Der Winterdemokrat im Wahlkampf

Wie man die fröstelnde Demokratie wärmen kann – Ein Erfahrungsbericht

Es ist kalt in Deutschland, und die Demokratie friert. Ein US-Vizepräsident kommt von draußen herein, pöbelt herum und hat noch dazu die Tür offengelassen, durch die jetzt die Schneeflocken stöbern. Eine Frau mit Perlenkette, die sich „Kanzlerkandidatin“ nennt, wird von ihm empfangen und verbreitet ungestört ihre gefühlskalten Botschaften in immergleichen Fernsehformaten. Es ist zum Frösteln.

Vor der Wahl steht der Wahlkampf. Dieses Jahr hatten die Engagierten der politischen Parteien mit der Kälte zu kämpfen. Es war kalt in Deutschland, und die Demokratie muss frieren. Bild von Vilius Kukanauskas auf Pixabay

Als der Winterdemokrat morgens am Samstag, eine Woche vor der Wahl, aus dem Bett schlüpft und durch das Fenster blickt, rieseln Schneeflocken vom Himmel. Nicht große, nasse Flocken, sondern winzig kleine Kristalle, Pünktchen nur, die die kalte Luft in gleichmäßigen Linien durchschneiden. Er blickt auf das Thermometer, das am Fensterrahmen angebracht ist: null Grad.

Üble Bilder von andersdenkender Gewalt

Gestern noch war die Kälte im Fernsehen zu sehen: Üble Bilder von zerstörten Wahlplakaten, zertrümmerte Informationsstände, Parteibüros, die geschützt werden müssen vor andersdenkender Gewalt. Wie schön wäre es, ins warme Bett zurückzukehren, statt sich solchen Gefahren auszusetzen?

Aber der Winterdemokrat zieht sich an, freiwillig, aus Überzeugung, ohne eigenen Gewinn. Wie schon am letzten Samstag holt er die wärmste Hose aus dem Schrank, sucht den dicksten Pullover heraus, Anorak drüber, Schal um den Hals. Schnell etwas frühstücken. Dann die Mütze mit dem Parteilogo auf die Ohren, und Handschuhe steckt er auch ein. Es ist kalt in Deutschland, und es gilt, die Demokratie zu wärmen.

Nach zehn Minuten bereit dafür, dass die Demokratie nicht erfriert

Die Wochenendstadt erwacht, während der Winterdemokrat seinen Stand aufbaut. Das Klapptjschchen fixiert, einen Sonnenschirm als Blickfang, denn gegen die Sonne bedarf es keines Schutzes, wenn die Schneekristalle rieseln. Ein paar Prospekte, ordentlich drapiert, ein paar Bonbons, Stifte, die vom letzten Wahlkampf übriggeblieben sind. Wird niemandem auffallen. Keine zehn Minuten braucht der Winterdemokrat, um sich bereit zu machen dafür, dass die Demokratie nicht erfriert.

Und keine drei Minuten vergehen, bis der erste Wähler mit Anorak und Mütze von sich aus unter den winterlich umgedeuteten Sonnenschirm tritt: „Euch wähl ich nicht“, bruddelt der alte Mann durch die dampfende Atemluft. „Das ist doch ohnehin alles Betrug, die Politiker machen doch sowieso alle, was sie wollen.“ Ein wenig Übung hat der Winterdemokrat inzwischen im Umgang mit solchen Gästen. Humor hilft, hat er gelernt. „Ich?“, grinst er den Alten an, „ich habe Sie noch nicht betrogen.“ Wie auch, weder hat er ein Amt, noch eine Funktion, die das ermöglichen würde. Er steht hier doch einfach, weil die Demokratie nicht erfrieren darf in diesen frostigen Zeiten. „Ja, Sie nicht“, räumt der Alte ein, „aber die anderen alle.“ Nun, von der eigenen Partei überzeugen wird man diesen Wähler nicht. „Wenigstens wählen gehen, bitte!“ fordert der Winterdemokrat auf, und der Alte nickt. „Mach ich.“

Wer die Demokratie wärmen will, muss sich mit wenig zufrieden geben

Immerhin. Wer die Demokratie wärmen möchte, muss sich mit wenig zufriedengeben. Und darf nicht warten, bis er gefragt wird. Er muss aktiv werden. „Bitteschön, für die Bundestagswahl!“ Viele nehmen den angebotenen Faltprospekt der örtlichen Kandidatin, manche nicht. „Hab´schon gewählt!“, triumphieren die Briefwähler, und der Winterdemokrat fühlt einen schwachen Wärmeschwall. Wenigstens das.

