Fußball hat nix mit Politik zu tun

Ein Kneipengespräch

„Vergiss die Politik!“ Der Fußballfan hat wohl schon ein paar Bierchen intus und das Deutschland-Shirt von der vorletzten WM zeigt deutliche Flecken aus vorangegangener Begeisterung. Aber macht nichts, denn in der Kneipe ist das Licht schummrig, die Luft schwer und alle gucken auf den Bildschirm. Österreich gegen die Türkei.

„Fußball hat nix mit Politik zu tun,“ sagt der Fußballfan. Der Demokratiefan hält dagegen: Warum sind Ungarn, Italien, Serbien, Georgien so früh ausgeschieden? (Foto: lizenzfrei von Pixabay, KI-generiert)

„Vergiss die Politik“, sagt der Fußballfan nochmal, wischt sich die Finger am Deutschland-Shirt ab und schwenkt das leere Bierglas. Ums Treseneck herum sitzen die beiden fremden Freunde, treffen sich hier zum ersten Mal, und spielen mit ihren Bierdeckeln. „Denk nur an den ganzen Quatsch mit Binde in Katar und irgendwelchen Arbeitssklaven und so, das war alles Politik,“ setzt der Fußballfan wieder an. Mit Schwung stellt er das leere Glas auf die Theke zurück. „Und was war dann: Schlecht gespielt haben sie.“

Sein Gegenüber ist ein Demokratiefan und wackelt mit dem Kopf hin und her. Dann zupft er sich das graue Poloshirt zurecht. Es ist warm und dampfig in der Kneipe. Draußen regnet es.

„Vergiss die Politik im Fußball“, kommt da nochmal vom Fußballfan, während er der Wirtin hinter dem Tresen winkt. Ein fragender Blick zu seinem Nachbarn, ein entschlossenes Nicken, dann werden zwei Finger gehoben in ihre Richtung.

„Irgendwie ist doch immer alles politisch“, sagt der Demokratiefan. „Gerade in Katar. Dass man da einfach in einer üblen Diktatur spielt und so tut, als gäbe es das nicht: die unterdrückten Frauen und das Verbot für Schwule und das alles. Der ganze Aufwand mit gekühlten Stadien, die jetzt leer stehen. Da kann man doch nicht weggucken. Wenn das nicht Politik ist!“

„Schon. Aber hat nix mit dem Spiel zu tun. Beim Fußball kommt es auf Fitness an, auf Kondition, und auf die gute Technik, dass sie schnell rennen können, eine Taktik haben und auf den Trainer. Das hat doch nix mit Politik zu tun.“

„Frei im Kopf müssen sie auch sein, die Spieler.“

„Ja schon, frei im Kopf ist immer gut. Ideen müssen sie haben, mal was Neues zu machen, nicht den Ball immer nur hin und her zu schieben.“

Zwei neue Biere kommen …

Die Wirtin stellt zwei Bier auf den Tresen. Saftige Schaumkronen liegen auf dem lockenden Goldgelb. Sie stoßen an.

„So muss ein Bier sein“, sagt der Fußballfan und wischt sich den Schaum von der Lippe. „Hat auch nix mit Politik zu tun.“

„Auch Bier ist politisch, vor allem der Preis“, sagt der Demokratiefan. „Es sind schon Revolutionen wegen des Bierpreises ausgebrochen.“ Er trinkt. „Aber lassen wir das. Wer ist schon alles rausgeflogen bei der Europameisterschaft?“

„Ha! Die Italiener!“ Der Fußballfan grinst.

„Siehste, die Italiener. Nicht frei im Kopf, weil sie eine postfaschistische Regierung haben.“

Der Fußballfan nimmt einen tiefen Schluck und glotzt ins Leere. „Was für ´ne Regierung?“

„Postfaschistisch. Super-autoritär. Die Meloni mag ja ganz freundlich gucken. Aber sie will die Pressefreiheit abschaffen und sich fette Macht auf immer sichern. Fast so wie der Orban.“

„Orban ist Ungarn, oder? – Auch rausgeflogen.“

„Eben: Der nächste Autokrat, der seinen Fußballern keinen Gefallen damit tut, dass sie nicht frei sind im Kopf. Ich sage: Wenn die Regierung keine Freiheit zulässt, spielen die Fußballer schlecht.“

