12 Berliner Lektionen (30. Juni 2021)

Drei Monate in der Hauptstadt, und kein Ende der Chancen in Sicht. Der Flaneur ist nicht fertig mit dieser Stadt, aber seine Berliner Zeit ist erst einmal vorbei. Was lernt ein Stuttgarter nach drei Monaten in Berlin?

Rechne mit allem

Ein halbnackter Indianer mit Federschmuck auf dem Gehweg neben Dir? Nur kein Aufsehen deshalb. Ein Häufchen Demonstrierender quert mit dröhnendem Sound Deinen Weg und Du verstehst nicht einmal, worum es geht? Einfach abwarten und vorbeiziehen lassen. Berlin ist ein brodelnder Kessel, steckt voller Überraschungen, die aus ihm aufsteigen. Jederzeit können Menschen, Fahrzeuge, Tiere, Gerüche, Ideen, Chancen, Absurdes und Geniales, auftauchen, mit denen ein naiver Besucher zuallerletzt rechnet. Lass Dich überraschen!

Scheitere lustvoll an der Unendlichkeit der Möglichkeiten

Berlin überrascht …

Berlin zu erkunden, gleicht dem Versuch, die Unendlichkeit zu vermessen. Was diese Stadt hoch- und subkulturell vorhält, anbietet an Orten des Lernens und Gedenkens, des Spürens und Lesens und Hörens, des Grau und Grün und Bunt, des Laut und Leise – das wird man niemals alles erfassen können. Denn es entsteht täglich Neues, mehr und schneller, als der Besucher erleben kann.

Spüre Deine Wunden

Berlin mahnt …

Berlin lehrt jeder und jedem Deutschen, dass wir mehr sind als eine Nation der Auto-Erfinder und manchmal erfolgreichen Fußballer. Man muss nur hinsehen, nicht achtlos vorbei oder darüber hinweg latschen: Berlin erinnert auf fast jedem Schritt an die Brüche deutscher Geschichte. Es sind die Wunden der Nation und ihrer Entstehung, die wir in Berlin spüren, wenn wir es zulassen. Es ist Berlin, das oft stellvertretend für uns alle am Kreuz unserer Geschichte leidet.

Sei Dir Deiner Privilegien bewusst

Armut begleitet den Alltag auf vielen Straßen in dieser Stadt, sicherlich nicht nur, aber stärker wahrnehmbar in Berlin als in anderen deutschen Großstädten. Menschen, die sich mit dem Sammeln von Flaschen ihre Rente aufbessern, oder Migranten, die auf der Straße während der roten Ampelphasen das Fenster putzen oder Jonglierkunststücke vorführen, tun das auch hier nicht, weil es ihnen Spaß macht, sondern weil sie Geld brauchen für ein Leben in der großen, manchmal teuren, immer gnadenlosen Stadt.

Überprüfe Deine Vorurteile

Berlin funktioniert …

Es ist leicht, über Berlin zu lästern. Aber gemessen an den Klischeebildern, die der Rest der Republik auf die Hauptstadt klebt, funktioniert Berlin prächtig. Ja, so manches ist unzulänglich. Manchmal quellen die Mülleimer über, und nicht immer und überall fühlt man sich wohl in dieser Stadt. Die endlose Bauphase des Flughafens war geeignet für Hohn und Spott. Manchmal trifft man auf Menschen, deren „Berliner Schnauze“ sich mit sprödem Charme zu einer äußerst gewöhnungsbedürftigen Form von Kundenorientierung mischt. Aber auch das Gegenteil ist zu erleben: Humor und Engagement helfen über viele Hürden.

Bleibe gelassen

Nach dreihundert Metern rechts abbiegen, rät das Navi? Noch kein Grund, auf die rechte Spur zu wechseln. Vermutlich steht dort auch auf den verbleibenden Metern noch jemand in zweiter Reihe, diskutiert jemand sein Familienleben an der offenen Autotür, parkt ein Lastenfahrrad. Abends um acht und nichts mehr zu essen daheim? Kein Grund zur Panik, viele Läden haben noch offen, die Spätis sowieso. Notfalls liefert ein Fahrradkurier den Einkauf innerhalb garantierter zehn Minuten nach Hause. Es ist nie zu spät, es gibt immer noch eine andere Option.

Lerne Sprachen

Die Wahrscheinlichkeit, im Berliner Straßencafé das Gespräch am Nebentisch verfolgen zu können, steigt mit der Sprachkompetenz. Dass es in Deutsch stattfindet, ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Rechne damit, dass auch der Ober, der Kioskbetreiber, der Fahrradkurier Dich gar nicht versteht, wenn Du es nicht auf Englisch versuchst. Oder, je nach Kiez: Auf arabisch, türkisch, russisch, polnisch …

Steig um aufs Fahrrad

Das Fahrzeug der Wahl in dieser Stadt ist das Fahrrad, und die Berliner wissen es. Unfassbar viele Fahrräder sind unterwegs – und ihnen wird von der Stadtpolitik Vorfahrt eingeräumt. Das Ergebnis einer konsequent Radfahrer-orientierten Verkehrspolitik ist eindrucksvoll: weniger Autoverkehr auf den Straßen der Innenstadt, als man erwarten würde. Und ein Konsens der Stadtgesellschaft: Fahre nicht mir dem Auto, wenn Du es vermeiden kannst. Manchen Radfahrern genügt das noch immer nicht; als Autofahrer lebt man in der ständigen Sorge, regelwidrig abbiegende, gegen die Fahrtrichtung dahinsausende, oder nächtens gänzlich unbeleuchtete Radfahrer zu übersehen. Dabei sei gerne eingeräumt: Rücksichtslose Autofahrer bedrohen regelkonform fahrende Radler mehr als umgekehrt.

Schau hin, wer alles für Dich arbeitet

Natürlich ist das auch in Stuttgart, München, Rio oder New York so: Ein großes komplexes Gemeinwesen hält zusammen, weil viele dafür arbeiten. Es ist vielleicht der externe Blick, der dem Flaneur die Augen dafür in dieser Stadt geschärft hat. Wie viele Menschen frühmorgens aufstehen oder spätnachts heimkehren, sich müde in einen Bus oder eine U-Bahn setzen, damit der Dreck wegkommt, der im Müllraum des Hochhauses stinkend vor sich hin gärt. Damit der Verkehr geregelt wird, wenn die nächste der zahllosen Demonstrationen oder Staatskarossen sich ihren Weg bahnen kann. Damit der Drogenkranke versorgt wird, der auf dem U-Bahnsteig leblos herumliegt. Damit das ungeduldig und hungrig bestellte Lieferessen pünktlich ankommt. Damit die alte Dame von nebenan gepflegt wird. Heerscharen von Knechten und Mägden der Wohlstandgesellschaft halten diese am Laufen, rund um die Uhr, jeden Tag, bei Hitze und Kälte und Regen und Schnee.

