Job ist Job – Weihnachten in Deutschland

Eine Erzählung

(1)

Ahmed friert. Seit zwei Stunden steht er jetzt bereits in der Dunkelheit, um vier Uhr früh hatte seine Schicht begonnen. Kein einziges Auto, kein LKW, einfach gar nichts, hatte seither Interesse an seiner Wachtätigkeit gezeigt. Dunkelheit, Stille, Kälte – das war alles gewesen, was dieser Morgen bisher für ihn bereitgehalten hatte. „Mach Dir einen gemütlichen Tag“, hatte der Chef gesagt. Lächerlich, meint Ahmed. Das, was die Deutschen mit „gemütlich“ meinen, ist hier nicht herzustellen. Wahrscheinlich ist „gemütlich“ auch sowas aus ihrer Leitkultur. Hat er gehört im Radio, dass es jetzt eine Leitkultur geben soll in Deutschland. Ahmed ist stolz auf seine Deutschkenntnisse nach acht Jahren in diesem dunklen, kalten Land. „Gemütlich“ hatte er gelernt, und auch „Leitkultur“, das hatte er neulich aber extra nachschlagen müssen.

Foto: Stefan Schweihofer lizenzfrei auf Pixabay

Hier auf der Baustelle ist es jedenfalls kalt und schmutzig, nicht gemütlich. Er blickt auf das Handy. Zwei Grad zeigt es an, sechs Uhr, sieben Minuten. Als Wettersymbol langweilt eine kleine graue Wolke.  Ahmed blickt nach oben, aber es ist noch alles dunkel. Keine Sterne, keine Dämmerung. Noch einmal geht Ahmed seinen nächtlichen Rundgang, vorbei am dunklen Bauteil A, der schon fast fertig ist, dann hinüber zu den Gerüsten von B und C. Harter Matsch am Boden, Schalungsbretter, Kabeltrommeln, Baumaterial. Wieder zurück, vorbei am Container der Bauaufsicht, auch stockdunkel. Danach die graue Kiste der Baustellen-Video-Überwachung. „Hier wache ich“, behauptet die Aufschrift neben der Kamera.

Nein, denkt sich Ahmed, hier wache ich.

Ein LKW näherte sich. Die erste Baustellenanlieferung. Ahmed schiebt das Gatter zur Seite, das die Baustellenzufahrt eher symbolisch versperrt, hebt die Hand zum Gruß für — ah, für Sergio. Nie gesehen, den Sergio, denkt sich Ahmed, aber das Schild hinter der Windschutzscheibe macht ja klar, mit wem er es zu tun hat. Die Schrift flackert im bunten Licht eines blinkenden Mini-Weihnachtsbaums, den sich Sergio ins Fahrerhaus gebastelt hat. Wuchtig und blubbernd rollt der Sattelschlepper auf Ahmed zu. Sergio lehnt sich aus dem Seitenfenster. „Wohin …?“, fragt er, wedelt mit einem weißen Blatt Papier, blickt drauf – „C …? Bauteil C?“

Ahmed weist ihm den Weg: Rechts, dann geradeaus, um das erste Haus herum und dort in den Hof zwischen die eingerüsteten Häuser. Das tonnenschwere Gefährt setzt sich in Bewegung, das irrlichternde Weihnachtsbäumchen spiegelt sich in den dunklen Scheiben von Bauteil A. Sergio dankt mit einem lässigen Wink. Auch Ahmed hebt die Hand. Zwischen den Leuten auf dem Bau herrscht freundliche, männliche Klarheit. Ahmed liebt diese Nüchternheit im Umgang miteinander. Er tritt zur Seite, das schwere Gefährt muss ausholen, um in die Kurve zu kommen.

Ahmed schiebt den Zaun zurück in den Eingang. Sein Auftrag ist, hier unter Kontrolle zu halten, wer rein- und rausfährt. Bei Wind und Wetter, Schnee und Regen. Job ist Job, denkt er. Es ist Freitag, noch eine Woche, dann feiern die Deutschen ihr Weihnachten. Das sind Feiertage, keine Arbeit, darauf freut sich Ahmed. Mit den Weihnachtsbäumen überall, dem ganzen Lichtergeglitzer, dem Rummel und der Aufregung, den eiskalten Jahrmärkten, die sie da veranstalten, kann er nichts anfangen. Ihre Leitkultur eben. Schon ok, aber nicht seine Welt. Manche seiner Freunde machen da sogar mit, obwohl sie Muslime sind und Allah doch kein Weihnachten kennt. Ahmed lehnt das ab. Seiner Familie hat er strikt untersagt, sich diesem christliche Wahnsinn irgendwie anzuschließen. Traurig geguckt haben die Kinder, das hatte er schon bemerkt, aber sie hatten nicht zu widersprechen gewagt.

Weihnachten, das ist das Fest der Deutschen, und Ahmed ist kein Deutscher. Ob er jemals zurückkehren wird nach Syrien? Keine Ahnung, jetzt jedenfalls lebt er hier und bewacht ihre Baustellen, aber wirklich dazu gehört er nicht. Das haben die Deutschen ihm oft genug klargemacht, auf den Behörden, in den Kneipen, beim Fußball. Sie nehmen ihn hin, sie „dulden“ ihn und seine Familie, und sie nutzen seine Arbeitskraft, seine Muskeln, für ihre Sicherheit. Auch Selda, seine Frau, brauchen die Deutschen, denn sie lassen sie ihre Behördenräume putzen. Was sollte er sich also um Weihnachten scheren? Die Deutschen kümmern sich ja auch nicht um das Fastenbrechen, wenn der Ramadan zu Ende ist.

Ein schwarzer SUV nähert sich, die Lichthupe flackert auf. Der Chef. Ahmed räumt das Gatter zur Seite, und Pablo rollt über die ruinierte Asphaltschicht auf das Gelände, schlägt scharf rechts ein und kommt direkt neben ihm zu stehen. Pablo ist ein guter Chef, Ahmed hat an ihm nichts auszusetzen. Er ist klar und meistens freundlich. Spanier, vermutet Ahmed, jedenfalls kein Deutscher. Aber EU-Bürger, und das macht einen großen Unterschied. So an die fünfzig Leute kommandiert er herum, teilt sie dort ein, wo die Deutschen sich ihre Sicherheit erkaufen wollen.

„Morgen!“, ruft Pablo beim Aussteigen, „ganz schön ungemütliches Wetter!“ Pablo hat nur einen Pulli über seinem Hemd, hat sich so aus dem geheizten Sitz gewuchtet, kein Wunder, findet Ahmed, dass er es kalt findet. Ahmed hebt die Hand, die in einem Handschuh steckt. Der wattierte Anorak raschelt.

„Alles klar?“, fragt Pablo, erwartet aber offenbar keine Antwort, denn er redet sofort weiter. „Du stehst doch jetzt schon seit – “, Pablo stockt und überlegt – „seit wie vielen? Tagen? Hier draußen?“

„Die ganze Woche. Heute der fünfte Tag,“ antwortet Ahmed, „immer die Frühschicht ab vier. Job ist Job.“

„Ich habe zwei gute Nachrichten für Dich“, strahlt Pablo gutgelaunt und grinst Ahmed an, holt sich eine Zigarette aus der Tasche, steckt sie in den Mund, zündet sie aber nicht an. Rauchen ist verboten auf der Baustelle, fällt ihm wohl gerade ein. Ahmed blickt ihn an. Es dämmert.