„Jetzt Moment mal“, rafft sich der Fußballfan auf, strafft das verschwitzte Deutschland-Trikot und hebt den Zeigefinder. „Willst du mich hier in so eine Politikscheiße reinquatschen? So nach dem Prinzip, wer schlecht regiert wird, verliert im Fußball?“

„Na ja, kann man doch mal überlegen. Wer hier schon alles rausgeflogen ist, pass auf…“

„Nee, nee,“ protestiert der Fußballfan und winkt ab, „Politik hat mit Fußball nix zu tun.“

„Jetzt hör´s Dir doch wenigstens mal an. Also: Ungarn raus, Orban ist ein Diktator. Italien raus, frühere Faschisten regieren. Serbien raus, Vucic ist ein übler Putin-Freund und zündelt im Balkan.  Slowakei raus, auch so ein spalterischer Populist hat da das Sagen, Fico heißt er. Will der Ukraine keine Waffen liefern. Georgien raus, da machen sie gerade ein Gesetz zur Unterdrückung aller kritischen Meinungen.“ Der Demokratiefan nimmt einen tiefen Schluck aus dem Glas. „Also, so ist es, und jetzt kommst Du.“

Der Fußballfan schüttelt den Kopf. „Das ist doch alles Blödsinn. Die Spieler da von diesen Ländern, die haben doch mit ihrer Regierung gar nichts zu tun, die spielen doch alle bei uns oder in Italien, Frankreich oder in England!“

„Das mag schon sein,“ entgegnet der Demokratiefan, „aber im Kopf sind sie doch in ihren Ländern zu Hause – oder etwa nicht? Muss ja auch so sein. Verlangen wir doch auch von unseren Migranten, wenn sie für Deutschland spielen. Von Tar oder von Musiala oder von Rüdiger, die sollen sich doch auch im Kopf voll und ganz mit Deutschland identifizieren. Gündogan hat türkische Eltern. Trotzdem singt er die deutsche Hymne, wenn’s los geht, und das ist doch auch richtig so.“

„Ja schon, aber das ist doch was anderes.“

„Warum?“

„Weil … weil … ach, keine Ahnung. Aber überhaupt, wenn das stimmen würde, was Du da redest, dann müssten die Deutschen ja auch schlecht spielen, weil wir doch auch ganz mies regiert werden von der Ampel. Tun sie aber nicht.“

„Andersrum stimmts! Die spielen gut, weil sie den Kopf frei haben, weil wir gar nicht so schlecht regiert werden. Verstanden?“

Der Fußballfan ist nicht überzeugt. „Die spielen besser als zuletzt, sagst Du, weil der Scholz so gut regiert? Das glaubst Du doch selber nicht.“

„Na, ja, das vielleicht nicht. Jedenfalls gibt’s hier aber nichts, was die Freiheit im Kopf begrenzt. Außer eigener Blödheit. Und das ist in Ungarn und Serbien und Georgien echt anders, da kannst Du ratzfatz ins Gefängnis wandern, wenn Du was Falsches sagst. Und wenn wir nicht aufpassen, ist das bald auch in Italien so. Und deshalb verlieren die alle.“

„Krass – das glaubst Du echt?“

„Ja sicher“, antwortet der Demokratiefan. „Unfreiheit im Land führt zu Unfreiheit im Kopf. Und das führt zu schlechtem Fußball. Klarer Zusammenhang.“

Die Türken spendieren eine Runde Raki …

Lautes Jubeln und Gegröle im Lokal. Das Spiel ist aus. Autohupen auf der Straße. Eine Gruppe feiernder Türken stürmt herein.