Achte Dein Handy

Das Berliner Leben im Hier und Jetzt ist ohne ein leistungsfähiges Smartphone eine schaurige Herausforderung. Also achte das Handy, denn es ermöglicht Dir alles: Orientierung in den Straßenschluchten, Fahrkartenkauf im Nahverkehr ohne Kleingeldstress, das Auffinden der nächsten öffentlichen Toilette, das Freischalten von Fahrrädern und Fahrzeugen jeder anderen Art. Und das Nachschlagen aller Namen, Orte und Ereignisse im online verfügbaren Weltwissen. Es unterhält Dich mit Musik Deiner Wahl oder gelehrigen Podcasts, falls Dich die Reize und Herausforderungen des urbanen Flanierens noch nicht auslasten. Es stellt die Verbindung zur Welt her, jederzeit und überall. Kinderwagen-schiebend Sprachnachrichten aufnehmen ist Jungfamilien-Alltag. In die U-Bahn einsteigen und mit Knopf im Ohr telefonieren – allgemein üblich. Es wurden auch schon Radfahrer gesichtet, die freihändig dahinsausend und kopfhörer-bewaffnet das Handy vor sich haltend an Videokonferenzen teilgenommen haben.

Kümmere Dich um das Grün

Berlin im Hochsommer ist ein glühender Moloch. Himmelstürmende Betonwände, endlose Steinpflaster, graue Asphaltwüsten speichern tagsüber die Hitze der glühenden Sonne und heizen nach Sonnenuntergang die Stadt in den besonders urbanen Ecken zu einem kollektiven Saunaerlebnis auf. Die Berliner reagieren mit einer Sinfonie luftiger Kleidung, mit attraktiven Eisdielen und viel Grün. In Berlin wird gepflanzt und gegärtnert ohne Unterlass, Straßenbäume werden von Gieß-Paten mit Wasser versorgt, eifrige Anwohner legen kleine Ziergärtchen rund um die Bäume herum an und verteidigen diese hartnäckig gegen den alltäglichen Straub und Dreck der Großstadt. Urban-Gardening-Areale boomen. Und die Berliner achten und stürmen ihre Seen, ihre Wasserflächen, ihre Parks. Jedes Pflänzchen, jeder Blumenkasten, jeder Baum, jeder Park hilft gegen die Hitze der Stadt.

Lass einen Koffer zurück

„Ich hab‘ noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich nächstens wieder hin“, sang in den sechziger Jahren Marlene Dietrich (und einige nach ihr). Der Text war für ein nüchternes Gemüt schon immer rätselhaft mystisch: Wo sollte denn bitte dieser Koffer sein? Zurückgelassen im Hotel? Bei Verwandten auf dem Dachboden? Durfte man sich einfach so einen Koffer vorstellen, unklaren Inhalts, verstaubt, ungeöffnet, verlockend? Und wie konnte man sich sicher sein, den Koffer auch wieder vorzufinden, wenn man nach Berlin zurückkehren würde?

„Die Seligkeiten vergangener Zeiten, sind alle noch in meinem Koffer drin“, beantwortet der melancholische Schlager diese Fragen. Ja, genauso darf man sich das wohl vorstellen.

 

 

„Ich hab´noch einen Koffer in Berlin in der Fassung von Marlene Dietrich auf Youtube:

 

 

Fanny, Käthe und ihre Väter (24. Juni 2021)

Fanny liebte die Musik. Ihre Mutter, selbst aus einer Pianistenfamilie stammend, hatte ihr das Klavierspiel nahegebracht, sie hatte gute Lehrer gehabt, sie hatte bereits erste Kompositionen gefertigt und mit Erfolg vorgetragen. Jetzt war Fanny 15 Jahre alt, und voller banger Gefühle betrachtete sie den noch geschlossenen Umschlag. Es war ein Brief ihres Vaters. Der Vater war wie immer in Geschäften unterwegs, eine Autoritätsperson, weit weg vom Leben seiner Kinder. Ein schwerreicher Geschäftsmann, heute würde man vielleicht sagen: der CEO eines Familienunternehmens, Patriarch einer Bank, die auch ein Beteiligungsunternehmen mit Geschäften bis ins ferne Ausland war. Der geschäftstüchtige Vater hatte zusammen mit seiner Familie, auch der sechsjährigen Fanny, 1811 Hamburg verlassen müssen, weil die französischen Besatzer der Hansestadt Handel mit England verboten – was aber für seine Geschäfts von existentieller Bedeutung war. In Berlin hatte die jüdische Familie eine neue sichere Heimat gefunden, der Vater bestimmte sogar, dass sie alle zum evangelischen Glauben übergetreten waren. Hier konnte er ein angesehenes Leben inmitten der höheren Gesellschaft führen.  Der Reichtum des Vaters hatte Fanny und ihren drei Geschwistern ein gehobenes Leben in Berlin möglich gemacht, und Fanny wusste, welche Privilegien sie genießen durfte.  

„Stets nur Zierde“?

Fanny Hensel, Büste vor der Mendelssohn-Remise in Berlin, Jägerstraße

Was also konnte dieser Brief des Vaters bedeuten? Musste sie heiraten? Hatte der Vater über ihr Schicksal bestimmt? Fanny saß am Fenster des dunkelgetäfelten Wohnzimmers, ein Flügel inmitten des großen Raums, in edlem Leder gebundene Bücher in den Regalen und auf dem Tisch, dunkelmatt glänzende Gemälde an der Wand. Vielleicht war es so, dass gerade Fannys jüngerer Bruder auf dem Klavier klimperte, während Fanny den Umschlag öffnete. „Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf”, schrieb der Vater da, “während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Tuns werden kann und soll.“ Nur Zierde? Fanny spürte Empörung, Trauer, Wut in sich aufsteigen. Darum also ging es, so war über ihr Schicksal entschieden worden. Ja, der Vater hatte es durchaus gehört, wie sie schon als 13-jährige ihm in diesem schönen Wohnraum im Zentrum Berlins Teile des  Bach´schen “Wohltemperierten Klavier” vorgespielt hatte. Ja, der Vater wusste um ihr Talent und ihre Begeisterung für das Komponieren. Aber es hatte nichts genutzt, in ihrem Fall war beides “nur Zierde”. Der für sie bestimmte Weg war Heirat, Ehe, Kinder bekommen, ein großes Haus führen. Ihr Talent sollte dem Ruhm des ebenfalls talentierten Bruders Felix nicht im Wege stehen.  

Die Geschichte der talentierten Fanny, die nicht berühmt werden durfte, damit ihr Bruder Felix Mendelssohn-Bartholdy es sein konnte, wurde schon tausendfach erzählt. Fanny fügte sich in ihr Schicksal. Wir wissen es nicht, aber nichts deutet darauf hin, dass Vater Mendelssohn diese seine harte Entscheidung je bedauert hätte. Fanny Mendelssohn-Bartholdy heiratete den klugen Kunstmaler Wilhelm Hensel, der ihre musikalische Leidenschaft würdigte und ihr ermöglichte, Hauskonzerte (übrigens an der Stelle, an der heute das Bundesrats-Gebäude in der Leipziger Straße steht) zu veranstalten, die in ganz Berlin einen legendären Ruf hatten und Fanny Hensel zu einer wichtigen Figur der Musikszene ihrer Zeit in der großen Stadt machte. Komponiert hat sie weiterhin, weniges davon erschien sogar unter dem Namen ihres Bruders, vieles blieb im Schatten, überstrahlt vom öffentlichen Glanz des Bruders. Kurz vor ihrem Tod ignorierte sie das Verbot des inzwischen verstorbenen Vaters und veröffentlichte einige ihrer Kompositionen. Fanny Hensel starb wenige Monate vor ihrem Bruder Felix, erst 42-jährig, im Jahr 1847.  

