Das schnelle Ende der Finnlandisierung

Über den „Helsinki-Effekt“ und was sich seither verändert hat

Prächtig weiß schimmert der Marmor an der Fassade im Sonnenlicht und steht damit in Verbindung zum prunkvollen Baustil, der die finnische Hauptstadt Helsinki auch sonst neoklassizistisch prägt. Die Rede ist hier von der Finlandia-Halle. Sie wurde Anfang der 70er Jahre eröffnet, als Konzert- und Kongresshaus, und jede und jeder politisch Interessierte kennt sie. Weltgeschichte wurde dort geschrieben, eine Art Friedensschluss als Ende des „Kalten Krieges“ zwischen Ost und West, dreißig Jahre nach der Weltkriegskatastrophe.

Die Finlandia-Halle in Helsinki: Vor 50 Jahren wurde hier Weltgeschichte geschrieben – aber die damals Beteiligten glaubten, es bliebe alles beim Alten. Foto: gemeinfrei von Thermos  https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=738580

Europa war geteilt. Bis auf kleinere Konflikte hatte es seit Kriegsende keine direkten militärischen Konfrontationen der Weltmächte in Europa gegeben. Das Konzept „Abschreckung“ kam an seine Grenzen, denn es verlangte einen hohen Preis. USA und Sowjetunion ächzten unter den enormen Kosten der gegenseitigen Hochrüstung. Dieses gemeinsame Interesse führte zur Lösung: „Entspannung“ hieß nun das Motto. Denn schließlich wollte niemand neue Kriege führen in Europa.

Viele dachten: Alles geht so weiter wie zuvor

So verständigten sich nach einem mehrjährigen, sehr zähen Verhandlungsprozess 33 europäische Staaten dies- und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ zusammen mit den USA und Kanada auf eine Schlussakte der „Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE). Dort festgehalten: Keine gewaltsame Verschiebung von Grenzen, Streit friedlich beilegen, Wahrung der Menschenrechte. Das völkerrechtlich unverbindliche Papier wurde in genau dieser Halle unterschrieben. Das war am 1. August 1975. Damals meinten allerdings nahezu alle Beteiligten, vor allem auf der West-Seite, dass Aufwand und langfristiger Nutzen dieses diplomatischen Kraftaktes in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander stünden. Es würde ohnehin alles so weitergehen wie zuvor.

Aber das war ein Irrtum.

Fünfzig Jahre ist das nun her. Die Geschichte der Konferenz hat der finnische Filmemacher Arthur Franck im Dokumentarfilm „Der Helsinki-Effekt“ auf äußerst unterhaltsame Weise nachgezeichnet – und dabei einige Lehren für das Heute entdeckt. Der Film ist vor allem ein Appell an die Kraft von Diplomatie, die freilich Geduld, Höflichkeit, Respekt und Verständnis für das Gegenüber erfordert – allesamt Tugenden, die im internet-getriebenen, erhitzten Dauerdiskurs der Gegenwart unter die Räder geraten sind. Vielleicht ist der seither eingetretene Ansehensverlust von Außenpolitik auch darin begründet, dass genau diese Primärtugenden nichts mehr gelten? Alle schauen nur noch auf sich, und ein US-Präsident, der genau diese Unkultur zum Prinzip erhoben hat, verordnet seinem Land folgerichtig den Austritt aus der UNESCO. Was interessiert einen Amerikaner das Welterbe andernorts?

Auch vor fünfzig Jahren wurde gespottet – aber höflich

Wie anders muten da die Bilder aus den 70er Jahren an. Auch da wurde gespottet über die jahrelangen Diskussionen um ein Papier, das im wesentlich beschrieb, was ohnehin alle für unstrittig hielten. Immerhin geschah es weitgehend höflich. In der historischen Rückschau war die KSZE-Schlussakte von Helsinki allerdings nicht irgendein belangloses Papier. Es war der Ausgangspunkt des Umsturzes im Osten, der Befreiungsbewegungen in den osteuropäischen Ländern, von Solidarnosc und auch der friedlichen deutschen Einigung. Die Möglichkeit dazu wurde auf Druck der westdeutschen Regierung unter Helmut Schmidt ausdrücklich in den Text aufgenommen. Die Option zur friedlichen und gemeinsamen Lösung der „deutschen Frage“ war die vom Westen erwünschte Ausnahme des sonst von der Sowjetunion besonders nachdrücklich eingeforderten Prinzips der Unverrückbarkeit von Grenzen.