„Wenn Du willst, kannst Du ab Montag eine Innenschicht machen. Security im Theater, jeden Abend ab 18 Uhr, bis Schluss ist. Lässiger Job, warm und gemütlich.“

Schon wieder gemütlich, denkt sich Ahmed.

„Warst jetzt lange genug hier draußen in der Kälte“, gibt sich Pablo gönnerhaft. „Innendienst heißt aber auch: Musst Dich benehmen, keine Baustelle. Lauter noble Leute im Theater. Bekommst Du das hin?“

„Wenn Du meinst.“ Was soll diese Frage, ärgert sich Ahmed. Wenn Du mir den Job gibst, bist du ja wohl der Meinung, dass ich mich benehmen kann. Warum auch nicht? „Und die zweite Nachricht?“

„Hast du Lust an Weihnachten zu arbeiten? Ihr feiert doch sowieso nicht? Es gibt Zuschlag.“

Ahmed kann jeden zusätzlichen Euro gebrauchen. Er nickt.

Pablo rupft die kalte Zigarette wieder von seinen Lippen und steckte sie in seine Jackentasche. „Da sind mir zwei Leute ausgefallen, Flüchtlingsunterkunft im Norden. Nachtschicht ab 22 Uhr. Bist Du dabei?“

„Klar, mache ich“, sagt Ahmed.

 

(2)

„Ah, Sie sind der Mann von der Security!“

Ein schlaksiger blonder Hüne, so spindeldürr, dass der Anzug an ihm herunterhängt wie eine Fahne ohne Wind, empfängt Ahmed am Montag im leeren Foyer des Theaters. Ahmed war schon ein paar Mal im Kino, aber noch nie in einem Theater. Der Dünne streckt ihm die Hand entgegen. „Herzlich willkommen!“, sagt er, „am besten zeige ich Ihnen hier schon mal alles.“

Ahmed hat sich für den Inneneinsatz im Theater seine Innen-Dienstkleidung angezogen. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, Dienstjacke mit dem Logo der Firma. Im Foyer ist es bullig warm, Ahmed schwitzt, während er dem Schlaksigen mit seinen langen Schritten über die schallschluckende Teppichbodenwüste des weiträumigen Theaterfoyers folgt.

„Also, hier sind die Zugänge, da gehen unsere Besucher dann rein. Dort die Notausgänge. Da die Garderoben und Toiletten, da entsteht immer ganz schönes Gedränge. Dort ist die Bar, die umlagern dann unsere Besucher in der Pause. Schön hier, nicht wahr?“

Der Theatermann blickt ihn an, und Ahmed nickt unbestimmt.

„Aber damit und auch mit dem ganzen Saaleinlass haben Sie nichts zu tun, das machen alles meine Leute.“

„Und was habe ich zu tun?“, fragt Ahmed.

„Ihrem Vorgesetzten haben wir das ja schon erklärt. Wie haben hier diese Woche ein jüdisches Orchester zu Gast, und es ist nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, dass es in diesem Zusammenhang zu Protestaktionen kommt.“

Ahmed legt sich im Kopf die Worte zurecht: Nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen? Es dauert einige Sekunden, bis er verstanden hat: nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, ah ja, könnte also sein.

Der Mann vom Theater schaut ihn an, mustert ihn, schaut ihm beim Verstehen zu. Er ist mindestens einen Kopf größer als Ahmed, allerdings sichtbar frei von jeglicher Muskulatur.

„Wegen Gaza und so, Sie wissen schon.“

Während er das Wort „Gaza“ aussprach, hatte er den Blickkontakt gelöst und über ihn hinweg geblickt, fällt Ahmed jetzt auf, als richte der Mann vom Theater seine Worte nicht an ihn, sondern an irgendwen, der hinter ihm stand.  Gaza. Natürlich weiß Ahmed. Im arabischen Sender gibt es kaum ein anderes Thema. Grausige Bilder: rauchende Trümmer, blutende Körper auf dem nackten Boden, angeblich in einem Krankenhaus. Explodierende Bomben. Verzweifelte Frauen. Verdreckte Kinder. Soldaten. Ahmed kannte das alles aus seiner Heimat. In Syrien hatten Muslime gegen Muslime gewütet, denkt sich Ahmed, in Gaza wüten Juden gegen Muslime. Seit Jahren schon, immer das gleiche. Hoffnungslos.

Ich mag keine Juden, denkt sich Ahmed.

„Sie müssen also bitte einen Blick auf das Geschehen haben,“ redet der Dünne jetzt wieder, „Sie müssen unterbinden, dass Angriffe im Foyer stattfinden oder Unbefugte auf die Bühne springen, herumschreien oder so.“

Ahmed nickt, fühlt sich aber unwohl. Juden auf der Bühne, denkt er sich, das hatte mir Pablo nicht gesagt. Aber Job ist Job.

„In solchen Fällen üben Sie bitte unser Hausrecht aus,“ hört Ahmed den Mann vom Theater, „dann sorgen Sie bitte für Ordnung, begleiten solche Personen heraus. Vor und nach der Vorstellung behalten Sie das Foyer im Auge, während der Vorstellung haben Sie einen Platz im Saal.“

Der Dünne blickt zu Ahmed herab. „Notfalls müssen wir die Polizei rufen. Die weiß Bescheid und ist in drei Minuten hier.“ Ahmed will nichts zu tun haben mit der Polizei. Er ist nur geduldet.

„Aber wenn nichts passiert, was wir natürlich hoffen, dann haben Sie auch nichts zu tun“, sagt der Dünne.

 

Hier passiert gar nichts, das ist ja hier absolutes Nichtstun, grübelt Ahmed, während er mit langen Schritten durch das Theaterfoyer wandert, immer hin und her von einem Ende zum anderen. Sich benehmen. Nicht auffallen. Job ist Job. Ahmed blickt aufs Handy. Noch eine halbe Stunde bis Vorstellungsbeginn, und ihm ist jetzt schon langweilig. In den dicken Sesselgruppen versinken wohlgekleidete Menschen. Alles Deutsche. Meist alt. Manche balancierten ein Sektglas in der Hand, andere blättern in den Heften, die überall herumliegen. Gedämpftes Geplauder. Ihre Leitkultur, denkt Ahmed. Gemüüütlich. Leitkultur, Leit … Kultur, Leitkultuuur“, murmelt Ahmed vor sich hin. Wenn er sonst nichts zu tun hat, übt er deutsche Worte. „Gemüüütlich, üüü, gemüüütlich, …“

Dann ertönt ein sanfter dreitöniger Glockenschlag – ding, dang, dong -, und die in einer dunkelblauen Uniform gekleideten Damen an den Türen öffnen die Zugänge. Sehr diszipliniert strömen die deutschen Grauköpfe dem dunklen Saal entgegen.

Wofür bin ich hier? Hier passiert doch rein gar nichts, denkt sich Ahmed.

„Ich zeige Ihnen Ihren Platz!“, hört er da die Stimme des Langen vom Theater hinter sich. Ahmed spürt einen kurzen Griff an den Oberarm, und ohne Nachzudenken spannt er seinen trainierten Bizeps an. Der Lange lässt sofort los. Ahmed folgt ihm zur vordersten Tür, ignoriert das Lächeln der blauuniformierten Einlassdame und bekommt einen Randplatz in der dritten Reihe zugewiesen. „Und das Handy bitte ausmachen!“, raunt der Dünne ihm noch zu.

