Die Spur des Steins von Neu-Ulm

Söders Plan und der Steinwurf auf die Grünen

Gleich fliegt der Stein: Ein Besucher der Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Neu-Ulm holt aus. (Klick auf das Bild verbindet zu dem Video auf Youtube)

Das Video ist im Internet verfügbar. Es wurde am 17. September dieses Jahres um 19.02 Uhr in Neu-Ulm aufgenommen. Man sieht eine schüttere Menschenmenge, die vor einem Podium herumsitzt. Auf der Bühne stehen die beiden Spitzenkandidaten der Grünen für die Landtagswahl in Bayern: Katharina Schulze und Ludwig Hartmann. „Hol Dir Deine Zukunft zurück!“, steht auf der Wand, vor der sie sprechen. Was sie dazu sagen, ist unwichtig, und zwar wegen der Gegenwart. Der Mann, der den Stein wirft, hört ohnehin nicht zu. 44 Jahre ist er alt und gehört dem „Querdenker-Milieu“ an, wie später zu erfahren war. Er trägt ein weißes T-Shirt, steht auf, zögert, überlegt sich genau, was er macht. Er hat einen Stein in der Hand, holt aus und wirft ihn in Richtung des Podiums.

Es ist eine Sekunde des Entsetzens. Hartmann, der gesprochen hatte, unterbricht. Der Stein schwirrt auf Hüfthöhe zwischen den beiden Rednern hindurch. Katharina Schulze weicht reflexartig aus, dann knallt das Geschoss auf den Boden der Wahlkampfbühne. Menschen springen herbei, stellen den Steinewerfer zur Rede, in Sekundenschnelle eilt die Polizei hinzu und nimmt den Mann fest. Schulze greift sich das Mikrophon und bedankt sich bei der Polizei. „Warum zielt er?“, fragt einer von vielen anonymen Hasskommentatoren auf Youtube – „trifft doch eh immer den richtigen“.

Die Spur des Steins beginnt zwei Jahre früher

Zwei Jahre früher beginnt die Spur des Steins. CDU und CSU haben mit ihrem vom Unglück verfolgten und auch oft unglücklich agierenden Kanzlerkandidaten Armin Laschet die Bundestagswahl vom 25. September 2021 verloren. Schnell war geklärt, dass – wenn man keine weitere große Koalition haben möchte – nur entweder die SPD oder die CDU/CSU gemeinsam mit Grünen und FDP eine Regierung bilden können – „Ampel“ oder „Jamaika“. Die SPD hatte mit 25,7 % der Stimmen gegenüber der Union (23,3%) die Nase vorn. Im weit verbreiteten Irrtum, die Bundestagswahl sei so etwas wie eine heimliche direkte Kanzlerwahl, dominierte bald die öffentliche Erwartung, dass der „Sieger“ Scholz, und nicht der „Verlierer“ Laschet ins Kanzleramt einziehen sollte.

Politisch gesehen hätte es auch anders gehen können. Für „Jamaika“ gab es eine Mehrheit im Bundestag. Und es gab nicht wenige politische Beobachter, die für den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft vor großen Herausforderungen – insbesondere der unbestreitbar notwendigen, ökologischen Wende unter dem Druck des Klimawandels – eine schwarz-grüne Zusammenarbeit eine versöhnliche Option gewesen wäre für das Land. Aber es kam anders. Scholz und die SPD wollten sich ihren Sieg nicht nehmen lassen, Grüne und FDP fürchteten vielleicht den Zorn der Bürger, wenn sie sich über die diesbezügliche Erwartung in der Bevölkerung hinwegsetzen würden.

Laschets Hoffnungen störten Söders Pläne

Zusätzlich wurden die Bemühungen Laschets, eine Zusammenarbeit der Union mit FDP und Grünen im Gespräch zu halten, absichtsvoll hintertrieben wurden. Und zwar von: Markus Söder und der CSU. Sie waren gewissermaßen ein „Stein des Anstoßes“ (Martin Luther) für Söders Pläne. Die Inhalte der vertraulichen Sondierungsgespräche zwischen Union, FPD und Grünen wurden sekundenschnell durchgestochen, das gegenseitige Vertrauen damit gezielt zerstört.

