Im Candy-Storm des Religiösen

Besuch am „Berg der Kreuze“ in Litauen – Ein Erlebnisbericht

Wahrscheinlich war es in einer Morgendämmerung, als die Bulldozer anrollten. Brutalitäten, für die sich die Verantwortlichen schämen, finden immer in der Morgendämmerung statt. Oder wurden sie schon am Abend vorher bereitgestellt? Vielleicht passierte es aber auch zu verschiedenen Tageszeiten, denn es geschah mehrfach. Sicherlich knackte und splitterte es, wenn die Hölzer unter der Last der Maschinen brachen. Es ging darum, Kreuze niederzuwalzen.

Der „Berg der Kreuze“ ist ein Ort ungebremster Religiosität, dessen außergewöhnliche Wucht auch den aufgeklärten Zweifler nicht unberührt lässt.

Niemand kann mehr genau sagen, warum die Menschen im 19. Jahrhundert genau an dieser Stelle, auf zwei unscheinbaren Hügeln in der Nähe der Stadt Šiauliai im Norden des heutigen Litauens damit begonnen hatten, Kreuze aufzustellen. Nicht ein oder zwei, sondern Zig, Hunderte, später Tausende. Vielleicht folgten sie einer Legende, wonach das Aufstellen eines Kreuzes ein Kind geheilt habe. Oder sie taten es aus anlassloser Frömmigkeit. Oder aus Angst vor dem Tod, oder als Hoffnung auf ein Leben danach. Vielleicht als Fürbitte? Oder es ging ihnen darum, der Toten in den Freiheitskämpfen Litauens gegen die russische Herrschaft zu gedenken. Warum auch immer, sie taten es.

Viermal wurde versucht, die Kreuze zu zerstören

In Folge des Hitler-Stalin-Paktes geriet auch dieser Ort unter den Einfluss der Sowjetunion. 1940 sollen auf den Hügeln etwa 140 Kreuze gestanden haben. Nach kommunistischer Ideologie zu viele, schon gar, wenn sie auch noch an die Toten erinnern wollten, die nach Sibirien deportiert worden waren. Ein solchen Ort voller Kreuze störte das Bild, ein Platz ungeregelter Volksfrömmigkeit war im Kommunismus unerwünscht. Insgesamt viermal – erstmals am 5. April 1961, dann nochmals in den Jahren 1973, 74 und 75 ließen sie die Bagger anrollen und machten die aufgestellten Kreuze dem Erdboden gleich. Sie verbrannten das Holz, zertrümmerten den Beton, schmolzen das Metall ein.

Aber es nutzte nichts, oft schon wenige Tage später standen wieder die nächsten Kreuze da. Wie von Zauberhand. So wurde mit jeder Zerstörung mehr der „Berg der Kreuze“ von einem religiösen Symbol zu einem politischen Ort. Seit 1991 ist Schluss mit der Vernichtung der Kreuze. Der politische Umsturz in Osteuropa mit der Wiedergewinnung der staatlichen Souveränität Litauens legitimierte auch diesen Ort. Wer heute den Berg besucht, findet eine gut durchstrukturierte Tourismus-Infrastruktur vor: ein gebührenpflichtiger Parkplatz, moderne Toilettenanlagen, Imbissbuden und zahlreiche Verkaufsstationen für allerlei frommen Tand. Wer Menschen erlebt hat, die ihren Glauben ganz einfach ausleben, nicht hinterfragen, nicht grübeln, sondern einfach ganz schlicht daran glauben, was die katholische Kirche verspricht – der kennt solche Orte ungebrochener Frömmigkeit.

Eine Wucht ganz besonderer Art

Der aufgeklärt-zweifelnde Besucher ahnt also, worauf er sich hier einlässt, während er den breit ausgebauten Fußweg zu den Hügeln, die jetzt ein immaterielles UNESCO-„Kulturerbe der Menschheit“ sind, entlangschreitet. Dort angelangt, ist es aber dann doch eine Wucht ganz besonderer Art, die hier das spirituell orientierungslose Gemüt überwältigt. Nicht nur, dass die politische Komponente sehr klar spürbar ist, dieses offenkundig ausgestellte, abertausendfache Obsiegen einfacher Kreuze gegen die ideologische Verneinung allen Übersinnlichen. Es auch eine Art gläubiges Evolutionserlebnis, das sich hier bietet; eine Chance, am Schicksal der Kreuze live mitzuerleben, wie alles Materielle den Weg des verrottenden Verfalls geht, welche strahlende Verheißung es auch immer gewesen sein mag zu Beginn.

