Job ist Job – Weihnachten in Deutschland

Eine Erzählung

(1)

Ahmed friert. Seit zwei Stunden steht er jetzt bereits in der Dunkelheit, um vier Uhr früh hatte seine Schicht begonnen. Kein einziges Auto, kein LKW, einfach gar nichts, hatte seither Interesse an seiner Wachtätigkeit gezeigt. Dunkelheit, Stille, Kälte – das war alles gewesen, was dieser Morgen bisher für ihn bereitgehalten hatte. „Mach Dir einen gemütlichen Tag“, hatte der Chef gesagt. Lächerlich, meint Ahmed. Das, was die Deutschen mit „gemütlich“ meinen, ist hier nicht herzustellen. Wahrscheinlich ist „gemütlich“ auch sowas aus ihrer Leitkultur. Hat er gehört im Radio, dass es jetzt eine Leitkultur geben soll in Deutschland. Ahmed ist stolz auf seine Deutschkenntnisse nach acht Jahren in diesem dunklen, kalten Land. „Gemütlich“ hatte er gelernt, und auch „Leitkultur“, das hatte er neulich aber extra nachschlagen müssen.

Foto: Stefan Schweihofer lizenzfrei auf Pixabay

Hier auf der Baustelle ist es jedenfalls kalt und schmutzig, nicht gemütlich. Er blickt auf das Handy. Zwei Grad zeigt es an, sechs Uhr, sieben Minuten. Als Wettersymbol langweilt eine kleine graue Wolke.  Ahmed blickt nach oben, aber es ist noch alles dunkel. Keine Sterne, keine Dämmerung. Noch einmal geht Ahmed seinen nächtlichen Rundgang, vorbei am dunklen Bauteil A, der schon fast fertig ist, dann hinüber zu den Gerüsten von B und C. Harter Matsch am Boden, Schalungsbretter, Kabeltrommeln, Baumaterial. Wieder zurück, vorbei am Container der Bauaufsicht, auch stockdunkel. Danach die graue Kiste der Baustellen-Video-Überwachung. „Hier wache ich“, behauptet die Aufschrift neben der Kamera.

Nein, denkt sich Ahmed, hier wache ich.

Ein LKW näherte sich. Die erste Baustellenanlieferung. Ahmed schiebt das Gatter zur Seite, das die Baustellenzufahrt eher symbolisch versperrt, hebt die Hand zum Gruß für — ah, für Sergio. Nie gesehen, den Sergio, denkt sich Ahmed, aber das Schild hinter der Windschutzscheibe macht ja klar, mit wem er es zu tun hat. Die Schrift flackert im bunten Licht eines blinkenden Mini-Weihnachtsbaums, den sich Sergio ins Fahrerhaus gebastelt hat. Wuchtig und blubbernd rollt der Sattelschlepper auf Ahmed zu. Sergio lehnt sich aus dem Seitenfenster. „Wohin …?“, fragt er, wedelt mit einem weißen Blatt Papier, blickt drauf – „C …? Bauteil C?“

Ahmed weist ihm den Weg: Rechts, dann geradeaus, um das erste Haus herum und dort in den Hof zwischen die eingerüsteten Häuser. Das tonnenschwere Gefährt setzt sich in Bewegung, das irrlichternde Weihnachtsbäumchen spiegelt sich in den dunklen Scheiben von Bauteil A. Sergio dankt mit einem lässigen Wink. Auch Ahmed hebt die Hand. Zwischen den Leuten auf dem Bau herrscht freundliche, männliche Klarheit. Ahmed liebt diese Nüchternheit im Umgang miteinander. Er tritt zur Seite, das schwere Gefährt muss ausholen, um in die Kurve zu kommen.

Ahmed schiebt den Zaun zurück in den Eingang. Sein Auftrag ist, hier unter Kontrolle zu halten, wer rein- und rausfährt. Bei Wind und Wetter, Schnee und Regen. Job ist Job, denkt er. Es ist Freitag, noch eine Woche, dann feiern die Deutschen ihr Weihnachten. Das sind Feiertage, keine Arbeit, darauf freut sich Ahmed. Mit den Weihnachtsbäumen überall, dem ganzen Lichtergeglitzer, dem Rummel und der Aufregung, den eiskalten Jahrmärkten, die sie da veranstalten, kann er nichts anfangen. Ihre Leitkultur eben. Schon ok, aber nicht seine Welt. Manche seiner Freunde machen da sogar mit, obwohl sie Muslime sind und Allah doch kein Weihnachten kennt. Ahmed lehnt das ab. Seiner Familie hat er strikt untersagt, sich diesem christliche Wahnsinn irgendwie anzuschließen. Traurig geguckt haben die Kinder, das hatte er schon bemerkt, aber sie hatten nicht zu widersprechen gewagt.

Weihnachten, das ist das Fest der Deutschen, und Ahmed ist kein Deutscher. Ob er jemals zurückkehren wird nach Syrien? Keine Ahnung, jetzt jedenfalls lebt er hier und bewacht ihre Baustellen, aber wirklich dazu gehört er nicht. Das haben die Deutschen ihm oft genug klargemacht, auf den Behörden, in den Kneipen, beim Fußball. Sie nehmen ihn hin, sie „dulden“ ihn und seine Familie, und sie nutzen seine Arbeitskraft, seine Muskeln, für ihre Sicherheit. Auch Selda, seine Frau, brauchen die Deutschen, denn sie lassen sie ihre Behördenräume putzen. Was sollte er sich also um Weihnachten scheren? Die Deutschen kümmern sich ja auch nicht um das Fastenbrechen, wenn der Ramadan zu Ende ist.