Auch öffentlich distanzierte sich Söder von Laschets Hoffnungen auf eine Regierungsbildung. Schon zwei Tage nach der Bundestagswahl wurde Söder damit zitiert, dass die Union „keinen Anspruch auf eine Regierungsbildung“ habe (zitiert nach Frankfurter Rundschau, 27.9.2021): Jamaika sei zwar eine Option, könne aber „nicht um jeden Preis erfolgen“. Es gebe für ihn Punkte, die zentrale Bedingungen seien. Dazu zähle, „keine Steuererhöhungen zu beschließen und die Schuldenbremse nicht aufzuheben“ (beides übrigens Inhalte, die später die „Ampel“ ebenfalls so vereinbart hat).

Da lag er also im politischen Feld, der Stein. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) analysierte am 8. Oktober 2021: „Söder geht es um den eigenen Erfolg. In Bayern wird in zwei Jahren gewählt.“ Ein schwacher CDU-Kanzler Laschet und eine gerupfte Union „würde es Söder zusätzlich erschweren, sich im Landtagswahlkampf als starker Mann der bayerischen Christsozialen zu präsentieren.“ Dagegen ließe sich, so die WAZ vor zwei Jahren, gegen eine „unchristliche“ Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP einfacher Wahlkampf führen im konservativen Lager: „Gegen eine Ampel kann Söder stänkern. Im Falle einer Jamaika-Koalition von Union, Grünen und FDP wäre der CSU-Chef hingegen mitverantwortlich.“

Auf den Ministerpräsidenten kommt es an? Markus Söder wollte nicht, dass Steine fliegen gegen die Grünen. Aber er verfolgte seit zwei Jahren einen Plan, der das dafür geeignete Klima schuf. Als der Stein von Neu-Ulm flog, schob er die Schuld auf das Internet.  Foto: Josef A. Preiselbauer auf Pixabay

Söder und die CSU warfen den Stein nicht, aber hoben ihn auf

Söder und die CSU warfen keinen Stein. Aber sie hoben den Stein auf. Seither beschimpft der ruppige „Landesvater“ wie geplant die Politik der „Ampel“ allgemein, und die der Grünen besonders. Die Grünen würden ein Fleischverbot befürworten, behauptet er, es drohe eine Pflicht zur Gendersprache, sogar ein geplantes Verbot von Luftballons unterstellte er ihnen zeitweilig. „Die Grünen stehen letztendlich für diese Kultur: Nein, nein, nein. Verbot, Verbot, Verbot,“ poltert Söder in seiner Wahlkampf-Standardrede in fast jedem bayerischen Bierzelt. „Nur das einzige Mal überhaupt sind sie bei etwas nicht fürs Verbot,“ baut er Spannung auf, und es folgt dann eine polemische Unwahrheit:  „Es gibt nur eine Geschichte, wo die Grünen für eine Erlaubnis sind: Das sind Drogen.“ (so z.B. im Bierzelt Trudering am 12.5.2023).

Nun ist Zuspitzung ist ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung, auch wenn sie an die Grenze der Wahrheit heranreicht. Und sicherlich gibt es auch gute Gründe für harte Kritik an der Berliner Regierung und den Grünen. Mit Hubert Aiwanger von den Freien Wählern liefert sich Söder einen Wahlkampf als Überbietungswettbewerb der Aggressivität gegenüber einem einzelnen politischen Gegner aus dem demokratischen Spektrum. Was hat es mit Zuspitzung zu tun, wenn in maßloser Übertreibung suggeriert wird, großstädtische Kulturrevolutionäre würden an den Gartenzäunen rütteln, um den Bayern ihre individuelle Lebensgestaltung zu rauben? Manche Gemüter sind so aufgepeitscht von diesen Reden, dass ihnen das Wählen nicht mehr reicht. Sie wollen mit anderen Mitteln ganz sicher gehen, dass es nicht zur gefürchteten grünen Unterjochung kommt.