So unbeugsam die Kreuze seit rund 150 Jahren der politisch gewollten Unterdrückung widerstanden haben – so sehr sind sie doch dem natürlich Verfall ausgesetzt. Die provozierende Regellosigkeit dieses Ortes lässt nachdenken über das evolutionäre Schicksal aller Materie.

Auf dem Berg der Kreuze herrscht weitgehende Regellosigkeit. Vorgegeben ist nur, wo keine Kreuze hingestellt werden dürfen, und verboten ist es aus naheliegenden Gründen, Kerzen anzuzünden. Aber sonst kann jede und jeder so viele, so große Kreuze errichten, sie beschriften und widmen, wie es beliebt. Eine Gruppe Studierender hat in den 90er Jahren einmal versucht, nur die aufgestellten (nicht die liegenden, hängenden, angelehnten) Kreuze zu zählen und hat angeblich bei der Zahl 50.000 das Experiment abgebrochen. Es sind unzählbare Massen von Kreuzen, die hier versammelt sind, sich stapeln, aneinander lehnen, hängen, abrutschen, verrotten und zerfallen. Niemand sorgt für Ordnung, zwischen den Kreuzen bahnen sich die Trampelpfade ihren Weg und wuchert das Gebüsch. Wie eine Flechte greifen die Kreuze immer weiter aus, besiedeln inzwischen schon die Zugangswege. Große Kreuze recken sich wichtigtuerisch dem Betrachter entgegen, schüchterne Kreuze erkennt man erst auf den zweiten Blick, es gibt kleine und allerkleinste, die an Bäumen hängen und im Wind baumeln. Kreuze mit Botschaft und ohne, Kreuze verschiedener christlicher Religionen, eitle Kreuze und namenlose – alles durcheinander.

Mitmachen beim Massenkreuzgang?

Der polnische Papst Johannes Paul II. war natürlich auch schon da. Eine große Messe hat er bei seinem Besuch im Jahr 1993 an dieser Stelle abgehalten; der Pavillon davon steht noch immer. Ein Kloster wurde in der Nähe gegründet. Und doch verblasst alles das gegen diese gläubige Massenenergie, die hier greifbar wird. Eine analoger Candy-Storm der Religiosität ist hier im Gange, jeden Tag neu. Kreuze in allen Größen werden verkauft neben dem Parkplatz, und während man schon zugreifen möchte, um auch dabei zu sein bei diesem Massenkreuzgang, da lädt schon eine Familie ihr stolzes Großkreuz aus dem Kofferraum.

Also auch ein eigenes Kreuz diesem Ort der Spiritualität beisteuern, es dem Verfall preisgeben, der körperlosen Ewigkeit überantworten? Bei allem Respekt für Gläubigkeit und politische Freiheitsbotschaft: Dem aufgeklärten Zweifler ist dieser Weg zum Glück eben doch versperrt.

… und für Nachschub ist gesorgt.

Der „Berg der Kreuze“ ist eine wichtige touristische Attraktion in Litauen. Eine gut zusammengefasste Information findet sich bei Wikipedia oder z.B. hier. 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

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Vom 17. bis 31. Mai 2025 habe ich eine Studienreise von Berlin aus durch den Norden Polens, anschließend durch alle drei baltischen Staaten unternommen. Nach einem Schiffstransfer über den finnischen Meerbusen endete die Reise in Helsinki. In mehreren Texten versuche ich, einen Teil der Eindrücke zu schildern. Dieser hier fasst fünf Impressionen zusammen. 

Trakai war die mittelalterliche Trutzburg gegen die Deutschordensritter – heute ist sie ein Symbol für die nationale Eigenständigkeit Litauens. Willkommen im Baltikum!

Störche, Kiefern und Kirchen

Wie vertraut diese Landschaften sind! Längst rollt das Gefährt nördlich von Deutschlands Norden, ist über die geografische Höhe von Kopenhagen weit hinaus. Polen ist durchfahren, nun weht die Fahne mit dem litauischen Ritter über der Trutzburg von Trakai, die einst den Deutschen Orden auf seinem Eroberungszug nach Norden aufhielt. Hier und im weiteren Verlauf bestimmen weite gelbe Rapsfelder das Landschaftsbild, geduldig vorbeigleitende Kiefernwälder, später oft Birken. Häufige Storchennester. Der große Vogel zieht viel Aufmerksamkeit auf sich, wo immer er auftaucht. Denn es gibt sonst wenig in der Landschaft, was im Vergleich zu dem bei uns Wohlbekannten ungewöhnlich wäre. Litauen, Lettland, Estland: Das Baltikum ist kein Abenteuer, sondern die Wiederentdeckung einer vertrauten Welt. Eine europäische Kulturlandschaft, geprägt von den gleichen Bäumen und Blumen, den gleichen Dörfern, Burgen und Kirchen, die wir aus unserer Welt kennen. Nichts Exotisches haben diese Landstriche an sich, das Baltikum ist Brandenburg ähnlicher als dem Baskenland. Wer also käme auf die Idee, diese alten Kulturvölker würden nicht dazugehören zu einem geeinten Europa? Wie gut: Sie gehören dazu, und keine Grenzkontrolle unterbricht die Reise ins wohlvertraute Unbekannte.