„Da hast Du Deinen Blödsinn!“ schreit der Fußballfan im Getümmel und prostet den türkischen Fans zu. Der Tresen wird umringt von Jubelnden, während eine rote Halbmond-Fahne die beiden Biergläser ins Wanken bringt. „Die Türken feiern!“, brüllt der Fußballfan, „und das ist doch nun wirklich keine gute Regierung dort. Korrupt, alles wird immer teurer, und als Frau willste da auch nicht leben, ewig daheim und mit Kopftuch und so.“ Einen tiefen Schluck nimmt der Fußballfan aus dem Glas, richtet sich neu auf, verschafft sich Platz zwischen den Feiernden um ihn herum, und ruft: „Das ist der Gegenbeweis!“

Die feiernden Türken verstehen zwar nichts die vom Gespräch, geben aber eine Lokalrunde Raki aus. Einige zeigen den sogenannten „Wolfsgruß“, ein Symbol für radikalen türkischen Nationalismus. Der Demokratiefan schüttelt den Kopf. „Gar kein Gegenbeweis,“ sagt er. „Die Türken haben die Österreicher rausgeworfen, weil beide nicht frei sind im Kopf. Siehst Du an dieser komischen Nationalismus-Geste.“ Das Rakiglas wird auf den Tresen gestellt. „Die Österreicher sind gerade drauf und dran, eine Super-Rechtspartei zum nächsten Wahlsieger zu machen. In diesem Spiel haben eben zwei Mannschaften gegeneinander gespielt, die beide nicht den Kopf frei hatten. Einer musste ja gewinnen.“

„He, jetzt hab´ ich Dich!“, schreit der Fußballfan und kippt den Schnaps in sich hinein. „Das mit der Wahl gilt auch für Frankreich! Da haste Dir jetzt selbst widersprochen. Die Franzosen werden die rechtsradikale Le Pen auch wählen, und trotzdem haben sie gewonnen!“

Der Demokratiefan greift zum Rakiglas, überlegt und schiebt es dann voll zurück. „Ja schon … aber wie! Erst in der allerletzten Minute hat´s gereicht. Das war vor allem Glück. Und außerdem haben sich die französischen Spieler ganz öffentlich gegen den drohenden Rechtsruck in Frankreich ausgesprochen. Das ist wie Doping für Freiheit, das hilft auch für die Freiheit im Kopf.“

Die türkischen Fans ziehen wieder ab, der nächsten Kneipe entgegen.

Nochmal zwei frische Biere …

Die Wirtin blickt zu ihnen hinüber, zwei Finger gehen hoch.

„Und was sagste zur Ukraine?“, fragt der Fußballfan. „Wenn die nicht eine gute Regierung haben, wer denn dann? Halten ihren Staat irgendwie am Laufen, sogar die Bahn fährt da pünktlich, was wir hier nicht hinbekommen, und nebenbei müssen sie ihr Land verteidigen.“ Zwei frische Biere werden auf den Tresen gestellt. „Und dann fliegen sie in der ersten Runde schon raus, als Gruppenletzter.“

„Das war bitter. Stimmt,“ räumt der Demokratiefan ein. „Aber die hatten eben den Kopf auch nicht frei, wer will es ihnen verübeln in ihrer Situation? Außerdem hatten sie besonderes Turnierpech. Die waren Vierter in ihrer Gruppe mit vier Punkten. Das war mehr als die Slowenen hatten, die Gruppendritte wurden und weiterkamen. Voll ungerecht.“

„Hat eben doch nichts mit Politik zu tun. Ist alles nur Fußball.“

Die Tür geht auf, eine Gruppe Österreicher trottet herein. Lautstark bestellen sie Bier. Die Enttäuschung über das Ausscheiden gegen die Türkei klingt bereits ab.

„Sag mal?“, fragt der Demokratiefan.

„Ja was?“

„Macht schon Spaß, so eine EM in Deutschland, oder?“

„Logisch! Es regnet zwar dauernd, aber trotzdem ist überall beste Stimmung. Alle freuen sich, siehste ja gerade, sogar ich kann mich mit den Türken freuen, und mit den Österreichern traurig sein.“

Sie beide prosten den Österreichern zu, die hinter ihnen stehen und gerade ihre Biergläser bekommen haben. „Seid´s arg traurig?“, fragt der Fußballfan. Die Österreicher trinken.

