Fünf Impressionen aus dem Baltikum
Vom 17. bis 31. Mai 2025 habe ich eine Studienreise von Berlin aus durch den Norden Polens, anschließend durch alle drei baltischen Staaten unternommen. Nach einem Schiffstransfer über den finnischen Meerbusen endete die Reise in Helsinki. In mehreren Texten versuche ich, einen Teil der Eindrücke zu schildern. Dieser hier fasst fünf Impressionen zusammen.

Störche, Kiefern und Kirchen
Wie vertraut diese Landschaften sind! Längst rollt das Gefährt nördlich von Deutschlands Norden, ist über die geografische Höhe von Kopenhagen weit hinaus. Polen ist durchfahren, nun weht die Fahne mit dem litauischen Ritter über der Trutzburg von Trakai, die einst den Deutschen Orden auf seinem Eroberungszug nach Norden aufhielt. Hier und im weiteren Verlauf bestimmen weite gelbe Rapsfelder das Landschaftsbild, geduldig vorbeigleitende Kiefernwälder, später oft Birken. Häufige Storchennester. Der große Vogel zieht viel Aufmerksamkeit auf sich, wo immer er auftaucht. Denn es gibt sonst wenig in der Landschaft, was im Vergleich zu dem bei uns Wohlbekannten ungewöhnlich wäre. Litauen, Lettland, Estland: Das Baltikum ist kein Abenteuer, sondern die Wiederentdeckung einer vertrauten Welt. Eine europäische Kulturlandschaft, geprägt von den gleichen Bäumen und Blumen, den gleichen Dörfern, Burgen und Kirchen, die wir aus unserer Welt kennen. Nichts Exotisches haben diese Landstriche an sich, das Baltikum ist Brandenburg ähnlicher als dem Baskenland. Wer also käme auf die Idee, diese alten Kulturvölker würden nicht dazugehören zu einem geeinten Europa? Wie gut: Sie gehören dazu, und keine Grenzkontrolle unterbricht die Reise ins wohlvertraute Unbekannte.
Unermesslicher Großmut im Billigflieger-Revier
Muss es wiederholt werden? Ja, es muss, damit der Partytourismus sein angemessenes Gegenstück hat. Die lettische Hauptstadt Riga liegt im Billigflieger-Trend: Schnell mal für ein Wochenende dorthin, das Bier ist preiswert, die Stimmung gut, und Fußball gucken lässt sich gesellig mit den vielen Feier-Briten, die hier unterwegs sind. Nur ein Kilometer entfernt vom heutigen Vergnügungsrevier in der Altstadt lag das jüdische Getto, heute eine Gedenkstätte. In Vilnius begegnet uns zwar nicht so viel Ballermann, aber auch ein jüdisches Viertel, das von den Deutschen wie in Riga systematisch leergeräumt wurde – durch Deportationen, Ermordungen, Massenerschießungen. Riga-Bikernieki, Kaunas, Kauen, Raasiku – wenige Namen nur sollen aufgezählt sein für die vielen anderen Orte des Grauens, die es genauso zu nennen gelten würde. Sie alle haben nun doch den Deutschen verziehen, was nicht zu verzeihen und schon gar nicht zu vergessen ist. So erzählen sie jetzt vom unermesslichen Großmut geschundener Völker, der den Nachkommen der Mörder erst ermöglicht, in diesem Teil Europas unterwegs zu sein.

Fragiler Reichtum der Unabhängigkeit in Freiheit
Mit ihrer nationalen Unabhängigkeit haben Deutsche den schrecklichst-denkbaren Missbrauch betrieben. Und doch: Das Gefühl, dass sie im eigenen Staat ihr Schicksal selbst bestimmen können – dieses Gefühl ist Deutschen seit Generationen so vertraut, als wäre es selbstverständlich. Dabei hatten sie es schon verwirkt und doch noch einmal geschenkt bekommen nach der Katastrophe der Nazidiktatur. Deutsche leben nun in einem freien Land, tief verankert in Europa, umgeben von Freunden, gewiss nicht perfekt, schuldbeladen, aber doch weitgehend unabhängig in der Gestaltung ihres Schicksals. Auf der Reise durch das Baltikum erspürt ein deutscher Mensch neu den fragilen Wert dieses Schatzes nationaler Selbstbestimmung. Litauen, Lettland und Estland wurden über Jahrhunderte hin und her geschubst zwischen de angrenzenden Großmächten. Zuletzt haben sie sich ihre Eigenstaatlichkeit erst wieder erkämpfen müssen vor gerade einmal gut dreißig Jahren. Kaum wahrgenommen von der Weltöffentlichkeit, schon gar nicht in Deutschland, das im ungläubigen Staunen über die unerwartete Chance zur Einheit gebannt nach Ostberlin, Leipzig, Dresden starrte. Weiter nördlich haben im August 1989 zwei Millionen Menschen eine Menschenkette über 600 Kilometer durch alle drei baltischen Staaten gebildet, die damals noch Sowjetrepubliken waren. Sie haben später sowjetischen Panzern getrotzt, die der hierzulande so beliebte Michail Gorbatschow noch loskommandierte, um einen Zerfall seiner kollabierenden Sowjetunion aufzuhalten. Nun ist in jedem Gespräch, in jeder Begegnung die Angst vor Russland zu spüren. Die russische Exklave Kaliningrad lauert wie eine gefährliche Tretmine an Litauens Grenze, und der Osten Estlands grenzt direkt an den aggressiven Nachbarn. Verloren ist an beiden Stellen die dort schon einmal gewonnene Normalität. Die Unabhängigkeit ist erreicht, aber fragil, trotz EU- und Nato-Mitgliedschaft. Wissen Deutsche, was für ein Reichtum im Gewinn der Unabhängigkeit in Freiheit steckt? Wer ihn spüren will, wer erfahren will, wie gefährdet dieser Reichtum sein kann, sollte hierher reisen.

