Wo anfangen, wenn man über das Wohnen in Berlin nachdenken möchte? Willkürlicher Einstieg: Schloss Charlottenburg. Die prächtige Residenz, Berlins größte Schlossanlage, hat Hunderte von Räumen, aber die meisten davon standen meistens leer. Der Riesenkomplex wurde über 200 Jahre an- und ausgebaut, um Seitenflügel, Theaterbauten, Orangerie und einen Park erweitert, es wurde dort gefeiert, repräsentiert, gelacht und geweint – aber gewohnt wurde eher selten. Jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem wir heute wohnen: Fester Lebensmittelpunkt, Heim und Herd, Tür zu, und das Private beginnt. Schloss Charlottenburg diente vorrangig als Sommerresidenz der preußischen Könige von kurz nach 1700 und knapp bis 1900, immer wieder mal aufgesucht, oft in scharfer Konkurrenz unterlegen gegenüber den Potsdamer Schlössern. Also standen sie leer, die Festsäle, Dienstbotenkammern, Küchen, Gänge, Repräsentationsräume, Schlafzimmer, Theater. Seit 100 Jahren wird das Schloss als Museum genutzt.
Nur wenige Schritte vom Schloss zum Zelt
Was für ein sinnloser Luxus! Es sind nur wenige Schritte vom Schloss bis zur Brücke über die Spree, die Menschen ein Zuhause bietet, nur eine Ein-Raum-Wohnung im Zelt, aber immerhin. Ein trockener Platz, mühsam ergattert im Konkurrenzkampf unter den Mittel- und Wohnungslosen. Manchmal kommt der Bus der Obdachlosenhilfe vorbei mit einer warmen Suppe, und die wohlsituierten Tagesbesucher bei der Nachbarschaft, bei Schloss und Park Charlottenburg, stellen hin und wieder dem Zeltbewohner gnädig ihre Pfandflaschen vor den Reißverschluss.
Wo wohnt das Glück?
Es waren keine vierzig Jahre vergangen, seit aus dem schönen, aber so wenig nützlichen Schloss am Spreeufer der letzte adelige Teilzeit-Bewohner ausgezogen war, da errichteten in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts weitsichtige Bauherren und Architekten die Hufeisensiedlung in Britz. Sie hat kein eigenes Theater, aber auch so etwas wie einen Park. Genauso wie das berühmte Schloss trägt sie jetzt den neuzeitlichen Adelstitel „UNESCO-Weltkulturerbe“. Hier sollte von Anfang an ausschließlich gewohnt werden, und zwar in bester Lebensqualität zu, genossenschaftlich kontrolliert, erschwinglichen Preisen, ganz ohne staatlich verordneten Mietendeckel. In Form eines großen Hufeisens ordnen sich die Wohnungen in drei Stockwerken fast rund um einen Teich, eine Grünanlage, davor kleine Gärten – was für ein Traum von Park! Ummauerte Nischen-Balkone laden zum Blick auf dieses Ensemble ein, eine kleine Gaststätte und die wichtigsten Geschäfte gibt es auch. Zusammen mit den Nebenbauten, die Teil des denkmalgeschützten Ensembles sind, entstanden hier rund 2000 Wohnungen auf einer Fläche, die mehrfach in den Charlottenburger Schlosspark passen würde. Wer hier wohnen darf, hatte Glück, und hat es gleichzeitig gefunden, das Glück des Wohnens. Kein Wunder, wenn die Siedlung auch noch nach einem Glückssymbol benannt ist. Die Hufeisensiedlung, die Siemensstadt und andere, ähnliche Wohnquartiere in Berlin aus dieser Zeit zeugen vom Willen, der Metropole endlich den Wohnraum zu schaffen, nach dem sich viele sehnten in ihren verrotteten, krankmachenden Armenbauten. Wohnraum als Sozialprojekt, nicht als kommerzielle Veranstaltung.