Bald liegen Steine vor den Bierzelten

Und so liegen schon bald Steine vor den sommerheißen Bierzelten. Die Stimmung heizt sich auf den Siedepunkt. Viele CSU-Anhänger empfänden es inzwischen als „kulturelle Aneignung“, wenn Katharina Schulze im Bierzelt ein Dirndl trage, sagt Andreas Glas von der Süddeutschen Zeitung. Die von Söder und Aiwanger angestachelte Wut gegen die Grünen bricht sich unkontrolliert Bahn. Vor einem Bierzelt in Chieming werden am 1. August Eier und Tomaten als potenzielle Wurfgeschosse verkauft, als Schulze und Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir auftreten wollen. Und auch große Steine werden dabei „zur Schau gestellt, a bissl in die lustige Richtung“ (aber nicht verkauft, wie der Standbetreiber der Süddeutschen Zeitung versicherte). Die Reden der beiden Grünen gehen in einem organisierten Pfeifkonzert unter. Özdemir kann nur unter massivem Polizeischutz sprechen.

Aber noch fliegt kein Stein in Chieming. Was hier tobt, ist der Mob, den ein Ministerpräsident und sein Stellvertreter und deren Helfershelfer angestachelt haben. In Sorge um die eigene Macht hatte Söder vor zwei Jahren eine Strategie ersonnen, die politische Verantwortung missachtete: Lieber nicht in Berlin regieren, damit man in Bayern Stimmung machen kann.

Und dann fliegt der Stein. Wer blutet?

Und dann, am 17. September, fliegt der Stein von Neu-Ulm. Es ist fast genau zwei Jahre, nachdem Söder den Stein des Anstoßes aufgenommen hatte. Söder hat den Vorfall verurteilt. Besorgt äußerte er sich über eine „zunehmend destruktive Demokratie“. In der „Augsburger Allgemeinen“ sieht er als Ursache „digitale Blasen“, in denen nur noch Platz für die jeweils eigenen Standpunkte sei. Das führe zu einem immer raueren Ton und der Unfähigkeit zu Kompromissen.

Zehn Tage später droht ein Mann, der nach Erkenntnissen der Polizei eine Schreckschusswaffe besitzt, dem Schweinfurter Grünen-Landtagsabgeordneten Paul Knoblach einen „Kopfschuss“ an.

Am Sonntag wird gewählt. Bisher wurde niemand verletzt. Aber der Anstand blutet.

 

 

Inspiriert zu dem Text hat mich die mehrteilige Podcast-Serie der Süddeutschen Zeitung „Söders Endspiel“. Einzelne Informationen habe ich daraus entnommen.

Zur Flugblatt-Affäre rund um Hubert Aiwanger habe ich Neue Fragen an Hubert Aiwanger formuliert.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

Wokes Kunstvergnügen in Söders Reichweite

Nicole Eisenman im Münchner Museum Brandhorst – ein Ausstellungsbesuch

Frühlingsgrün schimmert es im Geäst der Bäume. Saftiges Gras deckt die Wiese. Tauben flattern, ein Hund tollt herum. Fast schon Schwabing ist das hier, umzingelt von Universitäten, Studentenviertel. Die Sonne glänzt vom weiß-blauen Himmel. Ein großes Lächeln tönt durch diese Stadt, ein vielsprachiges Palavern der Jugend dieser Welt, die hier studiert und lebt und genießt. Man teilt sich eine Pizza, trinkt aus mitgebrachten Plastikflaschen.

Ermattet im Klimawandel: Die New Yorker Künstlerin Nicole Eisenman hält der Wohlstandsgesellschaft den Spiegel vor – unterhaltsam, anregend, witzig. (Bildausschnitt aus: Tail End)

Dies ist kein Bild, sondern bayerische Realität. Die Bilder sind daneben untergebracht, in einem quaderförmigen Gebäude. Die Fassade schillert bunt, zusammengestückelt ist sie aus Tausenden kleinen bunten Klötzchen. Zu nüchtern für einen Prachtbau, aber angemessen schön für moderne Kunst.