Der Stolz der Restauratoren
Wenn die Fresken zerstört sind, wenn die Mauern in Trümmern liegen, wenn die Fenster zersplittern – spielt es eine Rolle, wer Verursacher war? Deutsche haben hier gemordet und vergewaltigt, sie haben Menschen gequält und ihre Städte und Dörfer geschunden. Auch Stalins Rotarmisten haben hier getötet und gefoltert, Kulturstätten im Baltikum zerstört, zerbombt und geplündert. Sowjetische Ideologen haben Kirchen verrotten lassen, zu Lagerhäusern umfunktioniert ohne Rücksicht auf die ihnen schutzlos ausgelieferten Kulturgüter. Die drei jungen Staaten des Baltikums bemühen sich nun um eine Restaurierung ihrer kulturellen Identitäten, ihrer Geschichte und Geschichten. Die Menschen, die es praktisch tun, berichten gerne von ihren Kämpfen und Erfolgen im Gefecht gegen den Zahn der Zeit, gegen das Vergessen und Zerstören. Es ist auch ein Streit um die Wahrheit und darum, was eigentlich die Wahrheit ist. Was davon soll sichtbar sein? Das Schöne naiv wiederherstellen, als wäre nie etwas gewesen? Die Wunden als solche erhalten? Zeigen, was fehlt? Und während der Besucher der restaurierten Orgel in Riga lauscht, bombardieren russische Flugzeuge gezielt auch Bibliotheken, Theater, Museen, Kirchen in der Ukraine. Wer den Restauratoren im Baltikum zuhört, spürt die Mühsal, aber auch den Stolz, die eigene kulturelle Identität wieder herzustellen, erfahrbar zu machen für sich selbst und alle, die kommen. Spielt es eine Rolle, wer schuld war? Nein, sagen sie dann, aber festgehalten werden, das muss es schon.
Von Kirchenglocken zu blau gefärbten Haaren
Natürlich könnte man einfliegen. Ein Wochenende im gemütlichen Vilnius, das nächste im feiergelaunten Riga, und schließlich eine Shopping-Tour nach Tallinn. Warum nicht? Alle drei baltischen Hauptstädte versprechen in den Sommermonaten lange helle Nächte bei angenehmen Temperaturen. Und doch hat der langsame Reiseverlauf vom Süden in den Norden des Baltikums eine eigene Qualität. Mit jedem Kilometer wandelt sich das Bild von der Tradition in die Moderne. Das geschichtlich mit Polen verbundene Litauen ist von katholischer Volksfrömmigkeit geprägt. In dieser eher konservativen Gesellschaft tönen die Kirchenglocken noch lauter als die hochgetunten Autos. Vieles hier wirkt improvisiert, auf dem Land finden sich immer wieder verfallene Gehöfte, die ihrem Schicksal überlassen wurden. Menschen, die nicht dem europäisch-weißen Muster entsprechen, begegnen dem Reisenden kaum in Litauen und nur sehr vereinzelt in Lettland. Immerhin ist Riga urban und lebendig, die größte Stadt der ganzen Region. Aber erst im protestantisch geprägten Estland ändert sich das Bild: Der Sozialraum wirkt fast schon skandinavisch aufgeräumt, oft strahlen rote Holzhäuschen im satten Grün, fast alles ist geordnet, die Gärten akkurat. Hier schimmern auch einmal blau gefärbte Haare durch das Straßenbild, ungewöhnliche Kleidung kommt entgegen, andere Haut als weiß. Estland hat – anders als die beiden anderen Balten-Republiken – eine gemeinsame Geschichte und eine verwandte Sprache mit Finnland, und in nur zwei Stunden gleitet die Fähre von Tallinn nach Helsinki und zurück. Und zwei Stunden mit dem Zug oder dem Auto weiter Richtung Osten läge St. Petersburg, das auch zu Europa gehört. Unerreichbar – nicht nur, weil man ein Visum bräuchte.

Ein weiterer Text berichtet von meinem Eindruck am „Berg der Kreuze“, einen katholischen Wallfahrtsort der Sonderklasse: „Im Candystorm des Religiösen“
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