„Nein, von Euch sicher nicht“, weisen Andersdenkende das Angebot brüsk zurück. Manche nehmen wortlos den Flyer und der Winterdemokrat blickt ihnen hinterher: Landet er gleich im nächsten Papierkorb? Nein, er landet in der Einkaufstausche. Zufrieden.

Nach der ersten Stunde zieht die Kälte durch die Schuhsohlen

Nur wenige wollen wirklich sprechen. Meistens dominieren gesittet vorgetragene Vorurteile: „Ihr schmeißt doch nur das Geld für Eure Privilegien heraus!“ Oder: „Ihr wollt doch sowieso nur, dass alles noch schlimmer wird.“ Oder rätselhafte Logiken: „Ich bin voll Eurer Meinung da, und da, und da auch, aber ich wähle trotzdem anders.“ Warum? „Weil ich Euch eben nicht mag, auch wenn ich oft Eurer Meinung bin.“ Immer wieder auch freundliche Zustimmung: „Euch wähl ich sowieso“, ein Lächeln, und dann „Danke, dass Ihr Euch engagiert“.

Die meisten Gespräche wärmen, aber nach der ersten Stunde zieht die Kälte im Land durch die dicken Schuhsolen. Flyer verteilen mit Handschuhen ist nicht einfach, also besser in Kauf nehmen, dass die Finger frösteln. Da kommt vom Marktstand gegenüber eine Frau herüber. „Mei,“, ruft sie, „Ihr seid ja wirklich tapfer bei der Kälte! Mögt Ihr einen Kaffee zum Aufwärmen?“ Und tatsächlich, sie bringt zwei Becher des warmen Gebräus herüber. „Das seid´s Ihr mir Wert, auch wenn ich Euch nicht wählen werd´.“

Ablehnung, ja. Zustimmung, auch

Durch den Pappbecher wärmt der Kaffee für ein paar Gespräche mehr. Nach zwei Stunden ist Schluss. Schneefall hat wieder eingesetzt. Die Passanten suchen Schutz vor der Kälte im noch schnelleren Vorbeihetzen. Der Winterdemokrat packt den Infostand zusammen. Zu viele Flyer bestellt für einen kurzen kalten Wahlkampf. Immerhin: Nichts zu spüren von der Endzeitstimmung, die mit Eiseskälte durch die Medien peitscht. Nicht die Spur von Gewalt an diesem kalten Vormittag, auch nicht verbal. Andere Meinungen, ja. Ablehnung, ja. Zustimmung, auch.

Es mag der Demokratie eiskalt sein im Land. Aber man kann sie wärmen.

 

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Die neun Köpfe der modernen Hydra

Herakles und Iolaos hängen Wahlplakate auf  – Eine Neujahrserzählung

Der alte Herakles schaut aus dem Fenster. Er ist zu Besuch bei seinem Neffen. Familientreffen über Silvester und Neujahr. Nun ist Neujahrsmorgen, und alle anderen schlafen noch. Langweilig. Dabei hatte doch heute das Jahr der Neun begonnen! Kalt und grau ist es draußen. Ein paar Böllerfetzen liegen auf der Straße.

Herakles und Iolaos kämpfen mit den neun Köpfen der Hydra – Darstellung von ca. 1565

Zwei – null – zwei – fünf hatte Herakles summiert, Quersumme Neun. Und damit auch durch neun teilbar. Genauso hatten sie es ihm erklärt im Internet. Es ist das Jahr der Neun. Und für Herakles stand fest: Im Jahr der Neun muss er in die Sümpfe. Das Ungeheuer bekämpfen, das mit den neun Köpfen.