„Hat vielleicht auch was mit der Demokratie zu tun,“ sagt der Demokratiefan. „Gute Stimmung gibt’s nur in Freiheit, nicht in einer Diktatur.“

„Du nervst. Ich freu´ mich jetzt aufs Viertelfinale,“ sagt der Fußballfan und nimmt einen Österreicher in den Arm. „Leider ohne Euch. Aber tolle Spitzenmannschaften kommen da jetzt: Spanien, Portugal, Frankreich, Niederlande, England, Schweiz. Und Deutschland! Das werden super spannende Spiele!“

„Alles lupenreine Demokratien“, sagt der Demokratiefan.

„Da hätten wir auch reingehört“, ruft ein Österreicher. „So demokratisch wie die Niederländer sind wir noch lange.“ Der Demokratiefan lacht.

Fünf Biere hatten die Schotten ausgegeben …

„Jetzt hört doch mal auf mit dem Politikzeug!“, ruft der Fußballfan. „Und überhaupt, was ist mit den Schotten und Deiner Theorie? Die haben besonders gute Stimmung gemacht, unglaublich, fünf Bier haben sie mir ausgegeben, hier an diesem Tresen, und eine Demokratie sind sie auch, oder? Trotzdem rausgeflogen.“

„Ja, stimmt alles, aber leider haben sie einfach zu schlecht Fußball gespielt,“ sagt der Demokratiefan.

„Siehste,“ triumphieren da der Fußballfan und die Österreicher. „Ist eben Fußball. Hat nix mit Politik zu tun.“

 

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

Eine Liste aller Krawalle und „Revolutionen“, die vom Bierpreis ausgelöst wurden, findet sich auf Wikipedia.

Wer mehr über die Hintergründe des „Wolfsgruß“ erfahren möchte, findet eine gute Zusammenfassung hier. 

 

 

 

 

 

Am Ende gewinnt immer das Runde

Ein Essay über Fußball, Mathematik und Moral

Der Künstler Şakir Gökçebağ möchte den „banalen Dingen des Alltags eine ungeahnte, neue Aufmerksamkeit“ verschaffen, so der Begleittext des Museum Ritter in Waldenbuch bei Stuttgart, so derzeit seine Werke zu besichtigen sind. Hier ist ihm gelungen, was unmöglich erscheint: Das Runde in etwas Eckiges zu hineinzuquetschen.

Üblicherweise ist ein Apfel rund. Freiwillig fügt er sich nicht in ein geometrisch sauberes Quadrat. Im allwissenden Internet sind Filmchen zu finden, wie kleine Äpfel beim Größerwerden in ein quadratisches Plastikästchen gezwängt werden, und dann halbwegs eckig vom Baum fallen. Mit etwas Gewalt gelang es auch dem in Hamburg lebenden Künstler Şakir Gökçebağ, den Äpfeln das Runde abzuzwingen. Er hat Äpfel so lange eckig zugeschnitten, bis sie in seinem Kunstwerk, ganz eng zusammengedrängt, einem Puzzle gleich, ein sauberes Quadrat bilden.

Rund und Eckig – das passt nicht

Für den Betrachter des Apfel-Gevierts bleibt ein Störgefühl zurück. Rund und eckig, das widerspricht sich einfach, das ist wie Feuer und Wasser, wie heiß und kalt. Deshalb halten wir inne vor dem Bild mit den sauber zum Quadrat zusammengeschnipselten Apfelgehäusen. Jeder Versuch, das Runde in das Eckige zu bringen, ist eben eine „Quadratur des Kreises“ – und wir wissen instinktiv: Es kann nicht ganz gelingen. Der Versuch, mit Zirkel und Lineal die Fläche eines Kreises exakt in die Fläche eines Quadrats zu übertragen, bleibt unmöglich für die Menschheit. Ein kluger deutscher Mathematiker namens Carl Louis Ferdinand Lindemann hat dafür im Jahr 1882 sogar den mathematischen Beweis erbracht.

So wurde die „Quadratur des Kreises“ zur sprachlichen Metapher. Sie steht für den zum Scheitern verurteilten Versuch, eine moderne Innenstadt gleichzeitig autogerecht und doch saftig grün und lebenswert durchlüftet zu gestalten; sie beschreibt das unmögliche Begehren an den Staat, Wohlstand für alle zu gewährleisten, und doch möglichst keine Steuern zu erheben. Jeder kennt solche Situationen: Man kann nicht beides gleichzeitig haben, die Dinge sind eben entweder rund oder eckig. Man kann sich oft annähern, man kann Kompromisse schließen, aber der Kreis wird nie quadratisch.