Das Theater ist höchstens halb voll, stellt Ahmed fest. Viele Deutsche sind das wohl nicht, die den Juden zuhören wollen. Ahmed behält das Geschehen im Blick und nimmt sich vor, auch während der Vorstellung mehr in den Saal zu blicken als zur Bühne. Wenn hier einer stören will, dann sitzt er ja wohl jetzt hier irgendwo in diesen Reihen, denkt sich Ahmed. Die Juden auf der Bühne mag er ohne hin nicht. Aber Job ist Job.

Die Blaufrauen schließen lautlos die Türen. Ersterbendes Gemurmel. Das Licht dimmt herab und Ahmed setzt sich.

 

(3)

„Das glaubst Du nicht, was die Juden da im Theater spielen“, sagt Ahmed am nächsten Morgen zu Selda. „Das ist kein Theater. Das ist eigentlich Musik, aber die ist ganz schrecklich. Katzengejaule. Ich habe mich zu Tode gelangweilt. Dazwischen tritt eine Frau auf, die redet mittenrein in die Musik, ruft und schreit irgendwas von Tod und Vernichtung und Schuld, keine Ahnung was das bedeuten soll.“

Selda füllt die Brotzeitboxen für die Kinder. „Gab´s denn Stress?“, fragt sie.

„Nein, überhaupt nicht. Gar nichts. Total langweilig. Alles alte Leute. Das gehörte wohl so, das mit dem Dazwischenreden in die scheußliche Musik. Totenstill war es am Ende, weil die Frau da auf der Bühne was erzählt hat von Gewalt. Stell Dir vor, die hat erzählt, dass es in Deutschland mal Leute gegeben hat, die haben die Kinder ihrer Nachbarn ermordet, einfach so, grundlos, und dann sind sie nach Hause gegangen und haben mit ihren eigenen Kindern zusammengehockt und ihr Weihnachten gefeiert. Als wäre nichts gewesen.“

Ahmed schüttelt den Kopf. „Und wenn ich es richtig verstanden habe, dann hat die Frau den Leuten im Theater vorgeworfen, dass diese Kinder jetzt groß sind, also Erwachsene, und die sollen jetzt deshalb irgendwie ein schlechtes Gewissen haben oder so.“

„Verstehe ich nicht“, sagt Selda.

„Ich auch nicht. Was da auf der Bühne los war, das fand ich jedenfalls total langweilig. Diese Musiker, angeblich Juden, sehen aber ganz normal aus, und dann die böse Frau mit ihren Geschichten. Muss ich mir diese Woche noch viermal anhören. Aber Job ist Job. War auf der Baustelle einfacher.“

Selda schließt die Brotzeitboxen und ruft ihre Kinder.

 

(4)

Ahmed friert wieder. Totenstille auf der Straße. Die Deutschen feiern Weihnachten heute Abend, niemand unterwegs. Sollen sie feiern.

„Kannst Du die Schicht auch allein machen?“, hatte Pablo ihn am Handy gefragt. „Janni hat sich krankgemeldet, und ich bekomme so schnell keinen Ersatz, nicht heute an Weihnachten.“

Klar konnte er die Schicht auch allein machen. Ist halt langweilig. Und gefährlicher, wenn wirklich etwas passiert. Aber was hätte er schon antworten sollen? „Ok“, hatte er gesagt.

„Dafür hole ich Dich morgen früh ab, wenn ich die Ablösung bringe,“ hatte Pablo angeboten. Ahmed hatte durch das Telefon gehört, wie Pablo an seiner Zigarette zog, er konnte den Rauch geradezu riechen, wenn sein Chef ausatmete und die Wolke ins Handy pustete.

„Übrigens,“ hatte er dann ergänzt, „die im Theater waren sehr zufrieden mit Dir. Kannst Dich offenbar benehmen. Vielleicht brauchen sie uns öfter. Wird ja immer mehr gestritten in Deutschland.“

Jetzt also die Unterkunft für Geflüchtete bewachen. Als er ankam aus Syrien, gab´s keine Container. In einer großen Messehalle musste er hausen, stickig und laut war es, aber Ahmed war glücklich, er war im Paradies. Tausendmal besser als die Bomben von Aleppo, tausendmal besser als die Angst, die Erschöpfung in den nassen Nächten auf der endlosen Wanderung durch den Balkan.

Trotzdem arme Kerle, denkt Ahmed, die hier darauf warten, ob sie geduldet werden. In ihrer Leitkultuuuuur. Gar nicht gemüüütlich. Er blickt aufs Handy: Minus zwei Grad, Schneeregen. Sekunden später sickert das Nass der ersten Flocken durch seine Haare auf die Kopfhaut. Job ist Job, bringt Extrageld, da muss ich durch. Er zieht seine Kapuze über und macht sich auf die Runde. Drei Minuten benötigt er dafür, die eingezäunte Containersiedlung zu umrunden. Jede Stunde sollte er es viermal machen, alle fünfzehn Minuten.

Der Schnee schmilzt sofort, wenn er auf den Boden fällt. Seit Tagen reden die Deutschen davon, ob es „weiße Weihnachten“ geben könnte. Auch sowas von ihrer Leitkultur. Ihm ist das egal, für Ahmed gibt es nur nasses oder trockenes, kaltes oder warmes Wetter. Jetzt war nasses, kaltes Wetter, und das ist die schlechteste Kombination, wenn man draußen herumstehen muss. Ahmed blickt zu den Containern hinüber. Überall Licht, zu hören ist aber nichts. Gut so, denkt sich Ahmed. Security bei Flüchtlingsunterkünften ist nicht beliebt. Immer wieder streiten die Leute untereinander, oder es kommen Deutsche, die Ärger machen wollen. Heute hoffentlich nicht, denkt Ahmed. Die Deutschen sind beschäftigt mit ihrem Weihnachten.

Da entdeckt Ahmed eine offene Containertür, das Fester daneben ist dunkel. Er tritt heran, klopft, ruft, leuchtet mit seiner Stablampe herein: Ein Stockbett, ein Tisch, zwei Stühle. Ein Schrank mit offenstehenden Türen. Alles leer. Nicht belegt. Offenbar hat jemand vergessen, den Container abzuschließen. Ahmed zieht die Tür zu und setzt seine Runde fort.

Foto: Nile lizenzfrei auf Pixabay

 

Zwei Stunden später hat es aufgehört zu schneien. Jetzt ist der Himmel klar, einige helle Sterne funkeln herab, aber viele von ihnen sind nicht zu sehen, weil eine Straßenlampe den Eingang zur Containersiedlung hell ausleuchtet, ein greller Lichtkegel. Ahmet tritt in das Licht, als er von seiner zehnten Runde zurückkehrt.

„Da, da, da ist jemand!“, hört Ahmed die Stimme einer Frau, von irgendwoher im Dunkel um ihn herum. Ahmed blickt sich um, sieht nichts, tastet in einem Reflex nach seinem Elektroschocker. Es ist mitten in der Nacht, was war das für eine Stimme?

„Da, schau doch!“, hört Ahmed. Aus dem völligen Dunkel tritt eine schwangere Frau in den Lichtkegel.

„Hallo“, ruft Ahmed, „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

Jetzt wird auch ein Mann sichtbar, der hinter der Frau hertappt, schwarze Haare, ein Bart, lange Locken, ein kleines tellerförmiges Hütchen auf dem Kopf. Er hat ein Handy in der Hand, das Display leuchtet.