Ein schwarzer SUV nähert sich, die Lichthupe flackert auf. Der Chef. Ahmed räumt das Gatter zur Seite, und Pablo rollt über die ruinierte Asphaltschicht auf das Gelände, schlägt scharf rechts ein und kommt direkt neben ihm zu stehen. Pablo ist ein guter Chef, Ahmed hat an ihm nichts auszusetzen. Er ist klar und meistens freundlich. Spanier, vermutet Ahmed, jedenfalls kein Deutscher. Aber EU-Bürger, und das macht einen großen Unterschied. So an die fünfzig Leute kommandiert er herum, teilt sie dort ein, wo die Deutschen sich ihre Sicherheit erkaufen wollen.

„Morgen!“, ruft Pablo beim Aussteigen, „ganz schön ungemütliches Wetter!“ Pablo hat nur einen Pulli über seinem Hemd, hat sich so aus dem geheizten Sitz gewuchtet, kein Wunder, findet Ahmed, dass er es kalt findet. Ahmed hebt die Hand, die in einem Handschuh steckt. Der wattierte Anorak raschelt.

„Alles klar?“, fragt Pablo, erwartet aber offenbar keine Antwort, denn er redet sofort weiter. „Du stehst doch jetzt schon seit – “, Pablo stockt und überlegt – „seit wie vielen? Tagen? Hier draußen?“

„Die ganze Woche. Heute der fünfte Tag,“ antwortet Ahmed, „immer die Frühschicht ab vier. Job ist Job.“

„Ich habe zwei gute Nachrichten für Dich“, strahlt Pablo gutgelaunt und grinst Ahmed an, holt sich eine Zigarette aus der Tasche, steckt sie in den Mund, zündet sie aber nicht an. Rauchen ist verboten auf der Baustelle, fällt ihm wohl gerade ein. Ahmed blickt ihn an. Es dämmert.

„Wenn Du willst, kannst Du ab Montag eine Innenschicht machen. Security im Theater, jeden Abend ab 18 Uhr, bis Schluss ist. Lässiger Job, warm und gemütlich.“

Schon wieder gemütlich, denkt sich Ahmed.

„Warst jetzt lange genug hier draußen in der Kälte“, gibt sich Pablo gönnerhaft. „Innendienst heißt aber auch: Musst Dich benehmen, keine Baustelle. Lauter noble Leute im Theater. Bekommst Du das hin?“

„Wenn Du meinst.“ Was soll diese Frage, ärgert sich Ahmed. Wenn Du mir den Job gibst, bist du ja wohl der Meinung, dass ich mich benehmen kann. Warum auch nicht? „Und die zweite Nachricht?“

„Hast du Lust an Weihnachten zu arbeiten? Ihr feiert doch sowieso nicht? Es gibt Zuschlag.“

Ahmed kann jeden zusätzlichen Euro gebrauchen. Er nickt.

Pablo rupft die kalte Zigarette wieder von seinen Lippen und steckte sie in seine Jackentasche. „Da sind mir zwei Leute ausgefallen, Flüchtlingsunterkunft im Norden. Nachtschicht ab 22 Uhr. Bist Du dabei?“

„Klar, mache ich“, sagt Ahmed.

 

(2)

„Ah, Sie sind der Mann von der Security!“

Ein schlaksiger blonder Hüne, so spindeldürr, dass der Anzug an ihm herunterhängt wie eine Fahne ohne Wind, empfängt Ahmed am Montag im leeren Foyer des Theaters. Ahmed war schon ein paar Mal im Kino, aber noch nie in einem Theater. Der Dünne streckt ihm die Hand entgegen. „Herzlich willkommen!“, sagt er, „am besten zeige ich Ihnen hier schon mal alles.“

Ahmed hat sich für den Inneneinsatz im Theater seine Innen-Dienstkleidung angezogen. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, Dienstjacke mit dem Logo der Firma. Im Foyer ist es bullig warm, Ahmed schwitzt, während er dem Schlaksigen mit seinen langen Schritten über die schallschluckende Teppichbodenwüste des weiträumigen Theaterfoyers folgt.

„Also, hier sind die Zugänge, da gehen unsere Besucher dann rein. Dort die Notausgänge. Da die Garderoben und Toiletten, da entsteht immer ganz schönes Gedränge. Dort ist die Bar, die umlagern dann unsere Besucher in der Pause. Schön hier, nicht wahr?“

Der Theatermann blickt ihn an, und Ahmed nickt unbestimmt.

„Aber damit und auch mit dem ganzen Saaleinlass haben Sie nichts zu tun, das machen alles meine Leute.“

„Und was habe ich zu tun?“, fragt Ahmed.

„Ihrem Vorgesetzten haben wir das ja schon erklärt. Wie haben hier diese Woche ein jüdisches Orchester zu Gast, und es ist nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, dass es in diesem Zusammenhang zu Protestaktionen kommt.“

Ahmed legt sich im Kopf die Worte zurecht: Nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen? Es dauert einige Sekunden, bis er verstanden hat: nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, ah ja, könnte also sein.

Der Mann vom Theater schaut ihn an, mustert ihn, schaut ihm beim Verstehen zu. Er ist mindestens einen Kopf größer als Ahmed, allerdings sichtbar frei von jeglicher Muskulatur.