Wieder vierzig Jahre später gab es in einem Teil dieser Stadt staatlich verordnet keinen Wohnkommerz mehr. Die DDR-Führung verfolgte mit ihren Plattenbauten die gleichen Ideale wie die Visionäre der Sozialsiedlungen aus den Zwanzigern. Aber hier wurde nicht Bauhaus-ambitioniert gebaut, sondern schnell und billig hochgezogen, städtebaulich phantasielos, vom Westen verspottet. Das war effizient, um nach einem Krieg und seinen Verwüstungen endlich menschenwürdigen Wohnraum zu schaffen für die vielen, die danach suchten. Sieben solche Hochhäuser stehen zum Beispiel auf der Fischerinsel, keine zehn Minuten Fußweg entfernt vom Ostberliner Stadtzentrum am Alexanderplatz, 1500 günstige Wohnungen. Heute wie damals eine Premium-Wohnlage, und heute wie damals kann man im inzwischen sanierten Plattenbau dort das private Glück des Wohnens finden. Andreas Ulrich hat in seinem Buch „Die Kinder der Fischerinsel“ die Biografien seiner Generation als Bewohner der Hochhäuser zusammengetragen. Die meisten seiner Geschichten berichten von glücklichen Kindheiten: Endlich Aufzug statt Treppensteigen, endlich Zentralheizung statt Kohlen schleppen, endlich Bad in der Wohnung statt Plumpsklo auf dem Flur. Im ganzen Buch geht es nicht ein einziges Mal um die Frage, wie teuer wohl die Miete war.
Gewinnt der Kommerz gegen das Soziale?
Wenn der Flaneur heute den Weg entlang der ehemaligen Mauer geht, kann er oft an der Bebauung erkennen, wo West und Ost war: Im früheren Westen rückten die Mehrfamilienhäuser der 60er Jahre bis fast an die doppelte Kopfsteinpflasterreihe heran, die jetzt Symbol für den Verlauf der Grenze ist. Auf der Ost-Seite konnte der Platz des Todesstreifens nach seiner Beseitigung lukrativ genutzt werden. Jetzt stehen hier Neubauten, schick und teuer mit breiten Balkons und bodentiefen Fenstern. Wer hier wohnt, muss sich eher nicht kümmern um die Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen!“, deren Motto überall gepinselt ist auf die Betonwände dieser Stadt und per Schablone gesprayt auf den Gehwegen. Engagierte Mieter sammeln Unterschriften für ein Volksbegehren, sogar am Feiertag im Charlottenburger Schlosspark. Der DAX-Konzern „Deutsche Wohnen“ besitzt in Berlin mehr als 115.000 Wohnungen, auch die in der Hufeisensiedlung und der Siemensstadt. Das skeptische Mietervolk fürchtet nicht zu Unrecht, dass die Marktmacht des Konzerns nach und nach dem Kommerziellen die Oberhand über das Soziale verschaffen könnte. Dass Investoreninteressen aus einfachen, billigen Wohnungen luxussanierte Edelquartiere werden lassen, in denen sich Gutbetuchte ihr geschütztes Leben hinter sicheren Eisentoren gönnen. Dass infolgedessen alle Mieten steigen werden und am Ende immer mehr Menschen unter der Brücke im Zelt schlafen.
Ob es ein „Ende“ geben kann? Unersättlich scheint er zu sein, der Wohnungshunger in den Metropolen, wo immer neue Generationen, neu zugezogene Migranten, noch mehr Studierende, noch mehr Alleinlebende, noch mehr Businessleute und Regierungsbürokraten, nach dem immer gleichen kleinen Glück suchen in den privaten vier Wänden.
Im Schloss wohnt immer noch keiner
So wird also überall gewohnt in Berlin: Im edel gentrifizierten Loft, im sanierten Plattenbau, in der heiß umkämpften Denkmalschutz-Wohnung im Hufeisen, in der Hasenstall-artig übereinandergestapelten Neubauwohnung, im unsanierten Altbau, in dem der Putz von der Wand bröckelt, unter der Brücke im Zelt und ohne Zelt auf dem wärmenden Lüftungsschacht. Nur in den großen Schlössern dieser Stadt, da wohnt immer noch keiner; sogar der Bundespräsident wohnt nicht mehr im Schloss Bellevue (was zumindest einer seiner Vorgänger machte, wenn er in Berlin weilte), sondern verfügt über eine Dienstvilla in Dahlem. Wenigstens sieht die ein bisschen wie ein kleines Schloss aus.
Mehr Informationen über Schloss Charlottenburg bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten: https://www.spsg.de/schloesser-gaerten/objekt/schloss-charlottenburg-altes-schloss/
über die Hufeisensiedlung bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hufeisensiedlung
über das Buch „Die Kinder von der Fischerinsel“ https://www.bebraverlag.de/verzeichnis/titel/971-die-kinder-von-der-fischerinsel.html
über das Volksbegehren „Deutsche Wohnen enteignen“: https://www.dwenteignen.de/
und über die Dienstvilla des Bundespräsidenten beim Bundespräsidialamt: https://www.bundespraesident.de/DE/Die-Amtssitze/Schloss-Bellevue/Dienstvilla-Berlin-Dahlem/dienstvilla-node.html;jsessionid=85169B7976A5D56283B391DA7C54A16C.2_cid353