Die charmante Ambivalenz des Deutschen

Historische Ermittlungen eines Nichtextremisten

Man dürfe den Stolz auf das Deutsche nicht den Rechtsextremen überlassen, hatte der Nichtextremist gehört und als überzeugend empfunden. Nur: Was alles ist „das Deutsche“, auf das er stolz sein darf?

 

Der Stolz der Deutschen? In der Walhalla bei Regensburg ehren 132 Büsten herausragende Persönlichkeiten, die deutsch sprachen.

Die Sprache sei es, hatte Ludwig I., König von Bayern, festgelegt, als er den Anstoß gab zu dem Bau, zu dem es nun gilt, sich im kalten Frühlingswind über 479 Stufen heraufzuquälen. Das Deutsche, das ist vielleicht der Kyffhäuser, das ist Weimar und Heidelberg, Neuschwanstein und der Kölner Dom, und auch dieser Ort: Ein Tempel als geistige Weihestätte für die großen Denker und Helden, die dem Deutschen über Jahrhunderte ihr Gepräge gaben.

Die „Walhalla“ sollte Deutschland gehören, aber Bayern gibt sie nicht her

Der Tempel heißt „Walhalla“ und steht seit 1842 in Ostbayern hoch über der Donau, nahe bei der mittelalterlichen Großstadt Regensburg. Ein bisschen sieht er aus wie die berühmte Akropolis von Athen, nur gänzlich unversehrt. Der säulenumstandene Bau ist auch nur knapp zweihundert Jahre alt, noch dazu hat ihn vor nicht allzu langer Zeit die bayerische Staatsregierung gründlich renovieren lassen. Dem Freistaat gehört die Walhalla, was eine Erwähnung wert ist. Der stiftende König, trauernd über die das Deutsche trennenden Spaltungskriege Napoleons, hatte einst anderes verordnet. Der Tempel solle einem „deutschen Bund“ gehören, wenn er wieder erstünde. Das hätte sich seither mehrfach so eingestellt, zuletzt nach dem 3. Oktober 1990, aber die Bayern haben die Walhalla immer behalten wollen, und die Bundesregierung hat bis heute andere Sorgen.

Wenn der Nichtextremist in seiner körperlichen Begrenztheit die Treppe endlich hinter sich gebracht hat und schnaufend die mit rotem Marmor ausgekleidete große Halle betritt, dann wartet der ungebrochene Stolz des Deutschen auf ihn. 119 Männer und nur 13 Frauen, die sich in deutscher Sprache unsterblich gemacht haben durch herausragende Leistungen der Staatskunst, der Wissenschaft oder der Künste blicken stumm auf ihn herab. Von mittelalterlichen Königen und Kaisern, von Barbarossa bis zum alten Fritz, von Luther bis Konrad Adenauer, von Goethe und Schiller bis Sophie Scholl – sie alle sind hier als Marmorbüsten verewigt.

Währt wahrer Ruhm wirklich ewig?

Da schlurft er also entlang, der dem Deutschen zugewandte Nichtextremist, ein Durchschnittsmensch in Freizeitkleidung und praktischem Schuhwerk, schlendert entlang an dieser übermächtigen nationalen Ahnengalerie, duckt sich weg unter dem Druck der Geschichte, der Last von Verantwortung und Wissen, von Mut und Demut und Übermut, eingeschüchtert vom dröhnenden Schweigen dieser verewigten Matadoren des Deutschen.

Verewigt! Währt wahrer Ruhm wirklich ewig? Viele in den Büsten Abgebildete sind längst weitgehend vergessen, und ohne scheuen Blick auf den Museumsführer oder in das allwissende Netz entschlüsselt sich oft ihre historische Bedeutung nicht. Der Ruhm verblasst. Immerhin gab es in der Walhalla seit ihrer Eröffnung noch nie die Not, eine Büste wieder entfernen zu müssen. Als Adolf Hitler im Jahr 1937 dorthin kam, um das Marmor-Ebenbild des von ihm verehrten Komponisten Anton Bruckner zu enthüllen, mag er gewiss gehofft haben, einst selbst hier gemeißelt herabzublicken. Aber die bis heute gültige, kluge Regel, dass man mindestens zwanzig Jahre tot sein muss, um überhaupt in die Erwägung einer Aufnahme in den Ehrentempel gezogen zu werden, schützt vor vorschneller Ehrung, die man dann später peinlich korrigieren müsste.