„Wegen Gaza und so, Sie wissen schon.“

Während er das Wort „Gaza“ aussprach, hatte er den Blickkontakt gelöst und über ihn hinweg geblickt, fällt Ahmed jetzt auf, als richte der Mann vom Theater seine Worte nicht an ihn, sondern an irgendwen, der hinter ihm stand.  Gaza. Natürlich weiß Ahmed. Im arabischen Sender gibt es kaum ein anderes Thema. Grausige Bilder: rauchende Trümmer, blutende Körper auf dem nackten Boden, angeblich in einem Krankenhaus. Explodierende Bomben. Verzweifelte Frauen. Verdreckte Kinder. Soldaten. Ahmed kannte das alles aus seiner Heimat. In Syrien hatten Muslime gegen Muslime gewütet, denkt sich Ahmed, in Gaza wüten Juden gegen Muslime. Seit Jahren schon, immer das gleiche. Hoffnungslos.

Ich mag keine Juden, denkt sich Ahmed.

„Sie müssen also bitte einen Blick auf das Geschehen haben,“ redet der Dünne jetzt wieder, „Sie müssen unterbinden, dass Angriffe im Foyer stattfinden oder Unbefugte auf die Bühne springen, herumschreien oder so.“

Ahmed nickt, fühlt sich aber unwohl. Juden auf der Bühne, denkt er sich, das hatte mir Pablo nicht gesagt. Aber Job ist Job.

„In solchen Fällen üben Sie bitte unser Hausrecht aus,“ hört Ahmed den Mann vom Theater, „dann sorgen Sie bitte für Ordnung, begleiten solche Personen heraus. Vor und nach der Vorstellung behalten Sie das Foyer im Auge, während der Vorstellung haben Sie einen Platz im Saal.“

Der Dünne blickt zu Ahmed herab. „Notfalls müssen wir die Polizei rufen. Die weiß Bescheid und ist in drei Minuten hier.“ Ahmed will nichts zu tun haben mit der Polizei. Er ist nur geduldet.

„Aber wenn nichts passiert, was wir natürlich hoffen, dann haben Sie auch nichts zu tun“, sagt der Dünne.

 

Hier passiert gar nichts, das ist ja hier absolutes Nichtstun, grübelt Ahmed, während er mit langen Schritten durch das Theaterfoyer wandert, immer hin und her von einem Ende zum anderen. Sich benehmen. Nicht auffallen. Job ist Job. Ahmed blickt aufs Handy. Noch eine halbe Stunde bis Vorstellungsbeginn, und ihm ist jetzt schon langweilig. In den dicken Sesselgruppen versinken wohlgekleidete Menschen. Alles Deutsche. Meist alt. Manche balancierten ein Sektglas in der Hand, andere blättern in den Heften, die überall herumliegen. Gedämpftes Geplauder. Ihre Leitkultur, denkt Ahmed. Gemüüütlich. Leitkultur, Leit … Kultur, Leitkultuuur“, murmelt Ahmed vor sich hin. Wenn er sonst nichts zu tun hat, übt er deutsche Worte. „Gemüüütlich, üüü, gemüüütlich, …“

Dann ertönt ein sanfter dreitöniger Glockenschlag – ding, dang, dong -, und die in einer dunkelblauen Uniform gekleideten Damen an den Türen öffnen die Zugänge. Sehr diszipliniert strömen die deutschen Grauköpfe dem dunklen Saal entgegen.

Wofür bin ich hier? Hier passiert doch rein gar nichts, denkt sich Ahmed.

„Ich zeige Ihnen Ihren Platz!“, hört er da die Stimme des Langen vom Theater hinter sich. Ahmed spürt einen kurzen Griff an den Oberarm, und ohne Nachzudenken spannt er seinen trainierten Bizeps an. Der Lange lässt sofort los. Ahmed folgt ihm zur vordersten Tür, ignoriert das Lächeln der blauuniformierten Einlassdame und bekommt einen Randplatz in der dritten Reihe zugewiesen. „Und das Handy bitte ausmachen!“, raunt der Dünne ihm noch zu.

Das Theater ist höchstens halb voll, stellt Ahmed fest. Viele Deutsche sind das wohl nicht, die den Juden zuhören wollen. Ahmed behält das Geschehen im Blick und nimmt sich vor, auch während der Vorstellung mehr in den Saal zu blicken als zur Bühne. Wenn hier einer stören will, dann sitzt er ja wohl jetzt hier irgendwo in diesen Reihen, denkt sich Ahmed. Die Juden auf der Bühne mag er ohne hin nicht. Aber Job ist Job.

Die Blaufrauen schließen lautlos die Türen. Ersterbendes Gemurmel. Das Licht dimmt herab und Ahmed setzt sich.

 

(3)

„Das glaubst Du nicht, was die Juden da im Theater spielen“, sagt Ahmed am nächsten Morgen zu Selda. „Das ist kein Theater. Das ist eigentlich Musik, aber die ist ganz schrecklich. Katzengejaule. Ich habe mich zu Tode gelangweilt. Dazwischen tritt eine Frau auf, die redet mittenrein in die Musik, ruft und schreit irgendwas von Tod und Vernichtung und Schuld, keine Ahnung was das bedeuten soll.“

Selda füllt die Brotzeitboxen für die Kinder. „Gab´s denn Stress?“, fragt sie.