Im trunkenen Rausch wacher Erwartung

Aufbruch der fröhlichen Gruppe, die gerade noch auf der Wiese saß in lockerer Runde. Niemand ist betrunken, und doch ist es ein trunkener Rausch von wacher Erwartung, der diese jungen Menschen hereinspült in das Museum Brandhorst im Münchner Museumsviertel, gleich neben der Pinakothek der Moderne. Die Siebträgermaschine des Museumscafés dampft und zischt, die Studierenden biegen erst einmal dorthin ab, bilden eine gesittete, geduldig und angeregt schnatternde Warteschlange. Englisch, französisch, deutsch – alles durcheinander. Nur keine Eile, der Barista braucht seine Zeit für einen perfekten Cappuccino. Noch ein Croissant dazu, ein italienisches Gebäck? Im Café werden erwartungsfroh die Tische zusammengeschoben.

Wach sind sie, vermutlich auch „woke“

„Wach“ sind diese jungen Menschen, und vermutlich auch „woke“. Denn der heute zum Schimpfwort mutierte Begriff war bei seinem Eintritt in den modernen Sprachgebrauch einfach nur eine Beschreibung. „Stay woke!“ mahnten sich gegenseitig engagierte Menschen nach den Polizeiübergriffen gegen Schwarze in den USA (z.B. gegen Michael Brown 2014 in Missouri). Sie wandten sich mit wachem Geist den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten in den USA zu. Schnell verbreitete sich das kurze Wort aus vier Buchstaben über die ganze westliche Welt, und als „woke“ wurden bald alle bezeichnet, die sich gegen rassistische, homophobe, sexistische Traditionen und Verwurzelungen wehrten.

Aber Sprache ist nicht neutral, Sprache ist ein Gefechtsfeld. In den nur knapp zehn Jahren seither war eine erfolgreiche Fremdermächtigung dieses Wortes durch rechtsgerichtete und konservative Kreise zu beobachten. „Wokeness“ wurde in ein Schimpfwort umgedeutet, gerade so, als wäre etwas falsch daran, dunkelhäutige Menschen nicht mehr kolonialistisch beleidigen zu wollen. Oder sexistischen Darstellungen in der Öffentlichkeit entgegenzutreten und für die Toleranz gegenüber queeren Lebenskonzepten zu werben, auch wenn sie einem selbst vielleicht fremd sein mögen.

„Bayern ist anders als Berlin.“ Hoffentlich nicht.

„Bayern ist anders als Berlin“, rüpelte jüngst Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, gegen die Bundeshauptstadt und die dort regierende Ampel-Koalition. „Wir lehnen Wokeness, Cancel Culture und Genderpflicht ab. Bei uns darf man sagen und singen, was einem einfällt.“ Hoffentlich nicht, möchte man ihm da zurufen, denn auch in Bayern darf erfreulicherweise nicht beleidigt und Gewalt verherrlicht werden.

So ganz hoch und abweisend kann die bayerische Mauer gegen die böse Wokeness nicht sein.  Noch bis 10. September zeigt das vom Freistaat Bayern getragene „Museum Brandhorst“, wenige hundert Meter Luftlinie vom Amtssitz des Ministerpräsidenten entfernt, eine spektakulär erfolgreiche Ausstellung der feministisch und bekennend homosexuell positionierten amerikanischen Künstlerin Nicole Eisenman. Was dort im wunderbar luftig hell ausgeleuchteten Keller des Museums auf die oben geschilderten Cappuccino-Trinker wartet, ist beste „woke“ Wohlstandskunst.

Eisenman bietet, was moderne Kunst zugänglich macht

Das Digitale wird Teil der menschlichen Identität: „Selfie“ von Nicole Eisenman.

Die Ausstellung zeigt eine Retrospektive von mehr als 100 Werken der 58-jährigen New Yorkerin unter dem Titel „What Happened“. Es sind Szenen aus dem gesellschaftlichen Leben in den USA – von der Künstlerin eingefangen „auf ebenso humorvolle wie mitfühlende Weise“ (Ausstellungstext). Die Bilder und Installationen bieten alles, was moderne Kunst zugänglich macht. Sie sind oft witzig und laden doch zum Nachdenken ein. Sie stellen die Fragen unserer Zeit, fangen die Ödnis einer oftmals sich selbst überdrüssig gewordenen Welt im Wohlstand ein, stets mahnend, aber nicht klagend. Eisenmans Figuren sehen den Betrachtenden an und fragen ihn, ob er so leben möchten, wie es da zu sehen ist – mehr im Nebeneinander als im Miteinander; mit sich selbst beschäftigt, statt wach für die Welt; verharrend in trostloser Monotonie des kommerziellen Erwartungsdruckes.