Zu besichtigen ist das gewaltsam zusammengepresste Apfel-Quadrat derzeit (und noch bis Mitte April 2023) im Museum Ritter in Waldenbuch bei Stuttgart. Dort widmet man sich ganz speziell der Geometrie in der Kunst, mit Vorrang also solchen Bildern oder Skulpturen, die das Quadrat zum Thema haben. Das Museum gehört zu einem Schokoladenimperium, dessen Produkte ausgeprägt eckig daherkommen – quadratisch nämlich. Noch dazu tragen sie „Sport“ in ihren Namen trägt, was uns mitten hineinführt in diese Betrachtung über das Runde, das Eckige und die Moral.

„Das Runde muss in das Eckige“

„Das Runde muss in das Eckige“, philosophiert das ewige deutsche Fußballgedächtnis und meint damit den simplen Umstand, dass der Ball ins Tor muss. Der banale Satz zieht seine Spannung aus einem inneren Gefühl der Unmöglichkeit, die er auszudrücken scheint. Nicht nur der Fußballfan kennt die Verzweiflung darüber, wenn der Ball einfach „nicht reingehen will“, wo doch eigentlich und rein physikalisch betrachtet eine Lederkugel mit rund zwanzig Zentimetern Durchmesser mühelos zwischen ein Lattengerüst hineinpassen sollte, das mehr als sieben Meter breit und gut zwei Meter hoch ist. Gewiss, ein Torwart will das verhindern, und eine vielfüßige Verteidigung noch dazu. Trotzdem sollte es doch nicht so schwer sein, meint jeder Laie, der einmal vor der leibhaftigen Größe eines Fußballtores gestanden hat. Und wurde dann schnell eines Besseren belehrt, wenn er den Ball mit voller Wucht neben oder über das leere Tor gedroschen hatte.

Was soll das Gerede vom Runden und dem Eckigen? Es geht doch! Vieltausendfach mühen sich an jedem Tag sportbegeisterte Menschen auf der ganzen Welt damit ab, auf den verwöhnt-geheizten Rasenflächen der Stadien genauso wie auf den schweißgetränkten Buckelpisten der Vereine, in den gepflasterten Hinterhöfen oder auf staubigen Bolzplätzen. Und zappelt es dann endlich im Eckigen, das Runde, dann purzeln Kinder jubelnd auf dem Boden herum, brüllen wildfremde Männer ihre Erleichterung heraus, fallen sich erwachsene Frauen gegenseitig um den Hals.

Fußball-Deutschland und die Quadratur des Kreises

Ganz Fußball-Deutschland steht in den nächsten Wochen eine Quadratur des Kreises bevor. Das Runde muss mal wieder in das Eckige, diesmal zur gefühlten Unzeit vor Weihnachten, und noch dazu drängen sich die suspekten Scheichs von Katar dabei als Gastgeber auf den von Wüstenödnis umgebenen grünen Rasen. Die Umstände rund um die dargebotene Veranstaltung sind unsäglich. Eine böse Blutgrätsche der Fußball-Moral ist zu besichtigen: Über 6.500 migrierte Arbeiter sind (lt. der britischen Tageszeitung The Guardian) aufgrund der Arbeitsbedingung beim Bau klimatisierter Stadien in der Wüste verstorben. Für die neuen Arenen wird es keine Verwendung geben, wenn die Fußball-Millionäre abgereist sind. Ein Unrechtsstaat fläzt sich da auf die sportliche Weltbühne, eine Monarchie, die nach der Scharia urteilt, Frauen unterdrückt, Homosexuelle betraft und die Todesstrafe vollzieht. Eine rücksichtslose Elite beutet in Katar die ihnen zufällig zugefallenen Energieressourcen gnadenlos zum eigenen Vorteil aus.

