Eine Jagd steht bevor (5. Dezember 2021)

Zum Amtsantritt von Annalena Baerbock – Ein Plädoyer für Respekt und Haltung

Die Welt und ihre Geschichte sind voller Frauen , denen man ihre Aufgabe nicht zugetraut hat.  Die wenigsten davon kennen wir. Einige schon: Clara Schumann war eine herausragende Pianistin, finanzierte mit ihren Auftritten die Existenz ihres berühmten Mannes, durfte aber nur heimlich eigene Werke schaffen, um seinen Ruf als Komponist nicht zu stören. Fanny Mendelssohn wurde von ihrem Vater daran gehindert, ihr musikalisches Talent auszuleben, weil sie das Strahlen ihres Bruders Felix am Musikhimmel nicht stören sollte.

Zu viel Musik? Die französische Nationalheldin Jeanne d´Arc musste zahllose entwürdigende Prüfungen über sich ergehen lassen, bevor sie sich gegen die Vorurteile „zu jung, eine Frau!“ durchsetzen konnte. Und auch Angela Merkel trauten viele die Aufgabe nicht zu, die sie jetzt nach 16 Jahren weltweit geachtet abgibt.

Nun blicken viele auf die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Und Skepsis ist schick, wenn der Blätterwald rauscht und die hinter anonymer Feigheit verborgenen Trolle ätzen. Ob sie das wohl schaffen wird?, wird geraunt. Auf Augenhöhe mit den Alphas dieser Welt? Ob ihre Stimme dafür nicht zu wackelig ist, um Sergej Lawrow die Menschenrechte zu erklären? Sie hat doch schon Fehler gemacht! Ob nicht der erfahrene Cem Özdemir geeigneter gewesen wäre?

Der Blätterwald rauscht, das Netz ätzt

Annalena Baerbock, damals noch Kanzlerkandidatin der Grünen, bei einer Veranstaltung in Stuttgart am 21. September 2021

Dies hier ist ein Appell an politische Kultur: Die bewusst-demokratisch denkende, große Mehrheit der Deutschen, egal ob Mann oder Frau, könnte sich in diesen Tagen auf Selbstdisziplin besinnen. Es geht darum, klug zu wägen, was wir sagen über Annalena Baerbock. Und zwar unabhängig davon, ob man grün gewählt hat oder nicht, unabhängig davon, ob man die ehemalige Kanzlerkandidatin persönlich schätzt oder nicht, ob man ihr Fehler verziehen hat oder nicht.

„Öffentliche Meinung“ kann Menschen vernichten

Jetzt ist Respekt und Haltung gefordert. Respekt vor einer Persönlichkeit, die einer neuen Generation von Politik angehört, die einen demokratischen Weg gegangen ist, der sie in dieses Amt geführt hat. Respekt vor dem Willen, fordernde Verantwortung zu übernehmen. Und auch eine Haltung gegenüber der lauernden Meute, die jetzt jedes Wort, jede Geste, jeden Gesichtsausdruck unter die Lupe nehmen, gnadenlos kommentieren, respektlos ausschlachten wird. Das desaströse Klima einer „öffentlichen Meinung“, das die Kandidatur von Armin Laschet jenseits aller sachlichen Argumente mit wenigen Bildern und einer Flut von Häme zerstört hat, kann da als Beispiel gelten. Die mitleidigen Töne wenige Tage nach der Bundestagswahl, in denen manche der gerade noch Zynischen einräumten, dass der „Armin manchmal vielleicht etwas ungerecht behandelt wurde“, machen den vor Respektlosigkeit triefenden Vorgang davor um keinen Deut besser.

Gleiches droht in den nächsten Wochen und Monaten Annalena Baerbock. Auch der neue Kanzler und allen anderen neuen Ministerinnen und Ministern werden Häme und Herabsetzung erleben. Aber kaum jemand (vielleicht nur noch der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der öffentlich so hochgelobt nun besonders vor der Gefahr des tiefen Sturzes steht) wird von der Meute so kritisch beobachtet, so messerscharf beurteilt werden, wie die ehemalige, schon damals strauchelnde Kanzlerkandidatin und jetzt neue Außenministerin. Es ist eine Jagd, die uns bevorsteht. Und jede/r einzelne von uns steht jeden Tag neu in jedem Mittagsgespräch, jedem Facebook-Post, jedem Tweet vor der Frage, ob sie oder er sich an der Jagd beteiligen will.

Welpenschutz? Nein. Darf man lernen? Ja.

Sollte die neue deutsche Außenministerin also unter Welpenschutz stehen? Nein. Muss sie sich messen lassen an dem, was sie tut, sagt, verantwortet? Ja, aber auch nur daran. Muss alles, was sie früher gesagt hat, sich jetzt in konkreter Politik wiederfinden? Nein, weil das neue Amt andere Anforderungen hat als frühere Funktionen in einer Partei. Und weil man lernen darf, auch in höchsten Staatsämtern.

Die Welt ist voller Frauen, denen man ihre Aufgabe nicht zugetraut hat. Und voller Männer, die trotz tausend Fehlern in ihren Ämtern verblieben sind. Auch Frauen in Verantwortung scheitern an eigenen Fehlern. Zusätzlich prallen sie gegen eine Mauer von Vorurteilen und Chauvinismus. Wir sind es, die diese Mauer bauen.

Oder wir belassen es einfach dabei, Politik zu beurteilen, zu diskutieren, zu kritisieren, ohne dabei Menschen zu vernichten.

 

 

Weitere Beiträge als #Politikflaneur finden Sie hier.

Über das Schicksal von Fanny Mendelssohn und welche Bedeutung Väter für die freie Entwicklung ihrer Töchter haben, habe ich auch als #BerlinerFlaneur einige Überlegungen niedergeschrieben.