Artikel Siebenunddreißig und Vierundachtzig

Über Populismus im Föderalismus – und zwei heimliche Stars des deutschen Grundgesetzes

Fabian Hinrichs als „Volksbürger“-Ministerpräsident. (Screenshot von der ARTE-Aufzeichnung)

Man solle doch regieren nach „gesundem Menschenverstand“, sagen Politikerinnen und Politiker – und auch viele Wählende – immer dann, wenn sie sich der Komplexität der Dinge verweigern möchten. Es sei doch ganz einfach, es müsse sich „was ändern im Land“, „die Mehrheit“, „das Volk“ habe in der Demokratie doch ein Anrecht darauf, dass ihr Wille geschehe.

Es sind diese Floskeln des Populismus, die Raum greifen im gesellschaftlichen Diskurs, und denen zu widersprechen schwerfällt. Wer sollte schon etwas haben gegen „Vernunft“, auch wenn jederfrau und -mann weiß, dass jedes seine eigene „Vernunft“ hat. Und heißt denn Demokratie nicht tatsächlich, dass die Macht vom Volk, und damit letztlich von dessen mehrheitlichem Willen ausgeht?

Föderalismus heißt oft: Bund beschließt, Land setzt um

Wohin das führen kann, ist ansatzweise im Freistaat Bayern zu besichtigen. Dort gibt es bekanntlich einen Ministerpräsidenten, der bei jeder Gelegenheit behauptet, die Bundesregierung würde sein Land benachteiligen. „Es dauert nicht lange“, schreibt zum Beispiel die Allgäuer Zeitung über Söder-Auftritte, „und schon ist die Rede vom Vorwurf, der Bund mache bewusst dem Freistaat das Leben schwer.“ Söder sage dann gerne: „Es soll bewusst der Norden bevorzugt und der Süden benachteiligt werden“, oder nennt es gar eine spürbare „Anti-Bayern-Stimmung“, die sich schon darin zeige, dass es keine Bundesminister aus Bayern gebe.

Nun sieht das Grundgesetz vor, dass in vielen Bereichen der föderalen Struktur in Deutschland der Bundestag unter jeweils gestaffelt strenger Mitwirkung der Länderkammer Gesetze erlässt, und diese in der Regel durch die Landesbehörden umzusetzen sind. Ein Beispiel: Man muss kein Freund der neuen Cannabis-Gesetzgebung sein (wie z.B. der Autor dieser Zeilen), man kann auch aus guten Gründen der Überzeugung sein, dass sie nicht den Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht und vielleicht sogar gegen den gesunden Menschenverstand verstößt – das Gesetz ist trotzdem gültig. Bei der nun folgenden Umsetzung durch Landesbehörden gibt es freilich einen Spielraum. „Wer mit Cannabis glücklich werden will, ist anderswo besser aufgehoben als in Bayern“, sagte Söder schon im Februar. Laut BR24 werde Bayern das Gesetz „extremst restriktiv“ anwenden. Später ergänzte der Ministerpräsident Söder: Der Freistaat soll „kein Kiffer-Paradies“ werden, was die Frage aufwirft, ob diese Gefahr je bestanden hätte. Alles das mag an der Grenze zwischen einer legitimen politischen Positionierung einer Landesregierung und ihrer Verpflichtung zur regelkonformen Umsetzung eines Bundesgesetzes liegen. Gegen den restriktiven bayerischen Kurs in dieser Sache regt sich inzwischen Widerstand, eine Klage dagegen wurde gerade angekündigt.

„Der Volksbürger“ regiert nach dem Prinzip „Freistaat first“

Was aber, wenn ein Land sich ganz und gar weigern würde, ein Bundesgesetz umzusetzen? Auf ARTE ist dies noch bis 2.10.2027 anschaulich, unterhaltsam und sehr lehrreich zu besichtigen. Gezeigt wird die Aufzeichnung eines Theaterereignisses, das Ende September im bekannten großen Saal der Bundespressekonferenz stattfand. Als „Politische Farce“ bezeichnet sich das zweistündige Stück, und der Titel lautet: „Der Volksbürger“. Gespielt vom famosen Fabian Hinrichs wird dort der jung-dynamische Ministerpräsident eines nicht näher bezeichneten „Freistaats“ gezeigt, der nach dem Prinzip „Freistaat first“ seine Landtagswahl mit absoluter Mehrheit gewinnt und sich dann tatsächlich daran macht, die bundesgesetzlich vorgegebenen Regelungen zum Ausländerrecht durch Nicht-Umsetzung ins Leere laufen zu lassen. Die betroffenen Menschen werden entweder obdachlos oder suchen sich ein anderes Bundesland zur Geltendmachung ihrer Rechte, wären also gewissermaßen „anderswo besser aufgehoben“ – um noch einmal Söder in anderem Zusammenhang zu zitieren.

Dabei ist dieser vom Schauspieler Hinrichs interpretierte, smarte Politik-Charakter kein unsympathischer Radikalinski, sondern ein charismatischer, sich seiner Außenwirkung allzu bewusster Populist, der das hässlich Konkrete im Vagen lässt, sein Volk glauben lässt, er hätte die Macht, vieles zu verwirklichen, was (früher) der Stammtisch und (heute) das Netz als „gesunden Menschenverstand“ palavert. Er müsse im Interesse seines Volkes dem „moralischen Gesetz“ folgen, nicht dem „Gesetz zwischen Aktendeckeln“.

Eitle Medien, Lokalpolitiker ohne Rückrad

Zu erleben ist auch allerhand nebenbei. Wie etwa die Medien zwar zunächst Freude daran haben, Aufmerksamkeit auf die rechtswidrige Praxis im „Freistaat“ zu lenken, mit der langfristigen Strategie des regierenden „Volksbürgers“ aber überfordert sind in ihrer Sucht nach der schnellen Schlagzeile. Oder: Wie der Politikbetrieb im Land sich blitzschnell nach den jeweils neuen, realen Machtverhältnissen ausrichtet wie die Nägel auf einen Magneten.

Allerdings: Der Rechtsstaat wehrt sich. Wie müsste die Bundesregierung in einem solchen Fall vorgehen (denn noch nie hat es diese Notwendigkeit wirklich gegeben)? Die Eskalation endet in einer Auseinandersetzung auf Messers Schneide, und wie sie ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Das zu Recht so viel gelobte deutsche Grundgesetz hat 146 Artikel, und es ist ein gutes Zeichen für den Zustand unserer Demokratie, dass der gesunde Menschenverstand der großen Mehrheit der Volksbürger in Deutschland die meisten davon nicht zu kennen braucht. Das gilt auch für die Artikel 37 und 84 GG.