 

Unermesslicher Großmut im Billigflieger-Revier

Muss es wiederholt werden? Ja, es muss, damit der Partytourismus sein angemessenes Gegenstück hat. Die lettische Hauptstadt Riga liegt im Billigflieger-Trend: Schnell mal für ein Wochenende dorthin, das Bier ist preiswert, die Stimmung gut, und Fußball gucken lässt sich gesellig mit den vielen Feier-Briten, die hier unterwegs sind. Nur ein Kilometer entfernt vom heutigen Vergnügungsrevier in der Altstadt lag das jüdische Getto, heute eine Gedenkstätte. In Vilnius begegnet uns zwar nicht so viel Ballermann, aber auch ein jüdisches Viertel, das von den Deutschen wie in Riga systematisch leergeräumt wurde – durch Deportationen, Ermordungen, Massenerschießungen. Riga-Bikernieki, Kaunas, Kauen, Raasiku – wenige Namen nur sollen aufgezählt sein für die vielen anderen Orte des Grauens, die es genauso zu nennen gelten würde. Sie alle haben nun doch den Deutschen verziehen, was nicht zu verzeihen und  schon gar nicht zu vergessen ist. So erzählen sie jetzt vom unermesslichen Großmut geschundener Völker, der den Nachkommen der Mörder erst ermöglicht, in diesem Teil Europas unterwegs zu sein.

„#WirsindNATO“ steht in Mensch-großen Lettern vor dem Verteidigungsministerium von Vilnius.

Fragiler Reichtum der Unabhängigkeit in Freiheit

Mit ihrer nationalen Unabhängigkeit haben Deutsche den schrecklichst-denkbaren Missbrauch betrieben. Und doch: Das Gefühl, dass sie im eigenen Staat ihr Schicksal selbst bestimmen können – dieses Gefühl ist Deutschen seit Generationen so vertraut, als wäre es selbstverständlich. Dabei hatten sie es schon verwirkt und doch noch einmal geschenkt bekommen nach der Katastrophe der Nazidiktatur. Deutsche leben nun in einem freien Land, tief verankert in Europa, umgeben von Freunden, gewiss nicht perfekt, schuldbeladen, aber doch weitgehend unabhängig in der Gestaltung ihres Schicksals. Auf der Reise durch das Baltikum erspürt ein deutscher Mensch neu den fragilen Wert dieses Schatzes nationaler Selbstbestimmung. Litauen, Lettland und Estland wurden über Jahrhunderte hin und her geschubst zwischen de angrenzenden Großmächten. Zuletzt haben sie sich ihre Eigenstaatlichkeit erst wieder erkämpfen müssen vor gerade einmal gut dreißig Jahren. Kaum wahrgenommen  von der Weltöffentlichkeit, schon gar nicht in Deutschland, das im ungläubigen Staunen über die unerwartete Chance zur Einheit gebannt nach Ostberlin, Leipzig, Dresden starrte. Weiter nördlich haben im August 1989 zwei Millionen Menschen eine Menschenkette über 600 Kilometer durch alle drei baltischen Staaten gebildet, die damals noch Sowjetrepubliken waren. Sie haben später sowjetischen Panzern getrotzt, die der hierzulande so beliebte Michail Gorbatschow noch loskommandierte, um einen Zerfall seiner kollabierenden Sowjetunion aufzuhalten. Nun ist in jedem Gespräch, in jeder Begegnung die Angst vor Russland zu spüren. Die russische Exklave Kaliningrad lauert wie eine gefährliche Tretmine an Litauens Grenze, und der Osten Estlands grenzt direkt an den aggressiven Nachbarn. Verloren ist an beiden Stellen die dort schon einmal gewonnene Normalität. Die Unabhängigkeit ist erreicht, aber fragil, trotz EU- und Nato-Mitgliedschaft. Wissen Deutsche, was für ein Reichtum im Gewinn der Unabhängigkeit in  Freiheit steckt? Wer ihn spüren will, wer erfahren will, wie gefährdet dieser Reichtum sein kann, sollte hierher reisen.