„Nein, überhaupt nicht. Gar nichts. Total langweilig. Alles alte Leute. Das gehörte wohl so, das mit dem Dazwischenreden in die scheußliche Musik. Totenstill war es am Ende, weil die Frau da auf der Bühne was erzählt hat von Gewalt. Stell Dir vor, die hat erzählt, dass es in Deutschland mal Leute gegeben hat, die haben die Kinder ihrer Nachbarn ermordet, einfach so, grundlos, und dann sind sie nach Hause gegangen und haben mit ihren eigenen Kindern zusammengehockt und ihr Weihnachten gefeiert. Als wäre nichts gewesen.“

Ahmed schüttelt den Kopf. „Und wenn ich es richtig verstanden habe, dann hat die Frau den Leuten im Theater vorgeworfen, dass diese Kinder jetzt groß sind, also Erwachsene, und die sollen jetzt deshalb irgendwie ein schlechtes Gewissen haben oder so.“

„Verstehe ich nicht“, sagt Selda.

„Ich auch nicht. Was da auf der Bühne los war, das fand ich jedenfalls total langweilig. Diese Musiker, angeblich Juden, sehen aber ganz normal aus, und dann die böse Frau mit ihren Geschichten. Muss ich mir diese Woche noch viermal anhören. Aber Job ist Job. War auf der Baustelle einfacher.“

Selda schließt die Brotzeitboxen und ruft ihre Kinder.

 

(4)

Ahmed friert wieder. Totenstille auf der Straße. Die Deutschen feiern Weihnachten heute Abend, niemand unterwegs. Sollen sie feiern.

„Kannst Du die Schicht auch allein machen?“, hatte Pablo ihn am Handy gefragt. „Janni hat sich krankgemeldet, und ich bekomme so schnell keinen Ersatz, nicht heute an Weihnachten.“

Klar konnte er die Schicht auch allein machen. Ist halt langweilig. Und gefährlicher, wenn wirklich etwas passiert. Aber was hätte er schon antworten sollen? „Ok“, hatte er gesagt.

„Dafür hole ich Dich morgen früh ab, wenn ich die Ablösung bringe,“ hatte Pablo angeboten. Ahmed hatte durch das Telefon gehört, wie Pablo an seiner Zigarette zog, er konnte den Rauch geradezu riechen, wenn sein Chef ausatmete und die Wolke ins Handy pustete.

„Übrigens,“ hatte er dann ergänzt, „die im Theater waren sehr zufrieden mit Dir. Kannst Dich offenbar benehmen. Vielleicht brauchen sie uns öfter. Wird ja immer mehr gestritten in Deutschland.“

Jetzt also die Unterkunft für Geflüchtete bewachen. Als er ankam aus Syrien, gab´s keine Container. In einer großen Messehalle musste er hausen, stickig und laut war es, aber Ahmed war glücklich, er war im Paradies. Tausendmal besser als die Bomben von Aleppo, tausendmal besser als die Angst, die Erschöpfung in den nassen Nächten auf der endlosen Wanderung durch den Balkan.

Trotzdem arme Kerle, denkt Ahmed, die hier darauf warten, ob sie geduldet werden. In ihrer Leitkultuuuuur. Gar nicht gemüüütlich. Er blickt aufs Handy: Minus zwei Grad, Schneeregen. Sekunden später sickert das Nass der ersten Flocken durch seine Haare auf die Kopfhaut. Job ist Job, bringt Extrageld, da muss ich durch. Er zieht seine Kapuze über und macht sich auf die Runde. Drei Minuten benötigt er dafür, die eingezäunte Containersiedlung zu umrunden. Jede Stunde sollte er es viermal machen, alle fünfzehn Minuten.

Der Schnee schmilzt sofort, wenn er auf den Boden fällt. Seit Tagen reden die Deutschen davon, ob es „weiße Weihnachten“ geben könnte. Auch sowas von ihrer Leitkultur. Ihm ist das egal, für Ahmed gibt es nur nasses oder trockenes, kaltes oder warmes Wetter. Jetzt war nasses, kaltes Wetter, und das ist die schlechteste Kombination, wenn man draußen herumstehen muss. Ahmed blickt zu den Containern hinüber. Überall Licht, zu hören ist aber nichts. Gut so, denkt sich Ahmed. Security bei Flüchtlingsunterkünften ist nicht beliebt. Immer wieder streiten die Leute untereinander, oder es kommen Deutsche, die Ärger machen wollen. Heute hoffentlich nicht, denkt Ahmed. Die Deutschen sind beschäftigt mit ihrem Weihnachten.

Da entdeckt Ahmed eine offene Containertür, das Fester daneben ist dunkel. Er tritt heran, klopft, ruft, leuchtet mit seiner Stablampe herein: Ein Stockbett, ein Tisch, zwei Stühle. Ein Schrank mit offenstehenden Türen. Alles leer. Nicht belegt. Offenbar hat jemand vergessen, den Container abzuschließen. Ahmed zieht die Tür zu und setzt seine Runde fort.

Foto: Nile lizenzfrei auf Pixabay

 

Zwei Stunden später hat es aufgehört zu schneien. Jetzt ist der Himmel klar, einige helle Sterne funkeln herab, aber viele von ihnen sind nicht zu sehen, weil eine Straßenlampe den Eingang zur Containersiedlung hell ausleuchtet, ein greller Lichtkegel. Ahmet tritt in das Licht, als er von seiner zehnten Runde zurückkehrt.

„Da, da, da ist jemand!“, hört Ahmed die Stimme einer Frau, von irgendwoher im Dunkel um ihn herum. Ahmed blickt sich um, sieht nichts, tastet in einem Reflex nach seinem Elektroschocker. Es ist mitten in der Nacht, was war das für eine Stimme?