„Sei vorsichtig“, sagt der Mann. „Wir sind hier nicht erwünscht, denk immer dran.“

Ahmed geht auf das seltsame Paar zu. „Was wollen Sie hier?“

Die beiden weichen zurück. „Wir sind auf Herbergssuche. Wir brauchen einen Platz für die Nacht,“ stammelt die Frau. „Und bald wird mein Kind kommen. Wir können nicht mehr weiterlaufen.“

„Dieser Mann wird uns töten,“ sagt der Mann.

„Nein“, ruft Ahmed. „Ich töte niemanden. Ich bin von der Security. Ich sorge für Sicherheit. Das ist mein Job hier in Deutschland.“

Zögernd nähern sich die beiden wieder. Die Schwangere weint. „Ich kann nicht mehr,“ jammert sie, „immer auf der Flucht. Es geht nicht mehr.“ Sie lehnt sich an ihren Mann und reibt sich die Augen. Der Fremde nestelt an seinen seltsamen Locken herum und hält Ahmed sein Handy unter die Nase. „refugee accomodation“ steht dort. Der blaue Punkt daneben blinkt. Ziel erreicht.

Schweigend stehen sie sich gegenüber, ein paar Sekunden vielleicht. Dann umfasst der Gelockte mit dem Hütchen die Schultern seiner Frau, und wendet sie herum. „Komm, wir gehen weiter“, sagt er.

„Für eine Nacht,“ ruft Ahmed dem rätselhaften Pärchen hinterher und winkt. „Ist ja schließlich Weihnachten.“ Er geht voraus, öffnet die Tür zu dem leeren Container und weist die beiden mit einer Kopfdrehung hinein.

 

(5)

Sechs Uhr, Feiertag. Es ist noch stockdunkel, und dazu klirrend kalt. Ahmed steigt in den SUV, während sich die beiden Kollegen, die ihn ablösen, auf ihre erste Runde machen. Pablo hatte sie mitgebracht und angeboten, Ahmed zur Bahn zu bringen.

„Gab´s was Besonderes?“, fragt Pablo.

Die Straßen sind leer. Dünne Nebelschwaden wabern in der Dunkelheit. Beim Vorbeifahren erfasst ein Bewegungsmelder den SUV und löst eine bunte Lichterkette aus, die sich plötzlich blinkend um ein Supermarktschild schlingt. „Merry Christmas“, blinkt es.

„Nein,“ sagt Ahmed. „nichts Besonderes. Job ist Job.“

 

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Der Abschnitt über die Theateraufführung war inspiriert von einem Erlebnis, das ich im Schauspiel Stuttgart hatte: Konzert und Lesung „Kofflers Schicksal“ mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich und der Schauspielerin Jelena Kuljic von den Münchner Kammerspielen (am 3. Dezember 2023). Weitere Konzerte dieser Art finden u.a. am 24. Januar 2024 in Deggendorf, am 1. März in Dresden und am 14. April in Düsseldorf statt, siehe Konzertkalender.

„Der Paradiesbaum“ – meine Weihnachtsgeschichte vom letzten Jahr finden Sie hier. 

 

 

 

 

Der Paradiesbaum – Eine Weihnachtsgeschichte

Es war noch dunkel draußen, …

… als Melli aufwachte. Das kalte Licht der Straßenlaterne tauchte das Schlafzimmer in dumpfen Dämmer: der Wäscheständer, der längst hätte abgeräumt werden müssen; der Kleiderschrank, eine Tür war offen stehen geblieben gestern Abend. Die Wand mit den Fotos, lange nicht mehr hingeschaut. Lautes Scharren hatte sie geweckt, ein Kratzen, Stoßen, dann wieder das Scharren – Melli brauchte einen Moment, bis sie das störende Geräusch deuten konnte. Es kam von draußen, durch das zur Hälfte gekippte Fenster. Schippte da auf dem Gehweg der Hausmeister Schnee? Richtig, fiel es Melli jetzt ein, gestern Abend hatte es geheißen, dass es schneien sollte in dieser Nacht.

Der Weihnachtsbaum vor dem Rathaus in Stuttgart-Zuffenhausen.

 

 

Melli tastete mit ihrer rechten Hand durch das Bett. Sie spürte den Haarschopf ihrer Tochter, das vertraute Gewühl, darunter die beruhigend warme Kopfhaut. Kurz schloss Melli noch einmal die Augen. Irgendwann in der Nacht musste Selma in ihr Bett gekrochen sein, wie sie es fast immer machte. Melli hatte davon nichts bemerkt. Wie tief muss sie geschlafen haben? Was hätte das Kind wohl noch anstellen können in der Wohnung, wenn sie nicht mal bemerkt hatte, dass es zu ihr ins Bett schlüpfte? Melli verscheuchte den beängstigenden Gedanken.  Sie wendete ihren Kopf herum und blickte auf ihre Tochter, die da lag und fest schlief. Halb aufgedeckt. Ganz sachte hob und senkte sich der kindliche Brustkorb. Zu hören war nichts. Eine Welle von Zuneigung überschwappte sie. Vom Nachttisch leuchteten die Ziffern des Weckers herüber, eine 6 und eine 35.

Draußen scharrte es weiter. Melli wagte sich aus dem Bett, sofort stellte die Winterkälte an ihrem ganzen Körper die Gänsehaut auf. Melli schloss das Fenster, drehte die Heizung auf und kehrte ins Bett zurück. Noch fünf Minuten, dachte sie sich, und zog ihre Bettdecke bis unter ihr Kinn, kehrte zurück in ihre eigene wohlige Wärme. Die Ziffern lauteten jetzt: 6 und 38.

Ganz langsam, Stück für Stück, …

… krochen ihre Gedanken heraus aus der warmen Narkose des Schlafes, hinein in Mellis Bewusstsein. Ihr stand ein weiterer Tag voller Mühsal und Verpflichtungen bevor. Melli strengte sich an, das Bevorstehende positiv zu sehen, jetzt und hier im warmen Bett, neben ihrem friedlich schlafenden Kind. Du darfst doch hier noch liegen, was plagt dich also? Die angelernten Sätze aus der Mutter-Kind-Kur vom letzten Winter stellten sich tapfer ihrem eigenen Missmut in den Weg. Aber die positive Wendung gelang ihr nur halbherzig. Gleich würde sie ihr Kind wecken und aus dem Bett scheuchen müssen. Sie würde sich selbst und ihre Vierjährige zur Eile zwingen, damit sie rechtzeitig die Straßenbahn erreichen konnte. Nebenbei ein flüchtiges, gehetztes Frühstück, sinnloses Hin und Her über den Inhalt der Brotzeitbox für die Kita: Banane? Nein. Ein Käsebrot? Nein. Was also dann? Doch ein Käsebrot.

Melli hasste es, aufzustehen, wenn es dunkel war, und wenn es kalt war, erst recht. Deshalb war sie immer zu spät dran, und wenn ihre Tochter dann noch quengelte, herumtrödelte, was sie fast jeden Morgen tat, drögen Widerstand leistete – dann hasste Melli auch ihr ganzes von solcher freudlosen Nörgelei dominiertes Alleinerziehenden-Leben, diese immer wiederkehrende, auch noch – ja, ja! – selbstverschuldete Hetze, diesen täglichen Alltagskampf, alle diese lieblosen Worte, die er hervorbrachte. Immerhin, für diese Woche war es die letzte Schlacht dieser Art, denn morgen war Heiligabend, die Kita würde geschlossen sein, und sie würde nicht zur Arbeit müssen. Den stressigen Heiligabenddienst hatte sie an ihre älteren Kolleginnen abdrücken können, wenigstens ein Vorteil, wenn man allein für ein Kind sorgen musste.