Eine Lebensversicherung? Litauen hofft, dass die Zusagen des US-Präsidenten auch für seine Nachfolger gelten. (gesehen am Rathaus von Vilnius)

Der Stolz der Restauratoren

Wenn die Fresken zerstört sind, wenn die Mauern in Trümmern liegen, wenn die Fenster zersplittern – spielt es eine Rolle, wer Verursacher war? Deutsche haben hier gemordet und vergewaltigt, sie haben Menschen gequält und ihre Städte und Dörfer geschunden. Auch Stalins  Rotarmisten haben hier getötet und gefoltert, Kulturstätten im Baltikum zerstört, zerbombt und geplündert. Sowjetische Ideologen haben Kirchen verrotten lassen, zu Lagerhäusern umfunktioniert ohne Rücksicht auf die ihnen schutzlos ausgelieferten Kulturgüter. Die drei jungen Staaten des Baltikums bemühen sich nun um eine Restaurierung ihrer kulturellen Identitäten, ihrer Geschichte und Geschichten. Die Menschen, die es praktisch tun, berichten gerne von ihren Kämpfen und Erfolgen im Gefecht gegen den Zahn der Zeit, gegen das Vergessen und Zerstören. Es ist auch ein Streit um die Wahrheit und darum, was eigentlich die Wahrheit ist. Was davon soll sichtbar sein? Das Schöne naiv wiederherstellen, als wäre nie etwas gewesen? Die Wunden als solche erhalten? Zeigen, was fehlt? Und während der Besucher der restaurierten Orgel in Riga lauscht, bombardieren russische Flugzeuge gezielt auch Bibliotheken, Theater, Museen, Kirchen in der Ukraine. Wer den Restauratoren im Baltikum zuhört, spürt die Mühsal, aber auch den Stolz, die eigene kulturelle Identität wieder herzustellen, erfahrbar zu machen für sich selbst und alle, die kommen. Spielt es eine Rolle, wer schuld war? Nein, sagen sie dann, aber festgehalten werden, das muss es schon.

 

Von Kirchenglocken zu blau gefärbten Haaren

Natürlich könnte man einfliegen. Ein Wochenende im gemütlichen Vilnius, das nächste im feiergelaunten Riga, und schließlich eine Shopping-Tour nach Tallinn. Warum nicht? Alle drei baltischen Hauptstädte versprechen in den Sommermonaten lange helle Nächte bei angenehmen Temperaturen. Und doch hat der langsame Reiseverlauf vom Süden in den Norden des Baltikums eine eigene Qualität. Mit jedem Kilometer wandelt sich das Bild von der Tradition in die Moderne. Das geschichtlich mit Polen verbundene Litauen ist von katholischer Volksfrömmigkeit geprägt. In dieser eher konservativen Gesellschaft tönen die  Kirchenglocken noch lauter als die hochgetunten Autos. Vieles hier wirkt improvisiert, auf dem Land finden sich immer wieder verfallene Gehöfte, die ihrem Schicksal überlassen wurden. Menschen, die nicht dem europäisch-weißen Muster entsprechen, begegnen dem Reisenden kaum in Litauen und nur sehr vereinzelt in Lettland. Immerhin ist Riga urban und lebendig, die größte Stadt der ganzen Region. Aber erst im protestantisch geprägten Estland ändert sich das Bild: Der Sozialraum wirkt fast schon skandinavisch aufgeräumt, oft strahlen rote Holzhäuschen im satten Grün, fast alles ist geordnet, die Gärten akkurat. Hier schimmern auch einmal blau gefärbte Haare durch das Straßenbild, ungewöhnliche Kleidung kommt entgegen, andere Haut als weiß. Estland hat – anders als die beiden anderen Balten-Republiken – eine gemeinsame Geschichte und eine verwandte Sprache mit Finnland, und in nur zwei Stunden gleitet die Fähre von Tallinn nach Helsinki und zurück. Und zwei Stunden mit dem Zug oder dem Auto weiter Richtung Osten läge St. Petersburg, das auch zu Europa gehört. Unerreichbar – nicht nur, weil man ein Visum bräuchte.

Hinter der blauen Linie endet die Welt des Westens. (Schautafel auf der Kurischen Nehrung)

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein weiterer Text berichtet von meinem Eindruck am „Berg der Kreuze“, einen katholischen Wallfahrtsort der Sonderklasse: „Im Candystorm des Religiösen“ 

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