Der Neffe heißt übrigens Iolaos. Nebenan schnarcht er. Hört man durch die Tür. Mit ihm, seiner Familie und seinen Freunden hatte Herakles gestern gefeiert. Netter Kerl. Ein Wahlkämpfer! Setzt sich ein für die Demokratie. Auch so eine griechische Erfindung, denkt sich Herakles. Ob Iolaos wohl etwas weiß vom Jahr der Neun? Wahrscheinlich nicht.

Gestern hatte der Neffe ihn noch gebeten, am Neujahrsmorgen mitzukommen. Zum Plakate aufhängen für die Wahl in fünf Wochen. Und jetzt schläft er da seinen Rausch aus!

„Junge, wir müssen in die Sümpfe!“ ruft Herakles und trommelt an die Tür seines Neffen. „Die Hydra mit den neun Köpfen muss besiegt werden! Es ist das Jahr der Neun!“

Iolaos reagiert nicht.

„Nun mach schon“, gibt Herakles keine Ruhe, rumpelt in das Zimmer und rüttelt an den Schultern des Jungen, „wir müssen los. Das Jahr der Neun hat begonnen. Und Du wolltest Plakate aufhängen. Wenn Du willst, dass ich mitkomme, dann wach endlich auf!“

Moderne Sümpfe, denkt sich Herakles

Also stapfen die beiden gegen Mittag los, durch die Straßen ihrer Stadt. Moderne Sümpfe, denkt sich Herakles. Iolaos zieht einen Bollerwagen voller Wahlplakate hinter sich her, in der Hand hat er ein Plastikbündel: Kabelbinder. An jedem zweiten Laternenmast bleiben sie stehen, immer der gleiche Ablauf: Abstand zu Kreuzungen einhalten, keine Sicht versperren, keine Verkehrsschilder verdecken. Wenn alles passt, das Plakat aufklappen, um den Mast legen, die Kabelbinder durch die Löcher, festziehen, abknipsen. Festen Halt prüfen. Fertig. Weiter.

„Die Hydra mit neun Köpfen lebt heutzutage nicht mehr in den echten Sümpfen, wie früher bei den Griechen, die lebt jetzt hier“, doziert Herakles.

Iolaos wedelt mit der Hand durch die Luft und schüttelt den Kopf. „Lass mich in Ruhe mit Deiner Hydra,“ mault er, und dann, während er sich nach dem nächsten geeigneten Laternenmast umschaut, fragt er doch: „Neun Köpfe, sagst Du?“

Herakles bleibt stehen. „Ja genau. Neun Köpfe. Und mit jedem kann sie töten.“

Der nächste Mast, das nächste Plakat. Hochwuchten, Kabelbinder durch die Löcher, festziehen, abknipsen.

Iolaos betrachtet das hängende Plakat. „Jetzt mal langsam“, sagt er und hindert seinen Onkel am Weitergehen. „Was ist das mit der Neun, mit den Köpfen und mit den Sümpfen?“

Herakles schnauft vernehmlich. „Hab` ich Dir doch heute Nacht schon erklärt. Etwa nicht aufgepasst?“

„Bitte nochmal, ganz in Ruhe“, bettelt der Neffe.

„Also gut. Hier in Kurzform: Angefangen hat alles mit den alten Griechen. Die haben eine Sage, nach der in ihren Sümpfen ein schreckliches Ungeheuer leben würde. Mit neun Köpfen, jeder einzelne davon tödlich. Heißt Hydra. Und so´n Held musste dieses Ungeheuer aufspüren und besiegen, als Strafe dafür, dass er seine Familie ermordet hatte. Als Sühne gewissermaßen.“

„Und was hat das mit uns zu tun?“

„Viel. Weil wir leben im Jahr der Neun. Alle neun Jahre ist die Quersumme der Jahreszahl unserer Zeitrechnung durch neun teilbar. Und das sind die Jahre, in denen wir gegen die Hydra und ihre neun Köpfe in die Schlacht ziehen müssen.“

„Wo hast du denn diesen Blödsinn her?“

„Stand bei Telegram. Und in Facebook sagen sie es auch. In meiner Prepper-Gruppe.“

Die Hydra unserer Zeit hat auch neun Köpfe

Iolaos verdreht die Augen. „Und Du glaubst das alles?“ Entschlossen peilt er den nächsten Straßenmast an, nestelt ein Plakat aus dem Bollerwagen. „Wenn Du mir mit solchem Zeug kommst, dann erzähl ich Dir jetzt mal was über die Hydra unserer Zeit. Die hat auch neun Köpfe, und willst du wissen welche?“

Herakles nickt.

