Tag 6: Deutsche Überraschungen im Niemandsland

Tag 6 (19. März 2025)

Von Ottendorf nach Probstzella

Der Weg entlang der innerdeutschen Teilung ist über weite Strecken absolutes Niemandsland. Die spektakuläre Einsamkeit, durch die ich mich bewege, ist geprägt durch Stille; meine Schritte machen hier das Ereignis. Damit scheuche ich den Greifvogel auf, der erschreckt davonfliegt, oder die Rehe, die hier seit Tagen keine Störung ihrer Ruhe mehr erfahren haben. Nun fliehen sie den Hang hinauf, hinein in den schützenden Wald, der allerdings krank und schütter ist.

In dieser Abgeschiedenheit wird jedes Geräusch zum Konzert. Der Gesang ferner Motorsägen, das Rauschen einer fernen Straße, oder das Rascheln der noch winterlich kahlen Zweige in einer aufkommenden Windböe, vom Städter zunächst als herannahendes Fahrzeug missdeutet. Aber nein, da kommt nichts, „in dürren Blättern säuselt der Wind, sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind,“ beschwichtigt der Vater in Goethes „Erlköng“.

Es ist keine Furcht, die mich begleitet. Längst schon lauern die Räuber nicht mehr im Wald, sondern eher in den Schluchten der Städte oder in der Arglosigkeit, mit der Menschen zum Opfer von Telefonbetrügern werden. Hier ist nichts zu befürchten, außer vielleicht das eigene Versagen, ein Beinbruch, eine Herzattacke. Immerhin: Meistens hat das Handy Netz, mit dem ich Hilfe rufen könnte, wenn es denn nötig wäre. Aber ob sie mich finden würden?

Ein Tor im Nichts: Mitten im Wald, uneinsehbar, gesichert durch den Todesstreifen, der hier eine Lücke hatte, diente die Agentenschleuse der DDR dazu, Spione in den Westen zu entlassen.

Dann plötzlich zwei Ereignisse am Weg, unmittelbar nebeneinander. Mitten im Gestrüpp ein offenes Tor neben dem Kolonnenweg. Ein letzter Rest des Sperrzauns, der hier einmal stand. Ein Loch in der Mauer, gewissermaßen. Eine Tafel erklärt: An dieser Stelle entließ der Arbeiter- und Bauernstaat seine Spione Richtung Westen, mitten in der Wildnis, uneinsehbar. Nur wenige Geheimnisträger wussten: Hier liegen keine Minen im Todesstreifen, hier ist die eine, geheime Lücke in den Selbstschussanlagen. Der Zaun ist längst weg, das Tor in den Westen rostet als historisches Monument vor sich hin.

Und wenige Meter weiter: Ein Plastikschild warnt vor Videoüberwachung. Wie bitte, hier? Tatsächlich, den Weg haben zwei Wildkameras im Visier. Wissenschaftliche Zwecke, Bestandserfassung gefährdeter Tierarten. Das „Kompetenzzentrum Wolf Bieber Luchs“ benennt Verantwortliche und Rechtsgrundlagen akribisch paragrafengenau und versichert, dass mein Bild, würde es denn auftauchen zwischen den Wölfen, Biebern und Luchsen, unverzüglich gelöscht würde. Ich bin keine gefährdete Tierart. Datenschutz im Niemandsland. Immer muss alles seine Richtigkeit haben in Deutschland, damals wie heute.

Alles muss seine Richtigkeit haben in Deutschland: Datenschutz im Niemandsland.

Distanz: 15,2 Kilometer, 21.300 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: keine, aber vier freundliche Menschen, die mit dem Auto zum Grenzturm bei Probstzella herangefahren kamen.

Jäger-Hochsitze am Weg: 13

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

 

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