„Da, schau doch!“, hört Ahmed. Aus dem völligen Dunkel tritt eine schwangere Frau in den Lichtkegel.

„Hallo“, ruft Ahmed, „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

Jetzt wird auch ein Mann sichtbar, der hinter der Frau hertappt, schwarze Haare, ein Bart, lange Locken, ein kleines tellerförmiges Hütchen auf dem Kopf. Er hat ein Handy in der Hand, das Display leuchtet.

„Sei vorsichtig“, sagt der Mann. „Wir sind hier nicht erwünscht, denk immer dran.“

Ahmed geht auf das seltsame Paar zu. „Was wollen Sie hier?“

Die beiden weichen zurück. „Wir sind auf Herbergssuche. Wir brauchen einen Platz für die Nacht,“ stammelt die Frau. „Und bald wird mein Kind kommen. Wir können nicht mehr weiterlaufen.“

„Dieser Mann wird uns töten,“ sagt der Mann.

„Nein“, ruft Ahmed. „Ich töte niemanden. Ich bin von der Security. Ich sorge für Sicherheit. Das ist mein Job hier in Deutschland.“

Zögernd nähern sich die beiden wieder. Die Schwangere weint. „Ich kann nicht mehr,“ jammert sie, „immer auf der Flucht. Es geht nicht mehr.“ Sie lehnt sich an ihren Mann und reibt sich die Augen. Der Fremde nestelt an seinen seltsamen Locken herum und hält Ahmed sein Handy unter die Nase. „refugee accomodation“ steht dort. Der blaue Punkt daneben blinkt. Ziel erreicht.

Schweigend stehen sie sich gegenüber, ein paar Sekunden vielleicht. Dann umfasst der Gelockte mit dem Hütchen die Schultern seiner Frau, und wendet sie herum. „Komm, wir gehen weiter“, sagt er.

„Für eine Nacht,“ ruft Ahmed dem rätselhaften Pärchen hinterher und winkt. „Ist ja schließlich Weihnachten.“ Er geht voraus, öffnet die Tür zu dem leeren Container und weist die beiden mit einer Kopfdrehung hinein.

 

(5)

Sechs Uhr, Feiertag. Es ist noch stockdunkel, und dazu klirrend kalt. Ahmed steigt in den SUV, während sich die beiden Kollegen, die ihn ablösen, auf ihre erste Runde machen. Pablo hatte sie mitgebracht und angeboten, Ahmed zur Bahn zu bringen.

„Gab´s was Besonderes?“, fragt Pablo.

Die Straßen sind leer. Dünne Nebelschwaden wabern in der Dunkelheit. Beim Vorbeifahren erfasst ein Bewegungsmelder den SUV und löst eine bunte Lichterkette aus, die sich plötzlich blinkend um ein Supermarktschild schlingt. „Merry Christmas“, blinkt es.

„Nein,“ sagt Ahmed. „nichts Besonderes. Job ist Job.“

 

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Der Abschnitt über die Theateraufführung war inspiriert von einem Erlebnis, das ich im Schauspiel Stuttgart hatte: Konzert und Lesung „Kofflers Schicksal“ mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich und der Schauspielerin Jelena Kuljic von den Münchner Kammerspielen (am 3. Dezember 2023). Weitere Konzerte dieser Art finden u.a. am 24. Januar 2024 in Deggendorf, am 1. März in Dresden und am 14. April in Düsseldorf statt, siehe Konzertkalender.

„Der Paradiesbaum“ – meine Weihnachtsgeschichte vom letzten Jahr finden Sie hier. 

 

 

 

 

Aktuell kein Messias in Sicht

Eine politische Textarbeit über Händels Oratorium „Messiah“

Herbstregen in Deutschland. Die Tropfen platschen auf die Windschutzscheibe, breiten sich aus, bis der unermüdliche Wischer sie zur Seite schaufelt. Es dämmert ungewohnt früh. Ah, Sommerzeit vorbei, erinnert sich der Kirchgänger. Stimmt, heute Morgen länger geschlafen. Dafür muss man jetzt den Preis bezahlen: Es ist dunkel, wenn es noch hell sein sollte. Finsternis jetzt, Dunkelheit überall.

Ein Windstoß treibt einen Schwall brauner Blätter über die Straße, eines davon verfängt sich im Blech unterhalb der Scheibe, will sich dort festhalten, aber der Fahrtwind zerrt es auf das rutschige Glas, wo es der Wischer zur Seite schiebt. Kein Halt auf dem Glatt, da segelt es fort, zur Seite, irgendwohin, seinem fauligen Tod entgegen.

Wegschauen ist auch keine Lösung

„Die Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wird immer schlimmer“, nimmt sich der Nachrichtensender im Autoradio wichtig. Nichts neues also, denkt sich der Kirchgänger, nichts neues nach den Meldungen der letzten Tage. Vielleicht die Bilder gar nicht mehr ansehen? Die Bilder von den blutigen Betten, in denen Menschen ermordet wurden? Keine Kamerafahrten mehr ertragen? Keine Videos voller zerbombter Trümmer, panisch rollender Krankenwagen, blutiger Pritschen mehr zur Kenntnis nehmen?

Andererseits: Wegschauen ist auch keine Lösung.