Pieppieppiep! Der Wecker scheuchte Melli aus ihren Gedanken. Die Ziffern zeigten 6 und 45. Eilig beugte sie sich über ihr Kind hinweg zum Nachttisch und brachte den lästigen Apparat zum Schweigen. Das Scharren vor dem Fenster hatte aufgehört.

Noch eine Minute, …

… dachte Melli. Weihnachten! Ja, das stand auch noch an. Groß zu feiern gab es für sie nichts, mit dem ganzen weihnachtlichen Romantik-Kram konnte sie ohnehin wenig anfangen. Ihre Mutter lebte weit weg und im Pflegeheim, ihr Vater war bereits tot. Sie musste an Jo denken, ihren Ex, „Jo, der Spinner“, wie sie Selmas Vater nannte. Schon seit Wochen hatte er sich nicht mehr gemeldet.

Jo war eigentlich ein netter Kerl gewesen, humorvoll, aber eben ein Spinner, ein Graffitti-Künstler, immer arbeitslos, weil er es nirgends aushielt, Kettenraucher. Ein Mann für den bodenlosen Glücksmoment, für das Fallenlassen, aber nicht fürs Leben. Kaum war Selma auf der Welt, war es nicht mehr auszuhalten gewesen mit dem Mann, der ging, wann er wollte, und wenn er zurückkam, bestialisch nach seinen Spraydosen stank. Er lag ihr auf der Tasche und qualmte die Wohnung voll. Er hatte einen guten Charakter, aber keinen dazu passenden Willen, er tat ihr nichts, aber er zehrte von ihrer Lebenskraft, anstatt sie zu mehren. „Ein Energie-Vampir“, hatte ihre Therapeutin in der Kur gesagt, und das traf es gut. Selma war ein halbes Jahr alt, als Melli ihn rausgeworfen hatte. Er meldete sich immer wieder mal, um seine Tochter zu besuchen, für ein, zwei Stunden. Immerhin bekam sie regelmäßig den Unterhalt für Selma, immer pünktlich überwiesen von Jos Vater, Selmas Opa. Melli überlegte, ob heute wohl noch ein Paket von Jo mit einem Geschenk für Selma eintreffen würde. Oder von ihren Großeltern?

Irgendwann heute oder morgen …

…. wollte sie auch noch ein Lebkuchenhaus backen für Selma, als Überraschung. Vielleicht heute Nacht, wenn Selma endlich eingeschlafen sein würde, erschöpft von einem weiteren Tag voller Eindrücke, überfüllt von Abenteuern, dem Weihnachtsmann in der Kita, dem Abschiedsfest, dem Auftritt mit den Liedern, die sie seit Tagen übte.

Die Digitalanzeige des Weckers sprang auf 6:52. „Scheiße, wieder zu spät!“, rief Melli und sprang entschlossen aus dem Bett. „Guten Morgen, Schluss mit Schlafen!“, rief sie ihrer Tochter laut zu. Das Licht im Schlafzimmer schmerzte sie in ihren Augen. Selma tat so, als habe sie nichts bemerkt. Es wird ihr nichts nützen, dachte sich Melli, stellte das Radio im Flur an und drehte den Lautstärkeregler so weit nach rechts, dass die Musik in der ganzen Wohnung gut zu hören war.  „I´m dreaming of a white chrismas“, schmachtete Bing Crosby durch die knapp fünfzig Quadratmeter ihres Lebens.

„Darf er träumen!“ Die Stimme des Moderators tönte fröhlich und wach. „Denn diesmal gibt´s weiße Weihnachten! Draußen hat es heute Nacht geschneit, Leute, also raus aus den Federn, die weiße Welt wartet auf Euch!“ Der Sender dudelte seit Tagen Weihnachtsmusik – Jingle Bells, Last Chrismas, jetzt eben den Traum von der weißen Weihnacht. Pappsüßer Weihnachtskitsch in einer Tour, unterbrochen von immer der gleichen Werbung. Für edle Schokolade, ausladende Festessen, Schmuck, Parfüm. Nichts davon hatte mit Mellis Welt zu tun. Sie lebte von ihrer Arbeit und dem Unterhalt, den Selmas Großvater bezahlte. Für die kleine Sozialwohnung bekam sie Wohngeld, dazu das Kindergeld – das alles zusammen musste gerade mal so reichen für ein bescheidenes Leben.

„Hey, Leute, frisch auf in den Morgen, es ist 6 Uhr 55, und nur noch ein Tag bis Weihnachten“, drängte sich der Radiomoderator zwischen die Töne.

*********

Der Tag verlief genauso, ….

… wie Melli es befürchtet hatte. Sie hatte alle Überredungskunst und schließlich auch grobe Kommandos benötigt, um Selma aus dem warmen Bett zu locken. Es gab alle erwarteten Debatten um Kleidung („Nein, nicht die rote Hose, nein, nicht diese Schuhe“) und die Brotzeitbox. Bockig hatte Selma sogar behauptet, heute gar nicht in die Kita gehen zu wollen. Nicht einmal der Schnee vor der Tür hatte sie zur angemessenen Eile motiviert. Schließlich hatte sie ihr Kind doch noch in die – wie an jedem Morgen – nach kalten Kinderschuhen müffelnde Kita bugsiert. Dann war ihre Straßenbahn im Verkehr stecken geblieben, im letzten noch akzeptablen Moment hatte sie ihre Backwaren-Verkaufsstelle im Shopping-Center erreicht. „Willkommen im Weihnachtsland, willkommen im Einkaufs-Paradies“, stand in leuchtenden Buchstaben über dem Eingang.  Eine Kollegin hatte sich krankgemeldet, es war trubeliger Betrieb. Zu zweit wuppten sie im Akkord den Backwaren-Marathon: aufbacken, rausholen, sich nicht die Finger dabei verbrennen, verkaufen. Zwar waren die meisten Kunden nett, aber nach der gefühlt dreitausendsten Bestellung („Sieben Brezeln, drei Sternsemmeln, nein doch lieber zwei Croissants, aber bitte nicht zu dunkel“) ließ ihre Konzentration nach, sie füllte falsche Brötchen in die Tüten, verwechselte Brezen und Croissants, verrechnete sich. Alle waren genervt, die Kunden, sie selbst, die Kollegin.

Für eine Mittagspause war keine Zeit. Nebenbei stopfte sie sich Backwerk in den Mund, verstohlen versteckt in der von glühender Hitze angefüllten Aufbackstube hinter dem Verkaufsraum, damit die niemals endende Kundenschlange nichts davon bemerkte. Melli war fix und fertig, als kurz vor ihrem Dienstschluss ihr Handy klingelte. Die Kita rief an; Selma habe die Weihnachtsfeier zwar noch mitgemacht, aber sei offenbar krank, jedenfalls liege sie jetzt nur noch schlapp in der Kuschelecke und habe leicht erhöhte Temperatur. Ob sie jemand abholen könne?