Aber dass es sie gibt, das ist auch ein gutes Zeichen.

 

Den Film finden Sie auf  ARTE hier, aber auch in den Mediatheken von ZDF und 3sat.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

Tag 5: Der Rennsteig und das Space

Tag 5 (20.9.2024)

Von Nordhalben nach Reichenbach

Nicht nur die kleinen Orte im Osten verfallen, auch das bayerische Nordhalben stemmt sich gegen den Niedergang: Hilferuf im Ortszentrum.

„Ein deutscher Bergpfad ist’s! Die Städte flieht er und birgt im Dickicht seinen scheuen Lauf.“

So beschreibt der Dichter Joseph Victor von Scheffel den Rennsteig. Der berühmte Fernwanderweg über die Thüringer Gipfel ist uralt, und erst seit der deutschen Wiedervereinigung wieder komplett begehbar. Meine Wanderstrecke dieses Tages führt mich auf den Rennsteig, denn mehrfach kreuzt er auch den Kolonnenweg, auf dem ich in der Regel unterwegs bin.
Die Begegnung mit dem Rennsteig ist in zweifacher Hinsicht prägend:
Erstens sind plötzlich andere Menschen da. Während mir auf dem Kolonnenweg so gut wie nie Menschen begegnen, sind es auf den wenigen Kilometern, die ich heute auf dem Rennsteig unterwegs bin, gleich mehrere Wanderer und Mountain-Biker. Der Rennsteig ist hervorragend ausgeschildert und komfortabel; es gibt Rastplätze und Schutzhütten.
Zweitens irritiert mich, dass bei den Kreuzungspunkten des Rennsteigs mit dem Kolonnenweg der DDR-Grenzer nur selten ein Hinweis darauf zu finden ist, was das für merkwürdige Lochplatten sind, die da kilometerweit in der Landschaft liegen. Wanderer sind unpolitisch? Vielleicht, aber man muss sie nicht unwissend lassen.

Mein Weg begann vor fünf Tagen in der Nähe der sächsischen Kleinstadt Adorf. Auf der Suche nach Wanderproviant schlenderte ich damals dort durch das Städtchen und war entsetzt: Ein wunderbar renovierter Marktplatz, einladende Bänke, ein plätschernder Brunnen – aber sonst alles völlig verödet. Leere Schaufenster, verfallende Häuser, blickten mich an, und nur mit Mühe habe ich eine Bäckerei gefunden, die wenige Stunden geöffnet hat. Der Osten verfällt, habe ich mir da gedacht.

Nun Quartier in Nordhalben, gut siebzig Kilometer westwärts entlang der früheren Grenze, diesmal auf bayerischer Seite. Dasselbe Bild: Verfallende Häuser, leere Schaufenster, dröhnende Leblosigkeit trotz renoviertem Ortskern. Der Westen verfällt auch, denke ich mir.

Der Ort ist so sehr aus der Zeit gefallen, dass der Kino-Erfolgsfilm „Ballon“ im Oktober 2017 zu einem guten Teil hier gedreht wurde. Nicht nur, weil die atemberaubende Handlung sich tatsächlich in der Nähe abspielte – sondern auch, weil man zwischen diesen Häusern die graue Stimmung der späten DDR am besten nachbilden konnte. Überall im Ort wird an die Zeit erinnert, da Nordhalben Drehort für „Bully“ Herbig und seine Schauspieler war.

Straßenszene aus Nordhalben: In den Schaufenstern steht nichts, und ein Graffiti erinnert an die Aufnahmen für die Film „Ballon“, die hier gemacht wurden – auch, weil der Ort so sehr an die graue Realität der späten DDR erinnert.

Danach aber sank Nordhalben zurück in die ländliche Perspektivlosigkeit. Ein großes Transparenz beim Rathaus ruft um Hilfe: „Wir suchen: Ärzte, Handwerker … Wir bieten: Arbeitsplätze, bezahlbare Häuser“. Der einzige Supermarkt kündigt an, früher zu schließen. eine Jugendgruppe lädt zum Theaterabend: „Kerwa im Weltall“ heißt das Stück, das gezeigt wird, wobei man wissen muss, dass „Kerwa“ fränkisch ist für „Kirchweih“ – also Volksfest.

Das Stück ist Programm. Denn mittendrin in Nordhalben findet sich ein „Space“, gelandet wie ein Ufo auf einem vergreisenden Himmelskörper. Via Buchungsportal war ich zum Übernachten dort gelandet. Gut geschlafen habe ich, vor allem aber habe ich Unglaubliches gelernt: Als Maßnahme der bayerischen Wirtschaftsförderung wurde hier, inmitten des berechtigt befürchteten Niedergangs, eine alte Schule zu einem hochmodern renovierten Experiment umgestaltet: Konferenzräume, Co-Working-Räume, leistungsstarkes W-Lan, Gästeapartments.  Der verwaltende Hausherr, als ITler im Hauptberuf ortsungebunden, ist selbst mit Prämien und billigem Leben aus der Großstadt hierher gelockt worden. Nun kümmert er sich um seinen „Space“, sprüht vor Ideen, wie er mit dem ungewöhnlichen Bau dem sterbenden Nordhalben neues Leben einhauchen könnte. Vielleicht Yoga-Kurse? Rückzugsort zum Lernen und Schreiben für Studierende und Schriftsteller? Co-Working als Fluchtpunkt für erschöpfte Home-Office-Väter und -Mütter? Oder eine Akademie gründen, um das überbordende, stylische Raumprogramm zu füllen? Auch ein Verein gründet sich: Im Space wehrt sich Nordhalben gegen den Absturz.

Allein: Außer mir ist bisher wohl kaum noch einer da, der hier co-worken will. Und auch ich wandere  weiter.

 

Distanz: 17,2 Kilometer, 24.500 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 10, dazu 4 Mountainbiker (alle auf dem Rennsteig) 

Jäger-Hochsitze am Weg: 14

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Das Nordwald Space finden sie im Netz hier. 