Der Kirchgänger drückt auf den Knopf, der das Radio abstellt. Mit welchem Recht fahre ich hier herum, satt und sicher, geht ihm durch den Kopf, während er einen Parkplatz sucht. Was soll ich hier, während überall die Menschen sterben, um ihr Überleben kämpfen. In Israel. In Gaza. In der Ukraine. Und an tausend anderen Orten auf der Welt. Im strömenden Regen steigt er aus, fummelt seinen Schirm heraus. Autos zischen vorüber. Da erwischt ihn ein Schwall Wasser von hinten. Zu spät springt er zur Seite. Es gibt keine Sicherheit mehr.

Barocke Klänge füllen die Friedenskirche

Als er die Kirche betritt, die „Friedenskirche“ heißt, wartet kein Gottesdienst. In Gottesdienste geht der Kirchgänger schon lange nicht mehr. Aber in Kirchen geht er gerne, oft sucht er dort die Stille des Raumes, das Glück des Lichts, den Duft der Kerzen. Heute lockt ihn die Musik, die den Raum füllen wird. „Messiah“ heißt das Werk, das zur Aufführung kommt.

Die Friedenskirche füllt sich schnell. Dann erstirbt das Surren der geflüsterten Gespräche und das Rascheln der Jacken und Mäntel um ihn herum. Die barocken Klänge dringen auf den Kirchgänger ein, sie bohren sich in ihrer berechenbaren Gefälligkeit in seine Sinne. 275 Jahre ist es her, dass das gottesfürchtige Oratorium von Georg Friedrich Händel in Dublin erstmals erklang. Zweieinhalb Stunden wird es dauern.

Eigentlich warten Christen wie Juden gleichermaßen

Der Kirchgänger liest mit, was da gesungen wird, und vielleicht ist das ein Fehler in diesen aufgewühlten Zeiten. Wer geht schon wegen des antiquierten Textes in ein Oratorium aus der Barockzeit? Da geht es doch um die Musik, um die schönen Stimmen, um den wuchtigen Chor! Aber er kann nicht anders, er muss auf Deutsch lesen, was in Englisch zu hören ist.

Ein Messias ist wörtlich übersetzt ein „Gesalbter“, hier in einer Darstellung aus dem 3. Jahrhundert n.Chr.: Samuel salbt David; Wandmalerei in der Ruinenstadt Dura Europos, heute Syrien, nahe der irakischen Grenze. Foto: gemeinfrei aus Wikipedia

Die Geschichte, die erzählt wird, ist ein Kirchenstreit der Jahrtausende. Der Kirchgänger kramt in seinem abgespeicherten Halbwissen. Der Messias, das ist doch der, auf den die Juden noch warten? Für die Christen war er schon da, in Gestalt von Jesus Christus. Andererseits: Auch für die Christen soll er nochmal wiederkommen. Also eigentlich warten beide. Unstrittig sollten also in heutigen aufgeklärten Zeiten zwei Dinge sein: Erstens, dass die Idee ursprünglich jüdisch ist, wonach ein Messias, ein „Gesalbter“, die Menschen aus ihrem Zustand erlösen könnte. Und der Zustand ist schlecht, denn da steht es doch im Text: „Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich, und Dunkel die Völker“.

Und zweitens, dass er auf alle Fälle kommen oder wiederkommen wird: für die Christen erneut, für die Menschen jüdischen Glaubens erstmals. Händels „Messiah“ erzählt aber fromm nur die christliche Version der umstrittenen biblischen Geschichte. Suchend blättert der Kirchgänger vor und zurück im Textheft – kein Hinweis auf die jüdische Sicht. Sicher zu viel verlangt in einer christlichen Kirche, räumt er ein.

Der Kirchgänger schreckt auf: „Halleluja!“ wird gejubelt.

Ganz verloren war der Kirchgänger in der meditativen Folge der Klänge, ganz abgeschweift in seinen Gedanken. Da ruft ihn der Chor lautstark zurück: „Halleluja!“, wird gejubelt. Anschwellend, von den Trompeten und Pauken unterstützt, ansteigend, wuchtig, füllen die Töne des geistlichen Gassenhauers die Kirche, rollen immer wieder neu über die Konzertbesucher hinweg. Halleluja! Halleluja! „Der allmächtige Gott regiert, wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit! Halleluja!“

Vielleicht besser nicht, werden sie denken in Tel Aviv, wo sie sich vor den Bomben der Hamas in die Keller flüchten müssen. Oder bei uns, wo Menschen jüdischen Glaubens sich nicht mehr mit Kippa auf deutsche Straße trauen. Oder in der Ukraine und in Gaza, wo Hilfe fehlt für die Kranken und Alten, für alle, die schutzlos die Folgen tragen müssen in Kriegen, die ohne ihr Zutun über sie gekommen sind.

Keine gute Zeit für ein christliches Halleluja, meint der Kirchgänger. Müde folgt er dem weiteren Verlauf des Oratoriums. Die edlen Töne tragen ihn fort, die Auferstehung der Toten wird verhießen, der Sieg des ewigen Lebens über das irdische Sterben. Dann schließlich singt der Chor vielstimmig: „Amen“. Beifall brandet auf, anfangs schüchtern, dann immer stärker. Ermattet klatscht auch der Kirchgänger. Seit Monaten haben die wackeren Sänger, das feinsinnige Orchester, der engagierte Chor das alte fromme Werk eingeübt, Note um Note, Ton um Ton. Nichts haben sie mit seinen Textzweifeln zu tun.