Niemand konnte ihre Kind abholen, …

… außer sie selbst. Also bat Melli drucksend und lächelnd und bettelnd einmal mehr ihre ebenfalls erschöpfte Kollegin, die restlichen Aufräumarbeiten doch bitte allein zu übernehmen. „Und Frohe Weihnachten!“, rief sie ihr noch im Gehen zu, mit den Gedanken bei Selma und geplagt von ihrem schlechten Gewissen. Sie hetzte zurück zur Kita; diesmal war die Straßenbahn pünktlich, aber wieder voll, Melli quetschte sich zwischen die stehenden anderen Mütter, Väter, Omas, Opas, Singles. In der Kita griff sie sich ihre leise weinend an der Garderobe wartende Tochter und ging mit ihr nach Hause. Es hatte aufgehört zu schneien.

Daheim ließ sich Melli erschöpft auf ihr altes Sofa fallen, eine zerschlissene Bequemlichkeit aus dem Sozialkaufhaus. Das fieberschlappe Kind legte den Kopf auf ihren Schoß. Selma hatte keinen Appetit, also schlang Melli selbst das Käsebrot herunter, das sie morgens ihrer Tochter in die Brotzeitbox gelegt hatte. Zur Kinderärztin gehen? Melli entschied sich dagegen. Der Infekt grassierte, es standen Feiertage bevor, an denen sie nicht arbeiten musste. Selma würde sich schon wieder auskurieren. Melli seufzte und strich über die Haare ihrer Tochter, die das stumm und widerstandslos über sich ergehen ließ. Sie griff nach der Wolldecke und deckte ihr krankes Kind zu.

Dauernd diese Hetzerei, Tag ein, Tag aus, ging ihr durch den Kopf. „Ich hab´s so satt“, sagte sie halblaut und spürte wie der ganze Widerwille gegen dieses Leben von ihr Besitz nahm, sich ausbreitete wie ein Farbkleks im klaren Wasserglas. Melli kannte solche Situationen der vollkommenen Erschöpfung, des überbordenden Überdrusses, und sie hatte sich angewöhnt, dann immer an ihre Therapeutin in der Kur zu denken. „Musst Du jetzt hier, auf Deinem Sofa, das schlappe Kind auf dem Schoß, irgendeine Anstrengung aushalten?“, hätte sie gefragt. Und Melli hätte zugeben müssen: Nein. Selma musste sich auskurieren, das Kinderturnen fiel heute ohnehin aus, einkaufen musste auch nicht mehr unbedingt sein. Es war einfach gar nichts mehr zu tun heute, wenn man es zuließ. Vielleicht noch das Lebkuchenhaus, aber dazu musste Selma erst einmal schlafen.

Melli griff zur Fernbedienung, …

… und der Fernseher erwachte. „Wer hat an Heiligabend Namenstag?“ las ein mit einer Weihnachtsmann-Mütze dekorierter Talkmaster die eingeblendete Frage vor. Offenbar waren die grinsenden Quizkandidaten des Lesens unfähig. Es gab auch Antwortmöglichkeiten: A: Jesus und Christus, B: Adam und Eva, C: Josef und Maria.

So ein Blödsinn, dachte Melli, und klickte weiter. Eine gefakte Gerichtsverhandlung. Ein regionaler Krimi. Eine Sendung, in der alter Kram versteigert wird. Ein Billardturnier. Melli schüttelte den Kopf. Wer schaut sich das an? Dann ein Nachrichtenkanal: Zerstörte Häuser, Menschen, die auf Holzfeuer ihr Essen kochen. Eine Warteschlange vor einem Tanklastwagen, die Menschen dick eingemummelt, mit schmutzigen Kanistern, Schnee auf der Straße. „Nachts sinkt hier das Thermometer auf weniger als zwanzig Minusgrade“, sagte die Stimme des Reporters, „und die Luftangriffe haben die Versorgung mit Wasser und Strom zerstört. Diese Menschen werden frieren und hungern, während wir Weihnachten feiern.“ Melli stellte den Fernseher aus und schloss die Augen. Kurz, ganz kurz nur.

********

„Hey Leute, frisch auf in den Morgen!“, …

… tobte der Radiomoderator aus dem kleinen Lautsprecher.

Melli und Selma waren am Abend gemeinsam auf dem Sofa eingeschlafen. Irgendwann war Melli erwacht und hatte ihre schlafheiße Tochter in ihr Bett gewuchtet, sich neben sie gelegt und war sofort wieder weggedämmert. Gegen halb fünf war sie aufgewacht, und der Rest der Nacht war unerfreulich gewesen. Selma hatte sich fiebrig hin und her gewälzt, und Melli konnte allenfalls neben ihr dahindösen. Jetzt schlief ihre Tochter endlich wieder fest. Melli war aufgestanden, um doch noch das Lebkuchenhaus in Angriff zu nehmen. Leise hatte sie die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen, bevor sie das Radio angestellt hatte.

„Hey Leute, es ist 7 Uhr 33 – und wisst Ihr was: Es ist Weihnachten!“ Mit Schmackes trommelte ein hellwaches „Feliz Navidad“ aus dem Radio. „Hey Leute“, meldete sich schon wieder der beneidenswert putzmuntere Moderator, „habt Ihr eigentlich schon Euren Weihnachtsbaum?“ Melli hatte keinen Weihnachtsbaum. Sie hatte keinen Platz. Und für wen sollte sie sich einen Weihnachtsbaum aufstellen?

„Und wisst Ihr überhaupt,…

… woher die Tradition mit dem Baum zu Weihnachten kommt?“, plapperte jetzt der stets Gutgelaunte weiter, „schon irgendeine Idee? Da kommt Ihr nie drauf, Leute, das sage ich Euch, aber ich werde es Euch erzählen – nach der nächsten Musik!“ Die Geigen heulten auf und begleiteten Dean Martin beim Walking durch das „Winter Wonderland“.

Melli nahm das Radio mit in die Küche und kramte in ihrer Vorratsschublade nach der Schachtel mit dem Lebkuchenhaus. Vorsichtig öffnete sie die Packung und holte die gebackenen Lebkuchenplatten heraus. Sie stellte den Puderzucker bereit, und zur Dekoration wühlte sie aus den Untiefen der stets in sicherer Höhe verstauten Süßigkeitenkiste Schokolinsen, Gummibärchen und ein paar Weihnachtskekse heraus, eine angerissene Packung, die sie aus der Bäckerei mitgebracht hatte, weil sie ohnehin nicht mehr verkauft werden konnte.

„Hey Leute, schon eine Idee wegen des Weihnachtsbaums?“, schubste der Moderator seine Zuhörenden aus dem Winter-Wunderland. „Da kommt ihr nie drauf. Null Schnee in der Geschichte. Hat nämlich mit Adam und Eva zu tun. Der Baum stammt aus dem Paradies, Leute, ob Ihr es glaubt oder nicht.“

„We wish you a merry chrismas“, quoll dynamisch anschwellend aus dem Äther. Dann nahm der Mann im Radio den Ton zurück und sagte er es nochmal und sehr betont: „Echt, Leute, aus dem Paradies!“

„Wo ist das Paradies?“ Selma stand mit verquollenen Augen in der Küchentür. Blitzschnell deckte Melli ihre Lebkuchenhaus-Baustelle mit einem Handtuch ab. Sie eilte dem Kind entgegen, das sich willig in ihre Arme fallen ließ. Sie nahm ihre Tochter hoch, spürte ihre Wärme, sog ihren wohligen Geruch ein, und setzte sich an den Küchentisch. Beide Arme und ihr ganzer Oberkörper wärmten das noch schlaftrunkene Bündel. Und wurden gewärmt. Heute keine Kita, keine Arbeit.