Für mich ist der teilweise auch in Nordhalben gedrehte Film „Ballon“ ein herausragendes Beispiel dafür, wie man Geschichte erzählen kann, mit unfassbarer Spannung und Action, ohne dass ein einziger Schuss fällt oder sonst irgendeine körperliche Gewalt gezeigt werden muss. Der Film ist über verschiedene Streaming-Dienst zu erhalten. Hier der Trailer (Link führt zu Youtube):

 

 

Tag 4: Die Flucht am Schwarzen Teich

Tag 4 (19.9.2024)

Von Blechschmidtenhammer nach Hermesgrün

Verfall der Infrastruktur in Deutschland: Die erste benutzbare Sitzbank am Kolonnenweg der DDR-Grenzer taucht nach zehn Kilometern auf. Dort dann immerhin mit einer Gedenktafel über die Flucht am Schwarzen Teich.

„So viel der Helden, tapfer, deutsch und weise, – ein stolzer Eichwald, herrlich, frisch und grün!“, singt in der Wagner-Oper „Tannhäuser“ der Barde Wolfram von Eschenbach. Das fand der Sage nach unweit vom Frankenwald statt, auf der waldumstandenen Wartburg bei Eisenach in Thüringen. Der deutsche Wald meines Weges wird solchen Erwartungen nicht gerecht. Er ist kein stolzer Eichwald, sondern ein  grau zerfasertes Einerlei aus kränklichen Fichtenstämmen, frisch und grün ist er auch nicht. Der deutsche Wald, jedenfalls hier, krankt.

Ich bin in der Mitte Deutschlands, auch geografisch, und auf dem teilweise fast zugewachsenen Kolonnenweg herrscht absolute Einsamkeit. Die Geräusche der Natur begleiten mich auf dem Weg, auf dem mir den ganzen Tag über kein einziges menschliches Wesen begegnet. Eine nicht bewachte, aber umzäunte Schafherde grast auf einer Wiese, sonst nur Wald, Gebüsch, Schmetterlinge, Käfer, Spinnen, die ganze Vielfalt der Schöpfung.

Hinsetzen, anlehnen, ausruhen – das wäre gut. Ein für Wanderer gedachter Rastplatz nach etwa fünf Kilometern erweist sich als archäologisches Artefakt, verfallen und unbrauchbar. Nach zehn Kilometern endlich die erste nutzbare Rastbank am Schwarzen Teich.  Ich setze mich und lese eine Gedenktafel über die Geschichte der Flucht an dieser Stelle: Ein Vater mit zwei Kindern versuchte hier vor sechzig Jahren, im Sommer 1964,über die bereits befestigte Grenze von Ost nach West zu gelangen. Die Kinder erreichten unversehrt die bayerische Seite, der Vater aber trat auf eine Bodenmine und blieb schwer verletzt im Grenzstreifen liegen.

Zufällig griff ein fränkisches Pärchen im Auto die zwei an der Straße herumirrenden Kinder auf und übergaben sie der Polizei. Diese kehrte zurück an den Platz des grausigen Geschehens und brachte auch gleich den örtlichen Landarzt mit. Der Vater der Kinder lag noch immer schreiend vor ihnen, in Rufweite, aber auf DDR-Gebiet. Die DDR-Grenzer warnten vor Betreten ihres Staatsgebietes, aber die beiden Polizisten fassten sich ein Herz: Einer schoss als Feuerschutz in die Luft, und der andere zog den Schwerverletzten auf westdeutsches Gebiet. Der so Gerettete verlor durch die Detonation der Mine ein Bein, aber hatte die Freiheit gewonnen. Nach seiner Genesung und Rehabilitation kam er zur Polizeistation zurück und hat sich dort bedankt.

Das waren noch Zeiten, denke ich mir bei dieser Geschichte, als bayerische Polizei einen Flüchtenden nach Bayern hinein rettete! Die Zeiten sind anders, und ganz sicher ist es trotz allem, was man aktuell kritisieren kann und muss, nun doch besser als damals, da dies hier eine todbringende Grenze war.

Ein Plätschern , ein paar Steine – sie sieht die Landesgrenze zwischen Thüringen (vorne) und Bayern (hinten) am Schwarzen Teich heute aus. Vor 60 Jahren halfen hier bayerische Polizisten einem Flüchtenden über die Grenze, nachdem ihm eine Tretmine das Bein zerfetzt hatte.

Ich breche wieder auf, denke über meine Freiheit nach und über meine beiden gesunden Beine, während ich auf Flusskieseln hinüberhüpfe über den kleinen Bach, der einst die Grenze war. Menschenleere Stille – auf beiden Seiten.

Distanz: 13,9 Kilometer, 22.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 0

Jäger-Hochsitze am Weg: 19

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr Informationen über die Flucht am Schwarzen Teich als PDF auf der Website Grenzer-Stammtisch.de 

 

Tag 3: Der Gesang der Zivilisation

Tag 3 (18.9.2024)

Von Mödlareuth nach Blankenstein

Deutsche Einheit von unten: Rechts die Bogenbrücke der alten Hitler-Autobahn, links die ergänzte Brücke aus den 90er Jahren. Gemeinsam überspannen sie das Saaletal zwischen Thüringen und Bayern.

Ein Gärtner bläst das erste Herbstlaub vom Museumsgelände in Mödlareuth; das Museum ist noch geschlossen, aber das habe ich ja auch schon besucht. Es ist ein Aufbruch im spätsommerlichen Morgennebel, aber die feuchten Schwaden verziehen sich schnell. Strahlende Sonne über dem Grenzstreifen. Es herrscht vormittägliche Stille in der Natur, links ein Rascheln, rechts ein Pfeifen, oben das Keckern der Elstern. Eichhörnchen huschen über den Kolonnenstreifen. Die Blätter in den Bäumen rauschen im Wind.

Viele Gebäude im einst so stolzen Hirschberg, einem Zentrum der Lederproduktion, verfallen. Die Lederfabrik selbst wurde nach der „Wende“ abgerissen.

Der Weg führt durch Hirschberg und Rudolphstein. Beide Ortsnamen habe ich schon hunderte Male gelesen: Autobahnprominenz. Es gibt auch Orte dazu: Hirschberg in Thüringen war zweihundert Jahre ein Schwerpunkt der Lederfabrikation. Der DDR war das Leder von dort so wichtig, dass sie sogar akzeptierte, dass das Fabrikgelände bis unmittelbar an die tödlich bewachte Staatsgrenze reichen durfte. Nur drei Jahre benötigte dann das wiedervereinigte Deutschland (in Form der Treuhand), das riesige Fabrikgelände an einen österreichischen Investor zu veräußern, der ein halbes Jahr später Konkurs anmeldete. Das ganze Gelände, ein Labyrinth von Hallen, Gruben, Lagern wurde abgeräumt, heute erinnert eine Parklandschaft unmittelbar am alten Grenzstreifen an die Geschichte der Lederproduktion in Hirschberg.