Noch immer herrscht Finsternis und Dunkel

Noch immer Finsternis und Dunkelheit rund um die Friedenskirche. Autos brausen vorbei, Konzertbesucher strömen auseinander in ihre verwöhnte Welt, in der Frieden herrscht und Freiheit dazu. Es hat aufgehört zu regnen. „Heute wieder antisemitische Demonstrationen in deutschen Innenstädten“, meldet das Autoradio. „Die Polizei griff ein und beschlagnahmte verbotene Flaggen und Spruchbänder, die das Existenzrecht Israels in Frage stellten.“

Der Kirchgänger schaltet das Radio ab. Kein Messias in Sicht. Und wir singen hier Halleluja? Nein, nein, denkt er sich. Das passt nicht.

 

Erlebt habe ich die Aufführung des „Messiah“ von Georg Friedrich Händel (Link führt zu weiteren Informationen auf Wikipedia) durch die Kantorei der Karlshöhe in der Friedenskirche Ludwigsburg am 29. Oktober 2023. Mehr über das Konzert, die Mitwirkenden und Bilder davon auf der Webseite der Kantorei Karlshöhe. 

Die Friedenskirche in Ludwigsburg ist auch Teil meiner Sammlung der #1000Kirchen, nämlich als #51.

 

 

Ausgeträumt. Ein Weckruf an meine Generation

Israel, umringt von Todfeinden, muss um seine fragile Sicherheit bangen, mehr denn je. In Europa überfallen aggressive Staaten ihre Nachbarn. Und in Deutschland ist es erfolgreich, mit  rechtsradikalen Parolen aufzutreten. Es ist Zeit zum Aufwachen für eine verträumte Generation. 

Als wir noch glaubten, die Welt könnte sich zum Besseren wandeln, da wähnten wir uns fast glücklich. Aufgewachsen nach dem Krieg, gnädig geschont von der „späten Geburt“ (Helmut Kohl) haben wir die Verheerungen der Bomben und der Schuld in den Seelen unserer Eltern und Großeltern besichtigt. Aber wir sahen vor allem, wie die Wunden verheilten, die Trümmer verschwanden, der Wohlstand sich ausbreitete.

Hinter dem „Eisernen Vorhang“, der Europa teilte, lag das Reich der Finsternis, ein paar Mal flackerte die Gefahr auf, dass sich an der Nahtstelle zwischen unserer und deren Welt etwas entzünden könnte, aber es kam niemals wirklich dazu. Unsere misstrauisch beäugten amerikanischen Freunde schützten uns mit ihren Atomwaffen. Und als sie aus Vietnam vertrieben wurden, fanden wir das auch irgendwie richtig.

Die Gründung des Staates Israel, so lernten wir, war auch eine Antwort darauf, dass unsere Erzeuger sich beispiellos mörderisch vergangen hatten am migrantischen  Kulturvolk der Juden. Israel musste seither mehrfach um sein Bleiberecht auf biblischem Boden kämpfen. Eine Gewissheit schien es uns, dass es dabei unter amerikanischem Schutz stets erfolgreich sein würde.

Ausgeträumt! Nichts wird so bleiben, wie es ist, und es wird uns Geld kosten. Viel Geld. Foto: Sarah Richter, lizenzfrei auf Pixabay

 

 

 

 

Mehrfach überschüttete uns das Glück

Mehrfach überschüttete uns das Glück. Der Staat der Juden vergaß die Gräuel der Nazis nicht, aber konnte sie uns verzeihen. Deutschland und Israel schlossen Freundschaft. Zwar wuchsen wir in einem geteilten Land auf, aber damit hatten wir uns abgefunden. Und sogar diese Last wurde uns genommen, als die deutsche Mauer zu nutzlosem Beton wurde. Freudetrunken stürmten wir unüberwindlich geglaubte Grenzen. Die einen staunten über die Sonne am blau glitzernden Mittelmeer, die ihnen lange unerreichbar gewesen war. Und die anderen konnten endlich problemlos dorthin fahren, wo die eigenen Eltern geboren waren, durften die schönen Städte an der Ostsee kennenlernen, vielleicht sogar die prächtigen Metropolen Russlands besuchen.

Ja, es gab auch Irritationen

Ja, es gab auch Irritationen in diesen glücklichen Jahren. Im Balkan fielen die Völker übereinander her. Und unser Blick auf die Welt sah großzügig über die globalen Ungerechtigkeiten hinweg, obwohl es genau diese waren und sind, denen wir eine ständige Mehrung unseres Reichtums verdankten. Wir bildeten uns ein, dass der heiße Stein der globalen Armut mit dem Tropfen unserer Entwicklungsarbeit abkühlen könnte.

Während unser Reichtum wuchs, glitten die Flugzeuge immer preiswerter dahin. So stiegen wir ein, staunten über das orientalische Bunt, das asiatische Jing-Jang, die fremde Tierwelt Afrikas, die glühenden Sonnenuntergänge Australiens und die plastikverliebte Luxuspracht der Amerikaner.

Und nun ist es vorbei

Und nun ist es vorbei. Ausgeträumt! Die verwöhnte Generation muss aufwachen.

Die hitzig flackernden Displays der globalen Vernetzung erzählen den Verzweifelten dieser Welt, wie wir leben: Wie die Maden im Speck. Ein Stück davon, eine Chance darauf, wollen auch sie. Warum sollten sie es nicht versuchen? Migration war schon seit biblischen Zeiten ein Ausweg aus purer Not. Das jüdische Volk lehrt es uns. Und noch vor gut hundert Jahren waren es die Europäer, die von feudal verursachter Armut vertrieben wurden. Voller Hoffnung brachen sie auf in die keineswegs unbesiedelten Weiten der „Neuen Welt“.