Noch dazu wird eine wahnwitzige Verschwendung von Geld und Energie zu besichtigen sein für ein Turnier, das man genauso gut zu einer passenderen Jahreszeit anderenorts in ohnehin vorhandenen Arenen hätte durchführen können. Oder auf das man vielleicht auch ganz hätte verzichten können, da uns aktuell die Quadratur des allergrößten Kreises unserer Zeit abverlangt wird: Nämlich Energie zu sparen, das Klima zu retten, unsere demokratischen Werte zu verteidigen, in einem Krieg unserer Nachbarn solidarisch zu bleiben, und dabei trotzdem halbwegs Wohlstand für die meisten zu erhalten und allen eine warme Wohnung zu heizen.

Gucken oder nicht?

Was also tun? Gucken oder nicht? Glühwein zum Elfmeterschießen? Fein raus sind nur die, deren Desinteresse für Fußball tief verwurzeltet ist. Wer sich diesbezüglich frei glaubt von jeder Verlockung, werfe also den ersten Ball! Aber Achtung: Das Bekenntnis ist nur glaubwürdig von denjenigen, die noch niemals dabei waren, auch nicht in wichtigen Spielen bei Europa- oder Weltmeisterschaften, einem Finale gar, daumendrückend, Chipstüten-bewaffnet und jubelbereit, verzweiflungsgeplagt. Alle anderen, auch die nur gelegentlich Interessierten, erst recht die süchtigen Final-Zitterer, die spannungsgeladenen Hoffnungsfrohen, werden gnadenlos vor die Frage gestellt werden, ob sie ihr Rundes (also ihren Kopf) tatsächlich vom eckigen Bildschirm fernhalten wollen.

Moral und Spitzensport, das ist eben auch eine Quadratur des Kreises, das passt nicht zusammen. Sepp Herberger, von dem der Spruch mit dem Runden, das ins Eckige muss, stammt, war der Trainer jener deutschen Nationalmannschaft, die 1954 das „Wunder von Bern“ vollbrachte, der überraschend errungene Weltmeistertitel für das Fußball-Deutschland der geächteten Kriegsverursacher. Herberger war NSDAP-Mitglied und wurde doch zum deutschen Nachkriegshelden. 1978 fand die Weltmeisterschaft in Argentinien statt, das damals von einer blutigen Diktatur regiert wurde. Bei der WM von 2018 in Russland schieden die deutschen Jungs als Gruppenletzte schon in der Vorrunde aus. Die deutsche Öffentlichkeit beschäftigte das deutlich mehr als der Umstand, dass der „Gastgeber“ schon vier Jahre zuvor sich rechtswidrig Teile der Ukraine gewaltsam angeeignet hatte. Und wären uns die in Umerziehungslagern kasernierten Uiguren wichtig gewesen, oder die in ihrer kulturellen Identität unterdrückten Tibeter, dann hätten wir auch ganz sicher nicht die olympischen Spiele in China verfolgend dürfen.

Am Ende gewinnt immer das Runde!

Da bleibt dem zweifelnden Zeitgenossen nur die Gewissheit: Am Ende gewinnt das Runde! Der Kreis wird nicht zum Quadrat und der Apfel selbst im Plastikkorsett kein sauberer Würfel. Das Spiel gewinnt, wer das Runde ins Eckige bringt, und nicht umgekehrt.

Und es ist der runde Kopf, der hinsieht und sich das Seine denken kann zu dem kommerziellen Wahnsinn, der da aus dem elektronischen Viereck quillt. „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“, formulierte es einmal der französische Schriftsteller Francis Picabia. Was für ein Traumtor!

 

Die Ausstellung mit Werken von Şakir Gökçebağ ist noch bis 16. April 2023 im Museum Ritter in Waldenbuch bei Stuttgart zu besuchen.

Die Erklärung, warum die Quadratur des Kreises eine unlösbare Aufgabe ist, übersteigt deutlich meine eigenen mathematischen Fähigkeiten. Wer tiefer in das Rätsel einsteigen möchte: Bitteschön, vielleicht hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Quadratur_des_Kreises

Francis Picabia war ein vielfältiges Talent, vor allem auch ein Maler. mehr über ihn  können Sie z.B. hier nachlesen: https://kunstmuseum.com/francis-picabia/

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