte aus seiner sehr frühen Berliner Zeit (als junger Wilder unter den Dirigenten, als Karajan-Antipode) und den sehr späten Jahren in München. Hier war er jetzt ein unumstrittener Herrscher.

Ein Herrscher, ein Solist

Benedetti-Michelangeli war bereit. Steif aufrecht thronte der Altmeister vor seinem Instrument, die Arme im rechten Winkel über der Tastatur. Schumanns a-Moll-Klavierkonzert beginnt mit einem heftigen Aufschlag des Orchesters, kurz und kräftig – und dann übernimmt das Klavier, und Benedetti phantasierte über die Tasten, wendig und versunken, ganz in sich gekehrt. Kein Blick ins Orchester, ein sachtes Wiegen des Oberkörpers war nur dann zu vernehmen, wenn er selbst spielte. Ein wahrer Solist.

Der von Schumann erdachte Dialog über drei Sätze zwischen Klavier und Orchester perlte in getragen-demütiger Wucht dahin, auf das lyrische Fragen des Klaviers, folgten die oft entschlossen aufbrausenden Antworten des Orchesters. Nach kaum 25 Minuten war das Ereignis vorbei. Der Schussakkord verklang, der Beifall rauschte auf, das Publikum jubelte, immer wieder, es gab letzte Zugaben und angedeutete steife Verbeugungen der alten Herren.

Zwei strenge Altmeister waren auf der Suche nach Perfektion gewesen. Ob sie sie gefunden hatten, war ihr Geheimnis geblieben.

 

  • Sergiu Celibidache gab sein letztes Konzert mit den Münchner Philharmonikern im Juni 1996 und verstarb im August des gleichen Jahres im Alter von 84 Jahren. Mehr über Dirigenten und sein Musikverständnis in dem wunderbaren Film „Sergiu Celibidache- Feuerkopf und Philosoph“: https://www.youtube.com/watch?v=1JkkVqK3FAE
  • Arturo Beneditti-Michelangeli starb im Juni 1995 im Alter von 75 Jahren. Das Konzert im Herbst 1992 im „Gasteig“ mit dem Schubert-Klavierkonzert war der letzte gemeinsame Auftritt in München mit Celibidache. In der Dokumentation „Ein unfassbarer Pianist“, die auch einen gemeinsamen Auftritt mit Celibidache im Juni 1992 (mit einen Klavierkonzert von Ravel) zeigt,  kann man sich noch heute ein Bild davon machen, was die perfektionistische Faszination dieses Künstlers anrichtete – im Positiven, wie im Negativen: https://www.youtube.com/watch?v=YErVzX_cLok

Igor Levit und die Münchner Philharmoniker.

München, Herbst 2022

Eine Wiedergeburt? Nein, reiner Zufall. Es gab keinen Plan. Der Saal ist auch nicht mehr derselbe, selbst wenn er sich „Gasteig HP 8“ nennt. Es ist der Ersatz-Konzertsaal, zwei Kilometer entlang der Isar entfernt vom sanierungsbedürftigen Original. Die Münchner und die strengen Ohren der Konzertkritik sind vom Provisorium „Isarphilharmonie“ begeistert: Beste Akustik, angenehme, moderne Atmosphäre.

Immerhin: das gleiche Orchester, zumindest dem Namen nach. Die Münchner Philharmoniker dürften inzwischen fast vollständig neu besetzt sein – Generationenwechsel. Und: Die gleiche Musik: Schuberts einziges Klavierkonzert in a-moll.

Auch im Provisorium herrscht wieder Bienenkorb-Atmosphäre. „Suche Karte!“ steht auf dem Schild, das ein verzweifelt Hoffender in die Luft hält, umschwirrt von Vorfreudigen. Lange Schlangen an den Garderoben. Dann ergießt sich das Kulturvolk in den schwarz ausgekleideten Saal, nimmt Besitz von ihm bis zum letzten Platz. Geducktes Huschen, während schon das Orchester die Bühne erobert, die Instrumente stimmt. Ein letztes Handy klingelt und mahnt alle anderen. Das Licht dimmt herab.

Eine junge Frau, ein junger Mann

Die Bühne betreten: Eine junge Frau und ein junger Mann. Die junge Frau ist fast lässig gekleidet im schwarzen 7/8-langen Hosenanzug, die Haare zum kurzen Pferdeschwanz gebunden. Der junge Mann hat lichtes schwarzes Haar, Vollbart und ein schüchternes Lächeln, das sein Markenzeichen ist. Über der schwarzen Hose und dem schwarzen T-Shirt lässt er seine bordeauxrote Jacke lässig offen.