Bitte einsteigen in die Zeitmaschine

Berlin ist eine Zeitmaschine, also bitte einsteigen! Und schnell mal gut fünfzig Jahre vorspulen: Stellen wir uns für das Jahr 1875 ein Gespräch im preußischen Königsberg vor. Käthe Schmidt hieß das Mädchen, acht Jahre war sie alt, und der Vater hatte sie zu sich gerufen. Käthes Vater schrieb keine Briefe. Ihr Vater arbeitete als Maurermeister, nachdem er wegen zu liberaler Ansichten mit seinem Jurastudium auf politische Schwierigkeiten in Preußen gestoßen war. Wir stellen uns es daher einmal so vor: Der Vater war müde und gezeichnet von einem harten Arbeitstag, und das Gespräch könnte am Küchentisch der Familie stattgefunden haben. Käthes Geschwister tobten herum, der Bruder versuchte am gleichen Tisch seine Aufgaben aus der Schule zu lösen, während die Mutter noch das Abendessen zubereitete. „Schöne Zeichnungen machst du da“, sagte der Vater, dem sie am Tag zuvor eines ihrer Bilder gezeigt hatte. „Mach weiter! Das könnte etwas Großes werden, wenn Du Dich anstrengst.“  

Käthe Kollwitz, Selbstportrait

Ein solches Gespräch ist Fantasie. Aber nach allem, was wir wissen, hat Vater Schmidt genauso wie  Vater Mendelssohn-Bartholdy das Talent seiner Tochter früh erkannt. Er förderte Käthe, gab ihr Rückhalt, machte sie nicht klein, sondern groß, stellte Kontakte her. Er ließ Käthe, als sie eine junge Frau geworden war, nach Berlin auf die „Damenakademie des Vereins Berliner Künstlerinnen“ ziehen. Käthe arbeitete hart an ihrer Kunst, suchte ihren spezifischen Weg nach künstlerischem Ausdruck und setzte sich früh mit den harten sozialen Realitäten ihrer Zeit auseinander. Käthe Schmidt lernte ihren späteren Mann, den Arzt Karl Kollwitz, kennen und heiratete ihn 1891. Gemeinsam zogen sie nach Berlin an den Prenzlauer Berg. Das Paar hatte zwei Söhne; der ältere davon fiel im 1. Weltkrieg, was Käthe Kollwitz´ künstlerisches Werk über Jahre prägte, ihr peinigende  Schuldgefühle auflud, und sie zu einer überzeugten Pazifistin werden ließ. Käthe Kollwitz musste für niemanden zurückstecken, nicht für ihre Geschwister, nicht für die gesellschaftliche Erwartung, nicht für ihren Mann. Käthe Kollwitz konnte während der Nazi-Herrschaft zwar nur eingeschränkt arbeiten, wurde aber toleriert. Sie starb 78-jährig kurz vor Kriegsende.  

Zwei Väter, zwei Lebenswege?

Zwei Väter, zwei Lebenswege? Das ist eine gewagte, nicht angemessene Verkürzung. Aber es ist eine Tatsache, dass für die Würdigung des Werkes von Fanny Hensel noch immer engagierte Künstlerinnen (ja, es sind in der Regel die Frauen) kämpfen müssen. Denn die Musik von Fanny Hensel ist von größtem Zauber, ihre Klavierlieder perlen mit betörender Sinnlichkeit dahin, ihre wenigen Orchesterwerke strahlen und jubeln mit den denen ihres Bruders um die Wette. Aber hören wollen viele immer nur den berühmten Felix.  

Wie anders bei Käthe Kollwitz: Ihre Grafiken sind von getragener Schwere, alles andere als gefällig, thematisieren komplexe gesellschaftliche Nöte – Armut, Widerstand, Krieg. „Nie wieder Krieg“ ist die Plakat-Ikone aus der Feder von Käthe Kollwitz, die wir alle im Kopf präsent haben. Um Käthe Kollwitz´ Berühmtheit aber muss niemand kämpfen. Für sie gibt es in Berlin (und anderswo) ein eigenes Museum, Schulen und Bibliotheken sind nach ihr benannt, Plätze und Straßen sowieso. Als überlebensgroßes Denkmal sitzt Käthe Kollwitz am Prenzlauer Berg auf dem nach ihr benannten Platz. Streng, mit Kohlestift in der Hand, schaut sie dort in die Ferne, während die Prenzlberg-Kinder auf ihr herumklettern. Ganz im Zentrum des geeinten Deutschland ist sie angekommen. Der Konservative Helmut Kohl persönlich entschied, dass eine von der bekennenden Sozialistin Käthe Kollwitz inspirierte Skulptur in der Neuen Wache unter den Linden uns alle an die Opfer von Krieg oder Gewaltherrschaft mahnen soll. Es ist eine Pieta, die dort in diesem ernsten Raum, im Innersten unserer Republik, unseren Blick auf die Trauer einer Mutter um ihren gestorbenen Sohn lenkt.  

Es ist auch der Blick auf die Trauer von Käthe Kollwitz um ihren eigenen Sohn, vielleicht sogar ihre Reue, ihn nicht zurückgehalten zu haben, als er euphorisch in den Krieg zog.  

Kollwitz-Pieta in der Neuen Wache in Berlin

Mehr über das Leben von Fanny Hensel und Käthe Kollwitz jeweils bei Wikipedia;  

 

Musik von Fanny Hensel findet man auch auf Youtube, z.B. dieses:  Fanny Mendelssohn: Overture in C Major (ROCO) 

Die nationale Gedenkstätte “Neue Wache” auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Wache 

 

 

Streitgespräch der Prachtstraßen (15. Juni 2021)

Dies ist die Aufzeichnung eines unwahrscheinlichen Streitgesprächs. Es findet statt – so stellt sich das der Flaneur vor – am Brandenburger Tor in Berlin, und es treffen sich die beiden Prachtstraßen dieser Stadt: Der Kurfürstendamm, hier kurz der „Damm“ genannt, und die Karl-Marx-Allee, also die „Allee“. Natürlich kommt die Allee von Osten und der Damm von Westen.

Allee: Freundschaft, Kurfürstendamm! Finde ich gut, dass wir uns auf meinem früheren Staatsgebiet treffen.

Damm: Hallo, alte Sozialistin, ich bin Dir gerne entgegengekommen. Eigentlich hatte ich die Straße des 17. Juni als Treffpunkt vorgeschlagen …

Allee: … eine Provokation!

Damm: … aber es hätte dafür gute historische Bezüge gegeben. Und geografisch wäre der Tiergarten die Mitte zwischen uns gewesen, habe ich extra auf Google Maps nachgeguckt. Aber von mir aus lassen wir das, alles alter Tobak, Du aus der Zeit gekommene Kollegin.

Der Strausberger Platz eröffnet das Ensemble der Karl-Marx-Allee

Allee: Da höre ich sie schon wieder, die westliche Arroganz. Spare Dir unbegründeten Hochmut. Als erstes sollten wir festhalten, dass ich unbestreitbar die Schönere von uns beiden bin. „Karl-Marx-Allee“ – schon der Name! Und diese wunderbare Monumentalarchitektur, eine geschlossene, prächtige, verkachelte Häuserfront auf beiden Seiten fast zwei Kilometer lang, Säulen und Kapitele, dazwischen Grünflächen und Bäume. Da kannst Du nur neidisch sein, bei Deinem Wirrwarr von Konsumtempeln.