Beste Stimmung zwischen den Atommächten: Im KSZE-Prozess achtete man noch darauf, sich mit Respekt und Höflichkeit zu begegnen (Gerald Ford und Leonid Breschnew in Helsinki) Foto: bereitgestellt von rise and shine cinema

Die KSZE-Schlussakte ist daher auch eine Dokument des Bruchs zwischen der von Wladimir Putin sonst so hoch gehaltenen Traditionslinie zwischen der untergegangenen Sowjetunion und dem heutigen Russland.

Finnland suchte sein Glück siebzig Jahre lang in der Neutralität, …

Glaubt man dem Film, dann wäre die ganze Konferenz nie zustande gekommen ohne die vermittelnde Rolle des damaligen finnischen Präsidenten Urho Kekkonen. Finnland ist in seiner Geschichte mehrfach nach Russland einverleibt worden, wusste sich aber seit dem 20. Jahrhundert auch zu wehren. Und blieb standhaft auf die eigenen Grenzen bedacht, als Hitler die finnischen Nationalisten für seinen Kampf gegen Stalin einspannen wollte.

Nach dem 2. Weltkrieg fanden die 5,5 Millionen Finnen ihre politische Rolle in der Neutralität zwischen den Blöcken. Kulturell gehörte das Land dem Westen an, war demokratisch und weltoffen. Aber es versuchte, durch maximale Zurückhaltung den großen Nachbarn im Osten keinen auch noch so kleinen Anlass zu geben, die 1344 Kilometer lange Grenze zum kleinen Finnland erneut zu überschreiten. Dieses Prinzip der Zurückhaltung wurde damals „Finnlandisierung“ genannt – fast ein Schimpfwort für lasche Politik. Kein Staat Europas wollte so neutral sein wie Finnland, so zurückhaltend gegenüber der sowjetischen Unterdrückungspolitik vor der eigenen Haustür. Kein Land war so restriktiv im Umgang mit Geflüchteten von dort, die man einfach zurückschickte, um die eigene Neutralität nicht zu gefährden. Auch deshalb engagierte sich Urho Kekkonen für den KSZE-Prozess und schloss ihn mit der Vertragsunterzeichnung in Helsinki erfolgreich ab. Ein diplomatischer Triumph für das kleine Finnland.

… aber brauchte nur zwei Jahre, um sich neu zu orientieren

Was danach geschah, ist allerdings das Scheitern der Finnlandisierung. Die Neutralität der Finnen hatte sich erledigt, als Russland die Ukraine überfiel – unter Bruch aller Prinzipien, die in der Helsinki-Akte festgelegt waren. Mehr als siebzig Jahre hatte Finnland seine Neutralität gepflegt. Nach der russischen Aggression brauchte die finnische Gesellschaft nur zwei Jahre, um sich radikal umzuorientieren. Seit 2023 ist Finnland Mitglied der NATO.

Was also kann Europa von den Finnen lernen? Mit Diplomatie kann man viel erreichen – aber nicht die eigene Existenzsicherung in einer Welt, in der die Allermächtigsten auf Verträge pfeifen. Es gibt keine Neutralität gegenüber purer Gewalt.

 

Die KSZE-Schlussakte von Helsinki kann im Originaltext im Internet abgerufen werden. Wer nachlesen möchte, findet sie hier.

Der Film „Der Helsinki-Effekt“ wird vor allem in kleineren Programmkinos gezeigt. Am 5. August zeigt ihn der Sender arte. Trailer, Informationen zum Film und zu den Kinos finden Sie hier. 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

Helsinki war der Schlusspunkt einer Reise durch Polen und die baltischen Staaten. Texte von dieser Reise sind auch

 

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