Beziehungslose Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern hocken in einem Biergarten und wissen mit sich und den vielen anderen, die um sie herum die Zeit totschlagen, nichts anzufangen. In ihrer Verblendung dösen Tea-Party-Republikaner dahin, festgefahren in ihrer Blase aus gegenseitiger Trostlosigkeit, die eine das Gewehr im Blick, während der andere an einem Sprengsatz herumfummelt. Menschen sind gefangen in einer digitalen Welt, die ihnen Kontaktfülle suggeriert, sie aber doch mutterseelenalleine auf das Sofa fesselt. Für ein Selfie teilen wir unsere ganze Identität mit dem Bildschirm.

Gesellschaftliche Missstände im Wohlstand

Im Gemälde „Tea Party“ warten konservative Aktivisten auf ihren Einsatz.

Eisenman zeigt gesellschaftliche Missstände im Wohlstand, auch deren politische Folgen. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Im Gegenteil: Dieser Text möchte eine engagierte Aufforderung sein, die inspirierende Kunst von Nicole Eisenman kennenzulernen. Und doch: Möglicherweise kann man am Blick der Künstlerin  auf ihre Welt besser verstehen, warum der Begriff „Wokeness“ eine solche abwertende Umdeutung erfahren hat, zum Kampfbegriff wurde gegen alles, was unbequeme Veränderung befürchten lässt.

Kommt man aus der passenden Ecke der Gesellschaft, so wird man sich bei Eisenman moralisch überlegen wohlfühlen. Die Künstlerin stellt das Patriarchat in Frage und geißelt Rassismus, sie sieht die Folgen des Klimawandels vorher und verspottet uns als Sklaven der digitalen Transformation. Und doch sind dabei die Betrachtenden stets wohlig unterhalten, dürfen grübeln und schmunzeln, müssen keine Schmerzen fürchten.

Die „woke“ Weltsicht ist nicht frei von Selbstgerechtigkeit

Eine so komfortabel ausgestaltete, „woke“ Weltsicht, die nicht frei ist von Selbstgerechtigkeit, musste zwischen die Mühlsteine des politischen Diskurses geraten. Für die einen ist sie selbstgerechte Nestbeschmutzung des mühsam der Geschichte und der Natur abgerungenen Wohlstandes, den der konservative Teil der reichen Gesellschaften lieber verteidigt sähe als verspottet. Auf diese Gefühle adressieren Markus Söder und andere, wenn sie pauschal „Wokeness“ zum Feindbild erklären.

Und den anderen, den Aktivisten für mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt, geht das alles nicht weit genug. Für sie finden die wirklichen Miseren des menschlichen Daseins nicht in der Beziehungslosigkeit eines Biergartenbesuchs statt oder auf der Couch eines Psychotherapeuten, sondern in den Hungerlagern der sonnenversengten Sahelzone, in den Folterkellern im Iran oder in den Fluten des Mittelmeeres, wo Menschen auf der Suche nach Hoffnung gegen ihr Ertrinken ankämpfen.

Da strömt schon die Gruppe die breite Museumstreppe hinab! Gerade hatten sie sich noch mit Cappuccinos gestärkt, nun streben sie der Kunst entgegen – erwartungsvoll, bunt gemischt, multikulturell, in lustig bedruckten T-Shirts und schwingenden Sommerröcken. Sie werden über Eisenmans Kunst lachen und grübeln, sie werden nachdenklich sein, und dann werden sie hinausstreben in ihre reiche, bunte Welt und sagen und singen, was ihnen so einfällt.

 

Weitere Informationen zur Ausstellung „What Happened“ im Museum Brandhorst (noch bis 10. September 2023) in München: https://www.museum-brandhorst.de/ausstellungen/nicole-eisenman/

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