Damm: Ich gebe überhaupt nichts zu. Etwas zugeben, das war noch nie meine Stärke. Und ich habe die Geschichte auf meiner Seite. Du musstest erst mühsam errichtet werden, viele alte Häuser …

Allee: … also das waren genauso wie bei Dir alles Ruinen …

Damm: …ja, ok, aber sie mussten dafür weichen, damit man für Deine Breite Platz schaffen konnte: Für die Paraden, für die Panzer und Raketen, für die Tribünen Deiner kommunistischen Autokraten. Und soll ich Dich daran erinnern, wie Du eigentlich ursprünglich geheißen hast? Soll ich …?

Allee: Lass doch den alten Kram …

Damm: Jedenfalls war Dein Karl Marx als Namensgeber erst zweite Wahl. Ursprünglich war das ein gewisser…

Allee: Still jetzt!

Damm: … ein gewisser Stalin, den ihr mit Deinen Arbeiterpalästen ehren wolltet. Ein Massenmörder! Ich dagegen war schon immer da, früher als Weg zur Jagd unseres Kurfürsten, später hat sich Otto von Bismarck für mich eingesetzt. Auf mir fuhr die erste dampfgetriebene Straßenbahn, und ich war die wichtigste Amüsiermeile Berlins in einer Zeit, die heute alle an Babylon erinnert.

Allee: Ha! Erst der Kurfürst und dann Bismarck! Und da spottest Du über Ulbricht und Honecker als Autokraten! Das waren wenigstens Repräsentanten der Werktätigen, der einfachen Leute, der Arbeiter und Bauern, die dort die Paraden unserer Armee abgenommen haben, …

Damm: Repräsentanten? Von Demokratie kann da aber keine Rede sein!

Allee: Beim Kurfürst und  bei Bismarck noch weniger.

Damm: Von mir aus, lassen wir die Herrscher von damals aus dem Spiel. Aber nachdem Ihr Eure Mauer gebaut hattet, war die Welt doch wohl klar geordnet: Auf meiner Seite gab es nur noch lupenreine Demokraten, die über mein Pflaster flanierten.

Allee: So, so – „lupenreine“ Demokraten seid Ihr gewesen? An Deinem Pflaster klebt das Blut von Rudi Dutschke, vergiss das nicht. Und mit Polizeiknüppeln habt Ihr auf die Demonstranten gegen den Vietnam-Krieg eingeprügelt.

Damm: Das war schon eine schwierige Zeit. Muss ich zugeben. Aber geschunden wurde ich dabei, die schönen Schaukästen haben sie damals eingeschlagen, meine Schaufenster demoliert. Mir tut es heute noch, wenn ich daran denke.

Allee: Mein Beileid. Solche Streitereien auf meinem Rücken hatten wir nicht, dafür haben Walter und Erich gesorgt. Aber weißt Du eigentlich, wie schwer die Panzer und die Raketen-Laster eigentlich sind, die ich aushalten musste?

Damm: Nee, mit Militärparaden habe ich bis heute nichts zu schaffen. Da bin ich zu eng für. Das hast Du jetzt von Deiner Breite und Pracht.

Allee: Ich bin eben schöner als Du.

Damm: Warum kommen dann alle Menschen zu mir, und nicht zu Dir? Täglich muss ich mich mit Millionen Menschen herumschlagen, die auf mir rumtrampeln, tütenschleppend sich von einem Markenladen zum nächsten durchschlagen. Dabei gibt es diese Läden in jeder größeren Stadt immer gleich. Ich sag Dir, das ist eine Plage, dauernd das Getrappel, und manchmal stehen sie ewig lang auf mir herum, nur um in den Apple-Shop reinzukommen.

Allee: Deine Probleme hätte ich gerne! Ich erinnere mich gut, als das auch bei mir noch so war. Jeder, der in unserem sozialistischen Land etwas Besonderes gesucht hat, kam in die Karl-Marx-Allee – die erste Einkaufsadresse im ganzen Land! Edle Tuche, die wenigen aus dem Westen importierten Jeans, gute Leckereien, manchmal sogar Orangen und Bananen – alles das gab´s in der Karl-Marx-Allee. Und dazu das schöne Restaurant Moskau, das schicke Hotel Berolina, die großen Kinos und die Mokka-Eisbar – ach war das schön! Bei mir war richtig was, los, sag ich Dir. Weißt Du was, Du Wessi-Jammer-Damm: Ich habe mich inzwischen von den Militärparaden erholt. Gib mir was ab von Deinen Markenshops, ein paar Leute mehr auf meinem panzergeprüften Pflaster machen mir nichts aus.

Damm: Da musst Du erstmal Deinen Denkmalschutz loswerden. Da darf ja kein Gucci oder Prada sein Logo fett vorne hin montieren!

Denkmalschutz Ost: Wein drin, Briefmarken obendrauf

Allee: Kann ich das ändern? Stimmt schon, hier wird eben auf Geschichte und Schönheit geachtet, bei Euch geht es immer nur um Kommerz. Sogar meine alten sozialistischen Leuchtreklamen stehen unter Denkmalschutz. Deshalb muss einer meiner Geschäftsleute sein Weinlokal unter der Leuchtschrift „Briefmarken“ betreiben.

Denkmalschutz West: Eine Verkehrskanzel am Kurfürstendamm

Damm: Ich fasse es nicht, wer kommt denn auf so eine Schnapsidee? Sowas fiele mir nicht ein. Wir haben nur eine Verkehrskanzel aus den 50ern, die unter Denkmalschutz steht.

Allee: Ihr wollt mich eben als nostalgisches DDR-Museum erhalten. Sogar die schöne Karl-Marx-Buchhandlung steht leer. In dieser Lage, bei diesem Namen! Schon traurig, aber dafür bin ich eben auch die Schönere von uns beiden.

Damm: Fang nicht schon wieder damit an! In Deinen Prachthäusern macht schon deshalb kein toller Laden auf, weil es in Deinen Seitenstraßen keine so reichen Leute gibt wie bei mir, die da einkaufen könnten.

Allee: So ein Blödsinn! Ja, wir sanieren eben aus unseren sozialistischen Plattenbauten, die hinter meinen schönen Kachelfassaden stehen, nicht die Leute heraus. An Deiner Seite, mein lieber geldgieriger Kurfürstenkollege, kann man sich das Leben eben gar nicht mehr leisten, so ist das. Bei mir schon.

Damm: Und warum sieht man dann auch bei Dir so viel Armut auf der Straße, Menschen ohne Wohnung, Alkoholkranke, flaschensammelnde Rentner?

Allee: Das ist gemein! Die gibt es alle bei Dir auch, und zwar ganz üppig. Man muss nur genauer hinschauen, weil Dein ganzer Glitterglanz und Deine Leuchtreklamen so blenden. „Und man sieht die im Licht, die im Dunkeln sieht man nicht“, hat schon Bertolt Brecht geschrieben. Recht hat er.

Damm: Anderes Thema, schöne Allee! Kannst Du mir nicht etwas von Deinen Grünflächen abgeben, zum Beispiel die Weberwiese?

Allee: Das könnte Dir so passen. Ihr Wessis glaubt immer, Ihr könnt alles kaufen. Du bekommst gar nichts von mir: keine Kachel, keine Säulenarchitektur, keinen meiner Fontänenbrunnen, kein Grün. Ich will alles behalten, was mich so schön macht.

