Im Brieselang (31. Mai 2021)

„Heute schon bewegt?“ mahnt das Hashtag in einer Chatgruppe täglich mehrfach den Flaneur. Was für eine Frage! Das Erkunden der großen Stadt Berlin und ihrer noch größeren Umgebung ist Bewegung an sich. Aber in Zeiten von Couch-Potatoes, von Serien-Sucht, Sitzberufen im Büro wie im Homeoffice, gilt das Sitzen bekanntlich als „das neue Rauchen“. Zwei Autoren haben so ihr Buch genannt, in dem es – wenig überraschend – um ein Bewegungsprogramm für Vielsitzer geht. Aber Bewegen allein ist nicht genug. Wir wollen auch darüber reden: Wir feiern jeden Schritt, jeden er-radelten Kilometer, jedes gestemmte Kilo, wir „teilen“ es und machen es so zum Gegenstand eigener Motivation und fremder Bewunderung.

2430 Seiten, 99 Cent

Nach und nach, im Laufe von insgesamt 27 Jahren ab 1862, hat der Berliner Schriftsteller Theodor Fontane seine Heimat rund um Berlin durchwandert. Auch er „teilte“ seine Erlebnisse, zunächst in Aufsätzen für die Zeitung, später zusammengefasst in dicken Büchern. Der sportliche Aspekt fand dabei allenfalls im Hinterkopf statt. Fontane ging es um die alten Geschichten, Gerüchte und Sagen rund um die vielen Orte, die er aufsuchte. Ihm war die Wahrnehmung von Natur und Kultur wichtig. Für 99 Cent kann man sich heute die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ auf den e-Reader laden, fünf Bände mit 2430 Seiten, und damit handlich geeignet als Wanderbegleiter.

St. Nikolai in Berlin-Spandau

Aber auch nützlich? Der Flaneur macht sich auf, dem berühmten Dichter auf eine der beschriebenen Wanderungen hinterher zu folgen. Start in Berlin-Spandau. Fontane suchte die damals noch eigenständige Stadt auf, um den Kirchturm der St.-Nikolai-Kirche zu besteigen, und er durfte tatsächlich hinauf auf den Turm. In seinem Text sinnierte er beim Hochsteigen über die Vorteile von spiralförmiger Ausgestaltung eines Turmaufstiegs gegenüber zu langen geraden Holztreppen und spottete über die vertrackte Vielfalt der Schlösser. An all das ist für den Besucher von heute nicht zu denken. Fest verschlossen ist die Turmtür und kein Hinweis lässt hoffen, dass ein Besteigen möglich wäre. Also müssen wir uns auf das verlassen, was Fontane beschrieb, nachdem er endlich die offene, nicht verglaste Aussichtskanzel auf der Kirchturmspitze erreicht hatte: „Ostwärts im grauen Dämmer die Türme von Berlin, nördlich, südlich die bucht- und seereiche Havel, inselbetupfelt, nach Westen hin aber ein breites, kaum hier und da von einer Hügelwelle durchbrochenes Flachland – das Havelland.“

Dort im Havelland hat Fontane einen Wald mit einem eigenen Kapitel bedacht: den „Brieselang“. Das Datum, an dem Fontane seine Wanderung durch diesen Wald absolvierte, ist genau benannt, es war der 22. Mai 1870, ein warmer, schwül-gewittriger Tag, wie dem Text zu entnehmen ist. Ausgehend von einem Gasthaus „Finkenkrug“ ging die Wanderroute, mit einer Rast in der Försterei inmitten des mächtigen Waldes, bis hin zu einer Eiche, die damals als „Königseiche“ bis Berlin hin bekannt war.  Denn „nur erst, wer bei der Königseiche steht, der den Brieselang hinter sich hat, kann mitsprechen!“, ruft uns Fontane wildromantisch zu. Mitsprechen ist angesagt in unseren kommunikativen Zeiten. Also auf in den Brieselang!

Im Finkenkrug gibt es kein Bier mehr, …

Das Unternehmen gestaltet sich schon bald problematischer als gedacht. Der Weg ist nach einer neuzeitlich aktualisierten Planung auf Maps zwar anspruchsvoll, aber doch auch der durch jahrelange Schreibtischarbeit geschwächten Muskulatur des Nach-Wanderers noch zuzutrauen. Leider ist aber nichts mehr zu finden von allem, was Fontane beschreibt. Der „Finkenkrug“ ist keine umtriebige Gastwirtschaft mehr, in der zwischen „links Kaffee und Kegelbahn, recht ist Bier und Büchsenstand“ zu wählen wäre. Fontane entschied sich für die einladende Außengastronomie des Cafés, und ließ sich dorthin das Bier bringen, was offenbar auch funktioniert hat. Heute trägt ein Ortsteil von Falkensee diesen Namen, gänzlich ohne gastronomisches Angebot. Die Försterei, in der Fontane und seine Wandergesellschaft so humorige Gespräche mit dem Förster und seiner Familie führen konnte, so viel zu hören bekam über die wilden Gewitter im Brieselang, ist ersetzt durch einen schmucken Neubau. Auch hier keine Einkehrmöglichkeit mehr. Der weitere Weg durch den Wald führt vorbei am lauschigen Waldfriedhof der Gemeinde Brieselang, den es vor 150 Jahren noch nicht gab und der jeden vorbeiziehenden Gast nur neidisch machen kann auf alle, die für sich einen solchen lauschigen, Laub-umrauschten und Vogel-umzwitscherten letzten Ruheplatz gefunden haben, wenn es denn unbedingt sein muss.

… also Rast auf dem Friedhof.

