Tag 1 (10.8.2024)
Vom Dreiländereck bis Ullitz
Vielleicht zehn Jahre war ich alt, als ich mit meinen Eltern im Bayerischen Wald Urlaub machte. Eine Wanderung führte uns an die bayerisch-tschechische Grenze. Ich sehe mich dort stehen, es ist wie ein Foto der Erinnerung: Meine Eltern neben mir, der gemeinsame Blick über den Stacheldraht, den Deutsche dort gespannt hatten, davor das Schild „Halt! Staatsgrenze“. Der Blick ins fremde Tal, ein Blick ins Unerreichbare, denn eine andere Weltmacht herrschte dort. Im Tal tief unter uns waren Häuser zu sehen. Ob es wohl Menschen sind wie Du und ich, die da lebten? Zum „Ostblock“ gehörten sie. Die Wanderung war zu Ende, von hier gab es nur den Rückweg, keine Chance, auf die andere Seite zu gelangen. Wir waren am Ende unserer Welt.
Wie anders ist der Eindruck am Dreiländereck heute. Nun beginnt hier mein Weg, der mich in Abschnitten bis an die Ostsee führen soll. Die Grenzschilder stehen nur noch dekorativ herum, ein Dreiecksstein markiert die bayerische, die sächsische und die tschechische Seite. Der Grenzübertritt nach Tschechien ist nur ein harmloser Schritt, auf einem Bohlenweg, über ein Rinnsal hinüber, ein paar Stufen hinauf. Dann wartet dort ein tschechischer Rastplatz, ein Mountainbiker-Pärchen bevölkert den Pausenplatz. Der Ostblock ist entschwunden.
Auf der deutschen Seite liegt ein unbekannter Soldat, nicht symbolisch, sondern vermutlich real, dessen Grab von engagierten Menschen gepflegt wird. Über seine Geschichte finde ich nicht mehr als, dass er „dort 1945 ermordet worden“ sei. So erzählt es die Webseite der Deutschen Kriegsgräber-Fürsorge. Sein Grab, mit Gedenkschrift in Fraktur und einem Stahlhelm auf dem Kreuz, weckt heute fremde Gefühle, die nichts zu tun haben mit dem armen Mann, der da ruht.
Das Dreiländereck im Rücken, beginnt mein Weg in Sachsen. Und wird meist auf dieser Seite der Grenze, die keine mehr ist, bleiben. Es ist der Kolonnenweg der Soldaten der DDR, die hier mit Gewehr und Schießbefehl entlanggingen, Kilometer um Kilometer, Hügel auf und Hügel ab. Auf der Westseite gab es keinen Kolonnenweg. Jetzt ist auch hier nur noch wilde Natur, die sich die Betonplatten zurückerobert.
Der Ostblock ist weg.
Distanz: 14,5 Kilometer
Begegnungen mit Wanderern: 1
Jäger-Hochsitze: 22
Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.
Mehr Informationen über das Dreiländereck und den dort bestatteten unbekannten Soldaten finden Sie hier.
Heute kann ich nicht mehr nachvollziehen, wer mich auf diesen Blog aufmerksam gemacht hat, aber ich freue mich, das hier zu lesen und zu verfolgen.
In den frühen 1980er Jahren habe ich mir vom damals sehr knappen Geld das Buch „Along the Edge of the Forest“, Faber & Faber 1983, von Anthony Bailey (US-amerikanischer Autor und Kunsthistoriker, 2020 verstorben) gekauft und verschlungen. Es ist ein Bericht über seine Wanderung von der Ostsee nach Triest entlang des damaligen Eisernen Vorhangs mit vielen Begegnungen.
Für mich war das damals ein ungewöhnlicher Einblick in ein vollkommen fremdes und fernes Land, obwohl ich in Franken aufgewachsen bin – allerdings zu einer Zeit, in der das Land auf der Deutschlandkarte beim Wetterbericht in der ARD entlang der DDR Grenze endete. Und nun kann ich Ihre Reise mit diesem Hintergrund verfolgen. Ich bin gespannt.
Das Buch ist sicherlich inzwischen vergriffen, aber bei Interesse kann ich gerne mein Exemplar ausleihen.
Gute Weiterreise!
https://en.wikipedia.org/wiki/Anthony_Bailey_(author)
https://archive.org/details/alongedgeoffores0000bail_u9k9/mode/2up
Danke für Ihr Interesse! Ich werde meine Wanderung im Herbst fortsetzen, bis dahin bitte etwas Geduld.