Und dann lockt auch noch die Freiheit. Millionen sind es auf dieser Welt, die jedes Wort wägen müssen in den Diktaturen, die keine Freiheit darüber haben, was sie anziehen und ob sie ihre Haare verhüllen wollen oder nicht, die nicht frei sprechen und handeln können, die nur flüstern dürfen auf ihrer Flucht vor dem eigenen Staat. Sie alle suchen ihre Chance. Sie nehmen dafür in Kauf, ihr ganzes Hab und Gut windigen Schleusern in den Rachen zu werfen, um dann doch zu ertrinken, erschossen zu werden, zu verdursten auf der Suche nach Löchern in unseren Grenzzäunen. Sie handeln nicht anders als die vielen Deutschen, die in den dumpfen Jahren der Wachtürme und Selbstschussanlagen den schnellen Tod riskierten für ihre Freiheit.

Es wird nicht aufhören

Ausgeträumt! Es wird nicht aufhören damit.

Die Chancenlosen, Verzweifelten, Hoffnungsfrohen dieser Welt werden weiterhin zu uns kommen, werden Wege finden für ihre Chance auf Glück und Leben und Freiheit, egal, ob wir ihnen Sozialleistungen kürzen, Bezahlkarten statt Geld verordnen oder Grenzkontrollen in den Weg stellen. Wir werden sie nicht aufhalten, jedenfalls nicht zu Bedingungen, die unser Gewissen beruhigen.

Ausgeträumt! Wir haben die Ressourcen des Planeten mithilfe korrupter Mördereliten ausgeplündert, die zufällig Herren über die flüssigen und gasförmigen Schätze der Erde wurden. Jetzt wollen wir auch noch die gleiche Clique dafür in den Dienst nehmen, uns die Flüchtenden aus aller Welt vom Hals zu schaffen. Es wird nicht gelingen.

Gierig haben wir Luft und Wasser vollgepumpt mit Giften, die Meere verseucht, Tiere ausgerottet oder versklavt, die Gletscher und Polkappen zum Schmelzen gebracht. Es sind auch unsere Überschwemmungen, unsere Dürren, unsere Waldbrände, die immer mehr Menschen weit fort von uns aus purer existentieller Verzweiflung dorthin treiben, wo ihnen ein lebenswertes Leben noch möglich erscheint: In den Norden, zu uns.

Wir sind Süchtige

Ausgeträumt! Unsere Demut haben wir verräumt in die hinterste Ecke unseres satt gefüllten Vorratsschranks. Wir sind Süchtige. Süchtig nach Öl und Gas, süchtig nach unserem billigen Vorteil. Wir fürchten um unsere Glitzerpaläste und Einfamilienhäuser, und delirieren davon, dass unser altes Glück zurückkehren könnte. Unsere Freiheit halten wir für selbstverständlich, und die Demokratie, so glauben wir, gibt es bei möglichst wenig Steuern fast gratis dazu.

Jetzt aber ist Schluss.

Die finsteren Mächte greifen zu und verwandeln unsere Welt, als wäre sie die Kulisse einer Grusel-Serie auf Netflix. Diese Monster sind echt: Sie fallen her über unsere Welt, sie massakrieren ihre Nachbarn in der Ukraine und in Israel, vielleicht bald auch im Kosovo oder anderswo. Sie bauen ihre perfiden Unterdrückungsregime aus mit den digitalen Waffen gegen das eigene Volk. Und auch manche Demokratie wankt schon unter dem populistischen Druck der gewissenlosen Rattenfänger, die versprechen, dass es so bleiben könnte, wie es ist. Die bösen Mächte wissen um unsere Träume, sie kennen unsere fettleibige Bequemlichkeit, sie lachen uns aus.

Lauter wird der Wecker nicht klingeln

Aufwachen! Lauter wird der Wecker nicht mehr klingeln.

Unser Wohlstand wird nichts Wert sein, wenn die Hitze die Felder versengt und das Wasser die Plantagen davonschwemmt. Unsere Freiheit wird verloren gehen, wenn wir nicht entschlossen für sie eintreten. Der Kampf für Demokratie entscheidet sich nicht daran, ob wir gendern oder Cannabis legalisieren, er wird nicht an der Fleischtheke verteidigt oder mithilfe der Radarfallen auf der Autobahn. Für gleichmacherische Phantasien der Sozialromantiker ist kein geeigneter Zeitpunkt, denn wir brauchen Initiative und Tatendang. Der Rückwärtsgang der Ewiggestrigen führt uns in den Abgrund.

Nichts wird bleiben

Ausgeträumt!  Entschlossen handeln werden wir müssen, um die Trümmer unserer Träume aus dem Weg zu räumen. Sonst werden wir ersticken an unserer bürokratischen Trägheit, an faktenfreier Streitlust, am Hin- und Herschieben von Verantwortung.

Respekt müssen wir haben für Polizei und Bundeswehr, wenn sie die Waffen zur Verteidigung unserer Freiheit bedienen und sich in unseren Dienst stellen. Respektvoll willkommen heißen müssen wir diejenigen, die unsere Pflegeheime, Krankenhäuser und Industriehallen, unsere Rentenkassen und Steuern mit ihrer Schaffenskraft füllen sollen.

Ausgeträumt! Es wird uns Geld kosten, viel Geld. Nichts wird so bleiben, wie es ist. Aber es ist unsere einzige Chance.

 

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