Damm: Dann wirst Du in Schönheit sterben.

Allee: … und Du an Deinem Geld ersticken.

 

 

Wer sich die Geschichte der beiden Prachtstraßen Berlins näher zu Gemüte führen will, kann dies z.B. auf Wikipedia tun:

Kurfürstendamm: https://de.wikipedia.org/wiki/Kurf%C3%BCrstendamm

Karl-Marx-Allee: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Marx-Allee

 

 

 

Farbfilm (7. Juni 2021)

„Du hast den Farbfilm vergessen!“ schimpfte 1974 die 19jährige Sängerin der Gruppe „Automobil“, Nina Hagen, ihren Reisebegleiter Micha. „Automobil“ landete damit in der Schlagerparade der DDR.

„Alles grau“, urteilte das Westkind

Brauchte man in der DDR einen Farbfilm? „Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön ’s hier war“, ging der Text des Liedes weiter, „alles Blau und Weiß und Grün – und später nicht mehr wahr!“ Es gab eine Zeit, in der westdeutsches Vorurteil dem Osten unseres Landes attestierte, dort sei „alles grau“. Und tatsächlich kann sich der Flaneur gut an seine erste Reise in die gerade ganz neu und frei zugänglich gewordene Noch-DDR erinnern. Die damals sechsjährige Tochter schaute nach dem Überwinden der nicht mehr gesicherten innerdeutschen Grenze lange und fasziniert aus dem Fenster, die ersten Dörfer kamen ins vorbeiziehende Bild, und was sagte das unvoreingenommene Westkind? „Alles grau!“

Alles grau: Die Topografie des Terrors und das Bundesfinanzministerium hinter dem Mauer-Reststück

Wer heute durch Berlin wandert oder fährt, kann West und Ost nicht mehr an der Farbigkeit unterscheiden. Aber farbig bunt ist deshalb noch längst nicht alles. Von einem Ort, der „Topografie des Terrors“ heißt, erwarten wir vielleicht auch aus gutem Grund nicht gerade Farbigkeit. Hier wird kein Farbfilm benötigt. Der Ort fordert den Besucher als graue Steinwüste, ein eingezäuntes Areal, ein modernes graues Gebäude in seiner Mitte, ein abgesenkter Graben, ein langes Stück DDR-Mauer an seiner Seite – alles grau. Es bedarf einiger Mühe, sich bewusst zu machen, was das hier eigentlich für ein leeres Straßenkarree ist. Häuser standen her bis zum Kriegsende, Paläste, prächtige Bauten, ein nobles Hotel, aber es gab auch Hinterhöfe, Garagen, Gärten, Lauben. Wenig davon ist übrig, alles ist platt und grau. Die „Topografie des Terrors“ wurde 1987 nach langer Diskussion zu einer begehbare Gedenkstätte, die erinnern soll an das Grauen, das in nationalsozialistischer Zeit dort geschah. Denn hier standen die Zentralen des Terrorregimes, das Hauptquartier von SS und SA, von Gestapo und Polizei, alle auf diesem Fleck, vereint zwischen vier Straßen.

Bomben der Alliierten zerstörten das Zentrum des Grauens, Ruinen blieben übrig von der brutal-rechtlosen Machtausübung. In den 60er Jahren wurde entschieden, das unwirtliche Gelände unmittelbar an der Mauer abzuräumen – und nichts von den Palästen zu erhalten, in denen die Mörder residierten, folterten, quälten – Betriebsfeste feierten, zu Geburtstagen anstießen, Siege bejubelten und Niederlagen schönredeten. Was man heute noch dort findet ist ein modernes Dokumentationszentrum über die Nazidiktatur und eine informative Freiluftausstellung über Deutschlands Irrweg von der Weimarer Republik hin zur totalen Niederlage im selbst angezettelten „totalen Krieg“. Alles wichtig und sehenswert, vieles davon schon hundertmal gesehen.

Moderne Archäologie

Was diesen Ort besonders macht ist so etwas wie moderne Archäologie. Unter dem Schutt der abgeräumten Nazi-Paläste wurden bei der Neugestaltung als Gedenkort die immer noch vorhandenen Pflastersteine der Einfahrten gefunden, über welche die Opfer der Gestapo in die Folterkammern gekarrt wurden. Die eingestürzten Eingangstore der Gestapo-Zentrale, kantige Ruinen, mahnen, einst unbeachtet liegengelassen, jetzt an die Todesangst der Menschen, die das Osttor einst passierten. Unterirdische Gefängniszellen der Gestapo wurden ausgegraben und pietätvoll wieder zugeschüttet, aber markiert. Die graue Topografie deutet die angelegten bombensichern Kellergänge an, zeigt die unterirdisch angelegten Räume einer Cafeteria der Folterknechte.

Die Westdeutschen der Nachkriegsjahre vergaßen sicher keinen Farbfilm, wenn sie in den Urlaub fuhren. Aber die Orte ihrer eigenen grauen Vergangenheit wollten sie gerne aus den Augen und damit aus dem Sinn haben. Alle möglichen Verwendungszwecke für die leere Brache direkt an der Mauer wurden diskutiert. In den 70er Jahren richtete Westberlin schließlich auf dem Gelände ein „Autodrom“ ein, einen Freizeitpark, auf dem man das Autofahren üben konnte – ohne Führerschein hinweg über die Folterkammern des Führers.

Heute denken wir anders. Der Gang über das weite Gelände wird zur Zeitreise vom Grauen ins Grüne. Der Besucher kann das ganze Gelände abschreiten, einige der alten Trassen des Autodroms nutzend, und findet sich bald in einem idyllischen Robinienwäldchen wieder, in dem die Blumen blühen und die Bienen summen. Zurück führt der Weg zur Betonrohr-bewehrten grauen Mauer, das von Mauerspechten durchlöcherte, angenagte, jetzt unter Denkmalschutz stehende Monument der deutschen Teilung. Die Geschichte erlaubt uns, heute ohne Schmerz über sie hinweg zu sehen, hinauf zum Gebäude des heutigen Bundesfinanzministeriums, das so grau und abweisend dasteht, als wollte es allen Klischees von der grauen DDR und dem öden Grau jedes Bürokratenapparates gerecht werden.

Olaf Scholz ist am Aussehen seines Dienstsitzes unschuldig. Das „Detlef-Rohwedder-Haus“ wurde als Monumentalbau von den Nazis errichtet, beherbergte das Reichswehrministerium, später in der DDR das „Haus der Ministerien“ und gab so vielen grauen Bürokraten der DDR einen Arbeitsplatz. Nach dem Fall der Mauer war der graue Kasten dann Sitz der Treuhandanstalt (nach dessen ermordeten Präsidenten er später benannt wurde) und seit 1999 ist dort der Sitz des Bundesfinanzministers. Vermutlich würde der Minister schon am Denkmalschutz scheitern, wenn er den Versuch unternähme, sein Haus bunt anmalen zu lassen.