„Okay, dann zähl mit. Fangen wir mit dem Krieg in der Ukraine an, Kopf eins. Könnte mich ziemlich real verschlingen, wenn ich deshalb mal zum Militär muss.“ Nächste Straßenlaterne, nächstes Plakat. „Du bist natürlich fein raus, zu alt nämlich.“

Iolaos denkt kurz nach. „Dann der ganze marode Zustand unserer Straßen, der Bahn und so weiter. Die kaputten Schulklos. Muss ich alles bezahlen helfen, während Du Deine fette Rente verfrühstückst. Aber wovon, wenn doch die Wirtschaft marode ist und ich meinen Job verliere. Kopf zwei.“

Herakles hebt zwei Finger in die Luft.

„Das Klima. Kopf drei. Verschlingt uns alle, und zwar buchstäblich mit Überschwemmungen und Bränden und so. Und dann die dumpfe nationale Dummheit der Europäer. Kopf vier. Jedes Land glaubt, allein irgendwas zu reißen gegen China und Indien und Trump und so. Kann uns alle umbringen.“

Das nächste Plakat hängt.

„Weiter. Die Armut überall auf der Welt, die hungernden Kinder und Frauen und Männer in Gaza und im Sudan und in Jemen und weiß der Geier, wo noch. Kein Wunder, dass sich da viele auf den Weg zu uns machen. Kopf fünf.“

Die linke Hand von Herakles war ausgezählt. Er hält sie mit ausgestreckten Fingern in die Luft. „Und, weiter?“

Iolaos zerrt den Bollerwagen mit den Plakaten hinter sich her, wartet grünes Licht an der Ampel ab und bleibt am übernächsten Laternenpfahl stehen. „Die da.“ Er deutet auf ein Plakat, das da schon hängt. „Die da, die Rechtsradikalen, gegen die Ihr Alten nichts gemacht habt. Und bis heute nichts macht. Irgendwann sitzen sie in der Regierung. Ein ganz besonders übler Kopf. Nummer sechs.“

„Aber die werden doch gewählt, und das ist schließlich Demokratie!“, wendet Herakles ein.

„Das ist nicht Demokratie, das ist Dummheit,“ empört sich der Neffe. „Dummheit ist gleich mein Kopf Nummer sieben. Dummheit, Parteien wegen irgendwelchen billigen Parolen zu wählen, die nichts mit der leider komplizierten Wahrheit zu tun haben.“

Herakles hebt Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. „Zu Kopf sieben gehören auch alle“, ergänzt er, „die ihre Stimme einfach verschenken. Nicht zur Wahl gehen.“

Der Neffe nickt. „Oder irgendwelches Zeug wählen, eine Satire-Partei, oder eine, die nur über Tierschutz redet. Auch verschenkte Stimmen.“

„Fehlen noch zwei!“, ruft Herakles

„Fehlen noch zwei!“ Herakles schwenkt seine beiden Hände in der Luft.

„Lass mich nachdenken …“ Iolaos zählt die Plakate durch, die noch im Bollerwagen liegen. „Wir wechseln jetzt die Straßenseite und gehen auf der anderen Seite zurück.“ Am ersten Laternenpfahl geht’s wieder los: Hochwuchten, zuklemmen, Kabelbinder durch, festzurren, abknipsen.

„Kopf acht ist das mit den Steuern“, sagt er dann. „Dass Superreiche kaum Steuern zahlen, weil sie ihr Geld hin und herschieben können, wie es gerade passt.“

Wieder hängt ein Plakat. Iolaos bleibt stehen. „Und weißt Du, was mein Hydra-Kopf Nummer neun ist?“ Er blickt seinem Onkel mitten ins Gesicht. „Du.“

„Ich? Warum denn ich?“

„Weil Du solchen Blödsinn aus irgendeiner Chatgruppe bei Telegram glaubst. Das Zeug mit der Hydra und dem Jahr der Neun. Mensch, schalt halt mal Dein Gehirn ein! Kann doch gar nicht sein. Das mit der Neun und den modernen Sümpfen. Schließlich wählen wir alle vier Jahre, und manchmal sogar früher, wie jetzt.“

Iolaos zurrt das letzte Plakat fest.