Der Stolz der Deutschen? Die traurigen Reste der „Siegesallee“ von Berlin, jetzt als Dauerausstellung in der Zitadelle Spandau.

Die Walhalla stand schon sechzig Jahre, als der deutsche Kaiser Wilhelm II. eine ähnliche Idee für Berlin hatte. Er verfügte im deutsch-nationalen Siegesrausch nach dem gewonnenen Frankreich-Krieg von 1870/71 den Bau einer „Siegesallee“ quer durch den Tiergarten. 32 Denkmalgruppen wurden dafür flugs gemeißelt und innerhalb von sechs Jahren entlang eines Prachtboulevards aufgestellt.

Schon bald wurde die Siegesallee als „Puppenallee“ verspottet

Aber die Welt ist ungerecht. Während die bayerische Walhalla alle Unbill der nachfolgenden Geschichte weitgehend unbeschadet überstand, war der von der Berliner Bevölkerung schon bald als „Puppenallee“ verspotteten Siegesallee nur eine kurze Lebensdauer gegönnt. Diese Figuren hatten es schwer: Sie standen inmitten des Tumults der deutschen Reichshauptstadt im Freien und nicht in der Provinz gut geschützt im Tempel oberhalb der Donau. Schon zwanzig Jahre nach ihrer Fertigstellung, während der unruhigen Wochen der deutschen Novemberrevolution 1918, wurden sie rüpelhaft beschädigt und beschmiert. Dann standen sie den Plänen der Nationalsozialisten im Weg, was aus heutiger Sicht eine Ehre ist. So wurden die Skulpturen der Siegesallee zu Verlierern der Geschichte, umgesetzt, im Krieg erneut beschädigt und schließlich auf Kommando der Alliierten ganz abgeräumt und zum größten Teil im Park vergraben.

Dreißig Jahre später, 1978, machten sich Denkmalfreunde daran, die alten Figuren auszugraben oder zusammenzusammeln, soweit sie noch auffindbar waren. Und so stehen heute Teile der Siegesallee wieder, wenn auch nicht mehr im Zentrum Berlins, sondern am äußersten Rand der Bundeshauptstadt. In die Zitadelle von Spandau, durch den ersten Hof und dann nach rechts in das „Proviantmagazin“, dort durch die Stahltür – und da sind sie dann, die deutschen Helden der Siegesallee, zusammengepfercht, längst nicht so prächtig, aber immerhin so gut geschützt wie die Büsten der Walhalla.

Die gefallenen Denkmäler warten im „Provinatmagazin“

Wahrer Ruhm währt ewig? Das Kopf des gefallenen Lenin-Denkmals von Friedrichshain (Zitadelle Spandau) …

„Enthüllt“ heißt diese Dauerausstellung, die gefallene Denkmäler aus Berlin zeigt. Zum größten Teil ist sie mit den traurigen Resten der Siegesallee gefüllt. Der kleinere Teil dieser Gegen-Walhalla, dieses Depots der peinlichen Erinnerungen der Deutschen, widmet sich den Jahren nach 1933: Der athletische „Zehnkämpfer“ des Hitler-Lieblings Arno Breker, den Adolf Hitler einst – ausweislich einer Widmung im Sockel – dem „Reichssportführer“ zum 50. Geburtstag schenkte. Nach dem Krieg fand sogar die britische Besatzungsmacht den bronzenen Jüngling schön genug, um ihn im Garten ihrer Kaserne aufzustellen. Oder ein riesiges schreitendes Pferd von Albert Speers „Germania“-Phantasien. Der abgeschlagene Kopf des Lenin-Denkmals aus Friedrichshain lagert dort, der Sockel eines Thälmann-Monuments mit selbstgerechtem Honecker-Zitat lädt zum Fremdschämen über sozialistische Eitelkeit ein. Es ist ein radikaler Gegensatz zwischen dem prachtvollen Heldentempel der Walhalla und dem spartanischen „Proviantdepot“ für gefallender Denkmäler am Rande von Berlin, der viel erzählt über den Stolz auf das Deutsche.