Das Bunte muss von woanders her kommen

Alles Bunt: Die roten Bäume von Yayoi Kusama beim Gropius-Bau

Das Graue gehört zu diesem Gebäude, wie das Grauen zur Topografie des Terrors gehört. Also muss das Bunte von anderswo kommen. Und siehe da, Blick zurück, keine hundert Meter, außerhalb der Einzäunung, da wartet es schon, das überraschende Bunt. Stehen da tatsächlich knallrote Baumstämme mit leuchtend weißen Punkten? Wie bitte – rote Baumstämme mit weißen Punkten? Kann das sein und wenn ja – wie und warum? Der Anblick ist unglaublich und macht so hoffnungstrunken wie das Licht am Ende eines zu langen Tunnels, so glücklich wie das Durchbrechen eines neuen, strahlenden Motivs in der Musik, wie die erste Blüte im Schnee.

Rote Bäume mit weißen Punkten? Gewachsen können sie so nicht sein, also nochmal hingeguckt: Die bunten Bäume sind eingewickelt und sie sind ein Kunstwerk, Teil einer Ausstellung der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama im benachbarten (von außen übrigens auch ziemlich grauen) Gropius-Museumsbau. Gelockt von den roten Bäumen, schnell online einen Timeslot gebucht, den Corona-Test gezückt, und raus aus der grauen „Topografie“ rein in den Ausstellungpalast. Durstig nach Buntheit, nach Farbenpracht und Vielfalt. Im Foyer räkeln sich die roten Punkte im dichten Gewirr dicker Tentakel über-mannshoch bis ins Obergeschoss der Halle, bilden einen Dschungel der Farbenpracht, laden ein zu weiteren farbigen Abenteuern der Kunst. Man muss nicht alles verstehen, was sich die Künstlerin aus dem fernen Osten dabei gedacht hat, aber dem bunten Zauber der manchmal durch Spiegel ins Unendliche gesteigerten Farbigkeit ihrer Werke wird sich niemand entziehen, der sensiblen Sinnes ist.

Noch mehr Farbe in der Ausstellung der japanischen Künstlerin

Übersatt erfüllt von Farben tritt der Besucher wieder heraus in das reale Berlin, das jeden Tag so bunt gepunktet sein kann, wie der Stamm dieser Bäume, zwischen denen er jetzt steht. Bunt wie das frische Grün an den Zweigen der rotgepunkteten Bäume, oder so gelb wie die vorbeirauschenden DHL-Autos, oder so leuchtend blau wie der sommerliche Himmel. Oder so grau wie das Finanzministerium.

 

 

„Du hast den Farbfilm vergessen“ mit Nina Hagen auf youtube (hier in einer Live-Aufnahme von 2018):

Die Website der Topografie des Terrors: https://www.topographie.de/topographie-des-terrors/

Die Website der Ausstellung von Yayoi Kusama (noch bis 15.8.2021): https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/bfs-gesamtprogramm/programmdetail_299677.html

7.000 Schritte, wahllos durch die Zeit (8. Mai 2021)

Täglich mahnt das Handy: Das persönliche „Schritte-Ziel“ gelte es zu erreichen (wer hat diesen Begriff erfunden und in unsere Hirne gepflanzt?). Also raus in diesen unwirtlichen, kalten Maianfang, der schwankt zwischen desaströsen Regengüssen und gleißendem Sonnenglanz, grimmigen Windböen und trügerischer Ruhe, raus in die Straßen Berlins. Egal, wohin, Hauptsache Schritte sammeln, ein wahlloser Weg durch die Mitte dieser Stadt. Es wird ein willkürlicher Gang durch die Zeit. Dass jede Scholle ihre Geschichte hat, und sei sie noch so ländlich abseitig, dass sie Kriege erlebt hat, Gegenstand oder Ort erbitterter Streitereien war, Menschen genährt und begraben hat – wann machen wir uns das bewusst? Man könnte es jetzt tun, wenn man schon Schritte sammeln soll. Los geht´s, das Treppenhaus hinunter, raus auf die Straße.

Schritt 20,

Schritt 400,

Stallschreiberstraße, 13. September 1964: DDR-Flüchtling Michael Meyer wird nach Schüssen der DDR-Grenzer schwer verletzt von amerikanischen Soldaten aus dem Todesstreifen gerettet. Am gleichen Tag ist zufällig Martin Luther King in Berlin, er besucht noch am Nachmittag den Ort des Geschehens und mahnt abends im Osten die Christenheit, sich nicht durch Mauern trennen zu lassen.

Schritt 1263,

Wallstraße 64, Spätsommer 1941: Eine Gedenktafel erinnert daran, dass hier von einer Stoffdruckfirma Geitel & Co rund eine Million Jugendsterne gedruckt worden sind. Alltäglicher Vollzug des Grauens.

Schritt 1275,

Wallstr. 90, 18. September 2010: Eine private Gedenktafel informiert über den Maler Walter Womacka, einer der großen Vertreter des sozialistischen Realismus, der hier wohnte und an diesem Tag in Berlin starb. Eines seiner Hauptwerke heißt „Wenn Kommunisten träumen“ und hing im Hauptfoyer des Palastes der Republik. Der Palast ist durch das erneuerte Stadtschloss ersetzt, das Bild ist eingelagert. Wovon träumen Kommunisten jetzt?

Schritt 2317,

Mohrenstr. 37, 9. November 1989: Der Raum des Geschehens existiert nicht mehr im heutigen Bundesjustizministerium. Ein kaum als solches erkennbares Denkmal weist aber darauf hin, dass hier Geschichte geschrieben wurde. Günter Schabowski gab stammelnd im damaligen Internationalen Pressezentrum der DDR-Führung an dieser Stelle mehr versehentlich als bewusst das Signal zur Öffnung der Mauer. „Das gilt … sofort, unverzüglich“, waren die vielleicht folgenschwersten Worte der jüngeren deutschen Geschichte. Eine rhetorische Ikone der Neuzeit, jederzeit aus der Konserve abrufbar, und damit unvergänglich. Wir kennen nicht die Stimme von Friedrich dem Großen oder von Napoleon, aber die von Günter Schabowski, dahingesprochen im Zweifel, ohne Bewusstsein über die Tragweite, von einem Mann, der gezeichnet ist von der Ermattung und Überarbeitung in diesen dramatischen Zeiten.

Schritt 3011,

Gendarmenmarkt, 29. Oktober 1685: Eine ganze Kirche erinnert daran, dass in Berlin und Brandenburg durch ein königliches Edikt mit diesem Datum Zigtausende religiös verfolgte Protestanten aus Frankreich Aufnahme in Preußen gefunden haben. Die „Hugenotten“, echte Migranten ihrer Zeit, mit fremder Sprache und ungewohnten Sitten, lebten anfangs in provisorischen Zelten, in Armenquartieren und arbeiteten hart an ihrer Existenz, heilfroh, hier eine neue sichere Heimat gefunden zu haben. Ihre Ankunft löste damals die gleichen Diskussionen aus wie heute. Eingeladen vom König galten sie der einfachen Bevölkerung als privilegiert, sie verknappten das Angebot an Nahrungsmitteln und konkurrierten um Arbeitsplätze. Der König hatte vielleicht auch gesagt: „Wir schaffen das!“, noch so eine rhetorische Ikone. Die Hugenotten sind geblieben und prägen mit ihrer Geschichte bis heute das Stadtbild Berlins.

Schritt 3056,

Gendarmenmarkt, 18. März 1848: Die Märzrevolution war die erste und bis zum Sturz der DDR-Regierung auch die einzige Revolution auf deutschem Boden. Die Berliner Toten der Revolution wurden hier aufgebahrt. Ein sinnloses Opfer, denn die Uneinigkeit der Revolutionäre machte es dem König leicht, mit seinen Truppen schon im November 1848 dem Treiben ein Ende zu setzen.