„Die ganzen Leute, die wie Du den größten Quatsch aus dem Internet glauben, die sind Kopf Nummer neun. Einfach schrecklich, wie leichtgläubig viele sind.“

Er lässt die Zange in den Bollerwagen plumpsen. „Geschafft!“, ruft er, „die Wahl kann kommen!“

Herakles ist noch nicht überzeugt

Herakles grinst. „Und Du glaubst ernsthaft, dass Deine Plakate die neun Köpfe der Hydra besiegen werden?“

„Na ja, jedenfalls ein bisschen. Wenn Du so willst: Sie helfen mit, der Hydra von heute ihre blöden Köpfe abzuschlagen.“

Aber Herakles ist noch nicht überzeugt. „Weißt du, was das Problem mit den neun Köpfen der Hydra ist?“, fragt er seinen Neffen.

„Nein, weiß ich nicht. Aber erzähl mir nicht wieder irgendwelches Verschwörungszeug.“

„Man kann die Köpfe zwar abschlagen, aber die wachsen doppelt nach.“

„Echt? Doppelt?“

Iolaos schüttelt den Kopf. „Doppelt? Wirklich krass, was für dummes Zeug Euch erzählt wird.“

 


Die Geschichte des Herakles, der zusammen mit seinem Neffen Iolaos die Hydra besiegt, ist der griechischen Mythologie entlehnt. Wer sie nachlesen will, kann das hier tun. 

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Die Spur des Steins von Neu-Ulm

Söders Plan und der Steinwurf auf die Grünen

Gleich fliegt der Stein: Ein Besucher der Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Neu-Ulm holt aus. (Klick auf das Bild verbindet zu dem Video auf Youtube)

Das Video ist im Internet verfügbar. Es wurde am 17. September dieses Jahres um 19.02 Uhr in Neu-Ulm aufgenommen. Man sieht eine schüttere Menschenmenge, die vor einem Podium herumsitzt. Auf der Bühne stehen die beiden Spitzenkandidaten der Grünen für die Landtagswahl in Bayern: Katharina Schulze und Ludwig Hartmann. „Hol Dir Deine Zukunft zurück!“, steht auf der Wand, vor der sie sprechen. Was sie dazu sagen, ist unwichtig, und zwar wegen der Gegenwart. Der Mann, der den Stein wirft, hört ohnehin nicht zu. 44 Jahre ist er alt und gehört dem „Querdenker-Milieu“ an, wie später zu erfahren war. Er trägt ein weißes T-Shirt, steht auf, zögert, überlegt sich genau, was er macht. Er hat einen Stein in der Hand, holt aus und wirft ihn in Richtung des Podiums.

Es ist eine Sekunde des Entsetzens. Hartmann, der gesprochen hatte, unterbricht. Der Stein schwirrt auf Hüfthöhe zwischen den beiden Rednern hindurch. Katharina Schulze weicht reflexartig aus, dann knallt das Geschoss auf den Boden der Wahlkampfbühne. Menschen springen herbei, stellen den Steinewerfer zur Rede, in Sekundenschnelle eilt die Polizei hinzu und nimmt den Mann fest. Schulze greift sich das Mikrophon und bedankt sich bei der Polizei. „Warum zielt er?“, fragt einer von vielen anonymen Hasskommentatoren auf Youtube – „trifft doch eh immer den richtigen“.

Die Spur des Steins beginnt zwei Jahre früher

Zwei Jahre früher beginnt die Spur des Steins. CDU und CSU haben mit ihrem vom Unglück verfolgten und auch oft unglücklich agierenden Kanzlerkandidaten Armin Laschet die Bundestagswahl vom 25. September 2021 verloren. Schnell war geklärt, dass – wenn man keine weitere große Koalition haben möchte – nur entweder die SPD oder die CDU/CSU gemeinsam mit Grünen und FDP eine Regierung bilden können – „Ampel“ oder „Jamaika“. Die SPD hatte mit 25,7 % der Stimmen gegenüber der Union (23,3%) die Nase vorn. Im weit verbreiteten Irrtum, die Bundestagswahl sei so etwas wie eine heimliche direkte Kanzlerwahl, dominierte bald die öffentliche Erwartung, dass der „Sieger“ Scholz, und nicht der „Verlierer“ Laschet ins Kanzleramt einziehen sollte.