Der Waldfriedhof im Brieselang

Ein paar wenige gräberpflegende Brieselanger sind da zu beobachten, und vorbeiziehende Jogger, kilometerfressende Radfahrer oder um ein gemeinsames Fahrttempo ringende Familien. Fontane hatte auf seinem Weg durch den Brieselang originelle Begegnungen mit Naturfreunden: Da waren Sammler aller Art unterwegs – auf der Jagd nach Kräutern, nach Käfern, nach Schmetterlingen, nach Schlangen und Fröschen und Vogeleiern. Ein solcher Käferfreund kam für den Dichter sogar leibhaftig aus dem Unterholz und begleitete ihn ein Stück des Weges, plaudernd über die Vielfalt von Flora und Fauna.

Die Beweglichen von heute sammeln keine Kräuter oder Käfer, und Zeit für einen Plausch haben sie auch nicht. Sie sammeln Schritte, Kilometer und Kardiopunkte. Sie treiben sich durch das Gehölz, nur selten zuckt der konzentrierte Sportlerkopf zur Seite: Was war das da für ein geschäftiges Geraschel der Vögel im Gebüsch? Den gehetzten Blick auf die Daten am Armgelenk gerichtet, bleibt das lautlos-emsige Treiben der Ameisen unerkannt. Und das Surren des eBikes übertönt jedes Rauschen des Eichenlaubs, wie es anschwillt und verebbt im Wind dieses kühlen Maitages.

Die „Königseiche“

Eichenlaub! Jetzt aber endlich auf zur Königseiche! Schon die Lektüre der „Wanderungen“ macht skeptisch: „Sie steht da wie ein Riesenskelett mit gen Himmel gehobenen Händen.“ Fontane sah nur einen toten Baum, dessen Ausmaß ihn immerhin schwer beeindruckt hat: um die 30 Meter hoch, „man braucht zwanzig Schritt, um ihn zu umschreiten“. Als die wandernden Herren von 1870 den berühmten Baum endlich erreicht hatten, erhoben sie voller Respekt und Hochachtung die mitgeführte Wein-Proviantflasche auf den Baum und gaben seinem toten Stamm sogar einen eigenen Schoppen ab. Der mächtige Baum, dessen Alter die Waldkundigen schon damals auf etwa 1000 Jahre geschätzt hatten, war bei Fontanes Wanderung bereits seit drei Jahren abgestorben. Den Förster zitiert Fontane mit der Prognose: „Er steht noch hundert Jahr.“

Vor 150 Jahren war die Eiche auch ein Symbol für Deutschtümelei, eine Annäherung an die Unvergänglichkeit Preußens. Sie war auch eine besonders prominente „Jahneiche“, eine Kultstätte für nationalistisch motivierte Bewegungsfreude. Für einen Besuch der Königseiche nahmen die Turner und andere Sportbegeisterte aus Berlin die lange Anreise in Kauf, um sich deutschtümelnd körperlich zu ertüchtigen. Fontane schildert all dies und zitiert distanzlos jene Ehrentafel, die an dem großen Baum angebracht war: „Eiche, hehre, stolze, freie – sieh: Dein Volk wird auferstehen!“

Da lacht das grüne Herz

Heute schon bewegt? Hoffentlich im Kopf. Dort und im Wohnzimmer sollte die Eichenholz-Schrankwand verbannt sein. Wenn wir heute Fontane lesen, können wir uns auf die Ökologie stürzen: „Eine Welt von Getier bewohnt die alte Eiche. Der Bockkäfer in wahren Riesenexemplaren hat sich zu Hunderten eingenistet, am ersten großen Ast schwärmen Waldbienen um ihren Stock, und im kahlen Geäst, höher hinaus, haben zahllose Spechte ihre Nestlöcher.“ Da lacht das grüne Herz, das heute so umkämpft ist, wie damals das nation ale Selbstbewusstsein.

Aber wo ist denn nun dieser prominente Baum? Die unpräzise Wegbeschreibung von 1870 hilft nicht weiter, aber wohl ein Blick ins Internet: Die Hundert-Jahre-Prognose der Förster stellte sich schon bald als falsch heraus. Der Baum wurde 1896 von einem Blitz getroffen, brannte, und sein Torso stürzte schließlich um. Angeblich sind heute noch Reste davon zu sehen (aber dem Flaneur gelang es nicht, diese Stelle zu finden). Ein „neuer“ Baum soll jetzt erinnern an die Stelle der alten Königseiche. Vor mehr als hundert Jahren gepflanzt, ist sie auch schon ein sehr stattlicher Baum, und kann doch noch immer kaum ein Enkel des mächtigen Ahnen sein.

Wenn wir Menschen es zulassen, leben Bäume eben in anderen zeitlichen Dimensionen. Und das, obwohl sie sich überhaupt nicht bewegen. Heute schon nachgedacht? Na klar, im Brieselang!

 

Fontanes Text über den Brieselang findet man auch online hier:

http://www.zeno.org/Literatur/M/Fontane,+Theodor/Reisebilder/Wanderungen+durch+die+Mark+Brandenburg/Havelland/Spandau+und+Umgebung/Der+Brieselang

Ein schönes Bild der originalen „Königseiche“ im Brieselang findet sich auf der Website der Gemeinde Schoenwalde-Glien:

https://www.schoenwalde-glien.de/city_info/webaccessibility/index.cfm?item_id=853017&waid=114&modul_id=5&record_id=147837

Über die St. Nikolai-Kirche in Spandau habe ich auch in meiner Sammlung #1000Kirchen geschrieben: https://vogtpost.de/st-nikolai-berlin-spandau-0008/01/06/2021/