Intensiv sucht Igor Levit den Blickkontakt in das Orchester, tauscht einen Händedruck mit der Konzertmeisterin. Dann, mit geballter Faust, teilt er seine konzentrierte Anspannung mit dem ganzen Saal und setzt sich an die Tasten. Er wechselt einen Blick mit der litauischen Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die fast verschwindet hinter dem hochgestellten Deckel des vor ihr aufgebauten Flügels. Dann wieder der kurze, entschlossene Auftakt, eigentlich nur ein kraftvoller Ton des Orchesters, und schon tanzen Levits Finger über die Tasten. Die Musik entfaltet sich in den Saal, rauscht hinein in die stillen Reihen der Zuhörer, steigt hoch entlang der schwarzen Holzpaneele, die dem Saal die viel gelobte Akustik bescheren, erreicht die obersten Reihen, verklingt im Nichts der Zeit.

Levit badet in der Musik, und ist auch ein politischer Künstler

Levit badet sichtbar, fühlbar mit seinem ganzem Körper in der Musik, die da entsteht, er entringt dem Klavier seine Töne oft tiefgebeugt in einer für ihn typischen, geduckten Haltung, weniger um Perfektion bemüht als um einen unverwechselbaren Ausdruck. Wenn das Orchester spielt, wippt er am Klavier mit dem ganzen Körper, blickt fasziniert hinüber zu den Streichern, zu den Bläsern. Er ist in diesem Moment ein Teil von ihnen, nicht der gefeierte Solist. Levit wirkt nicht wie ein Star, obwohl er es ist. Es entsteht im Teamwork ein Moment der Demut vor der Musik.

Über den Pianisten Igor Levit ist alles geschrieben und berichtet worden, es gibt sogar einen aktuellen Film über ihn und sein Wirken und Leiden während der Corona-Krise („No Fear“). Levit ist im Kulturbetrieb eine auch deshalb auffallende Erscheinung, weil er neben seinem Klavierspiel auf höchstem Niveau sich auch und dezidiert als politischer Künstler versteht. Er ist Mitglied der Grünen und war bis vor kurzem hochaktiv auf Twitter, das er zuletzt aber verließ. Im Film kann man ihn dabei beobachten, wie er unter freiem winterlichem Himmel Klavier spielt – als Ereignis der Solidarität mit den Klima-Aktivisten zum Erhalt des Dannenröder Forstes für den Bau einer Autobahn. Er kritisiert Antisemitismus und Rassismus. Er hat dafür viel Hass eingesteckt, aber auch große Solidarität erfahren. Er macht Podcasts und wirbt manchmal während eines Konzertes für seine politischen Ansichten. Man muss nicht jede davon teilen, aber man kann anerkennen: Igor Levit ist ein Künstler, der das tut, was eine Gesellschaft von guten Bürgern erwartet. Er nutzt seine Popularität, seine Öffentlichkeit, um für seine Meinung, für die Werte seines Landes, in dem er aufgewachsen ist, das ihm als gebürtigem Russen seine Heimat gegeben hat, einzutreten.

Die Dirigentin bleibt im Hintergrund. Ihre Stunde schlägt nach der Pause

Mirga Gražinytė-Tyla bleibt bei Levits Auftritt völlig im Hintergrund, nicht nur bildlich hinter dem Flügel, sondern auch beim Beifall, nachdem auch in diesem Konzert wieder die Schlussakkorde verhallt sind. Levit und Gražinytė-Tyla umarmen sich, längst rauscht und tobt der Beifall des Publikums. Aber während er die „Bravo“-Rufe schon hört, die vor allem ihm gelten, verneigt er sich vor dem Orchester. Erst dann wendet er sich herum. Als er aus dem Bühnenhintergrund zurückkehrt in das Bad der Begeisterung, bleibt er allein.

Die Dirigentin überlässt ihm die Bühne. Ihre Stunde schlagt nach der Pause. Dann wird sie den vielstimmigen Klangkörper des Orchesters zähmen und beherrschen. Kein Maestro, sondern eine junge, schmale Frau, klug und inspiriert, wird mit Energie und Fleiß den mehr als achtzig erfahrenen Frauen und Männern im Orchester, allesamt Vollprofis in ihrem Fach, die meisten älter als die Dirigentin, ihre eigene musikalische Idee abringen.

Es ist die gleiche Musik. Und doch …

Es ist die gleiche Musik wie vor dreißig Jahren, dargeboten auf höchstem Niveau, damals wie heute. Und doch ist es auch der Wandel der Zeit, den die Zuhörenden erleben. Wenn sie wollen, können sie diesen nicht nur hören, sondern auch sehen und spüren. Als das Konzert der Altmeister Celibidache und Benedetti-Michelangeli im Gasteig ausklang, war Mirga Gražinytė-Tyla sechs Jahre und Igor Levit fünf Jahre alt. Die Jugend hat übernommen, und sie verändert den Klang der Zeit.

 

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