Der Großstädter in mir vermisst den Müll. Am Weg liegt nichts, was nicht von der Natur selbst stammt. Keine Dosen, keine Kippen, keine Pizzakartons. Die Zivilisation nähert sich nur akustisch. Je näher ich der sechsspurigen A9 entgegenkomme, desto lauter liegt ihr ewiger Gesang in meinen Ohren. Zuerst ganz weit weg, eher zu ahnen, dann immer lauter singen die LKW-Bässe ihre Arie, schmachten die Tenöre der PKWs, dringt der Mezzosopran der Motorräder zu mir durch. Wüsste ich nicht, dass es sich um Vorbeirasende handelt, könnte man es für moderne E-Musik halten.

Mit diesem Gesang im Ohr gehe ich unter der „Brücke der Deutschen Einheit“ hindurch, die das Saaletal überspannt und damit Thüringen und Bayern verbindet. Ursprünglich war das ein Teil einer Hitler-Autobahn; die Bogenkonstruktion der Brücke galt schon in den 30er Jahren als spektakulär und beispielgebend. Nach der Einheit wurde sie kühn ergänzt um eine zweite Spannbetonbrücke. Nichts davon nehmen wir wahr, wenn wir oben auf der Fahrbahn zwischen Rudolphstein und Hirschberg entlangrasen. In ihrer ganzen Unterschiedlichkeit nebeneinander und einig verkraften diese Brücken die tägliche Last von Tausenden LKW und PKW und Motorrädern, dienen stumm dem nun so selbstverständlichen Hin und Her unseres deutschen Zusammenlebens. Ich schreite weiter, an der Saale entlang, und das rätselhafte Lied der Mobilität wird hinter mir immer leiser, bis es ganz verstummt.

Nur sehr gelegentlich begegne ich Menschen: Plötzlich, mitten im Wald, kommt mir eine junge Frau mit Baby im Tragetuch entgegen. Sie telefoniert und unterbricht ihr Gespräch, da sie genauso überrascht ist wie ich über diese Begegnung im Nirgendwo. Wo kam sie her? Später treffe ich zwei Damen meines Alters, plaudernd auf dem Spazierweg entlang der Saale. Sie bemitleiden mich darüber, dass ich in der Großstadt wohnen muss. Ein Rentner im akribisch gepflegten Trabi freut sich, mir seine Geschichte als geschasster DDR-Zöllner erzählen zu können.

 

Distanz: 22,2 km, 30.700 Schritte

Begegnung mit Wanderern: 4

Jäger-Hochsitze am Weg: 15

Alle Texte aus meinem deutschen Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr über die Geschichte der Brücke der Deutschen Einheit bei Wikipedia, über die Geschichte der Lederfabrik von Hirschberg hier.

 

 

 

 

Tag 2: Todesstreifen, einst und heute

Tag 2 (11.8.2024)

Von Heinersgrün nach Mödlareuth

Das menschenleere „Zonenrandgebiet“ hat einen neuen Zweck: Energiegewinnung.

Ob Peter Stegemann von den Schießscharten wusste? Vermutlich. Sie hatten Schießscharten in den Wachtürmen der Grenzanlagen, aber für Peter Stegemann mussten sie nicht schießen.

Der Kolonnenweg kreuzt in Hochfranken zwei Autobahnen. Beim Wandern habe ich mich schnell an die beglückende Stille gewöhnt, zu der auch das Rauschen der Blätter, das Pfeifen und Rascheln der vielen Lebewesen um mich herum gehört. Wie brutal zischt und jault dagegen der rasende Alltag der Autobahn, die mit jedem Schritt näher kommt. Heute ist sie der Todesstreifen, wenn ich versuchen würde, sie zu Fuß zu überqueren. Ich suche also Unterführungen oder Brücken, die sicheren Durchlass gewähren.

Für Peter Stegemann gab es keinen sicheren Durchlass. Er versuchte, an der Stelle, die heute Autobahn ist, den Grenzzaun im Todesstreifen zu überklettern. Damals herrschte hier bleierne Stille, und dann löste sich der Schuss. Aber er kam nicht aus den Schießscharten des bis heute erhaltenen Grenzturms von Heinersgün. Tausende sehen ihn täglich von der Autobahn aus, brausen achtlos vorbei.

Die Verwaltung des Todes: Steuerungseinheit über die Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze (gesehen im Wachturm Heinersgrün).

Ich bin einer von acht Besuchern, die das Innere des Turms aufsuchen können, dank ehramtlich Engagierten, die das Denkmal einige Male im Jahr öffnen. Der Turm war schon fast verfallen und wurde erst 2023 wieder hergestellt. Schießscharten, archaisch wie einst in den Stadtmauern des Mittelalters, sind da zu besichtigen, und verstaubte Elektrotechnik mit vielen Knöpfen und Schaltern, aus einer Zeit, als es noch keine Microchips und Touchscreens gab. Hier diente sie dazu, die einzelnen Abschnitte der Selbstschussanlagen am Grenzzaun an- und abschalten zu können. Am 21. Juli 1978 hatte Peter Stegemann beim Versuch, die DDR zu verlassen, eine solche Anlage ausgelöst, und einen Tag später starb er an seinen Verletzungen.

Dann weiter des Weges. Der Kolonnenweg führt im wohligen Halbschatten durch menschenleeres Gelände bis zum „Drei-Freistaaten-Stein“, wo Bayern, Sachsen und Thüringen aneinanderstoßen. Der Stein ist kümmerlich, wurde schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts gesetzt und hat vermutlich wegen seiner Banalität alle DDR-Grenzsicherungsaktivitäten unbeschadet überstanden. Heute langweilen sich rund um den Stein in jedem Freistaat jeweils eine Parkbank. Ich setze mich auf die bayrische, weil sie als einzige im Schatten steht.

