Zur aktuellen Lage der katholischen Kirche
Bist du es, Du Partner in einer Liebe, der Du noch niemals schuldig geworden bist gegenüber Deiner oder Deinem Liebsten? Dann wirf den ersten Stein!
Oder vielleicht Du, Du Vater oder Mutter, weil Du glaubst, in der Erziehung Deiner Kinder alles gänzlich fehlerlos gemacht zu haben? Bist du es, Du Chefin oder Vorgesetzter, weil Du Dir sicher bist, niemals falsche und ungerechte Entscheidungen getroffen zu haben?
Dann wirf den ersten Stein!
Und Du, Du Wohlstandsbürger mit Haus und Auto und Aktion im Depot, hast Du Dich ganz sicher niemals versündigt an denen, die weniger Glück hatten als Du? Bist du sicher, dass Dein Leben und Handeln jederzeit unschädlich gewesen ist für den Planeten, für die Lebensgrundlagen Deiner Nachkommen?
Wer nicht wirft, weiß um die eigenen Fehler
„Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“, sagt in der berühmten Geschichte aus dem Johannesevangelium Jesus zu den selbstgerechten Tempelbrüdern, als sie eine angebliche „Ehebrecherin“ zur Aburteilung vor den Altar zerren. Die Aufforderung „… werfe als erster einen Stein…“ ist ein schneidendes Urteil über die Selbstgerechtigkeit der vermeintlichen Rechthaber, der Schnell-Urteiler, der Immer-alles-genau-Wisser. Wie aktuell diese Kritik in den Zeiten von Hass und Häme im Netz ist, wissen alle, die schon mal Gesteinigte waren wegen ihres Aussehens, ihrer Meinung, ihres Geschlechts. Wer nicht wirft, weiß um die eigenen Verfehlungen und Irrtümer. Und setzt auf die Kraft der Vergebung als sanfte Energie, als Reparaturkitt für unser Zusammenleben.
Der Kirche steht ein schwerer Weg bevor
Hat derzeit auch die katholische Amtskirche ein Anrecht auf Vergebung? Es fällt vielen Katholiken schwer, darauf schnell zu antworten. Die Last, die ehemalige und noch tätige Amtsträger der Kirche bis hinauf zum emeritierten Papst durch eigenes Handeln und Versagen auf sich geladen haben, ist tonnenschwer. Dieser Text wird ihnen nicht ein Gramm dieser Last von den Schultern nehmen. Nein, dieses Kreuz müssen selbstgerecht wegschauende Bischöfe genauso tragen wie kranke oder kriminelle Männer der Kirche, die sich vergangen haben an Leib und Seele von Kindern. Sie müssen es schleppen, den ganzen Kreuzweg der Verantwortung hinauf. Sie müssen den klagenden Blick der Opfer aushalten und für Ausgleich sorgen.
Sie müssen unser schimpfendes Geschrei erleiden und erhören, dass sich etwas ändern muss in dieser Kirche. Es muss schnell vorbei sein mit autoritär-frömmelnder Besserwisserei gegenüber alternativen Lebensentwürfen, mit Ungleichbehandlung von Frauen, Zwangs-Zölibat oder rechtlichen Privilegien.
Das wird ein schwerer Weg, auf den sich diese Kirche und diejenigen, die in ihr das Kreuz der Verantwortung tragen, begeben müssen. Immerhin: Die Kirche geht einen solchen Kreuzweg nicht zum ersten Mal. Schon oft wehrte sie sich in den 2000 Jahren ihrer Geschichte allzu hartnäckig gegen Reformen und war blind für notwendige Modernisierungen. Sie quälte sich mit Veränderung und fand erst oft viel zu spät zur demütige Erkenntnis des eigenen Irrwegs. Und doch erlebte sie schließlich Vergebung.
Vor dem Urteil: Ein neuer Zeuge!
Manche Selbstgerechten unserer Zeit sehen jetzt, nach lauter Anklage und offensichtlicher Schuld, die Stunde für ein Urteil gekommen: Kirchenaustritt! Ein schneller Gang zum Standesamt, eine stolze Unterschrift, Geld gespart, und plötzlich reinen Geistes damit, dass man mit dieser verkrusteten Bande der alten Männer nichts mehr zu tun hat.