„Das Paradies?“ Melli wiegte ihre Tochter sanft hin und her und überlegte. „Das ist echt schwer zu erklären,“ murmelte sie.

Solche Zweifel …

… hatte der Mann im Radio nicht. „Echt jetzt, kein Blödsinn,“ hörte Melli. „Die Christen waren ja sittlich schon immer locker drauf,“ – bedeutungsvolle Pause – „und da haben sie zu ihrem Weihnachtsfest einfach einen anderen alten Brauch übernommen. Eigentlich feierten die Christen nämlich den Namenstag von Adam und Eva mit einem Baum im Zimmer und hingen Äpfel dran. Und als grüne Bäume gab´s bei uns im Dezember eben nur: – Richtig! Tannenbäume! Check! Äpfel, Eva – klingelts da bei Euch?“ Im Radio klingelten die Jingles Bells.

„Die Eva ist auch krank“, murmelte Selma, „die war gestern nicht da in der Kita.“

„Der im Radio meint aber eine andere Eva“, flüsterte Melli ihrer Tochter ins Ohr.

„Hey Leute, das ist doch echt mal eine abgefahrene Geschichte, oder?“, drängte sich die Stimme im Radio wieder über die Musik. „Was wir da heute als Weihnachtskugeln baumeln lassen – Baumeln am Baum, hahahaha,“ freute sich der Spaßige über sein eigenes Wortspiel, „das waren einfach mal Äpfel, Ihr wisst schon, die Geschichte mit der Verführung und dem Apfel und dem Reinbeißen, und wie der Adam auch reingebissen hat, und dann mussten beide sich endlich mal was anziehen und raus aus dem Paradies.“

Wieder loderte kurz die Musik auf, dann redete der Weihnachts-Spaßvogel weiter: „Und deshalb ist Weihnachten eben in Wahrheit ein Paradies-Fest, ok, Leute? Also immer schön fröhlich bleiben und feiern, auch wenn Euch die Kirche egal ist. Auf das Paradies können wir uns schließlich alle einigen.“ Kling klang, kling klang, im Pferderhythmus galoppierten die Jingle Bells davon.

„Wo ist jetzt das Paradies?“, fragte Selma.

Melli grübelte. „Das Paradies, das ist ein Land, in dem alles wunderschön ist, es ist so warm, dass alle Leute nackt rumlaufen können, und alle haben zu essen. Und es gibt keinen Krieg.“ Dann setzte sie hinzu: „So oder so ähnlich muss es gewesen sein im Paradies. Aber das Paradies gibt’s nicht wirklich, leider.“

Selma lehnte sich ganz fest an den Brustkorb ihrer Mutter. Melli rüstete sich auf Nachfragen.

„Gibt’s heute Fischstäbchen?“, fragte Selma dann.

Melli war überrascht. „Kann ich machen,“ sagte sie, „hast Du da Lust drauf?“

„Ja,“ antwortete das Kind. „Die mag ich. Und warm ist es hier drin auch.“

„Ja sicher, wir wollen doch nicht frieren“, sagte Melli und blickte prüfend auf den Heizungsregler unter dem Küchenfenster.

„Die Leute im Fernsehen gestern, die frieren müssen, die leben nicht im Paradies, gell?“ Melli erschrak, sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre fiebrige Tochter am Abend zuvor die Bilder aus dem Krieg wahrgenommen hatte.

„Ja, leider. Das ist wirklich schlimm,“ antwortete sie.

„Aber wir frieren nicht, und haben Fischstäbchen. Dann sind wir ja im Paradies, oder?“, fragte Selma.

Melli lächelte, kam aber nicht dazu, zu antworten, denn es klingelte an der Tür. Schnell setzte sie ihre Schlafanzug-Tochter ab und schickte sie ins Schlafzimmer. „Zieh Dich an“, rief sie ihr hinterher. Ganz offensichtlich war der Fieberschub vorbei.

Melli drückte auf den Türöffner. Wahrscheinlich ein Paketzusteller, dachte sie sich und rechnete bereits damit, dass sie nach unten würde gehen müssen, um nachzusehen. Dann aber nahm sie wahr, dass sich auf den Treppenstufen langsam jemand näherte. Sie spürte, wie die nackten Füße ihrer Tochter sich auf ihre Hausschuhe stellten. Neugierig klammerte sich Selma an ihre Beine; natürlich hatte sie noch immer den Schlafanzug an.

Tannenzweige wurden sichtbar …

… und kamen näher, erst einer, dann mehrere. Dann begriff sie: Vorsichtig und klappernd kroch ein Weihnachtsbaum über die letzte Windung des Treppenhauses nach oben in ihre Richtung. Vollständig geschmückt, rote Kugeln, goldene Sterne, sogar eine Lichterkette war erkennbar. Der Stecker klapperte am Geländer. Drei Stufen vor ihrer Wohnungstüre blieb der Baum stehen.

„Bestimmt habt Ihr keinen Baum“, erkannte Melli die verrauchte Stimme von Jo, dem Spinner. „Vielleicht könnt Ihr den hier brauchen? Habe ich abgestaubt drüben im Einkaufsparadies. Die brauchen den jetzt nicht mehr.“

Vorsichtig lugte Jo am Baum vorbei. „War eine ganz schöne Schufterei mit dem Baum in der Straßenbahn bis hierher.“

„Papa bringt den Paradiesbaum!“ jubelte Selma.

 

 

Allen Leserinnen und Lesern dieser Geschichte wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest.

Die Geschichte des Weihnachtsbaums kann man u.a. hier nachlesen und dabei überprüfen, ob der Mann in Radio Recht hat:

https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Wie-die-Tanne-zum-Weihnachtsbaum-wurde,weihnachtsbaum18.html#:~:text=Der%20uns%20heute%20gel%C3%A4ufige%20Weihnachtsbaum,und%20versprachen%20Schutz%20und%20Fruchtbarkeit.

Weitere Geschichten als #Kulturflaneur finden Sie hier, als #Politikflaneur hier.

 

 

 

Die Geburt der Vernunft (23. Dezember 2021)

Eine Weihnachtsgeschichte aus der Zeit des Omikron

Es begab es sich aber zu der Zeit, dass die Herrschenden sehr dringlich alle Bewohner des Landes aufriefen, voneinander Abstand zu halten und sich impfen zu lassen. Es war seit langem das erste Mal, dass solche Maßnahmen erforderlich waren, denn es war die Zeit des Omikron. So sollte jeder nur dann seine Nächsten treffen, wenn sonst große Not einträte. Und eine jede und ein jeder sollte in die Stadt gehen, in der er lebte, um sich impfen und die Impfung in gelben Heften eintragen zu lassen.

Aber es gab viel Unvernunft im Volke. Manche wollten den Herrschenden nicht folgen, obwohl diese ihr Amt einer ehrlichen Wahl verdankten. Andere suchten ihre Familien und Freunde ohne Vorsicht auf, und gaben damit dem Omikron die Macht über ihr Leben. Viele davon bezweifelten die Wirksamkeit des Impfens oder bestritten diese gar entgegen aller Klugheit. Also zog sich große Verwirrung durch das Volk; fast schien es so, dass keiner mehr des anderen Sprache verstehe.

Josef und Maria machten sich auf den Weg. Sie gehörten zum Volk der großen Stadt und mussten deshalb aus den Hochhäusern an ihrem Rande in das Impfzentrum reisen, das in der Mitte der Stadt lag, um sich dort impfen und eintragen zu lassen. Maria war schwanger, und als sie nach dem mühsamen Weg in die Stadt und nach langem Warten auf ihre Impfung endlich an der Reihe gewesen waren, kam für sie die Zeit der Entbindung.