Dann hinab nach Mödlareuth. Ein paar Traktoren begegnen mir, sonst nur Sonne, Wind und Stille. Über allem zwitschern ein paar Vögel und surren die gewaltigen Windräder. Ich habe gezählt: mindestens 26 waren es nur an dieser Stelle, Grenzland ist auch Energieland! Das menschenleere „Zonenrandgebiet“ hat einen neuen Zweck. Wenn die gewaltigen Flügel auch sonst fast lautlos ihre Kreise drehen, geben die Turbinen in luftiger Höhe doch beim An- und Abschalten ein fernes, Brummen von sich, kurz und geschäftig.

Schließlich erreiche ich das Dorf, dessen 300 Einwohner einmal durch eine Mauer und die komplette Grenzanlage der DDR geteilt waren.  Als „Klein-Berlin“ wurde es einst Präsidenten, Soldaten und Schaulustigen gezeigt. Im Museum spüre ich das stille Grauen des Kalten Krieges und frage mich, wo die Hoffnungen alle hingeraten sind, die Europa einst mit der Überwindung dieser Zeit verbunden hatte. In den Museums-Wachturm von Mödlareuth muss ich gar nicht mehr hinaufklettern. Die Schießscharten sehe ich auch von außen.

Hier aber, hier war jemand klug genug, sich einen Winkel der Mauer zu suchen, der vom Wachturm aus kaum einsichtig war, und am 25. Mai 1975 mit einer Leiter über die Mauer zu klettern. Er besaß als ortskundiger Kraftfahrer die Erlaubnis zur Einfahrt in den Grenzstreifen und machte sich dieses Privileg zu Nutze. Und er hatte viel Glück: Das Klettern in den Westen gelang ihm, auch weil die Soldaten im letzten Moment seiner späten Entdeckung wohl einen Moment zu lange zögerten, die Schusswaffe einzusetzen.

Die erfolgreiche Flucht in Mödlareuth: mit einer Leiter über die Mauer (Rekonstruktion der DDR-Grenztruppen, Foto: Bundesarchiv)

 

Distanz: 12,7 Kilometer, 18.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 2

Jäger-Hochsitze am Weg: 11

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr Informationen zum Grenzturm von Heinersgrün und die Geschichte des Ortes Mödlareuth finden Sie auf der Website des deutsch-deutschen Museums. 

 

Tag 1: Innehalten am Ende unserer Welt

Tag 1 (10.8.2024)

Vom Dreiländereck bis Ullitz

Vielleicht zehn Jahre war ich alt, als ich mit meinen Eltern im Bayerischen Wald Urlaub machte. Eine Wanderung führte uns an die bayerisch-tschechische Grenze. Ich sehe mich dort stehen, es ist wie ein Foto der Erinnerung: Meine Eltern neben mir, der gemeinsame Blick über den Stacheldraht, den Deutsche dort gespannt hatten, davor das Schild „Halt! Staatsgrenze“. Der Blick ins fremde Tal, ein Blick ins Unerreichbare, denn eine andere Weltmacht herrschte dort. Im Tal tief unter uns waren Häuser zu sehen. Ob es wohl Menschen sind wie Du und ich, die da lebten? Zum „Ostblock“ gehörten sie. Die Wanderung war zu Ende, von hier gab es nur den Rückweg, keine Chance, auf die andere Seite zu gelangen. Wir waren am Ende unserer Welt.

Wie anders ist der Eindruck am Dreiländereck heute. Nun beginnt hier mein Weg, der mich in Abschnitten bis an die Ostsee führen soll. Die Grenzschilder stehen nur noch dekorativ herum, ein Dreiecksstein markiert die bayerische, die sächsische und die tschechische Seite. Der Grenzübertritt nach Tschechien ist nur ein harmloser Schritt, auf einem Bohlenweg, über ein Rinnsal hinüber, ein paar Stufen hinauf. Dann wartet dort ein tschechischer Rastplatz, ein Mountainbiker-Pärchen bevölkert die Pausenbank. Der Ostblock ist entschwunden.

Auf der deutschen Seite liegt ein unbekannter Soldat, nicht symbolisch, sondern vermutlich real, dessen Grab von engagierten Menschen gepflegt wird. Über seine Geschichte finde ich nicht mehr als, dass er „dort 1945 ermordet worden“ sei. So erzählt es die Webseite der Deutschen Kriegsgräber-Fürsorge. Sein Grab, mit Gedenkschrift in Fraktur und einem Stahlhelm auf dem Kreuz, weckt heute fremde Gefühle, die nichts zu tun haben mit dem armen Mann, der da ruht.

Das Dreiländereck im Rücken, beginnt mein Weg in Sachsen. Und wird meist auf dieser Seite der Grenze, die keine mehr ist, bleiben. Es ist der Kolonnenweg der Soldaten der DDR, die hier mit Gewehr und Schießbefehl entlanggingen, Kilometer um Kilometer, Hügel auf und Hügel ab. Auf der Westseite gab es keinen Kolonnenweg. Jetzt ist auch hier nur noch wilde Natur, die sich die Betonplatten zurückerobert.

Der Ostblock ist weg.

Distanz: 14,5 Kilometer

Begegnungen mit Wanderern: 1

Jäger-Hochsitze: 22

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr Informationen über das Dreiländereck und den dort bestatteten unbekannten Soldaten finden Sie hier.

 

Die Spur des Steins von Neu-Ulm

Söders Plan und der Steinwurf auf die Grünen

Gleich fliegt der Stein: Ein Besucher der Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Neu-Ulm holt aus. (Klick auf das Bild verbindet zu dem Video auf Youtube)

Das Video ist im Internet verfügbar. Es wurde am 17. September dieses Jahres um 19.02 Uhr in Neu-Ulm aufgenommen. Man sieht eine schüttere Menschenmenge, die vor einem Podium herumsitzt. Auf der Bühne stehen die beiden Spitzenkandidaten der Grünen für die Landtagswahl in Bayern: Katharina Schulze und Ludwig Hartmann. „Hol Dir Deine Zukunft zurück!“, steht auf der Wand, vor der sie sprechen. Was sie dazu sagen, ist unwichtig, und zwar wegen der Gegenwart. Der Mann, der den Stein wirft, hört ohnehin nicht zu. 44 Jahre ist er alt und gehört dem „Querdenker-Milieu“ an, wie später zu erfahren war. Er trägt ein weißes T-Shirt, steht auf, zögert, überlegt sich genau, was er macht. Er hat einen Stein in der Hand, holt aus und wirft ihn in Richtung des Podiums.