Schritt 3107,

Charlottenstraße 33, 1796 bis 1800: Hier wohnte vier Jahr lang der Schauspieler und Theaterdirektor August Wilhelm Iffland. Nach ihm benannt ist der Iffland-Ring, eine lebenslang per Testament verliehene Auszeichnung für herausragende Schauspieler. Man erbt einen tatsächlichen Ring (der allerdings eigentlich dem österreichischen Staat gehört), der nach dem Tod des jeweiligen Trägers von diesem an einen von ihm ausgewählten Schauspieler-Kollegen vermacht wird. Es muss ein Mann sein, hat Iffland festgelegt. Derzeit trägt den Iffland-Ring der Hamburger Schauspieler Jens Harzer.

Orginal-Mauer, für Mauerspechte to go

Schritt 4205,

Friedrich-/ Ecke Behrenstr., mal wieder 9. November 1989: Ein reichlich angenagtes Original-Stück der Berliner Mauer steht dekorativ auf dem Gehweg vor einem Luxushotel. Wer möchte, kann sich bei der Rezeption gegen Bezahlung Ausrüstung (Schutzbrille, Hammer, Meißel) ausleihen und sich als verspäteter Mauerspecht betätigen. Das herausgehackte Stück Beton darf man mitnehmen und hinaustragen in die Welt. Verkaufte Freiheit, gewissermaßen.

Schritt 5279,

Wilhelmstraße 65:  Der interessierte Schritte-Sammler kann mithilfe sehr informativer Tafeln in dieser Straße verfolgen, wie sich die Häuser verändert haben. In Haus 65 beginnt es irgendwann 1736: Erst Residenz eines preußischen Kronprinzen, dann Sitz des preußischen, dann des nationalsozialistischen Justizministeriums. Im Krieg zerstört, abgerissen, vorübergehend ein Kinderspielplatz, jetzt Erweiterungsbau des Bundeslandwirtschaftsministeriums, das seinen Hauptsitz im Nebenhaus hat. Dort hatte auch einmal der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer seine Dienstwohnung – als Vorsitzender des Preußischen Staatsrates, bis 1933 der Idee nach vergleichbar mit dem heutigen Bundesrat.

Schritt 6390,

Hoffnung im Stelenfeld

Cora-Berliner-Str. 1: Am 12. Mai 2005 wurde das Denkmal für die ermordeten Juden Europas eröffnet. Von der Rückseite betritt der Flaneur das Stelenfeld. Es herrscht Stille im grandios-schmucklosen Monument, nicht einmal die Sturmböen finden in das Labyrinth. Die grauen Blöcke setzen zartgrün schimmerndes Moos an. Der eine oder andere Riss hat sich gebildet, einige Stelen müssen von Stahlbändern zusammengehalten werden. Die Verletzlichkeit des Betons verstärkt die Eindringlichkeit dieser eindringlichen Tristesse. Am westlichen Ende des grandios-schmucklosen Monuments keimt Hoffnung. Es fehlen ein paar Stelen; an ihrer Stelle wachsen karge Bäumchen.

Schritt 6643,

Brandenburger Tor, 4. Mai 2021: Ein Häufchen Wirrköpfe demonstriert vor dem weltberühmten Tor, das längst kein Tor mehr ist, sondern ein Wahrzeichen für Berlin und seine Geschichte. Auch wer länger zuhört, versteht nicht, worum es gehen soll. Mehr Polizisten als Demonstranten schützen die Versammlung und müssen sich dafür auch noch beschimpfen lassen. Es geht nur um die Handyfotos: Ein paar Sympathisanten, schnell gepinselte Plakate mit zu einfachen Botschaften, dahinter das berühmte Tor. Tausendfach viral geteilt wird es einmal mehr missbraucht.

Schritt 6923,

direkt neben dem Reichstagsgebäude, 17. März 1982: Helmut Schmidt hat an diesem Tag als erster deutscher Bundeskanzler das Unrecht der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma anerkannt. Das daran erinnernde Denkmal im Tiergarten nimmt Schmidts Bekenntnis auf. Es braucht mehr Worte als das stumme Stelenfeld, damit Menschen verstehen, um welches Leid es hier geht.

Schritt 7012,

Reichstagsgebäude, 28. Februar 1933. Erst 1894 vollendet, wurde es schon an diesem Tag in Brand gesteckt, damit alle, die es sehen wollten, erkennen konnten, dass die Zerstörung deutscher Humanität und Demokratie bevorsteht. Dann wortwörtlich „auferstanden aus Ruinen“ – auch wenn diese Liedzeile wenige Meter weiter östlich hinter der Mauer als Nationalhymne diente. Ein Gewirr von Absperrgittern soll es jetzt schützen vor der Erstürmung durch Brandstifter aller Art.

Schritte-Ziel für diesen Tag erreicht. Was vorbeikam an diesem Weg, blieb eine willkürliche Auswahl. Vieles übersehen, nicht erkannt, verworfen. Morgen wieder Schritte sammeln, mit wachem Blick, wahllos durch die Zeit.

 

über die Initiative „Stolpersteine“ informiert diese Seite: https://www.stolpersteine-berlin.de/

das weltberühmte Zitat von Günter Schabowski auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=b3qVjwzgC2A

über den Iffland-Ring: https://de.wikipedia.org/wiki/Iffland-Ring

 

Wo wohnt das Glück? (3. Mai 2021)

Schloss Charlottenburg

Wo anfangen, wenn man über das Wohnen in Berlin nachdenken möchte? Willkürlicher Einstieg:  Schloss Charlottenburg. Die prächtige Residenz, Berlins größte Schlossanlage, hat Hunderte von Räumen, aber die meisten davon standen meistens leer. Der Riesenkomplex wurde über 200 Jahre an- und ausgebaut, um Seitenflügel, Theaterbauten, Orangerie und einen Park erweitert, es wurde dort gefeiert, repräsentiert, gelacht und geweint – aber gewohnt wurde eher selten. Jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem wir heute wohnen: Fester Lebensmittelpunkt, Heim und Herd, Tür zu, und das Private beginnt. Schloss Charlottenburg diente vorrangig als Sommerresidenz der preußischen Könige von kurz nach 1700 und knapp bis 1900, immer wieder mal aufgesucht, oft in scharfer Konkurrenz unterlegen gegenüber den Potsdamer Schlössern. Also standen sie leer, die Festsäle, Dienstbotenkammern, Küchen, Gänge, Repräsentationsräume, Schlafzimmer, Theater. Seit 100 Jahren wird das Schloss als Museum genutzt.

Nur wenige Schritte vom Schloss zum Zelt

Was für ein sinnloser Luxus! Es sind nur wenige Schritte vom Schloss bis zur Brücke über die Spree, die Menschen ein Zuhause bietet, nur eine Ein-Raum-Wohnung im Zelt, aber immerhin. Ein trockener Platz, mühsam ergattert im Konkurrenzkampf unter den Mittel- und Wohnungslosen. Manchmal kommt der Bus der Obdachlosenhilfe vorbei mit einer warmen Suppe, und die wohlsituierten Tagesbesucher bei der Nachbarschaft, bei Schloss und Park Charlottenburg, stellen hin und wieder dem Zeltbewohner gnädig ihre Pfandflaschen vor den Reißverschluss.