Politisch gesehen hätte es auch anders gehen können. Für „Jamaika“ gab es eine Mehrheit im Bundestag. Und es gab nicht wenige politische Beobachter, die für den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft vor großen Herausforderungen – insbesondere der unbestreitbar notwendigen, ökologischen Wende unter dem Druck des Klimawandels – eine schwarz-grüne Zusammenarbeit eine versöhnliche Option gewesen wäre für das Land. Aber es kam anders. Scholz und die SPD wollten sich ihren Sieg nicht nehmen lassen, Grüne und FDP fürchteten vielleicht den Zorn der Bürger, wenn sie sich über die diesbezügliche Erwartung in der Bevölkerung hinwegsetzen würden.

Laschets Hoffnungen störten Söders Pläne

Zusätzlich wurden die Bemühungen Laschets, eine Zusammenarbeit der Union mit FDP und Grünen im Gespräch zu halten, absichtsvoll hintertrieben wurden. Und zwar von: Markus Söder und der CSU. Sie waren gewissermaßen ein „Stein des Anstoßes“ (Martin Luther) für Söders Pläne. Die Inhalte der vertraulichen Sondierungsgespräche zwischen Union, FPD und Grünen wurden sekundenschnell durchgestochen, das gegenseitige Vertrauen damit gezielt zerstört.

Auch öffentlich distanzierte sich Söder von Laschets Hoffnungen auf eine Regierungsbildung. Schon zwei Tage nach der Bundestagswahl wurde Söder damit zitiert, dass die Union „keinen Anspruch auf eine Regierungsbildung“ habe (zitiert nach Frankfurter Rundschau, 27.9.2021): Jamaika sei zwar eine Option, könne aber „nicht um jeden Preis erfolgen“. Es gebe für ihn Punkte, die zentrale Bedingungen seien. Dazu zähle, „keine Steuererhöhungen zu beschließen und die Schuldenbremse nicht aufzuheben“ (beides übrigens Inhalte, die später die „Ampel“ ebenfalls so vereinbart hat).

Da lag er also im politischen Feld, der Stein. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) analysierte am 8. Oktober 2021: „Söder geht es um den eigenen Erfolg. In Bayern wird in zwei Jahren gewählt.“ Ein schwacher CDU-Kanzler Laschet und eine gerupfte Union „würde es Söder zusätzlich erschweren, sich im Landtagswahlkampf als starker Mann der bayerischen Christsozialen zu präsentieren.“ Dagegen ließe sich, so die WAZ vor zwei Jahren, gegen eine „unchristliche“ Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP einfacher Wahlkampf führen im konservativen Lager: „Gegen eine Ampel kann Söder stänkern. Im Falle einer Jamaika-Koalition von Union, Grünen und FDP wäre der CSU-Chef hingegen mitverantwortlich.“

Auf den Ministerpräsidenten kommt es an? Markus Söder wollte nicht, dass Steine fliegen gegen die Grünen. Aber er verfolgte seit zwei Jahren einen Plan, der das dafür geeignete Klima schuf. Als der Stein von Neu-Ulm flog, schob er die Schuld auf das Internet.  Foto: Josef A. Preiselbauer auf Pixabay

Söder und die CSU warfen den Stein nicht, aber hoben ihn auf

Söder und die CSU warfen keinen Stein. Aber sie hoben den Stein auf. Seither beschimpft der ruppige „Landesvater“ wie geplant die Politik der „Ampel“ allgemein, und die der Grünen besonders. Die Grünen würden ein Fleischverbot befürworten, behauptet er, es drohe eine Pflicht zur Gendersprache, sogar ein geplantes Verbot von Luftballons unterstellte er ihnen zeitweilig. „Die Grünen stehen letztendlich für diese Kultur: Nein, nein, nein. Verbot, Verbot, Verbot,“ poltert Söder in seiner Wahlkampf-Standardrede in fast jedem bayerischen Bierzelt. „Nur das einzige Mal überhaupt sind sie bei etwas nicht fürs Verbot,“ baut er Spannung auf, und es folgt dann eine polemische Unwahrheit:  „Es gibt nur eine Geschichte, wo die Grünen für eine Erlaubnis sind: Das sind Drogen.“ (so z.B. im Bierzelt Trudering am 12.5.2023).