Es ist eine Sekunde des Entsetzens. Hartmann, der gesprochen hatte, unterbricht. Der Stein schwirrt auf Hüfthöhe zwischen den beiden Rednern hindurch. Katharina Schulze weicht reflexartig aus, dann knallt das Geschoss auf den Boden der Wahlkampfbühne. Menschen springen herbei, stellen den Steinewerfer zur Rede, in Sekundenschnelle eilt die Polizei hinzu und nimmt den Mann fest. Schulze greift sich das Mikrophon und bedankt sich bei der Polizei. „Warum zielt er?“, fragt einer von vielen anonymen Hasskommentatoren auf Youtube – „trifft doch eh immer den richtigen“.

Die Spur des Steins beginnt zwei Jahre früher

Zwei Jahre früher beginnt die Spur des Steins. CDU und CSU haben mit ihrem vom Unglück verfolgten und auch oft unglücklich agierenden Kanzlerkandidaten Armin Laschet die Bundestagswahl vom 25. September 2021 verloren. Schnell war geklärt, dass – wenn man keine weitere große Koalition haben möchte – nur entweder die SPD oder die CDU/CSU gemeinsam mit Grünen und FDP eine Regierung bilden können – „Ampel“ oder „Jamaika“. Die SPD hatte mit 25,7 % der Stimmen gegenüber der Union (23,3%) die Nase vorn. Im weit verbreiteten Irrtum, die Bundestagswahl sei so etwas wie eine heimliche direkte Kanzlerwahl, dominierte bald die öffentliche Erwartung, dass der „Sieger“ Scholz, und nicht der „Verlierer“ Laschet ins Kanzleramt einziehen sollte.

Politisch gesehen hätte es auch anders gehen können. Für „Jamaika“ gab es eine Mehrheit im Bundestag. Und es gab nicht wenige politische Beobachter, die für den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft vor großen Herausforderungen – insbesondere der unbestreitbar notwendigen, ökologischen Wende unter dem Druck des Klimawandels – eine schwarz-grüne Zusammenarbeit eine versöhnliche Option gewesen wäre für das Land. Aber es kam anders. Scholz und die SPD wollten sich ihren Sieg nicht nehmen lassen, Grüne und FDP fürchteten vielleicht den Zorn der Bürger, wenn sie sich über die diesbezügliche Erwartung in der Bevölkerung hinwegsetzen würden.

Laschets Hoffnungen störten Söders Pläne

Zusätzlich wurden die Bemühungen Laschets, eine Zusammenarbeit der Union mit FDP und Grünen im Gespräch zu halten, absichtsvoll hintertrieben wurden. Und zwar von: Markus Söder und der CSU. Sie waren gewissermaßen ein „Stein des Anstoßes“ (Martin Luther) für Söders Pläne. Die Inhalte der vertraulichen Sondierungsgespräche zwischen Union, FPD und Grünen wurden sekundenschnell durchgestochen, das gegenseitige Vertrauen damit gezielt zerstört.

Auch öffentlich distanzierte sich Söder von Laschets Hoffnungen auf eine Regierungsbildung. Schon zwei Tage nach der Bundestagswahl wurde Söder damit zitiert, dass die Union „keinen Anspruch auf eine Regierungsbildung“ habe (zitiert nach Frankfurter Rundschau, 27.9.2021): Jamaika sei zwar eine Option, könne aber „nicht um jeden Preis erfolgen“. Es gebe für ihn Punkte, die zentrale Bedingungen seien. Dazu zähle, „keine Steuererhöhungen zu beschließen und die Schuldenbremse nicht aufzuheben“ (beides übrigens Inhalte, die später die „Ampel“ ebenfalls so vereinbart hat).

Da lag er also im politischen Feld, der Stein. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) analysierte am 8. Oktober 2021: „Söder geht es um den eigenen Erfolg. In Bayern wird in zwei Jahren gewählt.“ Ein schwacher CDU-Kanzler Laschet und eine gerupfte Union „würde es Söder zusätzlich erschweren, sich im Landtagswahlkampf als starker Mann der bayerischen Christsozialen zu präsentieren.“ Dagegen ließe sich, so die WAZ vor zwei Jahren, gegen eine „unchristliche“ Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP einfacher Wahlkampf führen im konservativen Lager: „Gegen eine Ampel kann Söder stänkern. Im Falle einer Jamaika-Koalition von Union, Grünen und FDP wäre der CSU-Chef hingegen mitverantwortlich.“

Auf den Ministerpräsidenten kommt es an? Markus Söder wollte nicht, dass Steine fliegen gegen die Grünen. Aber er verfolgte seit zwei Jahren einen Plan, der das dafür geeignete Klima schuf. Als der Stein von Neu-Ulm flog, schob er die Schuld auf das Internet.  Foto: Josef A. Preiselbauer auf Pixabay

Söder und die CSU warfen den Stein nicht, aber hoben ihn auf

Söder und die CSU warfen keinen Stein. Aber sie hoben den Stein auf. Seither beschimpft der ruppige „Landesvater“ wie geplant die Politik der „Ampel“ allgemein, und die der Grünen besonders. Die Grünen würden ein Fleischverbot befürworten, behauptet er, es drohe eine Pflicht zur Gendersprache, sogar ein geplantes Verbot von Luftballons unterstellte er ihnen zeitweilig. „Die Grünen stehen letztendlich für diese Kultur: Nein, nein, nein. Verbot, Verbot, Verbot,“ poltert Söder in seiner Wahlkampf-Standardrede in fast jedem bayerischen Bierzelt. „Nur das einzige Mal überhaupt sind sie bei etwas nicht fürs Verbot,“ baut er Spannung auf, und es folgt dann eine polemische Unwahrheit:  „Es gibt nur eine Geschichte, wo die Grünen für eine Erlaubnis sind: Das sind Drogen.“ (so z.B. im Bierzelt Trudering am 12.5.2023).

Nun ist Zuspitzung ist ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung, auch wenn sie an die Grenze der Wahrheit heranreicht. Und sicherlich gibt es auch gute Gründe für harte Kritik an der Berliner Regierung und den Grünen. Mit Hubert Aiwanger von den Freien Wählern liefert sich Söder einen Wahlkampf als Überbietungswettbewerb der Aggressivität gegenüber einem einzelnen politischen Gegner aus dem demokratischen Spektrum. Was hat es mit Zuspitzung zu tun, wenn in maßloser Übertreibung suggeriert wird, großstädtische Kulturrevolutionäre würden an den Gartenzäunen rütteln, um den Bayern ihre individuelle Lebensgestaltung zu rauben? Manche Gemüter sind so aufgepeitscht von diesen Reden, dass ihnen das Wählen nicht mehr reicht. Sie wollen mit anderen Mitteln ganz sicher gehen, dass es nicht zur gefürchteten grünen Unterjochung kommt.