Kollwitz in der Walhalla, der Glasquader in der Zitadelle

… oder der ausgemusterte Glasquader aus der Neuen Wache in Berlin (Zitadelle Spandau).

Und da drängt sich doch tatsächlich auch noch der konservative Bundeskanzler Helmut Kohl ins Bild. Die Verbindungslinie von der Walhalla über die Spandauer Zitadelle zu Helmut Kohl führt vorbei an Säulen, die denen der Walhalla gleichen. Es sind die Säulen am Eingang der Neuen Wache unter den Linden von Berlin. Dort gedachte während der DDR-Zeit ein gläserner Quader mit einer ewigen Flamme in seiner Mitte der „Opfer des Faschismus und Militarismus“.

Was der Kanzler der Einheit an diesem Glasgebilde auszusetzen hatte, bleibt rätselhaft. An seiner Stelle steht nun jedenfalls in der Neuen Wache eine Pieta der sozialistisch orientierten Künstlerin Käthe Kollwitz. Sie zeigt die trauernde Mutter Kollwitz mit ihrem im Krieg gefallenen Sohn. Gedacht wird jetzt der „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Die Entscheidung für die Kollwitz-Skulptur wird Kohl zu geschrieben, künstlerisch wie historisch ist sie bis heute nicht unumstritten: Die ursprünglich kleine Miniatur wurde auf Überlebensmaße vergrößert. Und wird dieses Abbild einer Mutter, die um ihren toten, im Krieg umgekommenen Sohn trauert, der Vielfalt der Opfer des NS-Grauens gerecht?

Worauf der Nichtextremist stolz ist

Käthe Kollwitz – Büste von 2019, aufgestellt in der Walhalla.

Auch ein solcher Streit ist deutsch. Käthe Kollwitz starb 1945 wenige Tage vor Kriegsende. Nicht zwanzig, sondern 74 Jahre später, im Jahr 2019, wurde ihre Büste in der Walhalla aufgestellt und enthüllt. Bei aller möglicher Kritik an Helmut Kohl bleibt festzuhalten, dass er mutig genug war, diese ihm politisch absolut fernstehende Künstlerin mitten hinein in das Herz der deutschen Gedenkkultur zu holen. Und der verbannte, erloschene DDR-Glasquader von 1960 wartet in Spandau auf eine neue Verwendung.

So ist im Deutschen immer beides möglich: Großer Ruhm und schreckliche Schuld, stumme Verehrung und beredte Verachtung, rechter Kohl und linke Kollwitz. Es ist diese charmante Ambivalenz des Deutschen, auf die der Nichtextremist stolz ist.

 

Mehr Informationen und alle Services rund um einen Besuch der Walhalla finden Sie hier, der Dauerausstellung „Enthüllt“ in der Zitadelle Spandau hier.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

 

 

 

 

Hier blickte Fontane vom Turm (#0008)

St. Nikolai, Berlin-Spandau, Reformationsplatz 1, 13597 Berlin

Mein Besuch am 30. Mai 2021

St. Nikolai, Innenraum und gotischer Altar

Eine große klare Kirche, hell und doch streng. Das gotische Gewölbe weist in den Himmel, der Kirchenraum ist breit gegliedert und lädt zum stillen Rundgang ein. Die Kirche ist sehr alt; im Rohbau um 1370 erstmals fertiggestellt, ein 1398 gestiftetes gotisches Taufbecken ist bis heute erhalten. Später wurde die Kirche neugotisch von Karl Friedrich Schinkel restauriert, der Turm brannte mehrfach aus und trägt eine barocke Spitze mit einer Aussichtskanzel, die schon Theodor Fontane in seinen „Wanderungen“ für einen ersten Rundblick auf das Havelland nutzte (siehe auch „Im Brieselang“ unter #BerlinerFlaneur).

