Tag 8: Lust und Last des Gedenkens

Tag 8 (21. März 2025)

Von Spechtsbrunn nach Heinersdorf

Viele Dörfer liegen nah an der früheren Grenze. Vierzig Jahre lang waren sie die Leidtragenden der Weltpolitik. Die Entscheidung des „Ostblocks“, die Grenze strikt abzuriegeln, bedeutete für sie, wenn sie auf DDR-Gebiet lagen: Im besten Fall Zutritt nur mit Sondergenehmigung, noch mehr Überwachung als sonst – und im schlechtesten: zwangsweise Umsiedlung.

Es waren nicht diese Dörfler, sondern die rebellischen Bürger der großen Städte, die das ganze System ins Wanken und schließlich am 9. November 1989 zum Einsturz brachten. Und plötzlich klopfte die Weltgeschichte an die Mauer auch in diesen Dörfern.

Erinnerungsort für den „Kleintettauer Zipfel“ – informativ und einladend. Im Hintergrund eines der Häuser, die stehen geblieben sind und 1976 im Zuge eines Gebietstauschs nach Bayern zurück-eingemeindet wurden.

Mein Weg am Vortag hatte in Kleintettau geendet, ein Dorf, das ich über einen Radweg, vorbei an friedlich grasenden Hochlandrindern erreichte, der insgesamt viermal die heutige Landesgrenze zwischen Bayern und Thüringen durchschneidet. Zu DDR-Zeiten gab es ihn nicht, hier war Sperrgebiet. Kleintettau liegt eigentlich in Bayern, aber drei Höfe des Ortes waren durch die Weltgeschichte auf DDR-Grund geraten. Wie ein Dorn ragt auch heute ein Stück Thüringen nach Bayern hinein. Die Bewohner dieser Häuser waren daher vermutlich die einzigen DDR-Bürger, die über bundesdeutsche Pässe verfügten. Dem SED-Staat erschien es unangemessen, diesen Menschen beibringen zu wollen, dass das restliche Dorf in Bayern nicht weiterhin ihre Heimat sein sollte. Ein Glücksfall, denn andernorts in ähnlicher Konstellation – etwa in Mödlareuth – konnte ich bereits andere Entscheidungen besichtigen. Man hätte die drei Häuser auch mit Gewalt aussiedeln können. Davor schreckte die DDR-Führung zurück; im Zuge eines Gebietstausches kamen die Menschen schließlich 1976 in den Westen. Eine gut gepflegter Erinnerungsort, informativ und einladend, erzählt nun diese glückliche Geschichte.

Der Mauer-Rest im Hintergrund ist original und steht unter Denkmalschutz. Die Gedenksteine davor sind kaum lesbar, und der Autoverkehr rauscht vorbei, als wäre es nie anders gewesen: Gedenken in Heinersdorf, wo einmal die Welt zu Ende war.

Heute dagegen endet mein Weg in Heinersdorf. Von thüringischer Seite her kommend begrüßt mich am Ende eines Radweges durch traumhaft schöne Natur entlang der Tettau die abgrundtief hässliche Ruine eines früheren Wohnheims für Grenzsoldaten. Heute dient es als Areal für Airsoft-Spiele. Offenbar haben dabei alte Autoreifen eine wichtige Bedeutung, denn solche liegen zu Tausenden auf dem Gelände. Das lang gezogene Straßendorf, das zur thüringischen Stadt Sonneberg gehört, hat dann viel herausgeputzte Privatheit zu bieten, nette Vorgärten und sauber renovierte Einfamilienhäuser. Für den öffentlichen Raum fehlt aber das Engagement: Kaum eine Parkbank, wenig öffentliches Grün, und die frühere Gaststätte ist schon von außen ein ausgesuchter Hort der Trostlosigkeit. Kein Wunder, dass sie niemand mehr betreiben möchte. Einst endete der Ort an der Mauer, kein Weg ging weiter dort, wo jetzt die neue Straße liegt, auf der die Autos vorbeisausen, von Bayern nach Thüringen und umgekehrt, als wäre es nie anders gewesen. Reste der Mauer stehen noch, auch hier angelegt als Erinnerungsort mit verwitterten Gedenksteinen. Hier gab es keinen DDR-Grenzübergang, aber nach den Ereignissen in Berlin wurde einer geschaffen. Die provisorische Bretterbude steht noch, sie staubt und bröckelt als „Gedenkstätte“ vor sich hin. Das Gedenken, so scheint mir, ist hier zur Last geworden.

Distanz: 17,7 Kilometer, 24.500 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: keine. Ein paar Radfahrer auf dem letzten Stück.

Jäger-Hochsitze am Weg: 15

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Im Text sind Weiterleitungen zum besonderen Schicksal der Dörfer Kleintettau und Heinersdorf verlinkt, und speziell zu meinem Text über Mödlareuth (Tag 2).

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