Bald liegen Steine vor den Bierzelten

Und so liegen schon bald Steine vor den sommerheißen Bierzelten. Die Stimmung heizt sich auf den Siedepunkt. Viele CSU-Anhänger empfänden es inzwischen als „kulturelle Aneignung“, wenn Katharina Schulze im Bierzelt ein Dirndl trage, sagt Andreas Glas von der Süddeutschen Zeitung. Die von Söder und Aiwanger angestachelte Wut gegen die Grünen bricht sich unkontrolliert Bahn. Vor einem Bierzelt in Chieming werden am 1. August Eier und Tomaten als potenzielle Wurfgeschosse verkauft, als Schulze und Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir auftreten wollen. Und auch große Steine werden dabei „zur Schau gestellt, a bissl in die lustige Richtung“ (aber nicht verkauft, wie der Standbetreiber der Süddeutschen Zeitung versicherte). Die Reden der beiden Grünen gehen in einem organisierten Pfeifkonzert unter. Özdemir kann nur unter massivem Polizeischutz sprechen.

Aber noch fliegt kein Stein in Chieming. Was hier tobt, ist der Mob, den ein Ministerpräsident und sein Stellvertreter und deren Helfershelfer angestachelt haben. In Sorge um die eigene Macht hatte Söder vor zwei Jahren eine Strategie ersonnen, die politische Verantwortung missachtete: Lieber nicht in Berlin regieren, damit man in Bayern Stimmung machen kann.

Und dann fliegt der Stein. Wer blutet?

Und dann, am 17. September, fliegt der Stein von Neu-Ulm. Es ist fast genau zwei Jahre, nachdem Söder den Stein des Anstoßes aufgenommen hatte. Söder hat den Vorfall verurteilt. Besorgt äußerte er sich über eine „zunehmend destruktive Demokratie“. In der „Augsburger Allgemeinen“ sieht er als Ursache „digitale Blasen“, in denen nur noch Platz für die jeweils eigenen Standpunkte sei. Das führe zu einem immer raueren Ton und der Unfähigkeit zu Kompromissen.

Zehn Tage später droht ein Mann, der nach Erkenntnissen der Polizei eine Schreckschusswaffe besitzt, dem Schweinfurter Grünen-Landtagsabgeordneten Paul Knoblach einen „Kopfschuss“ an.

Am Sonntag wird gewählt. Bisher wurde niemand verletzt. Aber der Anstand blutet.

 

 

Inspiriert zu dem Text hat mich die mehrteilige Podcast-Serie der Süddeutschen Zeitung „Söders Endspiel“. Einzelne Informationen habe ich daraus entnommen.

Zur Flugblatt-Affäre rund um Hubert Aiwanger habe ich Neue Fragen an Hubert Aiwanger formuliert.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

Wokes Kunstvergnügen in Söders Reichweite

Nicole Eisenman im Münchner Museum Brandhorst – ein Ausstellungsbesuch

Frühlingsgrün schimmert es im Geäst der Bäume. Saftiges Gras deckt die Wiese. Tauben flattern, ein Hund tollt herum. Fast schon Schwabing ist das hier, umzingelt von Universitäten, Studentenviertel. Die Sonne glänzt vom weiß-blauen Himmel. Ein großes Lächeln tönt durch diese Stadt, ein vielsprachiges Palavern der Jugend dieser Welt, die hier studiert und lebt und genießt. Man teilt sich eine Pizza, trinkt aus mitgebrachten Plastikflaschen.

Ermattet im Klimawandel: Die New Yorker Künstlerin Nicole Eisenman hält der Wohlstandsgesellschaft den Spiegel vor – unterhaltsam, anregend, witzig. (Bildausschnitt aus: Tail End)

Dies ist kein Bild, sondern bayerische Realität. Die Bilder sind daneben untergebracht, in einem quaderförmigen Gebäude. Die Fassade schillert bunt, zusammengestückelt ist sie aus Tausenden kleinen bunten Klötzchen. Zu nüchtern für einen Prachtbau, aber angemessen schön für moderne Kunst.

Im trunkenen Rausch wacher Erwartung

Aufbruch der fröhlichen Gruppe, die gerade noch auf der Wiese saß in lockerer Runde. Niemand ist betrunken, und doch ist es ein trunkener Rausch von wacher Erwartung, der diese jungen Menschen hereinspült in das Museum Brandhorst im Münchner Museumsviertel, gleich neben der Pinakothek der Moderne. Die Siebträgermaschine des Museumscafés dampft und zischt, die Studierenden biegen erst einmal dorthin ab, bilden eine gesittete, geduldig und angeregt schnatternde Warteschlange. Englisch, französisch, deutsch – alles durcheinander. Nur keine Eile, der Barista braucht seine Zeit für einen perfekten Cappuccino. Noch ein Croissant dazu, ein italienisches Gebäck? Im Café werden erwartungsfroh die Tische zusammengeschoben.

Wach sind sie, vermutlich auch „woke“

„Wach“ sind diese jungen Menschen, und vermutlich auch „woke“. Denn der heute zum Schimpfwort mutierte Begriff war bei seinem Eintritt in den modernen Sprachgebrauch einfach nur eine Beschreibung. „Stay woke!“ mahnten sich gegenseitig engagierte Menschen nach den Polizeiübergriffen gegen Schwarze in den USA (z.B. gegen Michael Brown 2014 in Missouri). Sie wandten sich mit wachem Geist den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten in den USA zu. Schnell verbreitete sich das kurze Wort aus vier Buchstaben über die ganze westliche Welt, und als „woke“ wurden bald alle bezeichnet, die sich gegen rassistische, homophobe, sexistische Traditionen und Verwurzelungen wehrten.