Wer das Glück hatte, wie ich die Kirche geöffnet zu erleben, und das auch noch bereichert durch  Klavierspiel einer Kirchenmusikerin, findet sein stilles Glück in diesem Raum.

Barocke Kanzel, um 1700, Holz

Während des Nationalsozialismus war hier Superintendent Martin Albertz tätig, ein mutiger Mann aus dem kirchlichen Widerstand gegen das Hitler-Regime. Diesen Widerstand musste er nicht nur gegenüber dem Staat durchsetzen, sondern auch gegenüber der Mehrheit seiner eigenen Amtsbrüder und seines Kirchengemeinderates. Er war Mitbegründer und eine der führenden Vertreter der „Bekennenden Kirche“, die sich gegen die Gleichschaltung durch das NS-Regime wehrte.

Mehr über Martin Albertz: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Albertz

und über St. Nikolai auf der Website der Pfarrgemeinde: https://nikolai-spandau.de/page/2062/st-nikolai-kirche

und der Text von Fontane im Original: https://www.textlog.de/41235.html

Im Brieselang (31. Mai 2021)

„Heute schon bewegt?“ mahnt das Hashtag in einer Chatgruppe täglich mehrfach den Flaneur. Was für eine Frage! Das Erkunden der großen Stadt Berlin und ihrer noch größeren Umgebung ist Bewegung an sich. Aber in Zeiten von Couch-Potatoes, von Serien-Sucht, Sitzberufen im Büro wie im Homeoffice, gilt das Sitzen bekanntlich als „das neue Rauchen“. Zwei Autoren haben so ihr Buch genannt, in dem es – wenig überraschend – um ein Bewegungsprogramm für Vielsitzer geht. Aber Bewegen allein ist nicht genug. Wir wollen auch darüber reden: Wir feiern jeden Schritt, jeden er-radelten Kilometer, jedes gestemmte Kilo, wir „teilen“ es und machen es so zum Gegenstand eigener Motivation und fremder Bewunderung.

2430 Seiten, 99 Cent

Nach und nach, im Laufe von insgesamt 27 Jahren ab 1862, hat der Berliner Schriftsteller Theodor Fontane seine Heimat rund um Berlin durchwandert. Auch er „teilte“ seine Erlebnisse, zunächst in Aufsätzen für die Zeitung, später zusammengefasst in dicken Büchern. Der sportliche Aspekt fand dabei allenfalls im Hinterkopf statt. Fontane ging es um die alten Geschichten, Gerüchte und Sagen rund um die vielen Orte, die er aufsuchte. Ihm war die Wahrnehmung von Natur und Kultur wichtig. Für 99 Cent kann man sich heute die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ auf den e-Reader laden, fünf Bände mit 2430 Seiten, und damit handlich geeignet als Wanderbegleiter.

St. Nikolai in Berlin-Spandau

Aber auch nützlich? Der Flaneur macht sich auf, dem berühmten Dichter auf eine der beschriebenen Wanderungen hinterher zu folgen. Start in Berlin-Spandau. Fontane suchte die damals noch eigenständige Stadt auf, um den Kirchturm der St.-Nikolai-Kirche zu besteigen, und er durfte tatsächlich hinauf auf den Turm. In seinem Text sinnierte er beim Hochsteigen über die Vorteile von spiralförmiger Ausgestaltung eines Turmaufstiegs gegenüber zu langen geraden Holztreppen und spottete über die vertrackte Vielfalt der Schlösser. An all das ist für den Besucher von heute nicht zu denken. Fest verschlossen ist die Turmtür und kein Hinweis lässt hoffen, dass ein Besteigen möglich wäre. Also müssen wir uns auf das verlassen, was Fontane beschrieb, nachdem er endlich die offene, nicht verglaste Aussichtskanzel auf der Kirchturmspitze erreicht hatte: „Ostwärts im grauen Dämmer die Türme von Berlin, nördlich, südlich die bucht- und seereiche Havel, inselbetupfelt, nach Westen hin aber ein breites, kaum hier und da von einer Hügelwelle durchbrochenes Flachland – das Havelland.“