Wo wohnt das Glück?

Es waren keine vierzig Jahre vergangen, seit aus dem schönen, aber so wenig nützlichen Schloss am Spreeufer der letzte adelige Teilzeit-Bewohner ausgezogen war, da errichteten in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts weitsichtige Bauherren und Architekten die Hufeisensiedlung in Britz. Sie hat kein eigenes Theater, aber auch so etwas wie einen Park. Genauso wie das berühmte Schloss trägt sie jetzt den neuzeitlichen Adelstitel „UNESCO-Weltkulturerbe“. Hier sollte von Anfang an ausschließlich gewohnt werden, und zwar in bester Lebensqualität zu, genossenschaftlich kontrolliert, erschwinglichen Preisen, ganz ohne staatlich verordneten Mietendeckel. In Form eines großen Hufeisens ordnen sich die Wohnungen in drei Stockwerken fast rund um einen Teich, eine Grünanlage, davor kleine Gärten – was für ein Traum von Park! Ummauerte Nischen-Balkone laden zum Blick auf dieses Ensemble ein, eine kleine Gaststätte und die wichtigsten Geschäfte gibt es auch. Zusammen mit den Nebenbauten, die Teil des denkmalgeschützten Ensembles sind, entstanden hier rund 2000 Wohnungen auf einer Fläche, die mehrfach in den Charlottenburger Schlosspark passen würde. Wer hier wohnen darf, hatte Glück, und hat es gleichzeitig gefunden, das Glück des Wohnens. Kein Wunder, wenn die Siedlung auch noch nach einem Glückssymbol benannt ist. Die Hufeisensiedlung, die Siemensstadt und andere, ähnliche Wohnquartiere in Berlin aus dieser Zeit zeugen vom Willen, der Metropole endlich den Wohnraum zu schaffen, nach dem sich viele sehnten in ihren verrotteten, krankmachenden Armenbauten. Wohnraum als Sozialprojekt, nicht als kommerzielle Veranstaltung.

Wieder vierzig Jahre später gab es in einem Teil dieser Stadt staatlich verordnet keinen Wohnkommerz mehr. Die DDR-Führung verfolgte mit ihren Plattenbauten die gleichen Ideale wie die Visionäre der Sozialsiedlungen aus den Zwanzigern. Aber hier wurde nicht Bauhaus-ambitioniert gebaut, sondern schnell und billig hochgezogen, städtebaulich phantasielos, vom Westen verspottet. Das war effizient, um nach einem Krieg und seinen Verwüstungen endlich menschenwürdigen Wohnraum zu schaffen für die vielen, die danach suchten. Sieben solche Hochhäuser stehen zum Beispiel auf der Fischerinsel, keine zehn Minuten Fußweg entfernt vom Ostberliner Stadtzentrum am Alexanderplatz, 1500 günstige Wohnungen. Heute wie damals eine Premium-Wohnlage, und heute wie damals kann man im inzwischen sanierten Plattenbau dort das private Glück des Wohnens finden. Andreas Ulrich hat in seinem Buch „Die Kinder der Fischerinsel“ die Biografien seiner Generation als Bewohner der Hochhäuser zusammengetragen. Die meisten seiner Geschichten berichten von glücklichen Kindheiten: Endlich Aufzug statt Treppensteigen, endlich Zentralheizung statt Kohlen schleppen, endlich Bad in der Wohnung statt Plumpsklo auf dem Flur. Im ganzen Buch geht es nicht ein einziges Mal um die Frage, wie teuer wohl die Miete war.

Gewinnt der Kommerz gegen das Soziale?

Wenn der Flaneur heute den Weg entlang der ehemaligen Mauer geht, kann er oft an der Bebauung erkennen, wo West und Ost war: Im früheren Westen rückten die Mehrfamilienhäuser der 60er Jahre bis fast an die doppelte Kopfsteinpflasterreihe heran, die jetzt Symbol für den Verlauf der Grenze ist. Auf der Ost-Seite konnte der Platz des Todesstreifens nach seiner Beseitigung lukrativ genutzt werden. Jetzt stehen hier Neubauten, schick und teuer mit breiten Balkons und bodentiefen Fenstern. Wer hier wohnt, muss sich eher nicht kümmern um die Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen!“, deren Motto überall gepinselt ist auf die Betonwände dieser Stadt und per Schablone gesprayt auf den Gehwegen. Engagierte Mieter sammeln Unterschriften für ein Volksbegehren, sogar am Feiertag im Charlottenburger Schlosspark.  Der DAX-Konzern „Deutsche Wohnen“ besitzt in Berlin mehr als 115.000 Wohnungen, auch die in der Hufeisensiedlung und der Siemensstadt. Das skeptische Mietervolk fürchtet nicht zu Unrecht, dass die Marktmacht des Konzerns nach und nach dem Kommerziellen die Oberhand über das Soziale verschaffen könnte. Dass Investoreninteressen aus einfachen, billigen Wohnungen luxussanierte Edelquartiere werden lassen, in denen sich Gutbetuchte ihr geschütztes Leben hinter sicheren Eisentoren gönnen. Dass infolgedessen alle Mieten steigen werden und am Ende immer mehr Menschen unter der Brücke im Zelt schlafen.

Ob es ein „Ende“ geben kann? Unersättlich scheint er zu sein, der Wohnungshunger in den Metropolen, wo immer neue Generationen, neu zugezogene Migranten, noch mehr Studierende, noch mehr Alleinlebende, noch mehr Businessleute und Regierungsbürokraten, nach dem immer gleichen kleinen Glück suchen in den privaten vier Wänden.

Im Schloss wohnt immer noch keiner

So wird also überall gewohnt in Berlin: Im edel gentrifizierten Loft, im sanierten Plattenbau, in der heiß umkämpften Denkmalschutz-Wohnung im Hufeisen, in der Hasenstall-artig übereinandergestapelten Neubauwohnung, im unsanierten Altbau, in dem der Putz von der Wand bröckelt, unter der Brücke im Zelt und ohne Zelt auf dem wärmenden Lüftungsschacht. Nur in den großen Schlössern dieser Stadt, da wohnt immer noch keiner; sogar der Bundespräsident wohnt nicht mehr im Schloss Bellevue (was zumindest einer seiner Vorgänger machte, wenn er in Berlin weilte), sondern verfügt über eine Dienstvilla in Dahlem. Wenigstens sieht die ein bisschen wie ein kleines Schloss aus.

 

Mehr Informationen über Schloss Charlottenburg bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten: https://www.spsg.de/schloesser-gaerten/objekt/schloss-charlottenburg-altes-schloss/

über die Hufeisensiedlung bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hufeisensiedlung

über das Buch „Die Kinder von der Fischerinsel“ https://www.bebraverlag.de/verzeichnis/titel/971-die-kinder-von-der-fischerinsel.html

über das Volksbegehren „Deutsche Wohnen enteignen“: https://www.dwenteignen.de/

und über die Dienstvilla des Bundespräsidenten beim Bundespräsidialamt: https://www.bundespraesident.de/DE/Die-Amtssitze/Schloss-Bellevue/Dienstvilla-Berlin-Dahlem/dienstvilla-node.html;jsessionid=85169B7976A5D56283B391DA7C54A16C.2_cid353