Aber Sprache ist nicht neutral, Sprache ist ein Gefechtsfeld. In den nur knapp zehn Jahren seither war eine erfolgreiche Fremdermächtigung dieses Wortes durch rechtsgerichtete und konservative Kreise zu beobachten. „Wokeness“ wurde in ein Schimpfwort umgedeutet, gerade so, als wäre etwas falsch daran, dunkelhäutige Menschen nicht mehr kolonialistisch beleidigen zu wollen. Oder sexistischen Darstellungen in der Öffentlichkeit entgegenzutreten und für die Toleranz gegenüber queeren Lebenskonzepten zu werben, auch wenn sie einem selbst vielleicht fremd sein mögen.

„Bayern ist anders als Berlin.“ Hoffentlich nicht.

„Bayern ist anders als Berlin“, rüpelte jüngst Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, gegen die Bundeshauptstadt und die dort regierende Ampel-Koalition. „Wir lehnen Wokeness, Cancel Culture und Genderpflicht ab. Bei uns darf man sagen und singen, was einem einfällt.“ Hoffentlich nicht, möchte man ihm da zurufen, denn auch in Bayern darf erfreulicherweise nicht beleidigt und Gewalt verherrlicht werden.

So ganz hoch und abweisend kann die bayerische Mauer gegen die böse Wokeness nicht sein.  Noch bis 10. September zeigt das vom Freistaat Bayern getragene „Museum Brandhorst“, wenige hundert Meter Luftlinie vom Amtssitz des Ministerpräsidenten entfernt, eine spektakulär erfolgreiche Ausstellung der feministisch und bekennend homosexuell positionierten amerikanischen Künstlerin Nicole Eisenman. Was dort im wunderbar luftig hell ausgeleuchteten Keller des Museums auf die oben geschilderten Cappuccino-Trinker wartet, ist beste „woke“ Wohlstandskunst.

Eisenman bietet, was moderne Kunst zugänglich macht

Das Digitale wird Teil der menschlichen Identität: „Selfie“ von Nicole Eisenman.

Die Ausstellung zeigt eine Retrospektive von mehr als 100 Werken der 58-jährigen New Yorkerin unter dem Titel „What Happened“. Es sind Szenen aus dem gesellschaftlichen Leben in den USA – von der Künstlerin eingefangen „auf ebenso humorvolle wie mitfühlende Weise“ (Ausstellungstext). Die Bilder und Installationen bieten alles, was moderne Kunst zugänglich macht. Sie sind oft witzig und laden doch zum Nachdenken ein. Sie stellen die Fragen unserer Zeit, fangen die Ödnis einer oftmals sich selbst überdrüssig gewordenen Welt im Wohlstand ein, stets mahnend, aber nicht klagend. Eisenmans Figuren sehen den Betrachtenden an und fragen ihn, ob er so leben möchten, wie es da zu sehen ist – mehr im Nebeneinander als im Miteinander; mit sich selbst beschäftigt, statt wach für die Welt; verharrend in trostloser Monotonie des kommerziellen Erwartungsdruckes.

Beziehungslose Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern hocken in einem Biergarten und wissen mit sich und den vielen anderen, die um sie herum die Zeit totschlagen, nichts anzufangen. In ihrer Verblendung dösen Tea-Party-Republikaner dahin, festgefahren in ihrer Blase aus gegenseitiger Trostlosigkeit, die eine das Gewehr im Blick, während der andere an einem Sprengsatz herumfummelt. Menschen sind gefangen in einer digitalen Welt, die ihnen Kontaktfülle suggeriert, sie aber doch mutterseelenalleine auf das Sofa fesselt. Für ein Selfie teilen wir unsere ganze Identität mit dem Bildschirm.

Gesellschaftliche Missstände im Wohlstand

Im Gemälde „Tea Party“ warten konservative Aktivisten auf ihren Einsatz.

Eisenman zeigt gesellschaftliche Missstände im Wohlstand, auch deren politische Folgen. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Im Gegenteil: Dieser Text möchte eine engagierte Aufforderung sein, die inspirierende Kunst von Nicole Eisenman kennenzulernen. Und doch: Möglicherweise kann man am Blick der Künstlerin  auf ihre Welt besser verstehen, warum der Begriff „Wokeness“ eine solche abwertende Umdeutung erfahren hat, zum Kampfbegriff wurde gegen alles, was unbequeme Veränderung befürchten lässt.

Kommt man aus der passenden Ecke der Gesellschaft, so wird man sich bei Eisenman moralisch überlegen wohlfühlen. Die Künstlerin stellt das Patriarchat in Frage und geißelt Rassismus, sie sieht die Folgen des Klimawandels vorher und verspottet uns als Sklaven der digitalen Transformation. Und doch sind dabei die Betrachtenden stets wohlig unterhalten, dürfen grübeln und schmunzeln, müssen keine Schmerzen fürchten.

Die „woke“ Weltsicht ist nicht frei von Selbstgerechtigkeit

Eine so komfortabel ausgestaltete, „woke“ Weltsicht, die nicht frei ist von Selbstgerechtigkeit, musste zwischen die Mühlsteine des politischen Diskurses geraten. Für die einen ist sie selbstgerechte Nestbeschmutzung des mühsam der Geschichte und der Natur abgerungenen Wohlstandes, den der konservative Teil der reichen Gesellschaften lieber verteidigt sähe als verspottet. Auf diese Gefühle adressieren Markus Söder und andere, wenn sie pauschal „Wokeness“ zum Feindbild erklären.

Und den anderen, den Aktivisten für mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt, geht das alles nicht weit genug. Für sie finden die wirklichen Miseren des menschlichen Daseins nicht in der Beziehungslosigkeit eines Biergartenbesuchs statt oder auf der Couch eines Psychotherapeuten, sondern in den Hungerlagern der sonnenversengten Sahelzone, in den Folterkellern im Iran oder in den Fluten des Mittelmeeres, wo Menschen auf der Suche nach Hoffnung gegen ihr Ertrinken ankämpfen.

Da strömt schon die Gruppe die breite Museumstreppe hinab! Gerade hatten sie sich noch mit Cappuccinos gestärkt, nun streben sie der Kunst entgegen – erwartungsvoll, bunt gemischt, multikulturell, in lustig bedruckten T-Shirts und schwingenden Sommerröcken. Sie werden über Eisenmans Kunst lachen und grübeln, sie werden nachdenklich sein, und dann werden sie hinausstreben in ihre reiche, bunte Welt und sagen und singen, was ihnen so einfällt.

 

Weitere Informationen zur Ausstellung „What Happened“ im Museum Brandhorst (noch bis 10. September 2023) in München: https://www.museum-brandhorst.de/ausstellungen/nicole-eisenman/

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