Dort im Havelland hat Fontane einen Wald mit einem eigenen Kapitel bedacht: den „Brieselang“. Das Datum, an dem Fontane seine Wanderung durch diesen Wald absolvierte, ist genau benannt, es war der 22. Mai 1870, ein warmer, schwül-gewittriger Tag, wie dem Text zu entnehmen ist. Ausgehend von einem Gasthaus „Finkenkrug“ ging die Wanderroute, mit einer Rast in der Försterei inmitten des mächtigen Waldes, bis hin zu einer Eiche, die damals als „Königseiche“ bis Berlin hin bekannt war.  Denn „nur erst, wer bei der Königseiche steht, der den Brieselang hinter sich hat, kann mitsprechen!“, ruft uns Fontane wildromantisch zu. Mitsprechen ist angesagt in unseren kommunikativen Zeiten. Also auf in den Brieselang!

Im Finkenkrug gibt es kein Bier mehr, …

Das Unternehmen gestaltet sich schon bald problematischer als gedacht. Der Weg ist nach einer neuzeitlich aktualisierten Planung auf Maps zwar anspruchsvoll, aber doch auch der durch jahrelange Schreibtischarbeit geschwächten Muskulatur des Nach-Wanderers noch zuzutrauen. Leider ist aber nichts mehr zu finden von allem, was Fontane beschreibt. Der „Finkenkrug“ ist keine umtriebige Gastwirtschaft mehr, in der zwischen „links Kaffee und Kegelbahn, recht ist Bier und Büchsenstand“ zu wählen wäre. Fontane entschied sich für die einladende Außengastronomie des Cafés, und ließ sich dorthin das Bier bringen, was offenbar auch funktioniert hat. Heute trägt ein Ortsteil von Falkensee diesen Namen, gänzlich ohne gastronomisches Angebot. Die Försterei, in der Fontane und seine Wandergesellschaft so humorige Gespräche mit dem Förster und seiner Familie führen konnte, so viel zu hören bekam über die wilden Gewitter im Brieselang, ist ersetzt durch einen schmucken Neubau. Auch hier keine Einkehrmöglichkeit mehr. Der weitere Weg durch den Wald führt vorbei am lauschigen Waldfriedhof der Gemeinde Brieselang, den es vor 150 Jahren noch nicht gab und der jeden vorbeiziehenden Gast nur neidisch machen kann auf alle, die für sich einen solchen lauschigen, Laub-umrauschten und Vogel-umzwitscherten letzten Ruheplatz gefunden haben, wenn es denn unbedingt sein muss.

… also Rast auf dem Friedhof.

Der Waldfriedhof im Brieselang

Ein paar wenige gräberpflegende Brieselanger sind da zu beobachten, und vorbeiziehende Jogger, kilometerfressende Radfahrer oder um ein gemeinsames Fahrttempo ringende Familien. Fontane hatte auf seinem Weg durch den Brieselang originelle Begegnungen mit Naturfreunden: Da waren Sammler aller Art unterwegs – auf der Jagd nach Kräutern, nach Käfern, nach Schmetterlingen, nach Schlangen und Fröschen und Vogeleiern. Ein solcher Käferfreund kam für den Dichter sogar leibhaftig aus dem Unterholz und begleitete ihn ein Stück des Weges, plaudernd über die Vielfalt von Flora und Fauna.

Die Beweglichen von heute sammeln keine Kräuter oder Käfer, und Zeit für einen Plausch haben sie auch nicht. Sie sammeln Schritte, Kilometer und Kardiopunkte. Sie treiben sich durch das Gehölz, nur selten zuckt der konzentrierte Sportlerkopf zur Seite: Was war das da für ein geschäftiges Geraschel der Vögel im Gebüsch? Den gehetzten Blick auf die Daten am Armgelenk gerichtet, bleibt das lautlos-emsige Treiben der Ameisen unerkannt. Und das Surren des eBikes übertönt jedes Rauschen des Eichenlaubs, wie es anschwillt und verebbt im Wind dieses kühlen Maitages.