Das Impfzentrum hatte seinen Ort auf dem Gelände eines großen Krankenhauses, und so brachte Maria mit liebevoll tätiger Hilfe der Hebammen, der Ärzte und Ärztinnen des Krankenhauses, unter lautem Klagen des Schmerzes, aber auch in großer Vorfreude auf das, was sie erwartete, ihr erstes Kind zur Welt. Es war ein Sohn. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn dann in ihr eigenes Bett, das auf dem Flur stand, weil im Krankenhaus sonst kein Platz mehr für sie war.

In der gleichen Nacht hielten viele Frauen und Männer des Krankenhauses Wache bei ihren Patienten. Sie waren sehr müde und erschöpft, denn der Omikron sorgte dafür, dass in unablässigem Strom schwer kranke Menschen in das Krankenhaus gebracht wurden, die alle ihrer Hilfe dringend bedurften. Es waren zu viele, so dass ihre helfenden Hände schmerzten und ihr Geist verhärtete. Und doch mussten die Pflegerinnen und Pfleger, die Ärztinnen und Ärzte Schicht um Schicht im Dienst verbleiben. Oftmals schliefen sie in den Nächten im Dienstzimmer ihres Krankenhauses. Dabei blieben ihnen meist vom Schlaf nur wenige Stunden, bis sie wieder zurück eilten zu den Hilflosen in ihren Intensivbetten.

Fürchtet Euch nicht! Eine aktuelle Lichtinstallation an der Pauluskirche in Stuttgart-Zuffenhausen.

Es waren für diese Frauen und Männer schwere Zeiten voller übermenschlicher Anstrengung. Unter ihnen herrschte auch große Sorge, selbst Opfer des Omikron zu werden. Deshalb hatten viele oft wirre Träume. Eines Morgens ereignete sich, dass sie alle das gleiche geträumt hatten, und sie erzählten sich gegenseitig davon und voller Staunen auch denjenigen, die während ihres Schlafes hatten Wache halten müssen. Plötzlich sei im Schlaf ein Engel zu ihnen getreten, und das Licht der Hoffnung habe ihn umstrahlt. Im Schlaf erschraken die Müden sehr und hatten Angst, aber der Engel sagte zu ihnen: „Ihr müsst euch nicht fürchten, denn ich bringe euch eine gute Nachricht. Heute Nacht ist endlich die Vernunft geboren worden. Ihr werdet sie daran erkennen, dass ihr ein Kind findet, das in Windeln gewickelt auf dem Flur in Eurem Krankenhaus bei seiner Mutter im Bette liegt. Es wird Ratio genannt werden.“ Und dann waren sie im Traum von strahlenden Engels-Heerscharen umgeben gewesen, die alle die Vernunft lobten und riefen: „Ehre und Herrlichkeit und Frieden den Menschen im Land, die uns den Gefallen der Vernunft tun!“

Die erwachten Träumer staunten über die Gleichartigkeit ihrer Erlebnisse in der Nacht und riefen: „Vielleicht haben es nun endlich alle verstanden! Die Vernunft ist geboren! Noch einmal verzichten auf das gemeinsame Feiern und Tanzen, noch einmal zur Impfung gehen, dann gibt es ein Licht der Hoffnung. Dann werden wir den Omikron besiegen und bald ohne Sorge zurückkehren können in unsere Heimatdörfer und Wohnsiedlungen. Wir werden Weihnachten feiern können mit unseren Familien, wir werden singen und tanzen und lachen können und Kraft sammeln und nicht nur Überstunden!“

Dann aber wurde ihnen bewusst, dass sie geträumt hatten, und dass die Engel längst verschwunden waren. Da sagten die Pflegenden zur Ärzteschar: „Kommt, wir gehen durch unsere Gänge und suchen die Mutter und das Kind der Vernunft, das uns geboren wurde!“ Schnell brachen sie auf und fanden Maria, das Kind und auch Josef, der auf einem harten Stuhl neben dem Bette saß und bei seiner kleinen Familie wachte. Als sie es gesehen hatten, erzählten sie, was ihnen im Traum über dieses Kind gesagt worden war. Alle, mit denen sie sprachen, wunderten sich sehr über das, was sie da berichteten. Maria aber bewahrte das Gehörte in ihrem Herzen und dachte immer wieder darüber nach.

Bald gingen die Pfleger und Ärztinnen wieder zu ihren Patienten zurück. Sie waren jetzt voller Hoffnung, die auch trotz ihrer schweren Belastungen nicht schwinden wollte. Zwar zwang der Omikron viele neue Hilfsbedürftige zu ihnen in das Krankenhaus, ohne Unterlass und mehr denn je. Aber immer wieder erzählten sie von ihrem Traum, von den Engeln und davon, dass sie die junge Familie der Vernunft tatsächlich bei ihnen auf dem Krankenhausflur getroffen hatten – ganz so, wie die Engel es vorausgesagt hatten.

Als das Kind acht Tage später beim Standesamt angemeldet wurde, gaben Maria und Josef ihm den Namen „Ratio“, ganz so, wie es die Engel vorhergesagt hatten.

Damals lebte ein im ganzen Land als gerecht und gottesfürchtig geachteter Mann namens Karl. Er wartete schon lange auf die Ankunft der Vernunft, die dem Land endlich Trost und Rettung in diesen Zeiten des Omikron bringen würde. Der hohe Geist des Wissens ruhte auf ihm, aber auch die schwere Last der Verantwortung. Als Karl von Ratios Geburt erfuhr, war er glücklich und besuchte die junge Familie. Danach sagte er: „Mit meinen eigenen Augen habe ich die Vernunft gesehen, die uns herausführen wird aus der Seuche. Die Vernunft ist ein Licht, das die Nationen erleuchten und mein Volk zu Ehren bringen wird, auch wenn sich viele gegen sie auflehnen werden.“

Als Ratio zwölf Jahre alt war, war der Omikron längst vom Volke gewichen. So reisten seine Eltern mit ihm zu den Großeltern und feierten dort ein großes sorgloses Weihnachtsfest, wie es der Sitte entsprach. Viele Freunde und Verwandte waren gekommen, und alle saßen auf engem Raum zusammen, sangen, tanzten und lachten.

Als das Fest zu Ende ging, vermissten Maria und Josef ihren Sohn. Voller Sorge suchten sie ihn im ganzen Haus. Endlich entdeckten sie ihn allein bei den Büchern seiner Großeltern. „Kind“, sagte seine Mutter zu ihm, „wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich verzweifelt gesucht.“ „Warum habt ihr mich denn gesucht?“, erwiderte Ratio. „Wusstet Ihr nicht, dass ich am Ort des Wissens sein muss?“

Ratio wuchs zu einem jungen Mann heran. Er wurde Wissenschaftler. Er forschte und publizierte, war vielen Kämpfen und immer wieder großem Streit ausgesetzt. Sein Platz war immer dort, wo es galt, der Vernunft Geltung zu verschaffen.

 

Vielleicht hat dieser Text Sie neugierig gemacht auf die echte Weihnachtsgeschichte der Bibel. Hier zum Nachlesen: https://www.bibel-online.net/buch/neue_evangelistische/lukas/2/#1

Weitere Texte aus meinem Blog als #Politikflaneur finden Sie hier. Ich wünsche: Frohe Weihnachten!