Vor dem endgültigen Urteil wird hier in den Zeugenstand gerufen: Franz Reinisch. Der katholische Priester wurde 1903 in Vorarlberg (Österreich) geboren, nach einem begonnen Jura-Studium entschied er sich für ein Leben als Geistlicher. 1928 wurde er in Innsbruck zum Priester geweiht. Der weitere Weg führte ihn nach Deutschland, in die Barbarei des Nationalsozialismus. Schon 1939 positionierte er sich gefährlich eindeutig: „Den Eid, den Soldateneid auf die nationalsozialistische Fahne, auf den Führer, darf man nicht leisten. Das ist sündhaft. Man würde ja einem Verbrecher einen Eid geben.“
Man kann die erschütternd traurige Geschichte von Franz Reinisch leider in wenigen Worten weitererzählen: Wegen seiner klaren Gewissenshaltung gegen die NS-Ideologie wurde er aus der seelsorgerischen Tätigkeit entfernt. Als einziger katholischer Priester weigerte er sich – den sicheren Tod vor Augen -, einen Fahneneid auf den „Führer“ zu schwören. Er wurde wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt und am 21. August 1942 in Brandenburg hingerichtet.
Wie viele Gerechte braucht die katholische Kirche?
Franz Reinisch, ein Gerechter in der Kirche. Es gibt derer viele mehr, in allen Religionen. Vor der Zerstörung der biblischen Hochburgen des sündigen Lebens, Sodom und Gomorrha, einigen sich Gott und Abraham darauf, dass die vielen Opfer dieses göttlichen Gewaltaktes dann nicht mehr zu akzeptieren wären, wenn es wenigstens zehn Gerechte – also Gute – unter den sündhaften Bewohnern gäbe. Wie viele Gerechte braucht die katholische Kirche, damit man sie nicht in Gänze verdammen muss? Es wird mehr als zehn geben.
Es ist nicht so einfach mit einem messerscharfen und pfeilschnellen Urteil über die katholische Kirche. Ist es dann also schon Zeit, den Arm zu strecken, auszuholen, den Stein des Kirchenaustritts zu werfen?
Termine beim Standesamt sind ausgebucht
Termine beim Standesamt für den Kirchenaustritt sind gerade ohnehin ausgebucht, online zugeschlagen hat die flinke Schar der Selbstgerechten. Noch bleibt genügend Zeit, sich diesen letzten Schritt gut zu überlegen.
Daher ein Vorschlag: Mal wieder reingehen in eine Kirche, vielleicht am besten in eine alte. Den Raum wirken lassen. Seine stille Strenge einatmen. Kurz hinsetzen, Handy ignorieren, mal dran denken, was alles vorbeigezogen ist an diesen Steinen, an diesen Bildern, an diesen bunten Fenstern: So viele Irrtümer! Die blinden Mörder der Kreuzzüge, die korrupten Päpste und machtgierigen Bischöfe des Mittelalters, die versagenden Kirchenführer unserer Zeit.
Es kommen auch vorbei die ungezählten Momente der Not und Hoffnung für Kranke, Trauerende, Hungernde, Leidende. Die vielen Gerechten trotten vorbei, die ganz großen wie Franz Reinisch, und auch die vielen kleinen, die einst Juden versteckt haben und heute Kirchenasyl gewähren oder den Obdachlosen helfen bei Hunger und Kälte.
Bist du es, der da sitzt?
Diese Mauern waren stumme Zeugen des Irrtums und der Veränderung, und sie werden es noch sein, wenn immer neue Selbstgerechte sich schuldig machen, auf Vergebung hoffen, und immer wieder andere Gerechte die Welt besser machen.
Bist Du es, der da sitzt? Dann bleib dort, halte inne, wenigstens einen Moment. Und wenn Du Dich dann noch immer frei glaubst von Schuld, unfähig fühlst zur Vergebung – dann wirf den Stein.
Über den katholischen Priester Franz Reinisch gibt eine eigene Website mit vielen weiterführenden Informationen und Fotos: www.franz-reinisch.org
Anregungen für einen Kirchenbesuch gerne aus meiner Sammlung #1000Kirchen, auch wenn es bisher erst 25 sind.
Ein sehr bewegender und zugleich klarer Text, den sich sich die zu Recht an der herrschenden Amtskirche Zweifelnden gerne einmal anhören sollten. Eine tiefere Reflexion gerade in einer Kirche ist eine frei verfügbare Meditationsübung.
Ich hoffe der synodale Weg in den deutschen Bistümern wird in Sachen Pflichtzölibat, gleichberechtigter Mitwirkung all der tatkräftigen Frauen und der Akzeptanz anderer Lebensentwürfe kräftig vorankommen. Der Abriss der Kirche, so wie Bischof Marx und andere das befürchten, ist sonst leider nicht abwendbar!