Die „Königseiche“

Eichenlaub! Jetzt aber endlich auf zur Königseiche! Schon die Lektüre der „Wanderungen“ macht skeptisch: „Sie steht da wie ein Riesenskelett mit gen Himmel gehobenen Händen.“ Fontane sah nur einen toten Baum, dessen Ausmaß ihn immerhin schwer beeindruckt hat: um die 30 Meter hoch, „man braucht zwanzig Schritt, um ihn zu umschreiten“. Als die wandernden Herren von 1870 den berühmten Baum endlich erreicht hatten, erhoben sie voller Respekt und Hochachtung die mitgeführte Wein-Proviantflasche auf den Baum und gaben seinem toten Stamm sogar einen eigenen Schoppen ab. Der mächtige Baum, dessen Alter die Waldkundigen schon damals auf etwa 1000 Jahre geschätzt hatten, war bei Fontanes Wanderung bereits seit drei Jahren abgestorben. Den Förster zitiert Fontane mit der Prognose: „Er steht noch hundert Jahr.“

Vor 150 Jahren war die Eiche auch ein Symbol für Deutschtümelei, eine Annäherung an die Unvergänglichkeit Preußens. Sie war auch eine besonders prominente „Jahneiche“, eine Kultstätte für nationalistisch motivierte Bewegungsfreude. Für einen Besuch der Königseiche nahmen die Turner und andere Sportbegeisterte aus Berlin die lange Anreise in Kauf, um sich deutschtümelnd körperlich zu ertüchtigen. Fontane schildert all dies und zitiert distanzlos jene Ehrentafel, die an dem großen Baum angebracht war: „Eiche, hehre, stolze, freie – sieh: Dein Volk wird auferstehen!“

Da lacht das grüne Herz

Heute schon bewegt? Hoffentlich im Kopf. Dort und im Wohnzimmer sollte die Eichenholz-Schrankwand verbannt sein. Wenn wir heute Fontane lesen, können wir uns auf die Ökologie stürzen: „Eine Welt von Getier bewohnt die alte Eiche. Der Bockkäfer in wahren Riesenexemplaren hat sich zu Hunderten eingenistet, am ersten großen Ast schwärmen Waldbienen um ihren Stock, und im kahlen Geäst, höher hinaus, haben zahllose Spechte ihre Nestlöcher.“ Da lacht das grüne Herz, das heute so umkämpft ist, wie damals das nation ale Selbstbewusstsein.

Aber wo ist denn nun dieser prominente Baum? Die unpräzise Wegbeschreibung von 1870 hilft nicht weiter, aber wohl ein Blick ins Internet: Die Hundert-Jahre-Prognose der Förster stellte sich schon bald als falsch heraus. Der Baum wurde 1896 von einem Blitz getroffen, brannte, und sein Torso stürzte schließlich um. Angeblich sind heute noch Reste davon zu sehen (aber dem Flaneur gelang es nicht, diese Stelle zu finden). Ein „neuer“ Baum soll jetzt erinnern an die Stelle der alten Königseiche. Vor mehr als hundert Jahren gepflanzt, ist sie auch schon ein sehr stattlicher Baum, und kann doch noch immer kaum ein Enkel des mächtigen Ahnen sein.

Wenn wir Menschen es zulassen, leben Bäume eben in anderen zeitlichen Dimensionen. Und das, obwohl sie sich überhaupt nicht bewegen. Heute schon nachgedacht? Na klar, im Brieselang!

 

Fontanes Text über den Brieselang findet man auch online hier:

http://www.zeno.org/Literatur/M/Fontane,+Theodor/Reisebilder/Wanderungen+durch+die+Mark+Brandenburg/Havelland/Spandau+und+Umgebung/Der+Brieselang

Ein schönes Bild der originalen „Königseiche“ im Brieselang findet sich auf der Website der Gemeinde Schoenwalde-Glien:

https://www.schoenwalde-glien.de/city_info/webaccessibility/index.cfm?item_id=853017&waid=114&modul_id=5&record_id=147837

Über die St. Nikolai-Kirche in Spandau habe ich auch in meiner Sammlung #1000Kirchen geschrieben: https://vogtpost.de/st-nikolai-berlin-spandau-0008/01/06/2021/