Nun ist Zuspitzung ist ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung, auch wenn sie an die Grenze der Wahrheit heranreicht. Und sicherlich gibt es auch gute Gründe für harte Kritik an der Berliner Regierung und den Grünen. Mit Hubert Aiwanger von den Freien Wählern liefert sich Söder einen Wahlkampf als Überbietungswettbewerb der Aggressivität gegenüber einem einzelnen politischen Gegner aus dem demokratischen Spektrum. Was hat es mit Zuspitzung zu tun, wenn in maßloser Übertreibung suggeriert wird, großstädtische Kulturrevolutionäre würden an den Gartenzäunen rütteln, um den Bayern ihre individuelle Lebensgestaltung zu rauben? Manche Gemüter sind so aufgepeitscht von diesen Reden, dass ihnen das Wählen nicht mehr reicht. Sie wollen mit anderen Mitteln ganz sicher gehen, dass es nicht zur gefürchteten grünen Unterjochung kommt.

Bald liegen Steine vor den Bierzelten

Und so liegen schon bald Steine vor den sommerheißen Bierzelten. Die Stimmung heizt sich auf den Siedepunkt. Viele CSU-Anhänger empfänden es inzwischen als „kulturelle Aneignung“, wenn Katharina Schulze im Bierzelt ein Dirndl trage, sagt Andreas Glas von der Süddeutschen Zeitung. Die von Söder und Aiwanger angestachelte Wut gegen die Grünen bricht sich unkontrolliert Bahn. Vor einem Bierzelt in Chieming werden am 1. August Eier und Tomaten als potenzielle Wurfgeschosse verkauft, als Schulze und Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir auftreten wollen. Und auch große Steine werden dabei „zur Schau gestellt, a bissl in die lustige Richtung“ (aber nicht verkauft, wie der Standbetreiber der Süddeutschen Zeitung versicherte). Die Reden der beiden Grünen gehen in einem organisierten Pfeifkonzert unter. Özdemir kann nur unter massivem Polizeischutz sprechen.

Aber noch fliegt kein Stein in Chieming. Was hier tobt, ist der Mob, den ein Ministerpräsident und sein Stellvertreter und deren Helfershelfer angestachelt haben. In Sorge um die eigene Macht hatte Söder vor zwei Jahren eine Strategie ersonnen, die politische Verantwortung missachtete: Lieber nicht in Berlin regieren, damit man in Bayern Stimmung machen kann.

Und dann fliegt der Stein. Wer blutet?

Und dann, am 17. September, fliegt der Stein von Neu-Ulm. Es ist fast genau zwei Jahre, nachdem Söder den Stein des Anstoßes aufgenommen hatte. Söder hat den Vorfall verurteilt. Besorgt äußerte er sich über eine „zunehmend destruktive Demokratie“. In der „Augsburger Allgemeinen“ sieht er als Ursache „digitale Blasen“, in denen nur noch Platz für die jeweils eigenen Standpunkte sei. Das führe zu einem immer raueren Ton und der Unfähigkeit zu Kompromissen.

Zehn Tage später droht ein Mann, der nach Erkenntnissen der Polizei eine Schreckschusswaffe besitzt, dem Schweinfurter Grünen-Landtagsabgeordneten Paul Knoblach einen „Kopfschuss“ an.

Am Sonntag wird gewählt. Bisher wurde niemand verletzt. Aber der Anstand blutet.

 

 

Inspiriert zu dem Text hat mich die mehrteilige Podcast-Serie der Süddeutschen Zeitung „Söders Endspiel“. Einzelne Informationen habe ich daraus entnommen.

Zur Flugblatt-Affäre rund um Hubert Aiwanger habe ich Neue Fragen an Hubert Aiwanger formuliert.

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